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Full text of "Die Transvestiten : eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb : mit umfangreichem casuistischen und historischen Material"

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Fraiisvestiteii 


Untersuchung  über  den 
sehen  Verkleidungstrieb 

mit  umfangreichem  casuistischen 
und  historischen  Material 

von 


Sanitätsrat  Dr.  med.  Magnusj^rschfeld 

Arzt  in  Berlin 


Presen  ted  to  the 
LIBRARIES  of  tllC 
UNIVERSITY  OF  TORONTO 

hy 


Dr.  John  Hoenig 


KOVAI.  SOCrETY  OF  MFDICINF 


FÜU.NDKI)  lti05 

INrOUl'OI!  VTI’.I)  in'  ROYAI.  CIIARTF.R  1831 
NKW  CHARTER  l')07 


(;rFT  TO  THE  LlHExARY 

lMU:SHNTl':n  HY 


Sir  Woldon  Dalrymple-Cliampneys 


September  1972 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2016  with  funding  from 
University  of  Toronto 


https://archive.org/details/dietransvestitenOOhirs 


Vorwort 


Seit  langem  ist  die  erste  Auflage  der  „Transvestiten“  ver- 
griffen. Auch  auf  antiquarischem  Wege  sind  nur  vereinzelte 
Exemplare  erhältlich  und  diese  entsprechend  ihrer  Seltenheit  zu 
unverhältnismäßig  hohen  Preisen.  Verleger  und  Verfasser  werden 
immer  wieder  ersucht,  eine  Neuauflage  oder  wenigstens  einen 
Neudruck  der  „Transvestiten“  herauszubringen.  Die  Zustände 
im  Buchgewerbe  während  des  Krieges  und  in  den  ersten  Nach- 
kriegsjahren ließen  uns  davon  Abstand  nehmen.  Jetzt,  wo  wir 
in  etwas  ruhigere  Zeiten  zu  kommen  scheinen,  handelt  es  sich 
nun  darum,  entweder  eine  veränderte  oder" erweiterte  Neuauflage 
herauszugeben  oder  einen  unveränderten  Abdruck  in  beschränkter 
Zahl  herzustellen. 

Wir  wählten  aus  folgenden  Gründen  den  letzteren  Weg. 
Der  Verfasser  ist  für  die  nächsten  Jahre  mit  literarischen  Vei'- 
pflichtungen  so  überlastet,  daß  es  ihm  gänzlich  unmöglich  ist, 
neben  der  Leitung  des  von  ihm  inzwischen  gegründeten  „Instituts 
für  Sexualwissenschaft“  eine  Neuauflage  vorzubereiten,  dann  aber, 
und  das  ist  das  AVesentlichere,  ist  in  der  ersten  Auflage  das 
transvestitische  Problem  nach  allen  Seiten  so  erschöpfend  behandelt, 
daß  außer  neuen  Beispielen  kaum  über  das  Wesen  des  trans- 
vestitischen  Mannes  und  Weibes,  die  Ursachen  und  Folgen  seiner 
merkwürdigen  Neigung  etwas  von  Bedeutung  hinzuzufügeu  wäre. 

Die  wissenschaftlichen  Forschungen  seit  dem  Erscheinen  des 
Werkes  haben  vollauf  unsere  hier  niedergelegten  Auffassungen 
bestätigt,  und  vor  allem  haben  es  die  Transvestiten  selbst  getan, 
die,  seitdem  dieses  Buch  über  sie  verbreitet  wurde,  in  sehr  großer 
Anzahl  zu  mir  gekommen  sind.  Insbesondere  die  Arbeiten  über 
innere  Sekretion  stellen  es  außer  Zweifel,  daß  es  sich  hierum 
keine  rein  seelische  Angelegenheit  handelt,  nicht  um  eingewurzelte 


IV 


Gewohnheiten,  oder  gar,  wie  immer  noch  einige  meinen,  um  eine 
verkappte  Form  der  Homosexualität,  sondern  daß  bei  dem  Trans- 
vestiten ein  sexueller  Sondertypus  vorliegt,  eine  psychobio- 
logische  (körperseelische)  Variante  der  Gattung  Mensch.  Immer 
wieder  bekomme  ich  zum  Teil  sehr  überschwengliche  Briefe,  in 
denen  Tranvestiten  der  großen  Freude  Ausdruck  geben,  daß 
endlich  jemand  ihr  wahres  Wesen  erkannt  und  gewürdigt  hat. 
Diese  Anerkennung  erfreut  mich,  aber  noch  mehr  freue  ich  mich, 
daraus  zu  ersehen,  daß  die  gewonnenen  Erkenntnisse  vielen 
Menschen  Ruhe,  Selbstvertrauen,  Lebenshoffnung  und  Lebensglück 
gebracht  haben. 

Berlin,  1.  März  1925. 

Institut  für  Sexualwissenschaft  In  den  Zelten  10. 


Dr.  Magnus  Hirschfeld, 

Sanitätsrat. 


Inhaltsangabe 


Seiten 

I.  Casuistischer  Teil 3—186 

II.  Kritischer  Teil 187—304 

III.  Ethnologisch-historischer  Teil*)  . . . 305—562 


I. 


A.  Einleitung  und  Fälle 


3—158 


FaU  I . 
Fall  II 
FaU  III 
FaU  IV 
FaU  V 
FaU  VI 
FaU  VII 
FaU  VIII 
FaU  IX 
FaU  X 
FaU  XI 


6—14 

15—18 

18—25 

26—30 

31—54 

54-58 

58—68 

68—70 

70—73 

73—79 

79—86 


•)  Von  vielen,  namentlich  auch  den  im  ethnologisch-historiBchen  Teil 
erwähnten  Transvestiten  (wie  den  „Frauen  als  Soldaten“),  besitze  ich  cha- 
rakteristische bildliche  Darstellungen,  die  zur  Dlustrienmg  des  gegebenen 
Textes  geeignet  wären.  Verlag  tind  Verfasser  kamen  aber  aus  verschiedenen 
Gründen,  vor  allem  auch  um  den  Umfang  und  Preis  des  Buches  nicht  noch 
mehr  erhöhen  zu  müssen,  überein,  zunächst  von  Abbildungen  abzusehen. 
Sollten  tmsere  Leser  jedoch  auf  die  Illustrationen  besonderen  Wert  legen,  so 
bitten  wir  dies  gütigst  dem  Verleger  oder  Verfasser  nützuteilen,  da  wir  uns, 
falls  solche  Wünsche  in  grösserer  Zahl  an  uns  heran  treten,  zur  Publikation 
eines  IV.  illustrativen  Teils  (möglicherweise  auch  später  einer 
illustrierten  Ausgabe)  entschliessen  würden. 


VI 


Fall  XII 

Fall  XIII 

Fall  XIV 

Fall  XV 

Fall  XVI 

Fall  XVII  

B.  Analyse  der  Fälle  (Symptomenkomplex)  . . 

(u.  a.  Empfindungen  der  Trans- 
vestiten in  der  Tracht  des 
eigenen  u.  in  der  des  andern 
Geschlechts  — Zeitpunkt  des 
ersten  Auftretens  des  Verklei- 
dungstriebes — Durchführung 
der  Verkleidung  — Verklei- 
dungssurrogate — die  sonsti- 
gen L e b e n s g e w 0 h n h e i t e n der 
Transvestiten  — ihre  Träume 

— körperliche  Zeichen  — Rich- 
tung, Stärke  u.  Betätigungs- 
art ihres  G e s c h 1 e c h t s t r i e b e s 

— die  Ehefrauen  der  Trans- 
vestiten — Ellen  zwischen  männ- 
lichen Frauen  u.  weiblichen 
Männern  — der  erotische 
Grundcharakter  des  Verklei- 
dungstriebes — die  Abstam- 
mung der  Transvestiten.) 


II. 


Differentialdiagnose 

a)  Geschlechtsverkleidungstrieb 

u.  Homosexualität 

b)  Geschlechtsverkleidungstrieb 

u.  Monosexualität 


Seiten 

86-100 

100-114 

115— 116 

116- 127 
127—138 
138—158 

159  186 


187—257 

187—199 

199-202 


VII 


c)  Geschlechtsverkleidungstrieb 

u.  Fetischismus 

(Erklärung  von  Richard  Wagners  Briefen  an 
eine  Putzmacherin  Seite  212 — 219) 

d)  Geschlechtsverkleidungstrieb 

u.  Masochismus 

e)  Geschlechtsverkleidungstrieb 

u.  Geschlechtsverwandlungs- 
wahn (Paranoia) 

f)  Geschlechtsverkleidungstrieb 

u.  Zwangsvorstellung 

Die  Kleidung  als  Ausdrucksform  seelischer  Zu- 
stände   

Die  Zwischenstufentheorie 

Name,  Begriff,  Prognose  und  Therapie  des  Trans- 
vestitismus   


III. 

1.  Symbole  der  Geschlechtszuge- 
hörigkeit (Ursprung  der  Kleidung)  . . 

2.  Geschlechtsverkleidung,  Bibel 

(5.  Buch  Mos.  22,  V.  5)  u.  R e 1 i g i 0 n . . 

3.  G e 8 c h 1 e c h t s V e r k 1 e i d u n g bei  den 

Naturvölkern 

4.  Geschlechts  Verkleidung  von 

Kindern  

5.  Verbreitung  der  Geschlechts- 
verkleidung   

6.  Geschlechtsverkleidung  als 

Strafe  

7.  Geschlechts  Verkleidung  u.  Ge- 
setz   

8.  Geschlechtsverkleidung  u.  Kri- 
minalität   


Seiten 

202—219 

220—235 

235—252 

252—257 

257—275 

275—299 

299—304 


305-309 

310-313 

313-330 

330—339 

339—341 

341—342 

343—364 

364—392 


VIII 


(u.  a.  Falschmeldungen  — Deser- 
tierungen — Diebstähle  — Hei- 
ratsschwindel — Erbschafts- 
schwindei — Verkleidung  von 
Verbrechern  zur  Täuschung  von 
Kriminalbeamten  u.  von  Krimi- 
nalbeamten zur  Täuschung  von 
V erbrechern.) 

9.  Dauer  der  Geschlechtsverklei- 
dung   

10.  Geschlechtsentdeckung  nach 

demTode 

11.  S e 1 b s t m ö r d e r in  Geschlechts- 
verkleidung   

12.  Gelegenheiten  der  Geschlechts- 
entlarvung   

13.  Geschlechtsentdeckung  aus  nor- 

malsexueller Liebe  und  Eifer- 
sucht   

(Geschlechtsverkleidimg  des  Minnesängers  U 1- 
rich  V.  Lichtenstein  S.  431 — 436.) 

14.  Kritik  angeblicher  Verklei- 

dungsmotive  

(Lebenslauf  des  Ritters  d’Eon  S.  438—451.) 

15.  Geschlechtsverkleidung  auf  der 

Bühne  

(u.  a.  Geschlechtsverkleidung  im 
Zirkus  u.  Spezialitätentheater 
— Ella  Zoyara  — Mario  Vacano 
— der  Marquis  von  Anglesey  — 
M ä n n e r - 1 m i t a t 0 r i n n e n — die 
Vernet  in  Paris  — Vesta  Tilley 
in  London  — Frauen  in  Tenor- 
partieen  — Frau  C o n t i-G  e i s s 1 e r 
— Felicitas  v.  Vestvali  — erstes 
Auftreten  von  Frauen  auf  dem 
Theater  (1  67  0)  — Goethe  über  die 


Seiten 


392—401 

401—414 

414—419 

420—429 

429-436 

436—451 

451—475 


IX 


Darstellung  von  Frauen  durch 
Männerim  italienischen  Theater 
(1  79  0)  — Gervinusüber  Frauen- 
darsteller auf  der  Shakespeare- 
bühne — Schüler,  Studenten  u. 
Soldaten  in  Frauenrollen  — die 
berühmtesten  Darstellerinnen 
des  Romeo  u.  Hamlet  — die  soge- 
nannten „Hosenrollen“  — die 
Geschlechtsverkleidungs-Oper 
„A  c h i 1 1 e in  S c i r o“  — Komikerais 
Frauen.) 

16.  Zur  Komik  der  Geschlechtsver- 
kleidung   

(Das  Geschlechtsverkleidungs- 
motiv in  der  Literatur  u.  a.  bei 
Goethe  (das  Mignonmotiv);  Wie- 
land; Grimmelshausen;  Körner; 
Meliere;  Calderon;  Boccaccio; 
Shakespeare;  Byron;  Voltaire; 
Mark  Twain  — Geschlechtsver- 
kleidung im  Carneval.) 

17.  Transvestiten  auf  Thronen  . . 

(u.  a.  Kaiserin  Elisabeth  von 
Russland  — Königin  Karoline 
Mathilde  — Christine  von  Schwe- 
den. — die  Päpstin  Johanna  — 
Emil  August  „der  Glückliche“.) 

18.  Einige  seltenere  Gründe  der  Ge- 

6 c h 1 e c h t s V e r k 1 e i d u n g 

(u.  a.  transvestitische  Volksbal- 
laden S.  500  ff.) 

19.  Geschlechtsverkleidung  aus  Be- 
rufsrücksichten . 

(u.  a.  Rosa  Bonheur  — Madame 
Dieulafoy  — Esther  Stanhope  — 
— Arbeiterinnen  in  männlicher 


Seiten 


475—490 


490-495 


495—504 


504-513 


1 


X 


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roler  Freiheitskämpferinnen  — 
die  Jungfrau  von  Orleans  — 
l’Aniazone  chretienne  — fran- 
zösische Kriegerinnen' — Louise 
Michel  u.  Petrowna  Blavatzky 
— Angela  Postowoitoff  — die 
Poloniza  — Hauptmann  Durowa 
— weibliche  Heiduken  u.  Kosaken 
— MichailownaSmolka  — woman- 
soldiers  in  der  amerikanischen 
u.  englischen  Armee  — weibliche 
Militärärzte  — h.o  lländische 
Soldatinnen  — Catalina  de 
Erauso  us  w.) 

Schlussbetrachtungen  


Seiten 

513—516 


516—550 


550—562 


I.  Teil. 


Casuistik  und  Analyse. 

A.  Einleitung  und  Fälle. 

Motto:  Es  giebt  mehr  EmpSimiungen 
nnd  Erscheinungen  als  Worte 

Jede  neue  Wahrheit  vernichtet  eine  bisher  dafür  gehaltene 
Die  schärfsten  Folgerungen  stürzen  in  sich  zusammen,  wenn 
die  Grundlagen  schwanken,  auf  die  sie  sich  stützten.  In  der 
Geschichte  der  menschlichen  Kultur  und  Wissenschaft  haben 
Anschauungen,  die  zu  ehrwürdigen  Dogmen  geworden  waren, 
es  mehr  als  einmal  erleben  müssen,  dass  sie  eines  Tages  keine 
Gültigkeit  mehr  besessen.  Je  tiefer  wir  in  die  unzähligen  Er- 
scheinungsformen der  Natur  eingedrungen  sind,  um  so  mehr 
Unvorhergesehenes  wurde  offenbar,  um  so  häufiger  haben 
wir  umlernen  müssen.  Das  ist  unbequem  und  doppelt  unan- 
genehm, wenn  es  eich  um  Voraussetzungen  handelt,  die  zu 
Fundamenten  staatlicher  und  sittlicher,  gesellschaftlicher  und 
religiöser  Ordnungen  geworden  sind.  Die  Vertreter  des  Alten 
haben  ein  gutes  Recht  von  dem,  der  an  solchen  Meinungs- 
pfeilern rüttelt,  unantastbare  Tatsachen  zu  verlangen,  die 
jedermann,  für  den  Ehrlichkeit  und  Ehre  gleichbedeutend  ist, 
nachprüfen  kann.  Die  Vertreter  des  Neuen  dagegen  müssen 
sehr  zufrieden  sein,  wenn  sie  Menschen  finden,  die  sich  nicht 
nur  in  der  Theorie,  sondern  auch  der  Wirklichkeit  gegenüber 
zu  der  Ansicht  bekennen,  dass  Wechsel  und  Wandelbarkeit 
von  Entwicklung  und  Fortschritt  untrennbar  sind,  Personen, 
die  wissen,  dass  „die  Weisen  gerne  vom  Irrtum  zur  Wahr- 
heit reisen.“ 

Die  Trennung  der  Menschheit  in  eine  männliche  und 
weibliche  Hälfte  gehört  zu  den  Lehr-  und  Leitsätzen,  die 
jedermann  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  sind.  Auch  die- 

1* 


4 


jenigen,  die  sich  bemühen,  Gegensätze  wie  Kraft  und  Stoff, 
Gott  und  Natur,  Eins  und  All,  Leib  und  Seele  zu  verein- 
heitlichen, halten  an  dem  Dualismus  der  Ge- 
schlechter unerschütterlich  fest  und  in  der  Tat  sind 
auch  an  sich  das  männliche  und  weibliche  Agens  Realitäten, 
deren  Zweiheit  keinem  Zweifel  unterliegt.  Ihre  Wechselwir- 
kung ist  uns  für  das  Verständnis  der  Lehensvorgänge  heute 
unentbehrlicher  denn  je.  Man  kann  es  fast  so  formulieren; 
M.  und  W.  sind  das  A.  und  0.  der  höheren  Wesenheiten  — 
in  Worten  ausgedrückt:  sie  verdanken  dem  männlichen 
und  weiblichen  Prinzip  Ursprung  und  Gepräge. 
Aber  verfehlt  ist  es,  stellt  man  sich  beide  als  zwei 
völlig  von  einander  gesonderte  Einheiten  vor;  im  Gegen- 
teil, die  stets  vorhandene  Verschmelzung  beider  in 
einem,  ihr  unendlich  variables  Mischungsverhältnis, 
das  damit  beginnt,  dass  bereits  der  männliche  Same 

und  das  weibliche  Ei  jedes  für  sich  mann-weibliche,  herma- 
phroditische  Gebilde  sind,  dieser  Monismus  der  Ge- 
schlechter ist  der  Kernpunkt  für  Entstehung  und  Wesen 
der  Persönlichkeit. 

Doch  ich  will  nichts  voraussetzen  imd 
nichts  vorw'egnehmon,  was  zu  beweisen  erst  meine  Pflicht  ist; 
ich  werde  im  Verlaufe  dieses  Buches,  das  eine  neue  Seite  des 
Zwischenstufenproblems  beleuchtet,  noch  eingehend  auf  diese 
meine  Grundanschauung,  der  ich  bereits  eine  grössere  Reihe 
früherer  Arbeiten  gewidmet  habe,  zurückkomraen.  Es  scheint 
mir  richtiger,  dass  ich  zunächst  einmal  ohne  viele  einleitende 
Worte  die  schlichten  Tatbestände  für  sich 
reden  lasse,  erst  dann  Schlüsse  ziehe,  Erläuterungen  gebe  und 
Erwägungen  anstelle,  ob  und  inwieweit  das  Gefundene  unsere 
Anschauungen  zu  erweitern  und  zu  verändern  geeignet  ist. 

Ich  gestehe,  dass  auch  mir  die  merkwürdigen  Befunde, 
die  ich  hiermit  der  Oeffentlichkeit  übergebe,  auf  meinem  Ar- 
heitswege  überraschend  gekommen  sind;  zwar  musste,  wer 
sich  intensiver  mit  den  sexuellen  Varietäten  und  ihren  Ge- 
setzen beschäftigt  hat,  bei  objektiver  Betrachtung  grosser 
Unter suchimgsreihen  immer  wieder  neue  Mischungsarten,  neue 
Typen  erwarten,  er  musste  gefasst  sein,  dass  er  schliesslich 


5 


auch  Männern  und  Frauen  begegnen  würde,  die  trotz  völlig 
normalsexueller  Triebrichtung  psychisch  starke  Einschläge  des 
anderen  Geschlechts  aufw'eisen  würden,  aber,  obwohl  ich  selbst 
diese  theoretische  Möglichkeit  hervorgehoben  habe,  befremdete 
es  mich  doch,  als  ich  bei  meinen  Zwischenstufenstudien  jene 
seltsamen  Menschen  genauer  kennen  lernte,  von  denen  in  dieser 
Arbeit  die  Rede  sein  soll.  Bei  den  zuerst  beobachteten  Fällen 
(X  und  XII)  glaubte  ich  noch,  dass  es  sich  vielleicht  um 
Selbsttäuschungen  handeln  könne,  dass  beispielsweise  bei 
einem  Manne  das  eigene  Weibgefühl,  bei  einer  Frau  das  männ- 
liche Empfinden  so  sehr  im  Vordergründe  stehen  könne,  dass 
demgegenüber  der  eigentliche  Sexualtrieb,  der  bei  vielen  der  ge- 
geschilderten  Personen  tatsächlich  nur  schwach  zu  sein  scheint, 
so  zurücktritt,  dass  seine  Richtung  nicht  deutlich  bewusst 
wird,  aber  sehr  bald  überzeugte  ich  mich  doch,  dass  hier  die 
Liebesneigungen  dem  körperlichen  Habitus  im  wesentlichen 
adäquat  sind,  während  der  seelische  Zustand  dem  Geschlechts 
entspricht,  zu  dem  sich  die  Betreffenden  hingezogen  fühlen. 

Zu  den  Fällen  selbst  sei  noch  vorbemerkt,  dass  ich  die 
meisten  von  ihnen  viele  Jahre,  einige  10,  12  Jahre  und  länger 
verfolgt  habe.  Mit  Ausnahme  von  Fall  XV,  der  mir  vom  Kolle- 
gen Lubowski  überwiesen  wurde  und  XVII,  der  sich  zunächst 
an  Kollegen  Iwan  Bloch  gewandt  hatte,  war  bei  allen  der 
Gang  so,  dass  sie  mündlich  oder  schriftlich  an  mich  heran- 
getreten  waren  und  dann  von  mir  zu  recht  eingehenden  Auto- 
biographien aufgefordert  wurden,  die  sie  völlig  unbeeinflusst 
und  unabhängig  voneinander  verfassten.  Diese  wurden,  soweit 
irgend  möglich,  durch  sorgsame  Befragungen,  Untersuchungen 
und  vorsichtige  Nachforschungen  ergänzt.  Viele  sah  ich  in 
ihrer  männlichen  und  weiblichen  Lebensgestaltung,  in  Männer- 
und Frauentracht.  Die  meisten  wurden  auch  Kollegen  zur 
Exploration  und  Nachprüfung  vorgestellt. 

Die  hier  veröffentlichten  Lebensbeschreibungen  sind,  wenn 
auch  in  der  Schilderung  einheitlich  erscheinend,  aus  den  ver- 
schiedenartigsten zum  Teil  sehr  umfangreichen  Aufzeichnungen, 
mündlichen  Angaben  und  persönlichen  Befunden  zusammenge- 
stellt, mit  möglichster  Wahrung  des  jedesmaligen  Original- 
gepräges. 


6 


Fall  1. 

Herr  A.,  Kaufmann,  ca.  30  Jahre  alt,  stammt  von  ge- 
sunden Eltern.  Anzeichen  von  Triebabweichungen  oder  De- 
generation in  der  Verwandtschaft  sind  nicht  nachweisbar.  Die 
körperliche  Kindheicsent Wicklung  war  normal.  Obwohl  er  an 
Knabenspielen  teilnahm,  zog  er  doch  Häkeln,  Stricken  und 
Puppenspiele  vor.  Sein  Aussehen  soll  immer  etwas  mädchen- 
haft gewesen  sein.  In  der  Schule  zeigte  er  gute  Fähigkeiten. 
Die  Geschlechtsreife  trat  angeblich  erst  anfangs  der  zwan- 
ziger Jahre  ein.  Die  Stimme  war  immer  ziemlich  hoch,  ging 
erst  Mitte  der  Zwanziger  etwas  herab.  Bartwuchs  stark. 

Status  praesens:  Hüften  männlich,  Kon- 

turen mehr  mager,  Hände  und,  Füsse  von  mittlerer  Grosse; 
neigt  zu  Fusstouren,  Tauzen.  Radfahren  und  Schwimmen. 
Schritte  gross  und  schnell.  Hautfarbe  weiss,  zart,  glatt.  Eine 
Phimose  mittleren  Grades  wurde  durch  Circumcision  beseitigt. 
Haupthaar  kräftig,  Körperbehaarung  unbedeutend.  Wird  leicht 
blass.  Schmerzempfindlichkeit  gross.  Ohren  klein.  Kehl- 
kopf wenig  hervortretend;  Stimme  hoch,  ungeziert,  neigt 
zum  Sprechen  in  Fistelstimme,  singt  So- 
pran. Besitzt  starke  Empfänglichkeit  für  Affekte.  Neigung 
zum  Weinen,  auch  zu  nervösen  Lach-  und  Weinanf allen; 
schreibt  sich  Zärtlichkeit.  Gutmütigkeit  und  Selbstaufopfe- 
rung zu.  Ist  sehr  ordnungsliebend,  gemächlichem  Leben  nicht 
abgeneigt;  raucht  gar  nicht,  verträgt  wenig  Alkohol.  Hat 
etwas  Neigung  zu  Schauspielkunst,  Talent  fiir  Musik.  Von 
geschichtlichen  Persönlichkeiten  interessieren  ihn  besonders 
Nero,  Napoleon,  George  Sand,  Bismarck,  Kaiser  Friedrich. 
Liest  viel  Romane  und  wissenschaftliche  Werke;  ist  Frei- 
maurer. 

Vita  sexualis.  Aus  seinen  Aufzeichnungen  sei 
folgendes  entnommen: 

„Aus  den  Kinderjahren  habe  ich  nur  sehr  dunkle  Erinne- 
rungen, als  2 — Sjähriges  Kind  soll  ich  in  einem  blauen  Kleid- 
chen mit  weissem  Spitzenbesatz  allgemein  bewundert  worden 
sein,  weil  es  zu  dem  blonden  Haar  und  blauen  Augen  so  gut 
stand.  Die  Schule  besuchte  ich  anfangs,  etwa  ein  Jahr  lang, 


7 


nur  mit  Widerstreben,  oft  gab  es  Schläge,  und  man  brachte 
mich  fast  mit  Gewalt  hin.  Der  Grund  meiner  Abneigung  mag 
vor  allem  aus  dem  mürrischen,  barschen  Wesen  des  Lehrers 
entsprungen  sein,  dessen  finsteres  Gesicht  mir  Furcht  ein- 
flösste. 

Später  wurde  ich  einer  der  fleissigsten  Schüler,  und  bin 
gern  in  die  Schule  gegangen.  Ausser  Knabenspielzeug  habe 
ich  stets  meine  Puppe  gehabt.  Sie  wurde  an-  und  ausge- 
kleidet, und  überhaupt  regelrecht  mit  ihr  gespielt.  Meine 
Mutter  und  Schwester  fertigten  viel  Handarbeiten,  für  die 
ich  reges  Interesse  bekundete.  Ich  lernte  daher 
selbst  häkeln,  und  brachte  mit  ziemlicher 
Geschicklichkeit  hübsche  Häkelarbeiten 
in  Wolle  und  Zwirn  zustande.  Später 
dehnte  ich  meinen  Handarbeitseifer  auch 
auf  Stickereien  aus,  sodass  bald  manches 
Produkt  meiner  fleissigen  Nadel  unser 
Heim  zierte. 

Sonst  habe  ich  an  allen  Knabenspielen  teilgenommen,  nur 
das  „Klettern“  habe  ich  bis  zum  heutigen  Tag  nicht  kapieren 
können.  Pfeifen  kann  ich  sehr  gut,  darin  bin  ich  ganz  Mutters 
Sohn,  denn  meine  Mutter  konnte  ausgezeichnet  pfeifen.  Seit 
meiner  frühesten  Kindheit  hegte  ich  den 
Wunsch,  Mädchenkleider  anzuziehen.  Ich 
habe  mir  im  Alter  von  ungefähr  12 — 13  Jahren  gelobt, 
diesem  Wunsch  oder  Drang  später,  sobald  es  mir  meine 
pekuniären  Verhältnisse  gestatten  sollten.  Genüge  zu  tun. 
Als  ich  heranwuchs,  bin  ich  oft  wegen  meiner  hohen  Stimme 
und  meines  mädchenhaften  Aussehens  gehänselt  worden. 

An  meine  Jugendzeit  zurückdenkend,  sehe  ich  mich  im 
Kreise  meiner  Spielgefährten,  Mädchen  und  Jungen  aus  der 
Nachbarschaft,  wie  wir  aus  Eichenlaub  Kränze  und  Guirlanden 
^v•inden  und  uns  damit  als  Braut  und  Bräutigam  schmücken, 
den  Brautzug  markieren  usw.  Oft  war  ich  der  Bräutigam, 
manchmal  habe  ich  mich  aber  auch  als  Braut  schmücken 
lassen.  Meine  liebsten  Spielgefährtinnen  waren  zwei  Mädchen, 
Johanna  und  Maria.  Mit  ihnen  habe  ich  bis  zur  Beendigung 
der  Schulzeit  alle  Freuden  und  Leiden  getragen,  wir  sind 


8 


sozusagen  zusammen  erzogen  worden.  Wurde  icli  oft  von  den 
Jungen  als  „Mädchenpfist“  (ein  in  der  Heimat  gebräuchlicher 
Ausdruck)  verspottet,  so  antworteten  wir  wohl  mit  dem 
Kindervers : 

„Mädchen  tragen  goldene  Kränze, 

Jungen  kriegen  Rattenschwänze, 

Mädchen  kommen  ins  Himmelreich, 

Jungen  in  den  tiefen  Teich.“ 

(Jungen  sangen  umgekehrt.) 

Später  machte  ich  mir  aus  den  illustrierten  Katalogen 
grosser  Firmen,  wie  Gerson  usw.,  Puppenstuben,  schnitt  die 
Kostümbilder,  Möbel,  Betten  aus,  klebte  alles  in  gehöriger 
Anordnung  in  ein  Buch,  und  stellte  mir  so  Salon,  Schlaf- 
zimmer, Küche  usw.  zusammen.  Die  Kostümbilder  wurden  in 
den  verschiedenen  Zimmern  verteilt,  zu  Bett  gebracht,  an- 
und  ausgekleidet,  und  dergleichen  mehr.  Nahmen  meine  Ge- 
spielinnen ihre  Handarbeiten  vor,  so  holte  auch  ich  meine 
Häkelei  oder  Stickerei  herbei. 

Unter  all’  meinen  Spielsachen  bevorzugte  ich  meine 
Puppe  immer  am  meisten.  Als  mir  eines  Tages  von  Mutter 
und  Schwester  erklärt  wurde:  „das  ist  das  letzte  Kleid,  das 
du  für  deine  Puppe  bekommet,  so  ein  grosser  Junge  soll  sich 
schämen,  noch  mit  Puppen  zu  spielen“  schlich  ich  mich  aufs 
tiefste  bekümmert  davon. 

Im  Alter  von  etwa  13  Jahren  hatten  die  Mädchen  von 
den  Geschlechtsunterschieden  gesprochen,  auch  meine  Freun- 
dinnen erörterten  das  Thema  mit  mir,  und  wir  zeigten  ein- 
ander unsere  Genitalien,  doch  haben  wir  wohl  keinerseits 
irgendwelche  Erregung  verspürt.  Meine  Gespielinnen  be- 
handelten mich  ganz  als  ihresgleichen,  wir  hatten  keine  Ge- 
heimnisse vor  einander.  Zu  Geburtstagen  und 
Weihnachten  beschenkte  ich  sie  stets 
mit  selbst  angefertigten  Handarbeiten, 
und  bin  darauf  nicht  wenig  stolz  gewesen. 

Nach  der  Konfirmation  wurde  ich  durch  die  Lehrjahre 
etwas  abgelenkt,  doch  war  mein  Interesse  für  weibliche  An- 
gelegenheiten unvermindert  und  ich  verfolgte  die  Mode- 
zeitungen usw.  In  dieser  Zeit  las  ich  eine  Beschreibung  über 


9 


die  Toilette  einer  reichen  Römerin,  wurde  dadurch  sehr  auf- 
geregt (im  Gemüt,  nicht  geschlechtlich)  und  mein  ganzes 
„Ich“  drängte  mich  zu  weiblicher  Tätigkeit.  Ich  wollte 
so  herzlich  gern  ein  Mädchen  sein  und 
träumte  oft  mit  offnen  Augen  davon, 
schmiedete  Pläne  für  die  Zukunft  usw.  Oft  sah  ich  mich 
im  Traum  als  Mädchen  und  heute,  nach  ca.  14  Jahren  sind 
mir  noch  die  Gemächer  erinnerlich,  in  denen  ich  leben  wollte, 
oder  von  welchen  ich  träumte. 

Als  ich  nach  vollendeter  Lehre  in  eine  andere 
Stadt  versetzt  wurde,  brannte  ich  mir  die  Haare 
(mein  Innerstes  trieb  mich  dazu)  und  zog  unbe- 
obachtet jedes  erreichbare  weibliche 
Kleidungsstück  an;  oft  bin  ich  des  Nachts 
aufgestanden  und  habe  versucht,  aus  der 
Garderobe  ein  Kleidungsstück  der  Haus- 
wirtstochter zu  erlangen. 

Wie  oft  habe  ich  vor  dem  Fenster  einer  schönen  Aristo- 
kratin gestanden  und  gewünscht,  die  Gesellschafterin  oder 
das  Kammermädchen  derselben  zu  sein.  Fand  ein 
Hofball  statt,  so  war  ich  gewiss  zur  Stelle,  um  mein  Ideal 
abfahren  zu  sehen  und  die  Toilette  zu  bewundern.  Stunden- 
lang bin  ich  unauffällig  feinen  Damen  gefolgt,  habe  die- 
selben beobachtet,  die  Bewegungen  studiert  und  mich  an  deren 
Anblick  ergötzt.  Um  meinen  Drang  einigermassen  zu  stillen, 
kaufte  ich  meinen  dürftigen  Kassenverhältnissen  entsprechend 
ein  billiges  Korsett  (1,50).  Ich  habe  dasselbe  tagelang,  dann 
ab  und  zu  getragen.  In  dieser  Zeit  wurde  ich  im  Geschäft 
wegen  meiner  hohen  Stimme  und  meines  mädchenhaften  Aus- 
sehens oft  gehänselt.  Den  Modeblättern  wandte 
ich  meine  ganze  Aufmerksamkeit  zu  und 
habe  vor  allen  Dingen  die  Schaufenster 
der  Damenkonfektions-Geschäfte  täglich 
besichtigt. 

Meinen  Angehörigen  und  meiner  sonstigen  Umgebung 
habe  ich  meinen  Hang,  Damenkleider  zu  tragen,  streng 
verheimlicht  und  alles  vermieden,  was  mich  verraten 
könnte.  Bald  wurde  ich  wieder  in  eine  andere  Stadt  ver- 


10 


schlagen,  wo  ich  zum  ersten  ^lal  heisse  innige  Liebe  empfand. 
Meine  Angebetete  kannte  mein  Interesse 
für  Damenkleider  und  lieh  mir  öfters 
einige  Kleidungsstücke.  im  Jahre  löOO  war 
ich  lest  entschlossen,  als  Dame  zu  leben,  besonders  seit 
mir  der  Lebenslauf  der  schönen  Kunstreiterin  Ella  bekannt 
geworden  war,  doch  ging  das  wegen  meiner  kleinstädtischen 
Unerfahrenheit  und  meines  Geldmangels  nicht  gut.  Ich  machte 
zwar  einige  Versuche  und  schrieb  auch  an  eine  bekannte 
Künstlerin,  offenbarte  ihr  mein  Innerstes  und  bat  dieselbe, 
mich  als  ihre  Gefährtin  aufzunehmen  und  mich  in  ihrer 
Kunst  zu  unterrichten. 

Der  Brief  kam,  heute  sag'  ich  Gott  sei  Dank,  denn  ich 
hätte  mich  doch  blamiert,  unbestellbar  zurück,  und  ich  ver- 
nichtete denselben.  Auch  schämte  ich  mich  meines  Dranges 
nach  weiblichen  Angelegenheiten  und  versuchte  ihn  ganz 
energisch  zu  bekämpfen.  Ich  reiste  einige  Jahre,  verfolgte 
zwar  auch  da  alle  diesbezüglichen  Angelegenheiten,  doch  hatte 
ich  nie  Gelegenheit,  mich  praktisch  damit  zu  befassen. 

Ais  ich  meine  Kontortätigkeit  wieder  aufnahm,  wurde 
mein  Wunsch  nach  Damenkleidern  stärker 
als  je,  und  ich  wandte  mich  schliesslich  an  einen  in  der 
Presse  lobend  erwähnten  Damendarsteller  mit  der  Bitte,  mir 
ein  Kostüm  abzulassen.  Nach  längeren  Verhand- 
lungen erhielt  ich  einige  Monate  später 
ein  Kostüm,  und  ich  konnte  mich  gerade 
an  meinem  Geburtstage  zum  ersten  Male 
von  Kopf  bis  zuFuss  vollständig  als  Dame 
ankleide  n.  Obwohl  mir  das  Kleid  nicht  auf  den  Körper 
passte,  zog  ich  alle  die  reizenden  Toilettenstücke  fast  täglich, 
später  einige  Male  wöchentlich  abends  in  der  Stille  meines 
Zimmers  an,  und  war  selbstverständlich  glück- 
lich wie  nie  zuvor.  Später  Hess  ich  mir  das  Kostüm 
abändern  und  konnte  mit  Lnterstützung  einer  Schneiderin 
einen  Maskenball  besuchen.  Wie  überaus  selig  war 
ich,  als  ich  dem  Lokal  zu  fuhr  und  beim 
Eintreffen  ganz  als  Dame  behandelt  wur  de. 
Ich  tanzte  viel,  wurde  von  den  Herren  beschenkt  und  ver- 


11 


lebte  einige  der  glücklichsten  Stunden  meines  Lebens.  Später 
Hess  ich  mir  noch  ein  Gesellschaftskleid 
machen  und  zog  es  ebenfalls  in  der  Stille 
meines  Zimmers  an. 

In  der  Folgezeit  bekämpfte  ich  meinen  Drang  nach 
Damensachen  aufs  ausserste;  ich  schloss  meine  Kleidungsstücke 
weg,  und  habe  mich  4 Wochen,  ein  Vierteljahr,  ja  sogar  noch 
länger  nicht  damit  beschäftigt.  Kam  der  Drang,  so  bin  ich 
allen  möglichen  Zerstreuungen  nachgegangen  und  habe  in  einer 
Zeit  besonders  viel  (d.  h.  für  meine  verhältnis- 
mässig schwache  Anlage  viel)  Geschlechtsver- 
kehr gepflegt. 

Den  ersten  Koitus  übte  ich  mit  24  Jahi’en  aus,  habe 
dann  aber  aus  Angst  vor  Geschlechtskrankheiten  kein  Ver- 
langen darnach  gehabt,  weil  ich  mir  nämlich  gleich  das  erste 
Mal  eine  Gonorrhoe  zuzog.  Vier  Jahre  habe  ich 
mich  jeden  Verkehrs  enthalten.  Eine  Phimose 
l i e s s ich  inzwischen  beseitigen. 

Den  Geschlechtsverkehr  übte  ich  aus,  weil  ich 
glaubte,  dadurch  von  meiner  Leiden- 
schaft befreit  zu  werden.  Ist  dies  auch  gelegent- 
lich gelungen,  so  kehrte  der  Drang  doch  stärker  zurück,  und 
ich  habe  viel  unter  wechselnden  Stimmungen  gelitten.  Infolge 
aufreibender  Tätigkeit  wurde  ich  dann  so  hochgradig  nervös, 
dass  ich  eine  längere  Erholung  nötig  hatte.  Als  ich  vom  Ur- 
laub zurückgekehrt  war,  drängten  geschäftliche  Sorgen  den 
Trieb  in  den  Hintergrund.  Weiterhin  suchte  ich  ihn  hart- 
näckig zu  bekämpfen;  ichliess  mir  einen  Spitz- 
bart stehen,  damit  ich  nie  in  die  Ver- 
suchung käme,  als  Dame  auszugehen. 
Letzteres  war  immer  mein  Wunsch;  stets  war  ich  über- 
zeugt, dass  ich  eines  schönen  Tages  alles 
Kämpfen  aufgeben  und  nur  meinem  Drange 
leben  würde.  Endlich  packte  es  mich  so  heftig,  dass 
ich  mich  schliesslich  an  einen  Arzt  wandte.“  — — 

Soweit  der  ungefähre  Wortlaut  des  Herrn  A.  Da  er  sich 
sehr  zurückgezogen  hält,  allem  Exzess  und  allem  Auffallendem 
abgeneigt  ist,  da  ferner  seine  Libido  so  gering  ist,  dass  sie 


12 


sich  nur  dreimonatlich  einmal  äussert,  so  wurde  ihm  der 
Versuch  angeraten,  einige  Zeit  in  Frauenkleidern  zuzubringen, 
um  seinen  Zustand  höchst  quälender  Unruhe  zu 
beseitigen. 

Nach  langer  Vorbereitung,  nachdem  er  seine  geschäftlichen 
Verpflichtungen  geregelt  und  sich  eine  jener  teuren,  aber  gut- 
sitzenden Perücken  zugelegt  hatte,  fuhr  er  in  eine  ent- 
fernte Stadt  und  brachte,  als  Dame  ge- 
kleidet, einige  Wochen  in  einer  Pension 
zu,  deren  Inhaberin  von  allem  unterrich  tet 
war.  Seinen  Aufenthalt  dort  mögen  einige  Tagebuchnotizen 
illustrieren: 

„Nach  dem  Kaffee  las  ich  erst  die  neuesten  Ereignisse, 
wurde  dann  von  Frau  E.  in  die  Geheimnisse  des  Wäschelegens 
eingeweiht,  übernahm  dann  das  Tischdecken  und  sonstige 
kleinere  Wirtschaftsarbeiten.“  — 

„Ich  bedaure  immer,  dass  ich  vordem 
Schlafengehen  die  Kleider  ablegen  muss, 
darum  schiebe  ich  die  Zeit  immer  länger 
hinaus  und  empfinde  jede  Verlängerung 
als  eine  Wohltat,  ist  es  mir  doch  beim 
Tragen  der  Kleider  so  wohl  und  mollig 
zu  Mute.“  — 

„Von  heute  kann  ich  nicht  viel  berichten.  Im  Laufe  des 
Vormittags  war  ich  tätig,  oder  vielmehr,  ich  suchte  mich  in 
der  Küche  durch  allerlei  Handreichungen  beliebt  zu  machen. 
Nachmittag  erhielt  ich  einige  Briefe,  deren  Beantwortung 
längere  Zeit  in  x\nspruch  nahm.  Zum  Abend  hatten  wir 
meine  Gönnerin  Frau  M.  als  Gast.  Bei  Speise  und  Trank, 
und  vor  allen  Dingen  bei  fröhlichem  Geplauder  verging  die  Zeit 
wie  im  Flug;  wir  hatten  uns  alle  um  den  Sofatisch  im  Wohn- 
zimmer gruppiert  und  konnten  den  reizenden  Gesprächen  und 
Gedichten  Frau  M.’s,  welche  eine  nicht  unbekannte  Dichterin 
ist,  lauschen.  Ich  knackte  den  Dam.en  die  Nüsse  auf,  und 
fühlte  mich  in  deren  Mitte  so  recht  von  Herzen  wohl,  so 
ganz  wie  es  meinem  Wesen  entspricht.  Ich  kann  mich  nicht 
erinnern,  jemals  als  Herr  in  einer  Herrengesellschaft  einen  der- 
artig genussreichen  Abend  verlebt  zu  haben.“  — 


13 


„Nach  dem  Abendessen  schrieb  ich  einige  Briefe,  bis  Frau 
E.  und  Sch.  zuriickkehrten,  und  für  mich  eine  grosse  Ueber- 
raschung  mitbrachten,  nämlich  zwei  Toiletten  von  einer  Hof- 
dame der  Prinzessin  X.  Beide  Toiletten  aus  Seide,  Atlas  und 
Chiffon  probierte  ich  nun  und  behielt  das  ausgeschnittene  Ge- 
sellschaftskleid an,  während  Frau  Sch.  die  Haustoilette  an- 
zog. Frau  E.  als  Russin  gekleidet  kredenzte  uns  noch  Kaffee 
und  wir  verbrachten  bei  Musik,  Gesang  und  Tanz  herrliche 
Stunden,  es  war  im  Handumdrehen  zwölf  Uhr  geworden.  I n 
dem  herrlichen  Kostüm  habe  ich  mich  so 
recht  wohl  gefühlt,  das  feine  Parfüm 
und  das  Rauschen  der  seidenen  Unter- 
röcke war  Musik  in  meinen  Ohren,  aber 
auch  die  Damen  bewunderten  meine  ganze 
Erscheinung  und  vor  allen  Dingen  den 
Hals  und  Nacken.  Nie  wollte  ich  lieber  eine  Dame 
sein,  als  heute  Abend  und  darum  habe  ich  mich  auch  mit  so 
rechter  Innigkeit  ausgekleidet.  Nachdem  ich  alle  Flammen 
des  Kronleuchters  aufgedreht  hatte,  stellte  ich  mich  mitten 
vor  den  Spiegel  und  streifte  das  herrliche  Kleid  ab,  dann  die 
Spitzenunterröcke  sowie  das  Korsett.  Nach  jedem  Gegenstand 
eine  längere  Pause,  ein  Blick  auf  das  Genossene,  ein  Blick 
auf  das  Kommende.  Meine  Höschen  bauschen  sich  zierlich  um 
die  Schenkel  und  ihre  hellblauen  Schleifchen  zwischen  den 
Spitzen  herab.  Nun  fiel  auch  das  Beinkleid  — und  ich 
streifte  mein  Nachtgewand  über.  Kann  es  für  mich  noch  etwas 
Schöneres  geben?  Wohl  nicht!  — — 

Das  Endergebnis  dieser  harmlosen  Probe  war  für  Herrn 
A.  recht  günstig.  Die  Depression  war  geschwunden,  und  er 
zehrte  noch  lange  von  der  nachhaltigen  Erinnerung  des  ver- 
lebten Glücks.  Lusthandlungen  irgend  welcher  Art  sind 
während  dessen  nicht  vorgefallen. 

Der  Eindruck,  den  er  im  Kostüm  macht,  ist  verhältnis- 
mässig echt.  Der  bläuliche  Schimmer  der  Rasur  macht  nur 
einen  Schleier  notwendig.  Aufsehen  hat  er  nirgends  erlebt, 
selbst  auf  den  Hauptstrassen  der  Gressstadt  nicht.  Höchstens, 
dass  ihm  „als  Fräulein  einige  Herren  nacbstiegen“,  was  ihm 
über  die  Massen  fatal  und  widerwärtig  war. 


14 


Seine  erotische  Psyche  ist  ganz  minimal  mit  Masochis- 
mus versetzt.  Darauf  weist  sein  oben  aus  gedrückter  Wunsch, 
das  „Kammermädchen  einer  schönen  Aristokratin“  sein  zu 
dürfen.  Ferner  liest  er  ab  und  zu  gern  ein  masochistisches 
Buch,  besonders  hat  ihn  die  Novelle  „Weiberbeute“  von  L. 
Fraumann  interessiert,  welcher  Autor  in  unserer  Kasuistik 
als  Fall  III  vertreten  ist.  Ausserdem  aber  ist  ihm  bei  ein- 
gehender Exploration  etwa  beeinflussender  Momente  einge- 
fallen, er  habe  in  der  Schule,  als  die  Passionsgeschichte  vor- 
getragen wurde,  Erektionen  verspürt.  Dies  habe  sich  zuweilen 
wiederholt,  wenn  von  einer  Strafe  oder  Misshandlung  ge- 
sprochen wurde. 

Seine  Traumbilder  bezogen  sich  immer 
auf  „hübsche  Damen“.  Pollutionen  fanden  in  weiten 
Zwischenräumen  statt,  nach  seiner  Ansicht  besonders,  wenn 
er  abends  zuvor  gut  gegessen  und  getrunken  hatte.  Zwischen 
22  und  24  Jahren  traten  sie  häufiger  auf,  d.  h.  alle  3 bis  4 
Wochen.  Einmal  erblickte  er  sich  selber 
als  Dame,  und  in  dem  Moment,  als  er 
sich  den  Schleier  umbinden  wollte,  er- 
folgte die  Pollution. 

Zur  Kohabitation  bevorzugt  er  Weiber  mit  gut  ent- 
wickelter Mamma,  überhaupt  gut  genährte  Frauen  mit  runden 
Formen.  Etwas  Vorliebe  besteht  für  blondes  Haar.  „Aus- 
schweihmgen“  und  Perversitäten  sind  ihm  verhasst;  doch 
macht  er  in  coitu  gern  den  succubus. 

Obszöne  Reden  sind  ihm  ein  Greuel;  er  hat  indessen 
unter  Freunden  oft  mit  gehalten,  um  als  „ganzer  Kerl“  zu  er- 
scheinen. Beim  Anziehen  von  Kostümstücken  erfolgt  keine 
Erektion,  nur  zieht  ein  „molliges  Gefühl“  durch  seinen  Körper. 
Sein  Interesse  richtet  sich  auf  das  ganze 
Kostüm,  ohne  Bevorzugung  von  Einzel- 
stücken der  Toilette. 


15 


Fail  !1. 

Herr  B.,  35  Jahre  alt.  verheiratet.  Zur  Frage  der  De- 
generation lässt  sich  in  Verwandtschaft  und  Vorfahrenreihe 
nichts  ermitteln.  Da  er  als  Kind  sehr  schwächlich  war  und 
sämtliche  Kinderkrankheiten  durchmachte,  so  lernte  er  spät 
gehen,  indessen  zeitig  sprechen  und  noch  vor  Schulbesuch 
lesen.  War  ängstlich  und  weinerlich.  Masturbation  vom  11. 
Jahre  an.  Nahm  meist  an  Knabenspielen  Teil,,  hatte  aber 
auch  Gefallen  an  mädchenhaftem  Benehmen.  War  geistig 
immer  sehr  rege  und  eignete  sich  eine  umfassende  Bildung  an. 
Neigte  zu  Schwärmereien  und  dichterischer  Stimmung. 

Status  praesens:  Figur  von  mittlerer  Grösse 

Konturen  mehr  mager.  Hände  und  Füsse  klein.  Muskulatur 
schwach  entwickelt.  Liebt  Tanzen  und  Reiten.  Haut  weiss 
und  rein.  Eine  Phimose  besteht  und  macht  zeitweilig  Be- 
schwerden. Haupthaar  im  Ausgehn  begriffen,  Körperbehaarung 
und  Bartwuchs  mittelstark.  Errötet  und  erblasst  leicht.  Kehl- 
kopf stark  vortretend,  Stimme  tief.  Ist  lür  wechselnde 
Stimmungen  zugänglich,  neigt  zur  Bequemlichkeit,  betreibt 
nur  die  „Beschäftigungen,  die  ihm  liegen“,  da  seine  Verhältnisse 
dies  gestatten.  Trinkt  ziemlich  viel,  ohne  es  immer  gleich  gut 
zu  vertragen.  Raucht  50 — 80,  ja  100  Zigaretten  täglich.  Ge- 
dächtnis lässt  nach,  Phantasie  üppig.  Hat  allerhand  künstle- 
rische und  wissenschaftliche  Passionen.  Möchte  einen  Beruf 
haben,  der  ihm  das  Reiten  und  das  Tragen  von  Damenkleidern 
gleichzeitig  gestattet. 

Vitasexualis:  xkus  den  Aufzeichnungen  des  Herrn 
B.  entnehmen  wir  folgende  Einzelheiten: 

„Bereits  in  meiner  zartesten  Kindheit, 
noch  lange  vor  dem  schulpflichtigen  Alter,  äusserten  sich  boi 
mir  die  Vorzeichen  meines  seelischen  Dualismus.  Und  zwar 
in  der  Weise,  dass  mich  weibliche  Kleidungsstücke  (meist  die 
Schüi'zen  meiner  Schwestern)  unwiderstehlich  verlockten,  sie 
im  Geheimen  anzulegen.  Später  begann  ich  mich  auch  für 
Ohrringe  zu  interessieren,  trotzdem  mir  bei  andern  Männern 
sowohl  Ohrringe  wie  Schürzen  (z.  B.  bei  Handwerkern)  höchst 
komisch  vorkamen  und  ich  überhaupt  eine  echt  knabenhafte 


16 


Verachtung  alles  Weiblichen  zur  Schau  trug,  was  mich  nicht 
hinderte,  eben  dasselbe  insgeheim  für  meine  Person  zu 
wünschen.  Ich  möchte  behaupten,  dass  dieser  Gegensatz  nicht 
auf  Verstellung  und  Scheinheiligkeit  beruhte,  sondern  , die  not- 
wendige Folge  meines  inneren  Dualismus  war.  Nebenbei;  ich 
war  ein  sehr  aufgeweckter,  begabter  Junge,  der  bereits  auf 
der  Volksschule  den  Pegasus  zu  besteigen  wagte.“ 

„Ungefähr  in  meinem  10.  oder  11.  Lebensjahre  verspürte 
ich  eines  Tages,  als  ich  nach  Knabenart  auf  einer  Wagen- 
deichsel turnte,  plötzlich  ein  heftiges  Lustgefühl  und  die 
Onanie  war  für  mich  erfunden.  Seither  wiederholte  ich  dies 
Experiment  so  oft  wie  möglich.  Stets  verband  sich 
damit  die  Vorstellung  vom  Verkleiden. 
Diese  und  später  ähnliche  Manipulationen  waren  ursprünglich 
sozusagen  rein  reflektorisch,  denn  in  meiner  absoluten  Un- 
kenntnis von  allem,  was  Geschlechtsleben  heisst,  wusste  ich 
lange  Jahre  nicht,  dass  ich  damit  eigentlich  Onanie  treibe. 

„ Als  Student  empfing  ich  mehrfach  Eindrücke,  die 
mich  weiter  auf  die  Bahn  des  Puellismus, 
wie  ich  es  nannte,  hindrängten.  So  las  ich 
von  Achill  in  Mädchenkleidern,  sah  den  ersten  Damenimitator, 
und  dergleichen  mehr.  Ohrringe  bei  Männern  und  Frauen, 
überhaupt  die  Damentoilette,  übten  in  diesen  Jahren  auf  mich 
eine  immer  stärkere  Wirkung.  Ich  fand  öfters  Ge- 
legenheit, heimlich  Damenkleider  anzu- 
legen und  versuchte,  mir  die  Ohrläpp- 
chen zu  durchstechen.  In  meiner  Einfalt  liess  ich 
aber  den  frischgestochenen  Wundkanal  immer  wieder  zuheilen; 
ich  schärfte  daher  die  Haken  der  Ohrringe  an  und  stiess  mir 
solchergestalt  die  Ohrläppchen  immer  wieder  von  neuem  durch, 
was  ich  wohl  einige  hundertmal  getan  haben  muss.  Weit 
entfernt,  dies  als  Schmerz  zu  empfinden,  verspürte  ich  viel- 
mehr stets  ein  derartiges  Wollustgefühl  dabei,  dass  ich  mir 
sehr  oft  einzig  deswegen  die  Ohrläppchen  durchstach,  auch 
wenn  ich  keine  Ohrringe  zur  Hand  hatte.“ 

„Uebrigens  verliebte  ich  mich  damals,  gleich  meinen 
Kameraden,  nur  etwas  später  als  sie;  als  träumerische  Seele 
stand  ich  meinen  Kollegen  in  praktischer  Hinsicht  überhaupt 


17 


immer  nach.  Obwohl  ich  meine  Geliebte  (natürlich  stets 
nur  ein  Mädchen)  mehrfach  wechselte,  so  blieb  es  doch 
immer  bloss  bei  schüchterner  Anbetung.  Schon  damals 
mischte  sich  in  meine  Liebesträume  die 
stets  wiederkehrende  Vorstellung,  die 
ich  so  gern  auszuspinnen  pflegte,  dass 
ich  nämlich  gleich  dem  geliebten  Mädchen 
auch  Mädchenkleider,  lange  Haare  und 
Ohrringe  trage  und  wir  beide  gegenseitig 
alle  diese  schönen  Sachen  bewunderten. 
Ein  Traum,  der  nun  endlich  in  meinem 
32.  Jahre  wenigstens  für  Augenblicke  zur 
Wirklichkeit  wurde.“ 

„Als  ich  mit  16  Jahren  das  Gymnasium  verliess,  fand 
ich  nicht  nur  im  Vaterhause  mehr  Gelegenheit  zur  Verklei- 
dung, ich  konnte  mir  sogar  nach  und  nach,  natürlich  heim- 
lich, eine  komplette  Damengarderobe  be- 
schaffen, Kleider,  Mieder,  Unterröcke, 
Hemden,  Höschen,  Perücken,  Schmuck, 
freilich  hier  in  erster  Reihe  viele  Paar 
Ohrgehänge.  Vorerst  behielt  ich  für  Ohrringe  die  oben 
erwähnte  Methode  des  Neueinstechens  bei,  die  manchmal  für 
mehrere  Tage  genügte.  Endlich  kam  es  dahin,  dass  die  Oeff- 
nung  nicht  mehr  zuheilte,  und  ich  konnte  die  Ohrringe  nun 
jederzeit  einhängen.  Anfangs  mischte  sich  bei  dieser  Wahr- 
nehmung in  meine  Freude  ein  gut  Teil  Angst  und  Scham, 
weshalb  ich  mir  lange  Zeit  noch  die  Löcher  in  den  Ohrläpp- 
chen zu  verstopfen  pflegte,  während  ich  sie  jetzt  gewisser- 
massen  ostentativ  zur  Schau  trage.“ 

„Ich  verkehrte  viel  mit  jungen  Damen;  am  liebsten  aber 
unterhielt  ich  mich  mit  ihnen  von  weiblichen  Angelegenheiten, 
besonders  von  Kleidern  und  Schmuck,  wobei  es  mir  schmei-' 
chelte,  wenn  sie  meine  Olirlöcher  bemerkten  und  mir  manch- 
mal ihre  Ohrringe  hineinhängten.  Dies  ist  für  mich  einer  der 
höchsten  Wollustmomente.“ 

„Den  Koitus  übte  ich  erst  nach  meinem  20.  Jahre  aus: 
dazu  musste  ich  noch  meine  Schüchternheit  und  meine  Ab- 
neigung gegen  alles  Körperlich-Sexuelle 

H i r RC  h fei rt,  Die  Transvestiten.  2 


18 


mit  Alkohol  betäuben.  So  blieb  es  auch  in  der  Folge,  bis 
ich  ein  Liebchen  fand,  bei  dem  ich  manchmal  und  öfter  auch 
nüchtern  die  nötige  Anregung  verspürte.  Doch  spielten  auch 
hierbei  Kleider  und  Ohrringe  eine  bedeutende  Rolle,  und  mein 
Mädchen  lernte  so  sehr  den  stimulierenden  Einfluss  der  Ohr- 
ringe schätzen,  dass  sie  mich  jedesmal  ante  actum  zum  Ein- 
hängen der  Ohrringe  ermahnte  resp.  dies  selber  besorgte. 

„Wenn  ich  nun  auch  seit  Jahren  permanent,  (d.  h.  auch 
zur  Männerkleidung)  Mieder,  Damenstrümpfe  mit  Strumpf- 
bändern, Armbänder,  manchmal  auch  Damenhemd,  Damenhös- 
chen, Halsband,  event.  (in  der  Fremde)  sogar  Ohrringe  trage, 
so  wuchs  doch  stets  mein  Wunsch,  mich  einmal  öffentlich  in 
Damenkleidern  zu  sehn  und  darin  photographieren  zu  lassen. 
Mein  Liebchen  ermöglichte  mir  dies,  und  so  besuchte  ich  mit 
ihr  1905  einen  und  1906  drei  Bälle  im  Damenkostüm;  des- 
gleichen Hess  ich  mich  mehrfach  photo- 
graphieren, für  michunvergessliche  Stun- 
den. Bevor  sienoch  meine  Frau  wurde,  was 
vor  kurzem  geschah,  versprach  sie  mir 
freiwillig,  sich  meiner  Eigenart  in  der 
Ehe  nicht  zu  widersetzen,  sondern  sie 
nach  Möglichkeit  zu  fördern.  Sie  hält  auch 
ihr  Wort.  Sind  wir  ganz  allein  in  unserer 
Behausung,  lässt  sie  mich  ihre  Kleider  an- 
ziehn,  und  auch  sonst  gibt  sie  mir  täglich 
zum  Schlafengehn  Damenhemd,  Nacht- 
jacke und  Ohrringe.“ 

„Zu  Männern  habe  ich  nie  Neigung  ver- 
spürt; bloss  als  Dame  verkleidet  habe  ich  g e r n mit 
ihnen  kokettiert  und  gespasst.  Wenn  ich  für  eine  Dame 
gehalten  wurde,  schmeichelte  es  mir  sehr.  Unter  meinen  Stu- 
diengenossen habe  ich  einen,  der  mir  seine  Vorliebe  für  Ver- 
kleidung eingestand.“ 

Fall  III. 

Herr  C.,  zwischen  40  und  50  Jahre  alt,  ausübender 
Künstler.  Triebabweichungen  oder  neuropathische  Erschei- 


19 


nungeii  sind  in  der  Familie  nicht  nachweisbar.  Die  Eltern 
wurden  ziemlich  alt;  unter  den  Vorfahren  heirateten  keine 
Blutsverwandten.  Ein  Vetter  soll  femininen  Eindruck  machen. 

Die  Kindheitsentwicklung  verlief  ohne  Besonderheiten, 
Merkwürdig  ist,  dass  er  bis  zu  den  Schuljahren  Mädchen- 
kleider trug,  ja  auch  später  noch  in  den  Ferien  (siehe  unten). 
Die  geistigen  Fähigkeiten  waren  immer  gut,  Literatur  und 
Kunst  interessierte  ihn  stets  am  meisten.  Erst  mit  20  Jahren 
traten  sexuelle  Regungen  auf;  auch  mutierte  damals  erst  die 
Stimme  in  unerheblichem  Masse.  Bartwuchs  mit  25  Jahren. 

Status  praesens;  Figur  schlank,  mager;  Kon- 
turen eckig.  Hände  und  Füsse  kräftig.  Muskulatur  normal 
entwickelt,  aber  weich.  Schritte  klein  und  fest  mit  sicht- 
barem Drehen  in  den  Hüften;  Haltung  etwas  vornüber  ge- 
neigt. Hautfarbe  rein,  weiss  und  glatt.  Kopfhaar  sehr  stark 
und  lockig;  Bartwuchs  schwach.  Schmerzempfindlichkeit  ziem- 
lich gross.  Blick  ruhig.  Gesichtsausdruck  männlich.  Kehl- 
kopf normal,  Sprechstimme  einfacher  Tenor;  Neigung  zu 
Fistelstimme  vorhanden. 

Gefühlsleben  weich,  rührselig,  mit  wechselnder  Stimmung. 
Liebt  seine  Ordnung,  ist  arbeitsam  und  anspruchslos,  unbestän- 
dig, aber  doch  hartnäckig.  Bildung  der  Tätigkeit  entsprechend 
vertieft;  Phantasie  lebhaft.  Plato,  Wagner,  Nietzsche  inter- 
essieren ihn  am  meisten. 

Vita  sexual!  s.  Sein  Geschlechtstrieb 
war  immer  auf  das  Weib  gerichtet;  und 
der  Verkehr  ist  nur  mit  dem  Weibe  mög- 
lich. Der  Gedanke  an  homosexuellen  Verkehr  ist  ihm  zu- 
wider. Er  wünscht,  als  Weib  geboren  zu 
sein.  Ging  eine  Ehe  aus  Neigung  ein,  ausserhalb  deren  er 
nie  mit  Frauen  verkehrte.  Eine  Reihe  von  gesun- 
den und  intelligenten  Kindern  ist  ihr 
entsprossen.  Er  hält  seinen  Zustand  für  angeboren, 
ist  vollständig  zufrieden  mit  ihm,  nur  wünscht  er  sich  ein 
entsprechendes  ^lilieu.  Er  hat  viel  und  scharf  über  seine  An- 
lage nachgedacht,  wie  man  aus  einigen  speziellen  Aeusserungen 
sieht,  die  hier  folgen: 


2* 


20 


Mein  Zustand  ist  so,  dass  ich  mich  unter  strengster  und 
gewissenhaftester  Selbstheohachtung  für  einen  mit  absolut 
weiblichen  Innenmitteln  und  Leidenschaften  ausgestatteten 
Mann  halte.  *)  Meine  Sehnsucht  beschränkt 
sich  nicht  auf  das  Frauenkostüm,  sondern 
erstreckt  sich  auf  ein  absolutes  Leben  als 
Frau,  mit  allen  Haupt  - und  Nebenerschei- 
nungen, natürlich  ohne  Paederastie.  Und 
zwar  ist  diese  Sehnsucht  so  intensiv  und 
ununt  erdrückbar  in  mir,  dass  mich  die  Un- 
erfüllbarkeit geradezu  mit  dem  Leben  in 
Konflikt  bringt  und  mich  nicht  glücklich  werden 
lässt,  trotz  aller  in  der  Ehe  und  meiner  Vaterschaft  vorhan- 
denen Bedingungen  zum  Glück. 

Mit  Anlegung  des  Frauengewandes  ändert  sich  mein 
ganzes  Verhältnis  zur  Aussenwelt.  Während  dieser  Meta- 
morphose, die  sich  bis  auf  die  Haarfrisur  erstreckt,  habe  ich 
einen  vollständig  anderen  Blick  in  das  Milieu;  das  Aussen- 
leben  wirkt  anders,  feiner  und  zarter  auf  mich  und  provoziert 
mich  zum  Nachempfinden  des  Feinen  und  Zarten.  Merkwür- 
digerweise ist  diese  Wirkung  so  universell,  dass  ich  in  der 
Verkleidung  einen  Abscheu  vor  dem  Bier  und  dem  Rauchen 
habe,  trotzdem  ich  ein  Liebhaber  von  beiden  bin.  Meine 
grösste  Sehnsucht  geht  dahin,  ungestört 
undunerkannt  als  Frau  leben  zu  können, 
und  das  Schlimmste,  was  ich  mir  für  meine  Zukunft  denke, 
ist  die  Unerfüllbarkeit  dieser  Sehnsucht. 

Der  ganze  abartige  Vorgang  in  meiner  Psyche  bewegt 
und  erledigt  sich  in  der  demonstrativen  Wahrnehmung  des 
Weiblichen  in  mir.  Ich  bin  fest  überzeugt,  dass 
die  Sucht  nach  dem  Frauengewand,  viel- 
mehr nach  dem  absoluten  Aeusseren  der 
Frau,  nichts  anderes  ist,  als  das  Hinein- 
wollen meines  weiblichen  Teils  in  seine  ur- 

•)  Wenn  derartige  Bemerkungen  hier  reproduziert  werden,  so  soll  das 
zunächst  nur  die  Psychologie  des  Aussagenden  illustrieren,  ganz  gleich,  ob 
das  kritische  Gesamtergebnis  diese  Behauptungen  annimmt  oder  verwirft. 


21 


s p r ü n g 1 1 c h e n Rechte  und  Formen.  Es  gibt 
Zeiten,  wo  ich  eine  direkte  Abneigung  gegen  die  männliche 
Kleidung  habe,  wo  mir  alles  Männliche  unmittelbar  Ekel  ver- 
ursacht. Ich  fühle  mich  vergewaltigt  und 
unfrei  und  flüchte  gewissermassen  in 
meinem  eigenen  Ich  umher,  um  aus  dem  Zu- 
stand herauszukommen.  Je  mehr  ich  aber  Macht 
über  den  Zustand  gewinne  und  je  mehr  ich  mich  auf  mich 
selbst  zurückkommen  fühle,  desto  intensiver  treten  meine 
männlichen  Wahrnehmungen  zurück  und  die  weiblichen  Ge- 
fühle hervor.  Wenn  ich  dann  alles  vom  ^lanne  von  mir  werfe 
und  das  weibliche  Aeussere  anziehe,  kann  ich  fast  physisch 
wahrnehmen,  wie  das  Falsche,  Gewalttätige  aus  mir  heraus  flüch- 
tet und  sich  wie  Nebel  verteilt.  Wenn  ich  dann  vor  dem 
Spiegel  soviel  Weibliches  an  mir  erblicke, 
werde  ich  vollständig  ruhig.  Ich  kann  die 
Ruhe  ganz  deutlich  wahrnehmen:  der  ganze 
Organismus  funktioniert  gleich  mässiger, 
es  ist  wie  ein  Ausruhn  bei  grosser  Müdig- 
keit, wie  das  Heimatsgefühl  derganzen  In- 
dividualität in  der  Rolle  der  Frau. 

Hundertmal  habe  ich  bestätigt  gefunden,  dass  mich  mein 
heller  Morgenrock  besonders  zur  Abfassung  wissenschaftlicher 
Arbeiten  disponiert,  dass  ein  anderer  blauer  Morgenrock 
äusserst  stark  auf  den  Stil  wirkt,  dass  ein  Strassenkostüm 
mit  weisser  Zierschürze  sowie  eine  sogenannte  Kabinets- 
robe  mich  ohne  weiteres  aus  der  drückendsten  Müdigkeit 
und  Unlust  heraus  zu  einer  künstlerischen  Arbeitsfähigkeit 
treibt,  die  ich  in  sonst  gar  keinem  Zustand  kenne. 

Auffallend  ist  mir  auch  immer  erschienen,  dass  ich  mich 
vergebens  gegen  die  Macht  des  Weiblichen  in  mir  sträube. 
Ich  bin  oft  so  ärgerlich  und  verdrossen  über  diese  Macht,  dass 
ich  mich  schämen  möchte  und  mich  mit  Gewalt  zur  Arbeit 
im  männlichen  Gewand  zwingen  will.  Aber  das  ist  mit  einer 
geradezu  verblüffenden  Unmöglichkeit  verbunden.  Es  kommt 
ja  vor,  dass  ich  in  solchem  Zwangszustand  etwas  leiste,  aber 
es  ist  immer  so,  dass  ich  nachher  daran  herumändern  muss. 
In  meiner  besten  Robe  und  mitsorgfältig  er 


22 


Haarfrisur  bin  ich  fähig,  so  unaufhaltsam 
und  mit  solcher  Spannkraft  künstlerisch 
zu  schaffen,  dass  es  so  leicht  keiner  glau- 
ben möchte,  wenn  er  es  nicht  selber  mit  an- 
gesehn  hat.  Diese  Fähigkeit  entdeckte  ich  an  mir,  als  ich 
aus  bestimmtem  Grunde  eine  Zeit  lang  nur  Frauenkleider  trug. 
Heute  ist  meine  Fähigkeit  zum  Arbeiten  direkt  vom  Frauen- 
kostüm abhängig.  Ich  bin  felsenfest  überzeugt,  dass  ich  das 
denkbar  Künstlerischste  leisten  könnte,  wenn  ich  einmal  in 
die  Lage  versetzt  würde,  ganz  als  Frau  zu  leben  und  durch 
nichts  mehr  an  den  Mann  erinnert  zu  werden. 

Meine  ganzen  Nebenneigungen  sind  auch  direkt  weiblich. 
Ich  habe  Lust  zu  allen  Arbeiten,  die  direkt  zur  Domäne  der 
Frau  gehören,  und  zwar  steht  mir  diese  Arbeit  vollständig 
zu  Gesicht.  Meine  Frau  bestätigt  es  mir  täglich,  und  es 
kommt  ja  auch  in  unserm  Haushalt  deutlich  zum  Ausdruck, 
indem  ich  mich  inKüche  undWirtschaft  von  meiner 
Berufsmüdigkeit  erhole  und  mich  ablenke.  Das  alles  ist 
übrigens  bei  mir  ein  so  gewohnter,  alltäglicher,  ich  kann 
sagen  Normalzustand,  dass  ich  erst  im  Verlaufe  der  Explo- 
ration zu  dem  Auffälligen  komme,  das  in  dieser  Rolle  liegt. 

Zu  den  besonderen  Fragen  kann  ich  noch  folgendes  aus 
sagen.  Nach  Bestätigungen  des  gleichen  Zustandes  bei  an- 
deren Personen  oder  in  Büchern  habe  ich  nie  gesucht;  ich 
habe  überhaupt  nicht  daran  gedacht,  da  mir  alles  an  mir 
selbstverständlich  erschien,  wenn  auch  von  der  Regel  ab- 
weichend. 

Laxe  Lektüre  mag  ich  grundsätzlich  nicht;  ich  suche 
auch  in  meinem  Nebenzustand,  wie  ich  das  Feminine  in  mir 
auffassen  will,  keine  sexuelle,  wenigstens  keine  physisch  sexu- 
elle Befriedigung.  An  solche  Wirkungen  denke  ich  nicht, 
sondern  ziehe  das  Frauenkleid  genau  so  an.  wie  der  Mann 
das  männliche  Habit.  Der  einzige  Unterschied 
besteht  nur  darin,  dass  ich  an  mir  als  Frau 
einen  äusserst  feinen,  ästhetischen  Ge- 
nuss habe,  aus  dem  sich  ja  auch  die  Po- 
tenzierung meiner  Kunstfertigkeit  her- 
leitet. Ich  habe  ein  sehr  ausgeprägtes  Geschmacksgefühl 


23 


dem  Frauenkleid  gegenüber.  Sowohl  in  der  Wahl  der  Farbe 
wie  im  Schnitt,  überhaupt  in  der  spezifischen  Wahl  eines 
Kostümmusters  für  eine  bestimmte  Persönlichkeit,  im  Stoff- 
unterschied, Decor  usw.  bis  hinüber  zur  Haltung  und  dem 
Faltenwurf  ist  mein  Geschmack  absolut  weiblich  und  als 
solcher  immer  zutreffend. 

Ich  habe  früher  in  Bühnenkreisen  sehr  oft  anerkannte 
Erfolge  mit  meinem  Geschmack  gehabt  und  wurde  von  Damen 
gern  um  meine  Ansicht  gefragt.  Wenn  meine  Mittel 
es  mir  erlaubten,  würde  ich  als  Frau  einen 
fulminanten  Luxus  treiben,  im  Gegensatz 
zu  meiner  ^lännlichkeit,  wo  mir  auch  das 
geringste  Decor  zuwider  ist.  Meine  persönlichen 
Ansprüche  erstrecken  sich  auch  auf  Dessous.  Am  sympathisch- 
sten sind  mir  weisse  Röcke  mit  Festons  oder  feiner  gross- 
maschiger  Spitze. 

Einer  Perücke  bedarf  ich  nicht.  Ich  habe  sehr  schweres, 
massiges  und  gelocktes  Haar,  dass  ich  nie  kurz  schneiden 
lasse,  sondern  stets  so  halte,  dass  ich  es  befestigen  und  da- 
rauf eine  Flechtenfrisur  anbringen  kann.  Meine  weiblichen 
Bewegungen  sind  ziemlich  harmonisch,  wenn  auch  nicht  ele- 
gant. Letzteres  Manko  kommt  auf  Konto  meines  männlichen 
Oberkörpers.  Korsett  trage  ich  nur  bei  der  Metamorphose. 
Ueberhaupt  ist  meine  weibliche  Umklei- 
dung stets  konsequent,  ich  bin  sonst  nicht 
zufrieden  und  fühle  immer,  dass  etwas 
fehlt. 

Zu  der  Frage,  warum  ich  bis  in  die  erste  Schulzeit  hin- 
ein Mädchenkleider  tragen  musste  oder  tragen  durfte,  kann 
ich  noch  folgende  nähere  Angaben  machen:  Obwohl  ich  keine 
positiven  Unterlagen  dafür  habe,  nehme  ich  an,  dass 
mein  Grossvater  oder  meine  Grossmutter  irgendwie  abartig 
waren;  denn  sonst  könnte  ich  mir  garnicht  erklären,  was  sie 
veranlasste,  mich  so  lange  in  Mädchenkleidern  zu  belassen. 
Mir,  dem  Kinde  fiel  das  nicht  auf,  weil  ich  es  nicht  anders  ge- 
wohnt war;  ausserdem  wohnten  meine  Grosseltern  abseits  von 
der  Kultur  auf  einem  alten  Erbhof,  wo  sie  eine  Hauderei 
mit  Landwirtschaft  betrieben.  Ich  erinnere  mich,  dass  ich 


24 


für  das  Hofpereonai  nur  immer  die  „Hanne“  war;  noch  später 
rief  mich  der  Grossvater  mit  diesem  Namen.  Meiner  An- 
sicht nach  kann  aber  an  tliesem,  von  Kind- 
heit an  gewohnten  Zustande  meine  Femi- 
ninität  nicht  liegen.  Sonst  hätte  ich  sie  bei 
meinem  peinlich  proppern,  gegen  alles  Bedenkliche  protestie- 
renden Zustand  längst  überwunden,  sogar  als  widerlich 
empfunden.  Der  Gedanke,  dass  ein  wirklicher  Mann  Frauen- 
kleider trägt,  ist  mir  an  sich  direkt  unangenehm.  Darum 
denke  ich,  muss  die  Leidenschaft  von  Vorfahren  stammen,  die 
analog  beanlagt  waren. 

Mit  Frauen  habe  ich  ante  matrimonium  nie  verkehrt; 
durch  einen  Arzt  wurde  mir  bestätigt,  dass  ich  mit  20  Jahren 
die  Geschlechtsreife  erlangt  hatte.  Pollutionen  erfolgten  in 
den  üblichen  Zwischenräumen. 

Ich  habe  eine  sehr  schwere,  entbehrungsreiche  Jugend  und 
Studienzeit  durchlebt  und  wurde  auf  das  „Ochsen“  geradezu 
trainiert.  Sehr  deutlich  erinnere  ich  mich  noch  meines  Mies- 
gefühls, als  ich  von  den  Grosseltern  abgeholt,  zu  einem  Oheim 
„Professor“  in  Erziehung  gegeben  wurde,  und  nun  das  Tragen 
der  Mädchenkleider,  das  sich  in  Intervallen  bis  ins  13.  Jahr 
erhalten  hatte,  ganz  aufhörte. 

Dass  ich  in  coitu  gern  succubus  sein  möchte,  ist  mir 
allerdings  selbst  schon  aufgefallen.  Doch  habe  ich  es  nie  prak- 
tisch ausgeübt;  es  ist  etwas,  dessen  Unebenheit  mir  zum  Be- 
wusstsein kommt,  also  im  Gegensatz  zum  Tragen  des  Frauen- 
kleides, und  in  solchen  Fällen  lege  ich  mir  die  denkbarsten 
selbsterzieherischen  Schrauben  an.  Andererseits  muss  ich 
sagen,  dass  ich  mich  als  Frau  nur  ganz  konsequent  denken 
kann.  Ich  habe  sogar  das  starke  Begehren 
nach  einer  Schwangerschaft  gehabt,  und 
konnte  mich  nur  durch  die  Unebenheit 
des  Gedankens  überzeugen,  dass  das  „ver- 
rück t“  sei. 

Meine  Potenz  ist  nicht  abhängig  von  meiner  Weiblich- 
keit oder  dem  Einfluss  derselben  auf  meine  männliche  Leiden- 
schaft. Auf  die  Idee  der  Kompletierung 


25 


meines  idealen  Zustandes  durch  einen 
Mann  bin  ich  noch  nie  gekommen. — 

Einige  Monate  nach  der  Exploration  hatte  Herr  C.  ein 
psychisches  Erlebnis,  das  vielleicht  in  unbewusstem  Zu- 
sammenhänge mit  der  Frage  des  Explorators  stand,  ob  noch 
nie  (wie  in  mehreren  analogen  Fällen)  der  vorübergehende 
Wunsch  nach  Komplementierung  seines  idealen  Weibzustandes 
durch  einen  männlichen  Partner  aufgetaucht  sei.  Herr  C.,  der 
in  dieser  Zeit  durch  geschäftliche  Umstände  ziemlich  irritiert 
war,  berichtet  darüber  ungefähr  folgendermassen; 

„Ich  stand  vor  einem  Gemälde,  das  ein  in  absolut  gegen- 
sätzlichen Charakteren  ausgeprägtes  Liebespaar  darstellte. 
Der  Mann  ein  Hüne,  und  die  Frau  mir  zum  Verwechseln  ähn- 
lich. Das  Interieur  des  Bildes  deutete  die  Uebermacht 
des  Männlichen  über  das  Weibliche  an.  Auf 
den  Gesichtern  lag  ausgedrückt,  bei  dem  einen  das  Empfangen 
des  höchsten  sinnlichen  Glücks,  beim  andern  das  Selbstbe- 
wusstsein eigener  Machtfülle  und  das  Umsetzen  dieses  Ge- 
fühls in  Lust.  Seit  dem  Anblick  dieses  Bildes  befinde  ich 
mich  in  einer  gewissen  L^nruhe;  ich  glaube  fast,  ich  sehne 
mich  nach  dem  ^lann,  und  zwar  nach  einer  seelisch  und  kör- 
perlich starken  Persönlichkeit.  Diese  Voistellung  hat  bereits 
nächtliche  Traumgestalt  gewonnen  und  mich  empfindlich  auf- 
gestört. Merkwürdig  ist  auch,  dass  mir  meine  Frau 
jetzt  „männlich"  vorkommt.  Vielleicht  trägt 
dazu  bei,  dass  sie  seit  einiger  Zeit  wegen  schmerzhafter  Be- 
gleiterscheinungen auf  die  Kohabitation  verzichtet,  ohne  dass 
sie  im  mindesten  unter  der  Abstinenz  leidet.  Je  mehr  ich  da- 
gegen abstinent  zu  leben  gezwungen  bin,  um  so  mehr  erkenne 
ich  in  dem  tätigen  und  zuweilen  hartnäckigen  Charakter 
meiner  Frau,  in  ihren  etwas  eckigen  Formen  das  männliche 
Element.  “ — 

Herr  C.  litt  infolge  Heses  verstärkten  Zwiespaltes  und 
sonstiger  nervös  machender  Angelegenheiten  an  einer  ziem- 
lichen Depression.  Doch  ging  diese  nach  aufklärender  Aus- 
sprache bald  vorüber,  und  die  beunruhigende  Sehn- 
sucht nach  dem  Manne  entschwand  wieder 
völlig  aus  seinem  Bewusstsein. 


26 


Fall  IV. 

Herr  D.,  Kaufmann,  in  den  Dreissigern.  Triebab- 
weichungen oder  Zeichen  von  Degeneration  in  der  Verwand- 
schaft sind  nicht  nachweisbar.  Die  Kindheitsentwdcklung  ver- 
lief normal;  nur  wmrde  das  Sprechen  etwas  spät  erlernt. 
Beim  Schulunterricht  interessierte  ihn  besonders  Zeichnen 
und  Geographie.  Geschlechtsreife  mit  141Z  Jahren,  Stimm- 
wechsel mit  16,  Bartwuchs  mit  20,  erste  geschlecht- 
liche Regung  in  den  Zw'anzigern. 

Status  praesens;  Figur  gross,  schlank,  verhält- 
nismässig mager.  Hände  und  Füsse  von  mittlerer  Grösse. 
Muskulatur  schwach  entwickelt;  ausser  zu  Fusstouren  besteht 
keine  sonderliche  Neigung  zum  Sport.  Schritte  klein,  leichtes 
Drehen  in  den  Hüften.  Haut  glatt,  weiss.  Haupthaar  von 
mittlerer  Stärke,  Bartwuchs  unbedeutend,  geringe  Körperbe- 
haarung. Schmerzempfindlichkeit,,  ziemlich  gross,  errötet 
leicht.  Gesamteindruck  des  Gesichts  absolut  männ- 
lich. Kehlkopf  wenig  hervor  tretend;  Stimme  laut,  Mittel- 
lage, Neigung  zu  Fisteltönen. 

Besitzt  ein  recht  gleichmässiges  Temperament,  ist  ord- 
nungsliebend, neigt  aber  zur  Bequemlichkeit,  raucht  gar  nicht, 
trinkt  sehr  mässig.  Gedächtnis  gut,  Phantasie  lebhaft;  sein 
Ideal  aus  der  Geschichte  ist  Schiller.  Möchte  Konfektionär 
oder  Damenfriseur  sein. 

Vita  sexualis:  Die  spät  erwachende 

Libido  war  immer  auf  das  Weib  gerichtet. 
Hat  nur  koitiert  und  sich  nie  homosexuell  be- 
tätigt ; dennoch  erklärt  er  den  Verkehr  mit  beiden  Ge- 
schlechtern für  möglich;  er  möchte  einen  Mann  lieben  oder 
von  einem  solchen  geliebt  werden,  der  so  ganz  den  „Typus 
Mann“  vertritt.  Der  Geschlechtstrieb  soll  bis  zum  26.  Jahre 
völlig  beherrschbar  gewesen  und  Masturbation  nie  getrieben 
worden  sein.  Er  hat  geheiratet  und  führt  ein  „ziemlich  be- 
friedigendes“ Eheleben.  Hat  einen  Knaben,  an  dem  bisher 
nichts  Abnormes  bemerkt  wurde. 

Aus  seinen  vielfachen  biographischen  Niederschriften  ent- 
nehmen wir  noch  folgende  Einzelheiten; 


27 


„Es  war  zur  Zeit  meiner  Konfirmation,  als  ich  auf  einem 
Familienfest  etwas  hörte,  das  mein  ganzes  Denken  gefangen 
nahm.  Eine  Freundin  meiner  Mutter  erzählte  uns,  ihr  Sohn, 
ein  junger  Seminarist,  sei  eines  Tages  in  Damenkleidern  an- 
gekommen und  so  unkenntlich  gewesen,  dass  sowohl  sie  als 
ihr  Gatte  längere  Zeit  mit  ihm  sprachen,  ohne  zu  ahnen,  wer 
er  sei.“ 

„Die  Vorstellung  von  dieser  Szene  reizte  mich  so,  dass 
ich  meine  Mutter  bestürmte,  mir  ein  Aehnliches  zu  erlauben. 
Allein,  es  wurde  nichts  daraus.  Als  jedoch  bald  darauf  meine 
Eltern  Sonntags  ausgingen  und  ich  das  Haus  zu  hüten  hatte, 
zog  ich  mir  heimlich  das  cremefarbene 
Damastkleid  meiner  Mutter  an.  Bei  dieser  Be- 
schäftigung bekam  ich  zum  ersten  Mal  in  meinem  Leben  eine 
Erektion.  Ich  hatte  ein  naives  Gefühl,  dies  sei  eine  „Sünde“ 
und  unterliess  in  der  Folge  das  Anziehn  der  Kleider.  Dafür 
legte  ich  indessen  öfters  heimlich  Schmuck  und  Handschuhe 
an  und  sammelte  Ausschnitte  aus  Modejournalen.“ 

„Eines  Tages  las  ich  von  einem  amerikanischen  Offizier, 
der  die  entzückendsten  Damentoiletten  der  ganzen  Stadt  be- 
sässe  und  sich  nur  im  Dienst  als  Mann  bewegte.  Ein  ander- 
mal stand  in  der  Zeitung,  das  Tragen  von  Schmucksachen  nehme 
in  Berlin  überhand;  man  könne  Boutons  und  Dameuringe  von 
erlesenem  Geschmack  sogar  bei  Herren  wahrnehmen.  In  einem 
andern  Blatt  beklagte  sich  eine  Dame  über  die  Mode  der  Arm- 
bänder bei  der  ^Männerwelt;  sie  beschrieb  sogar  ein  wunder- 
volles Perlenhalsband,  das  sie  am  Halse  eines  Mannes  ge- 
sehen hätte;  ferner  trüge  ein  Herr  eine  reizende  Muffe,  um 
seine  zarten  Hände  vor  der  Kälte  zu  schützen.  Solche 
Notizen  w'aren  damals  geeignet,  mein 
ganzes  Sein  in  fiebernde  Erregung  zu  ver- 
setzen, wie  sie  auch  heute  noch  unaus- 
löschlich fest  in  mir  haften.“ 

„Später  wurde  ich  ein  begeistertes  Mitglied  des  christ- 
lichen .Tünglingsvereins  und  schlug  mir  im  Verkehr  mit  Gleich- 
altrigen solche  Phantasien  gewaltsam  aus  dem  Sinn.“ 

„Im  Alter  von  etwa  21  Jahren  lernte  ich  meine  jetzige 
Frau  kennen.  Nie  hatte  ich  vordem  zu  einem  lebenden  weih- 


28 


liehen  Wesen  eine  Zuneigung  verspürt;  fasste  aber,  ganz  im 
Gegensatz  zu  meinem  sonst  barschen  Wesen,  augenblicklich 
eine  herzliche  Liebe  zu  ihr,  sodass  der  Wunsch  aufstieg,  ver- 
eint mit  ihr  durchs  Leben  zu  gehn.  Aber,  teils  aus  Gründen 
meines  (ziemlich  entschieden  zur  Schau  getragenen)  Christen- 
tums, teils  wegen  des  Keuschheitsgelübdes,  bewahrte  ich  meiner 
Braut  gegenüber  sechs  Jahre  hindurch  strengste  Zurück- 
haltung; ja  noch  mehr,  mir  kamgarnicht  der  Gedanke,  meiner 
Geliebten  je  so  etwas  anzubieten.“ 

.,Wir  vermählten  uns  endlich.  Der  Koitus,  der  mir  voll- 
ständig neu  war,  gelang  während  der  ersten  drei  Wochen 
nicht,  sodass  ich  einen  mir  wohlgesinnten  Pfarrer  aufsuchte, 
um  seinen  Rat  in  der  Angelegenheit  zu  erfragen.  Er  erklärte 
mir  indessen,  er  selbst  sei  Junggeselle  und  wisse  mit  den 
Dingen  nicht  Bescheid;  ich  müsse  zu  einem  Arzt  gehen.“ 
„Wir  waren,  meine  Frau  und  ich,  sehr  betrübt,  dass 
unsere  allabendlichen  Bemühungen,  die  oft  die  halbe  Nacht 
beanspruchten,  von  so  negativem  Erfolge  gekrönt  wurden. 
Da  blätterten  wir  eines  Abends  in  Modebildern  umher  und 
besprachen  aufs  eifrigste  die  Kostümfrage,  die  ja  für  jede 
Frau  eine  wichtige  Sorge  ist.  Ich  fühlte  mich  hierbei  seltsam 
angeregt,  und  lenkte  meine  Gedanken  unwillkürlich  auch 
während  des  folgenden  Koitusversuches  auf  den  Gegenstand 
meiner  ehemaligen  Lieblingsträumerei.  Dabei  fühlte  ich  end- 
lich eine  heftige  Ejakulation.“ 

..Damals  begann  ich  zu  ahnen,  wie  es  um  mich  steht. 
Heute  weiss  ich  es:  ich  weiss,  dass  mir  nicht  körperliche 
Reize,  nicht  der  Liebeskuss  die  erste  Ejakulation  zuzogen, 
sondern  lediglich  der  intensive  W^’unsch, 
W’’eib  zu  sein,  weiblich  zu  fühlen  und  zu 
denken.  Von  Freunden  hörte  ich  es  hunderte  von  Malen, 
sie  brauchten  nur  ein  reizvolles  Geschöpf  oder  auch  nur  einen 
weiblichen  Arm  oder  Busen  zu  sehn,  um  sofort  ..hingerissen“ 
zu  sein.  Nichts  von  alledem  bei  mir.“ 

..Seit  dieser  Zeit  nun  kann  ich  keinen  Beischlaf  aus- 
üben, ohne  mich  selbst  dabei  als  Weib  vorzustellen.  Wenn 
meine  Frau  in  coitu  ihre  Nägel  in  meine  Ohrläppchen  presst 
und  so  in  mir  das  Gefühl  hervorruft,  als  besässe  ich  Ohr- 


29 


gehänge,  oder  wenn  sie  ihre  Arme  um  meine  Taille  legt,  und 
mich  immer  stärker  an  sich  drückt,  sodass  ich  das  Gefühl 
habe,  stark  geschnürt  zu  sein:  dann  bleibt  sicher  die  Erektion 
nicht  aus.“ 

„Während  ich  sonst  also  meiner  Neigung  verhältnis- 
mässig wenig  nachgebe,  lebe  und  webe  ich  als  Weib  haupt- 
sächlich in  der  Phantasie  während  des  Koitus.  Ich  sehe  mich 
in  den  mannigfachsten  Toiletten,  angefangen  vom  Pagen- 
kostüm, das  mir  noch  als  das  unantastbarste,  immerhin 
doch  noch  den  Mann  darstellende  Kleid,  erscheint.  Als  ein  Page 
mit  allen  möglichen,  mehr  ins  Weibliche  spielenden  Nuancen, 
möchte  ich  Konzerte,  Theater  und  erste  Restaurants  be- 
suchen. Ich  denke  mir  einen  Gehrock  ä la  Roccocco  mit 
Spitzenmanschetten,  kurzen,  seidenen  Beinkleidern,  durch- 
brochenen Strümpfen  und  feinen  Schuhen;  dazu  kostbares  Ohr-, 
Arm-  und  Fingergeschmeide  zum  Ausputz  des  Ganzen.  So 
für  die  Oeffentlichkeit.  “ 

..Fürs  Haus,  sogar  zum  Besuch  bei  Be- 
kannten, möchte  ich  ganz  Weib  sein  und 
begehre  richtige  Haus-,  Strassen-,  Diner- 
und  Ballkleidung,  kurz:  alles,  was  zum 
Staat  einer  richtigen  Dame  gehört.“ 

„Mein  Empfinden  erscheint  mir  durchaus  weiblich. 
Rauchen,  Trinken,  Kartenspielen  u.  dgl.  sind  mir  verhasst. 
Ich  mag  keine  schmutzige  Lektüre,  keine  gemeinen  Redens- 
arten und  geniesse  den  Ruf,  überhaupt  kein  richtiger  Mann 
zu  sein,  da  man  mich  riesig  naiv  findet  und  zweitens  sich 
hüten  muss,  die  unter  Herren  üblichen  „Zotereien“  in 
meiner  Gegenwart  vorzubringen.  Im  Geschäft  heisst’s  allge- 
mein: an  Ihrem  Block  gehts  am  alleranständigsten  zu,  da 
Sie  jede  zweideutige  Bemerkung  gleich  rügen.“ 

„Mein  sexueller  Wunsch  ist  nicht  das  Weibsein  des 
Damenimitators,  sondern  mein  Ideal  wäre,  ein  physiologisch 
echtes  Lieba<;leben  als  Weib  mit  einem  Manne  zusammen  zu 
führen.  Ein  Herr,  der  mich  öfter  auf  der  Strassenbahn  fixierte, 
spielt  hier  eine  bedeutsame  Rolle  in  meinen  Gedanken. 
Sein  Aeusseres  faszinierte  mich.  Er  war  von  meiner  Figur, 
■?  elegant  wde  ein  ehemaliger  Offizier,  seine  feine  Kleidung  gut 


30 


anschliessend,  sein  Schnurrbart  wohlgepflegt,  sein  keineswegs 
zu  grosses  Auge  voller  Ausdruck.“ 

„Vor  einiger  Zeit  klärte  mich  ein  Freund  über  die  Art 
des  homosexuellen  Empfindens  auf.  Ich  gestehe  offen,  die 
Welt  der  unbegrenzten  Möglichkeiten,  die  sich  da  meiner 
Phantasie  eröffnete,  hat  etwas  so  bezauberndes,  wie  ich  mir 
einen  heterosexuellen  Verkehr  garnicht  vorstellen  könnte.  (Hoc 
scribens  jam  sentio  erectionem  penis  mei  antea  flaccidi.') 
Mir  kommt  es  vor,  als  würde  mich  keine  sexuelle  Handlung 
mit  einem  Manne  ekeln.  Viros  nonnunquam  mentulam  in  os 
feminarum  immittere,  quasi  ad  abluendum,  saepius  mihi  re- 
latum  est.  Ego  libenter  os  meum  praebere  veilem,  si  amator 
aliquis  id  me  posceret.  Equidem  femora  latissime  aperirem, 
si  amicus  libidine  vera  permotus  me  futuere  vellet.  Manch- 
mal schon  träumte  ich  so,  und  es  war  herrlich,  „sein  Weib“ 
zu  sein.  Er  liebte  mich,  gab  mir,  woran  mein  Herz  hängt 
und  machte  mich  zum  ersten  Mal  in  meinem  Leben  zu  einem 
glücklichen  Geschöpf.  Würde  er,  wie  es  manche  Männer  mit 
ihren  Weibern  zu  tun  pflegen,  mich  im  Zimmer  nackt  um- 
hergehn lassen,  auch  dies  würde  ich  ihm  zu  Gefallen  tun; 
nur  müssten  meine  Füsse  in  zierlichen 
Stiefeletten  stecken,  und  sonst  in  jeder 
Hinsicht  das  Dekorum  einerDame  gewahrt 
werde  n.“ 

Diese  letztere  Stelle  schrieb  Herr  D.  unter  der  momen- 
tanen Wirkung  einer  erotischen  Phantasie.  Später  flau- 
ten diese  Ideen  bei  ihm  völlig  ab. 

Nachzutragen  wäre  noch,  dass  er  immer  ein  goldenes 
Armband,  zeitweilig  auch  ein  Korsett  trägt.  Nach  seinen 
Handarbeiten  gefragt,  gibt  er  an,  soeben 
seien  fertig  geworden  „3  ganze  Hemd- 
passen mit  Achselstücken  und  2Paar  Bein- 
kleidansätze aus  feinem  Garn.“ 


31 


Fall  V 

Herr  E.,  im  Kunstgewerbe  tätig,  ca.  40  Jahre  alt, 
stammt  von  gesunden  Eltern.  Abweichende  Anlagen  oder  De- 
generationszeichen  sind  in  der  Verwandtschaft  nicht  nach' 
zuweisen.  Die  körperliche  Kindheitsentwicklung  verlief  nor- 
mal. Mädchen  gegenüber  war  er  schon  in  frühester  Jugend 
ungemein  schüchtern;  hatte  zu  Mädchenspielen  oder  Mädchen- 
beschäftigung keine  bemerkbare  Neigung.  Im  Hause  fand 
strenge  Erziehung  statt;  von  geschlechtlicher  Verführung  war 
keine  Eede.  In  der  Schule  zeigte  er  sich  als  befähigter  und 
guter  Schüler,  hielt  sich  aber  von  den  Kameraden  zurück, 
weil  ihm  deren  Gebaren  wenig  zusagte.  Geschlechtsreife  trat 
im  15.  Jahre  ein,  nicht  sehr  bedeutender  Stimmwechsel  mit 
17  Jahren,  Bartwuchs  bis  zum  25.  Jahre  sehr  spärlich,  nach- 
her etwas  stärker. 

Status  praesens:  Breite  der  Hüften  etwas  ge- 
ringer, als  die  der  Schultern.  Körperlinien  rundlich,  leichter 
Panniculus  adiposus.  Oberarme  und  Oberschenkel  mehr  ge- 
rundet als  abgeflacht.  Füsse  von  mittlerer  Grösse,  Hände 
von  der  Arbeit  etwas  mitgenommen.  Muskeln  nicht  beson- 
ders kräftig  entwickelt,  hat  für  Gymnastik  wenig  Interesse. 
Schritt  fest,  beim  Gehen  leichtes  Drehen  in  den  Hüften. 
Rumpf  wird  gerade  gehalten.  Hautfarbe  weiss,  Gesicht  ge- 
bräunt, sonst  glatt.  Haupthaar  kräftig  entwickelt,  schlicht; 
Brust  frei  von  Behaarung,  Unterschenkel  behaart,  Bart- 
wuchs mässig.  Errötet  und  erblasst  leicht.  Adamsapfel  tritt 
wenig  hervor;  Stimme  in  der  Mittellage,  Fistelstimme 
durch  Hebung  ausgebildet. 

Bei  starken  Gemütseindrücken  Neigung  zum  Weinen,  die 
aber  meist  unterdrückbar  ist.  Gedächtnis  und  Aufmerksam- 
keit gut,  Phantasie  rege.  Fähigkeit  und  Neigung  für  lite- 
rarische und  künstlerische  Aufgaben.  Weder  Abneigung,  noch 
Drang  zu  weiblicher  Beschäftigung.  Sport  interessiert  gar- 
nicht,  dagegen  Mode,  Theater,  Pferde.  Hunde.  Liest  viel, 
Romane  und  Wissenschaftliches. 

Vita  sexualis:  Im  Alter  von  4 Jahren 
und  später  versuchte  er  zuerst,  das  Kleid 


32 


seiner  Schwester  anzuziehn,  und  war  sehr  ge- 
niert, wenn  man  diese  Versuche  bemerkte. 
Er  setzte  sie  dann  heimlich  fort,  mit  dem  deutlichen  AVunsche. 
lieber  ein  Mädchen  sein  zu  wollen.  Dasselbe  Gefühl  trieb 
ihn  dazu,  sich  unter  Mädchen  aufzuhalten  und  hauptsächlich 
nur  mit  ihnen  zu  spielen.  Mit  dem  vierzehnten 
Jahre  trat  der  Drang  nach  der  Frauen- 
kleidung deutlicher  ins  Bewusstsein.  Vom 
17. — 19.  Jahre  verspürte  er  weniger  davon,  was  er  auf  die 
starke  Arbeitstätigkeit  in  dieser  Periode  schiebt.  Dann  be- 
gann es  von  neuem  bei  Gelegenheit  von  privaten  Bühnen- 
spielen, um  sich  vom  30.  Jahre  an  zu  verstärken.  In  der 
Karnevalszeit  hat  er  regelmässig  seinen  Schnurrbart  ge- 
opfert, um  kostümrecht  zu  sein,  und  stets  nur  mit  Be- 
dauern die  Frauenkleidung  wieder  abge- 
legt. Lange  Strümpfe  und  Korsett  trägt 
er  fast  immer  unter  seiner  Männerklei- 
dung. ln  dieser  raucht  er  gern,  was  er  im  Frauen- 
kostüm nie  tut.  Das  Kostüm  wirkt  auf  die  Arbeitslaune  und 
allgemeine  Stimmung  anregend,  doch  ist  die  Potenz  nicht 
davon  abhängig.  Der  Trieb  war  immer  auf  den 
coitus  cum  femina  gerichtet;  erste  Betätigung 
Anfang  der  Zwanziger.  In  actu  ist  er  gern  succu- 
b u s.  Triebstärke:  durchschnittlich  zwei  Ejakulationen  in 
der  Woche.  Von  Homosexualität  ist  keine 

Spur  vorhanden. 

Im  folgenden  geben  wir  einige  biographische  Aufzeich- 
nungen des  Herrn  E.  fast  ohne  stilistische  Aenderuiig  wieder, 
weil  sie  einen  guten  Einblick  in  die  Irrungen  und  Wirrungen 
gewähren,  die  das  Liebesieben  bei  dieser  Anlage  zeitigen  kann. 
Man  sieht,  wie  „normal“  diese  Männer  fühlen,  trotzdem  sie 
das  weibliche  Kostüm  bis  in  die  subtilsten  Einzelheiten  am 
eigenen  Leibe  zu  tragen  begehren.  Gleichzeitig  bilden  die  er- 
zählten Vorgänge,  von  deren  W’ahrheitstreue  wir  uns  durch 
Photographieen  etc.  überzeugt  haben,  einen  Beitrag  zur 
Psychologie  einer  Frau,  die  sich  wie  ein  Pro- 
teus in  alle  Situationen  zu  finden  und  diese  zu  eigenem  Nutz 
und  Frommen  geschickt  auszubeuten  versteht: 


33 


„In  grosser  'Vutregung  sass  die  ganze  Familie  heim 
Mittagstisch;  meine  Schwester,  weil  abends  ihr  erster  Ball 
sein  sollte,  ich.  ein  lünizehnjähriger  Sekundaner,  weil  ich  zu 
dieser  Gelegenheit  als  Kunstschütze  auftreten  sollte  und  meine 
Mutter,  weil  alle  Vorarbeiten  aui  ihren  Schultern  ruhten.  Ge- 
gessen wurde  kaum  etwas,  denn  Mutter  und  Schwester  dachten 
an  ihre  Toiletten  und  ich  wollte  meine  beiden  Gewehre  noch 
nachsehen  und  putzen,  hatte  auch  noch  meine  Schularbeiten 
zu  machen. 

Mein  Schwesterlein  musste  aber  doch  zur  Küche  hin- 
unter, um  Kompott  herauf  zuholen,  da  — ein  schriller  Auf- 
schrei, dem  sekimdenianges,  dumpfes  Gepolter  folgte,  — das 
arme  Mädchen  war  oben  ausgerutscht  und  die  ganze  Treppe 
hinuntergefallen.  Blutüberströmt  schleppte  man  sie  wieder 
herauf  und  bettete  sie  auf  dem  Sofa.  Schlimm  war  zum  Glück 
die  Verletzung  nicht,  das  Unglück  war  aber  doch  schwer  zu 
ertragen,  denn  zwei  Zähne  fehlten  im  Prachtgebiss  und  furcht- 
bar schwoll  die  verletzte  Oberlippe  an,  — mit  dem  Ball  war 
es  diesmal  nichts. 

Nun  lag  sie  auf  dem  Sofa  und  ächzte  und  schrie,  teils 
wegen  der  Kieferschmerzen,  teils  wegen  der  Seelenpein,  dass 
alle  ihre  Freundinnen  nun  abends  glänzen  würden,  sie  aber 
mit  einer  Kompresse  auf  dem  Plappermäulchen  zu  Hause  liegen 
müsse.  Mütterchen  allerdings,  optimistisch  wie  alle  Mütter, 
hoffte  noch  auf  eine  Wendung  zum  Bessern  und  kühlte  und 
strich  ohne  Ermüden,  es  half  aber  nichts,  die  Zähne  blieben 
fort  und  die  Lippen  schwollen  mehr  und  mehr.  Dabei  lag 
der  Ballstaat  im  Schlafzimmer  auf  den  Betten  ausgebreitet 
und  jauchzte  förmlich  seinen  Herrinnen  entgegen. 

Noch  war  der  laute  Jammer  nicht  zur  stillen  Ergeben- 
heit abgeflaut,  da  erschien  ein  befreundeter  Herr  Vom  Ball- 
Komitee  und  hatte  mit  meiner  Mutter  eine  lange  Unterredung, 
deren  Gegenstand  ich  war.  Wieso,  sollte  ich  gleich  darauf 
erfahren;  mein  Mütterchen  kam  nämlich  ungewohnt  freund- 
lich zu  mir,  der  ich  meine  Pechen-Exempel  machte  und  fragte 
mich  kurz  und  bündig,  ob  ich  Lust  hätte,  als  Mädchen  ver- 
kleidet heute  Abend  meine  Schiesskünste  zu  zeigen.  Das  Pro- 
gramm sei  leider  insofern  verdruckt  worden,  als  an  Stelle 

HirscliTeld.  Dio  Transvestiten.  ^ 3 


34 


meineö  ehrlichen  männlichen  Vornamens  sich  ein  weiblicher 
eingeschlichen  habe,  neugedruckt  könne  nicht  mehr  werden, 
also  entweder  — oder. 

Im  Innersten  meiner  Seele  war  nach  der  ersten  Ueber- 
raschung  ein  namenloser  Jubel.  Ich  als  Mäd- 
chen verkleidet,  in  Mädchen-Röcken?  So- 
lange ich  zu  denken  vermochte,  war  das 
mein  verborgener,  heisser  Wunsch  ge- 
wesen, um  so  heisser,  je  unerfüllbarer  er 
mir  erschien.  Im  Alter  von  fünf  Jahren,  noch  ehe  ich 
zur  Schule  kam,  ehe  ich  eine  Ahnung  vom  anderen  Geschlecht 
hatte,  machte  ich  den  Gang  der  Mädchen  nach,  das  Wiegen 
in  den  Hüften  und  hoffte,  die  Leute  würden  glauben,  ich  sei 
ein  Mädchen  in  Knabenhosen.  Auch  das  Kleidchen  meiner 
Schwester  hatte  ich  mir  heimlich  angezogen  und  mein  Kinder- 
herz pochte  vor  Freude,  dass  es  sich  um  meine  Glieder 
schmiegte.  Als  Quintaner  hätte  ich  gern  mein  ganzes  Leben 
dahingegeben,  wenn  ich  nur  drei  Tage  lang  ein  Mädchen  sein 
dürfte,  und  jetzt  sollte  sich  mein  Herzenswunsch  so  plötz- 
lich erfüllen? 

'Meine  Mutter  sah  den  Kampf  in  meinen  Zügen,  fasste 
es  aber  anders  auf,  legte  die  Hand  auf  meine  Schulter  und 
sagte:  Lieber  Junge,  Du  brauchst  Dich  nicht  zu  schämen 
oder  zu  ängstigen,  wir  ziehen  Dir  das  Ballkleid  von  Deiner 
Schwester  an,  Du  benimmst  Dich  recht  manierlich  und  gleich 
nach  Deinem  Auftreten  holt  Dich  Minna  ab  und  bringt  Dich 
nach  Hause,  dann  bist  Du  wieder  mein  lieber  Junge  und 
kein  Mensch  merkt  etwas!  Und  so  redete  sie  auf  mich  ein, 
denn  sie  glaubte,  auch  ich  würde  es  wie  andere 
Jungen  meines  Alters  als  schwerste  Be- 
leidigung empfinden,  in  Mädchenkleider 
gesteckt  zu  werden. 

Wie  glücklich  es  in  luir  war,  das  mochte  ich  meiner 
Mutter  doch  nicht  zeigen,  ich  schämte  mich  dessen 
und  tat  sehr  geknickt,  so  dass  mir  allerlei  Vergünstigungen 
zugesagt  werden  mussten,  um  meine  Stimmung  zu  heben. 
Unter  Anderem  schlug  ich  als  geriebener  Geschäftsmann 


35 


Apfelkuchen  mit  Sahne  zum  Kaffee  heraus.  Dann  aber  ging 
es  an  die  Toilette. 

Erstlich  wurde  ich  gründlich  mit  Wasser  und  Seife  ge- 
säubert, denn  am  Hals  hatte  ich  einen  ewigen  dunklen 
Streifen,  vom  Kragen  herrührend.  Dann  zog  man  mir  ein 
Spitzenhemdchen  an,  dessen  Berührung  mir  das 
Herrlichste  auf  Erden  dünkte.  Etwas  Mühe 
machte  das  Korsett,  die  Spitzenhöschen  sassen  aber  wie  ange- 
gossen und,  0 Wonne,  ein  kurzes  weisses  Unterröckchen  flog 
dann  über  meinen  Kopf  und  wurde  kunstgerecht  um  die 
Taille  zugebunden.  Noch  ein  Spitzen-Unterrock  von  blenden- 
dem Weiss  kam  darüber,  dann  musste  ich  mich  setzen  und 
mein  Haar  wurde  als  Tituskopf  zu  Löckchen  gebrannt.  Heisses 
Erröten  lohte  über  mein  Gesicht,  als  man  mir  einen  dis- 
kreten kleinen  Busen  ausstopfte  und  bald  stand  ich  fertig  da 
und  kam  mir  wie  eine  ^lärchenprinzessin  vor. 

Mein  Mütterchen,  die  Schneiderin,  unsere  Küchenfee  Minna, 
alle  drei  rutschten  um  mich  herum,  zupften  hier,  strichen 
dort  und  stichelten  an  mir  herum;  denn  so  genau  wollte  das 
Kleid  doch  nicht  passen.  Mich  übermannte  bald 
die  Scham,  meinen  Angehörigen  so  gegen- 
über zu  stehen,  bald  aber  durchtobte  mich 
ein  -Jubel,  dass  endlich  einmal  mein  sehn- 
lichster Wunsch  erfüllt  war.  Zwischen  diesen 
beiden  Gefühlen  schwankte  ich  hin  und  her. 

Als  ich  versuchsweise  die  Röcke  etwas  hob  und  meine 
durchbrochenen  weissen  Strümpfe  imd  die  zierlichen  Atlas- 
schuhe sah,  da  war  mir.  als  sei  ich  nie  anders  gegangen,  als 
komme  mir  alles  das  zu.  Knabenhosen  erschienen 
mir  greulich  und  ekelhaft. 

Nur  mit  halber  Aufmerksamkeit  hörte  ich  auf  mein 
Mütterchen,  das  mir  noch  Verhaltungsmassregeln  gab;  wie 
aus  weiter  Ferne  schlug  die  Stimme  meiner  Schwester  an 
mein  Ohr,  die  mir  nachrief:  Pfui,  schäme  Dich  doch,  Du  bist 
ja  gar  kein  Junge,  Du  bist  blos  ein  Mädchen!  Der  Kummer, 
auf  meinem  Körper  ihr  geliebtes  Ballkleid  sehen  zu  müssen, 
veranlasste  sie,  ihr  eigenes  Geschlecht  so  minderwertig  hin- 
zustellen. — Dann  ging  Minna  mit  mir  ab  und  brachte  mich 

3* 


36 


zu  Wilkes,  die  mich  in  Obhut  nehmen  wollten,  da  meine 
Mutter  nun  ebenfalls  dem  Fest  fernblieb. 

Ich  will  nur  kurz  erwähnen,  dass  W’’ilkes,  Vater,  Mutter 
und  Tochter,  mich  erst  etwas  zweifelnd  aufnahmen,  dann  sich 
aber  am  liebsten  totgelacht  hätten,  so  aussergewohnlich  er- 
schien ihnen  der  Scherz. 

Als  wir  in  den  Festsaal  traten,  war  alle  meine  anfäng- 
liche Angst  von  mir  gewichen,  fest  und  selbstbewusst  schritt 
ich  an  Erna  Wilkes  Seite  durch  den  Saal  und  trug  meine 
Kleider,  als  hätte  ich  nie  in  Knabenhosen  gesteckt.  Wie 
leicht  und  herrlich  ging  es  sich  in  den  steif  gebügelten  Röcken, 
es  war  mir,  als  schwebte  ich  dahin!  WTe  im  Fluge  eilten 
die  Minuten,  und  bald  stand  ich  in  meinem  weissen  Kleid 
auf  der  Bühne  und  zog  mit  fester  Hand  mein  Gewehr  an 
die  Schulter.  Schuss  auf  Schuss  sass  mit  einer  Sicherheit, 
wie  ich  sie  noch  niemals  erreicht  hatte, 
jedenfalls  infolge  der  Aufregung,  die  schon  von  jeher  meine 
Hand  nicht  zittern,  sondern  fester  werden  liess.  — 
In  meinen  Bewegungen  hatte  ich  etwas  eckiges,  ungraziöses; 
das  findet  man  ja  bei  Backfischen  sehr  häufig;  es  fiel  darum 
bei  mir  nicht  im  Entferntesten  auf.  Originell  wirkte  es  aber, 
als  ich  unter  grossem  Beifall  abtreten  wollte,  dass  ich  nicht 
den  üblichen  Knicks  machte,  sondern  mit  präsentiertem  Ge- 
wehr stramm  stand,  bis  der  Vorhang  endgiltig  herunter 
war. 

Minnas  Versuche,  mich  mitzubekommen,  wurden  mit  Ent- 
rüstung abgeschlagen,  ich  spielte  meine  Rolle  als  Balldame 
weiter  und  habe  manche  recht  komische  Bemerkung  gehört. 
Ein  alter  Major  kniff  in  meine  Wrangen  und  sagte:  Sag  mal, 
mein  Töchterchen,  Du  schiessest  so  brillant,  warum  bist  Du 
kein  Junge  geworden?  Dich  hätten  wir  brauchen  können!  Der 
grösste  Teil  der  Festteilnehmer  ahnte  garnicht,  dass  ich  ein 
Junge  war;  ich  hörte  und  sah  darum  mancherlei,  was  Knaben 
meines  Alters  sonst  nicht  erfahren.  Wenn  auch  mein  Tanzen 
etwas  holprig  ausfiel,  still  gesessen  habe  ich  nie,  sondern 
flog  von  einem  Arm  in  den  andern,  mit  wehenden  Röcken 
drehte  ich  mich  so  gut  es  ging. 


3' 


Am  folgenden  Tage  durfte  ich  noch  einmal  mein  Ball- 
kleid anziehen,  es  ging  zum  Photographen.  [Das  Bild  hat 
uns  Vorgelegen.] 

Einige  Monate  später  hatte  ich  in  D.  meine  erste  Stellung 
angetreten  und  hauste  in  einem  hübsch  möblierten  Zimmer. 
Meine  Photographie  als  Mädchen  schmückte  meinen  Tisch, 
denn  eben  hatte  sie  meine  Schwester  mir  in  einem  Briefe 
nachgesandt.  Meine  Wirtin,  eine  Redakteurs-Witwe  von  etwa 
vierzig  Jahren,  brachte  das  Abendessen  und  fragte,  ob  das 
das  Bild  meiner  Schwester  sei.  Ich  hatte  keine  Ursache,  die 
Wahrheit  zu  verschweigen  und  erzählte  ihr  von  meinem  Ball- 
abend, was  bei  ihr  grosses,  etwas  ungläubiges  Staunen  her- 
vorrief. Dann  bat  sie  und  drängte,  ich  möchte  doch  scherzes- 
halber die  Kleider  ihrer  Tochter  anziehen,  sie  könne  sich 
garnicht  vorstellen,  dass  so  etwas  möglich  sei.  Ich 
schlüpfte  mit  tausend  Freuden  in  die 
weichen  Gewänder  und  was  war  die  Folge? 
Sobald  da  6 Geschäft  seinePforten  schloss, 
stürzte  ich  eiligst  nach  Hause,  eins  — 
zwei  — drei!  waren  die  Männer-Kleider  ab- 
gestreift, und  Korsett  und  weiche  Unter- 
röcke hüllten  meine  Glieder  ein.  So  ging  es 
einen  Tag  wie  den  andern.  Mit  keinem  Kollegen  verkehrte 
ich,  kein  Freund  konnte  sich  meiner  rühmen.  Nach  Hause, 
in  meine  geliebten  Frauenkleider,  das  war  meine  einzige 
Sehnsucht! 

Mein  ganzes  Gehalt  ging  für  Kleider, 
Hüte,  Unterröcke  und  Wäsche  darauf.  Die 
Zeit  war  aber  auch  herrlich.  Abends  ging 
ich  als  Mädchen  mit  meiner  Wirtin 
spazieren,  hatte  bei  einer  ahnungslosen 
Schneiderin  Anproben  und  genoss  mit 
tiefen  Atemzügen  die  herrliche  Luft  des 
Hofgartens.  Morgens  sass  ich  in  Unterrock  und 

spitzenbesetzter  Nachtjacke  am  Kaffeetisch  und  fuhr  jedesmal 
mit  tiefem  Bedauern  in  die  Männerhosen,  um  zum  Geschäft 
zu  gehen.  Sonntags  blieb  ich  überhaupt  in  den  Kleidern, 
ging  früh  mit  meiner  Wirtin  spazieren,  oft  auch  zur  Kirche, 


38 


nachmittags  machten  wir  Besuche  bei  befreundeten  Familien, 
die  mich  für  ein  wirkliches  Mädchen  hielten,  oder  wunderten 
in  der  Umgebung  der  Stadt.  Kurz,  es  war  so  schön,  wie  ich 
es  in  meinen  Träumen  nicht  einmal  mir  ausgemalt  hatte.  Da- 
bei w'ar,  wie  ich  ausdrücklich  bemerken  will,  meine  Wirtin 
stets  diskret  zu  mir  und  hat  nie  die  Grenzen  des  erlaubten 
Verkehrs  überschritten. 

Diese  überaus  herrliche  Zeit  nahm  ein  jähes  Ende;  meine 
Firma  fallierte,  und  trotz  aller  ^lühe  fand  ich  in  D.  keine 
zweite  Stellung.  Mit  tiefer  Trauer  musste  ich 
scheiden,  reich  an  Mädchen-Kleidern,  arm 
an  Männerkleidern,  noch  ärmer  an  Geld.  H. 
nahm  mich  in  seine  Mauern  auf,  hier  setzte  ich  die  Jagd  nach 
dem  Glück  fort. 

Hart  tobte  hier  der  Kampf  ums  Dasein  und  dem  Elend 
kam  ich  trotz  allen  Mühens  um  eine  Stellung  näher  und 
näher.  Eines  Sonnabends,  als  ich  wiederum  meine  Miete  nicht 
bezahlen  konnte,  machte  ich  mich  schweigsam  aus  dem  Staube, 
meinen  wohlgefüllten  Koffer  mit  den  Kleidern  der  gierigen 
Megäre,  die  sich  meine  Wirtin  nannte,  preisgebend.  Tm 
dunkelsten  Winkel  der  Hafenstadt  fand  ich  ein  jammervolles 
Loch,  das  nicht  im  Voraus  bezahlt  w'erden  brauchte,  und  von 
dieser  Verborgenheit  aus  suchte  ich  weiter  verzweiflungsvoll 
nach  Beschäftigung. 

Ein  paar  Tage  später  fiel  mir  in  einem  Kaffee-Keller  das 
„Hamburger  Fremdenhlatt“  auf.  Darin  stand  zu  lesen,  dass 
ich  (mein  voller  Name  war  angegeben)  vermisst  werde,  denn 
ich  hätte  mich  heimlich  aus  meiner  Wohnung  entfernt,  ohne 
irgendwelche  Nachricht  von  mir  zu  geben.  Nach  meinem  Ver- 
bleiben hätten  meine  Wirtsleute  meinen  Koffer  geöffnet,  um 
vielleicht  über  meine  Herkunft  etwas  zu  erfahren,  zu  ihrem 
Staunen  habe  sich  dadurch  eine  Vermutung  bestätigt,  dass 
ich  nämlich  ein  verkleidetes  Mädchen  sei,  das 
aus  irgend  einem  Gnmde  im  Männer-Anzug  bei  ihnen  ge- 
mietet und  gewohnt  habe.  Aus  meinem  Aussehen  und  meinem 
Benehmen  hätten  sie  das  allerdings  schon  längst  geschlossen, 
erst  der  Inhalt  des  Koffers  habe  aber  die  Gewissheit  erbracht. 
Zum  Schluss  fand  sich  die  tröstliche  Bemerkung,  die  Polizei 


39 


habe  sich  des  Falles  angenommen,  um  Licht  in  die  Geschichte 
zu  bringen. 

Xun  war  kein  Halten  mehr,  zitternd  und  bebend  wankte 
ich  zum  Telegraphenamt  und  bat  meine  Mutter  zum  ersten 
Mal  um  etwas  Geld  zur  Reise  nach  C. 

Dort  traf  ich  am  folgenden  Tage  bettelarm  ein.  Das 
Glück  war  mir  aber  günstig;  denn  ich  fand  nicht  allein  eine 
gute  Stellung,  sondern  auch  recht  netten  Anschluss  durch 
Kollegen  in  einer  literarischen  Vereinigung.  Dort  sollte  eines 
Abends  eine  Pantomime  aufgeführt  werden,  deren  Damenrolle 
man  mir  übertrug,  und  das  gab  Anlass  zu  einem  Erlebnis, 
dass  ich  hier  wahrheitsgetreu  schildern  will. 

Zu  dieser  Pantomime  hatte  ich  mir  ein  recht  ele- 
gantes Strassenkostüm  von  einem  Damenschneider 
machen  lassen,  auch  eine  annehmbare  Perücke  war  mein  eigen, 
so  dass  ich  eine  ganz  gute  Figur  machte.  Eines  Abends  fand 
Kostümprobe  statt,  ich  zog  mich  zu  Hause  als  Dame  an  und 
ging  die  weite  Strecke  zum  Treffort  zu  Fuss.  Dadurch  und 
durch  das  häufige  Wiederholen  des  Zusammenspiels  wurde  es 
später,  als  man  gedacht  hatte,  und  zum  Schluss  stand  ich 
vor  der  Haustür  meiner  Wohnung  und  konnte  nicht  hinein, 
weil  — ich  den  Schlüssel  vergessen  hatte.  Dem  Portier  mochte 
ich  mich  in  meinen  Frauenkleidern  nicht  zu  erkennen  geben; 
ich  hoffte,  es  würde  noch  jemand  kommen  und  ging  auf  und 
ab.  Da  kam  eine  Droschke  gefahren  und  heraus  stieg  eine 
Dame,  die  in  ihrem  Handtäschchen  suchte  und  — auch  keinen 
Schlüssel  fand.  Diese  Dame  rief  mich  an  und  fragte,  ob  ich 
etwa  aufschliessen  könne.  Als  ich  verneinte,  stand  sie  einen 
Augenblick  vor  mir,  als  ob  sie  noch  etwas  sagen  wollte, 
ging  dann  aber  auch  gleich  mir  nur  der  Kälte  wegen  auf 
und  ab. 

Wir  hatten  uns  einigemale  schon  gekreuzt,  da  machte 
sie  eine  gleichgültige  Bemerkung,  die  mich  zwang,  an  ihrer 
Seite  zu  bleiben,  obgleich  mir  das  nicht  sehr  erfreulich  schien; 
es  dauerte  aber  nicht  lange,  da  waren  wir  in  der  schönsten 
Unterhaltung.  Dabei  konnte  ich  sie  beobachten  und  sehen, 
dass  sie  niedlich  und  schlank  war  und  vorzüglich  über  alles 
zu  plaudern  wusste.  Wie  wir  so  nebeneinander  gingen,  waren 


40 


wir  von  gleicher  Grösse,  sie  aber  trotz  der  Winterkleidung 
weit  schlanker  in  der  Taille  als  ich.  Was  wir  erzählten, 
weiss  ich  nicht  mehr,  iler  Stoff  ging  uns  aber  nicht  aus,  denn 
als  wir  uns  trafen,  war  es  zwischen  10 — il  Uhr,  als  wir 
endlich  durch  einen  Dritten  ins  Haus  hineinkonnten  und  uns 
darum  trennen  mussten,  schlug  es  drei  LIhr  und  beide  waren 
wir  erschrocken;  denn  wir  hatten  geglaubt,  es  sei  kaum 
Mitternacht. 

Sie  mochte  aber  Gefallen  an  mir  gefunden  haben,  denn 
sie  lud  mich  zum  Abschied  ein,  am  anderen  Abend  punkt 
8 Uhr  zum  Abendessen  bei  ihr  zu  sein.  Sie  klagte,  dass  sie 
gar  keinen  Verkehr  mit  andern  Damen  habe,  ihr  Mann  sei 
schon  lange  gänzlich  gelähmt,  und  wenn  wir  zusammen 
passten  und  ich  sie  recht  häufig  besuchen  könne,  sei  sie 
mir  recht  dankbar. 

Noch  nie  war  ich  so  unaufmerksam,  wie  anderen  Tags 
im  Geschäft.  Vormittags  sagte  ich  mir.  dass  es  an  Wahn- 
sinn grenze,  wenn  ich  wirklich  hingehen  würde.  Zum  Nach- 
mittag meldete  sich  erst  ganz  leise,  dann  immer  lauter  die 
Lust  an  diesem  kühnen  Unternehmen  und  abends  um 
6 Uhr  sass  ich  im  Korsett  und  kurzemUnter- 
röckchen  vor  dem  Spiegel  und  rasierte  mich,  ob- 
gleich ich  hierzu  keine  Ursache  hatte;  denn  Bartwuchs  war 
kaum  vorhanden  trotz  meiner  21  Jahre.  Um  8 Uhr  klingelte 
ich  an  ihrer  Wohnung,  ein  Dienstmädchen  nahm  mir  Jackett, 
Hut  und  Schirm  ab  und  sagte,  die  Gnädige  habe  schon  mehr- 
fach nach  mir  gefragt.  Mit  klopfendem  Herzen  stand  ich 
einen  Augenblick  darauf  vor  ihr  und  sah,  dass  sie,  eine  ele- 
gante, schöne  Erscheinung,  auf  einem  Divan  lag  und  gelesen 
hatte. 

Sie  erhob  sich,  reichte  mir  beide  Hände  und  drückte  mich 
in  einen  Sessel,  dabei  fühlte  sie,  dass  ich  vor  Aufregung 
zitterte.  Aber  liebstes  Fräulein,  sagte  sie  und  streichelte 
meine  Hand,  ich  bin  Ihnen  für  Ihr  Kommen  so  dankbar  und 
Sie  zittern?  Diese  Nacht  an  meiner  Seite  so  mutig  und 
tapfer  und  jetzt  etwa  ängstlich?  Dann  plauderte  sie  so  lieb 
und  herzig,  dass  ich  aller  Angst  vergass  und  auch  auftaute 
und  hier  und  da  ein  Wort  riskierte.  Meine  Sorge  war,  sie 


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könnte  etwas  merken,  ich  war  darum  äusserst  vorsichtig,  sie 
ahnte  aber  nichts  und  sprach  unbefangen  und  nett.  Dann 
klang  ein  Gong  und  rief  zu  Tisch;  da  legte  sie  den  Arm  um 
meine  Taille  und  führte  mich  in  den  Speisesaal.  Zu  meinem 
grössten  Schrecken  fand  ich  hier  ihren  Mann,  der  hilflos  in 
einem  Stuhl  hereingeschoben  wurde. 

Sie  wollte  mich  ihrem  Mann  vorstellen,  da  fiel  ihr  ein, 
dass  sie  nicht  einmal  meinen  Namen  wusste.  In  meiner 
Fassungslosigkeit  sagte  ich  meinen  wirklichen  Vor-  und 
Familien-Namen,  nämlich  Willi  B . . .,  das  fiel  aber  nicht 
weiter  auf  und  sie  nannte  mich  einfach  „Fräulein  Willi“,  ihr 
Mann  ebenfalls. 

Gegessen  habe  ich  nicht  viel,  das  möge  man  mir  glauben; 
auch  meine  Unterhaltung  war  recht  einsilbig,  aber  mit  tiefer 
Freude  im  Herzen  konnte  ich  konstatieren:  Keiner  von 
beiden  merkt,  dass  ich  kein  Weib  bin. 

Nach  dem  Essen  sassen  wir  in  ihrem  netten  Zimmer  zu- 
sammen; nun  ging  die  Unterhaltung  schon  besser.  Wie  es 
unter  Damen  üblich  ist,  kam  die  Rede  zuletzt  auf  Toiletten. 
Sie  sprang  auf:  Wollen  Sie  mein  Neuestes  sehen?  Entzückend, 
sage  ich  Ihnen,  o,  das  müssen  Sie  sehen!  Sie  eilte  hinaus  und 
brachte  ein  Kostüm  herein,  so  zart,  so  duftig,  wie  ein  in 
Spitzen  übersetztes  Gedicht.  Dieses  Wunderwerk  breitete  sie 
vor  mir  aus. 

In  schweigendem  Entzücken  betrachteten  wir  es  eine 
Weile;  dann  fragte  sie  mich,  ob  ich  es  anprobieren  wolle,  wir 
hätten  doch  beide  dieselbe  Figur  und  sie  möchte  zu  gern 
sehen  wie  es  mir  stehe.  Mit  Entsetzen  wehrte  ich  ab;  denn 
mir  fiel  das  Luftkissen  ein,  das  meinem  Busen  seine  üppige 
Rundung  verlieh.  Ich  mag  nicht  in  Sie  dringen,  aber  wollen 
Sie  mir  behilflich  sein,  dann  zieh  ich  es  mir  an  — sagte 
sie.  Dazu  war  ich  gern  erbötig;  ich  half  der  schönen  Frau 
Rock  und  Taille  ausziehen  und  erwies  mich  durchaus  ge- 
schickt dabei. 

Noch  heute,  also  fast  20  Jahre  später,  ist  es  für  mich 
ein  Kunstgenuss,  ein  hübsches  Frauchen  im  Korsett  und  nied- 
lichem Unterröckchen  zu  sehen.  Damals  kochte  in  meiner 
ganzen  Phantasie  alles  über,  es  war  ein  Brausen  und  Drängen 


42 


in  mir,  als  das  schöne  Weib  so  vor  mir  stand.  Dieser  süsse 
weisse  Busen,  dieser  Nacken,  auf  den  das  braunrote  Haar 
schattierte,  das  war  mir.  dem  gänzlich  unverdorbenen  .Jüng- 
ling, eine  Offenbarung,  die  mir  meine  Ueberlegung  raubte. 
Ich  stürzte  auf  sie  zu,  riss  sie  an  mich  und  küsste  sie  auf 
den  Mund  und  auf  den  Busen,  dass  jeder  Kuss  wie  ein 
brennend  roter  Fleck  sich  von  der  weissen  Haut  abhob. 

Halb  ohnmächtig  vor  Schreck  sank  sie  in  die  Kniee  auf 
den  Teppich;  als  ich  dort  weiterküssen  wollte,  mochte  ihre 
Besinnung  zurückkehren,  denn  nun  wehrte  sie  sich  verzweifelt 
und  kam  endlich  wieder  auf  die  Füsse.  Sind  Sie  wahnsinnig? 
rief  sie  und  stiess  mich  mit  beiden  Händen  zurück,  was  soll 
ich  von  Ihnen  denken?  Instinktiv  musste  aber  plötzlich  die 
Ahnung  der  Wahrheit  in  ihr  auf  dämmern,  sie  flüchtete  hinter 
einen  Sessel  und  mit  einem  Gesichtsausdruck,  den  ich  nie  ver- 
gessen werde,  rief  sie:  Sie  sind  kein  Mädchen,  Sie  sind  ein 
Mann,  ein  verkleideter  Mann!  Hochaufgerichtet,  mit  wogen- 
dem Busen,  aus  dem  hellen  Gesicht  brannten  wie  Feuer  die 
schönen,  goldbraunen  Augen,  streckte  sie  den  weissen  Arm 
zur  Tür  aus  und  befahl:  Hinaus!  — 

In  der  kalten  Abendluft  kam  ich  langsam  zur  Erkenntnis 
dessen,  was  geschehen.  Ich  wanderte  den  einsamen  Ubier- 
Ring  entlang  dem  Rhein  zu  und  starrte  innerlich  zerrissen 
in  die  Fluten  und  in  die  treibenden  Eisschollen.  Erst  als  ich 
von  Leuten  angeredet  wurde,  die  in  mir  eine  selbstmord- 
lüsterne Dame  vermuteten,  raffte  ich  mich  soweit  auf.  dass 
ich  nach  Hause  gehen  konnte. 

Die  Nacht  zu  schildern,  möge  man  mir  erlassen.  Gegen 
Morgen  fasste  ich  einen  Plan  und  der  beruhigte  mich  soweit, 
dass  ich  endlich  einschlief.  Ich  w'olltc  meine  Miete  für  den 
Monat  nicht  abwohnen,  sondern  in  aller  Frühe  mein  Zimmer 
verlassen,  um  in  eine  neue  Wohnung  fern  von  ihr  überzu- 
siedeln. Alles  andere,  nur  nicht  etwa  sie  zufällig  treffen! 

Morgens,  als  ich  zum  Geschäft  gehen  wollte,  traf  ich 
auf  der  Treppe  den  Briefträger,  der  mir  einen  Brief  gab.  Ich 
kannte  die  Handschrift  der  schönen  Frau  nicht,  aber  ich 
wusste  genau,  der  Brief  ist  von  ihr.  Sehr  beunruhigt  ging 
ich  zum  Geschäft  und  hatte  keinen  Mut,  aufzuschneiden  und 


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zu  lesen.  Als  ich  mich  aber  endlich  dazu  auf  gerafft  hatte, 
da  wusste  ich  nicht  recht,  ob  ich  wache  oder  träume,  ich 
drehte  das  Blättchen  hin  und  her  und  las  noch  einmal  und 
noch  einmal.  Schliesslich  begriff  ich  aber  doch  und  zwar 
am  ersten  das  eine,  dass  sie  mir  nicht  mehr  böse  war,  son- 
dern mich  zum  nochmaligen  Besuch  einlud.  Das  Schreiben 
lautete:  Sehr  geehrter  Herr!  Nachdem  eine  Stunde  seit  Ihrem 
Fortgange  verflossen  ist,  habe  ich  mich  soweit  beruhigt,  dass 
ich  die  ganze  Angelegenheit  mit  kritischem  Auge  zu  be- 
trachten vermag.  Leider  komme  ich  zu  dem  Schluss,  dass 
ich  Ihnen  sehr  Unrecht  getan  habe,  da  ich  unedle  Motive  ver- 
mutete. Ich  bitte  Sie  darum  inständigst,  mein  schroffes  Auf- 
treten mit  meinem  Schrecken  entschuldigen  zu  wollen  und 
würde  mich  sehr  freuen,  Sie  heute  Abend  in  derselben 
Verkleidung  in  meiner  Wohnung  begrüssen  zu  können. 

Eine  Unterschrift  fehlte;  ich  wusste  trotzdem  Bescheid 
;md  sehnte  nun  mit  aller  Inbrunst  den  Abend  herbei.  Wie 
gestern,  so  empfing  sie  mich  auch  diesesmal.  nur  dass  sie 
nicht  so  verführerisch  auf  dem  Divan  lag.  Unsere  Unter- 
haltung war  aber  einfach  kläglich,  denn  sie  vermied  jede 
Anrede,  sagte  weder  ..Herr”  noch  „Fräulein“,  und  ich  empfand 
es  sehr  peinlich,  dass  sie  die  Wahrheit  über  mich  wusste. 
Nachdem  minutenlange  Pausen  in  unserem  Gespräch  ein- 
traten. erhob  ich  mich,  um  mich  zu  verabschieden,  sie  reichte 
mir  kaum  die  Fingerspitzen  und  ich  ging  in  dem  nieder- 
drückenden Gefühl  zur  Eingangstür,  dass  ich  doch  eine 
jammervolle  Rolle  gespielt  habe.  In  diesem  Empfinden  über- 
sah ich  den  Bärenkopf,  der  an  dem  grossen  Fell  auf  dem  Fuss- 
boden  lag,  ich  stolperte,  trat  mir  auf  den  Rock  und  fiel 
elendiglich  lang  hin. 

Meine  Zuschauerin  sagte  kein  Wort,  ich  merkte  aber, 
dass  sie  ihr  Taschentuch  in  den  Mund  stopfte,  um  nicht  laut  zu 
lachen,  dann  platzte  sie  aber  doch  heraus,  und  in  aller 
Verlegenheit  erhob  ich  mich  und  lachte  mit;  was  blieb  mir 
auch  weiter  übrig?  Sie  beruhigte  sich  nur  schwmr,  meine 
Haltung  amüsierte  sie  immer  wieder  von  Neuem.  Sie  rief 
mich  zurück  und  sagte:  Kommen  Sie,  liebes  Fräulein,  so 

können  Sie  nicht  f ortgehen.  Vom  Rock  ist  das  ganze  Futter 


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abgetroten,  das  müssen  wir  wieder  anstecken!  Dann  kniete 
sie  vor  mir  und  heftete  mit  Stecknadeln  das  abgerissene  Stück 
an.  Sie  müssen  den  Kleiderrock  richtig  raffen,  erklärte  sie 
mir  und  machte  es  mir  vor;  da  es  nicht  recht  gelingen  wollte, 
legte  sie  jeden  meiner  Finger  einzeln  in  die  richtige  Lage  und 
machte  es  mir  recht  plausibel.  Dann  zeigte  sie  mir,  wie 
man  treten  muss,  um  solches  Pech  nicht  wieder  zu  haben  und 
hatte  ihre  heUe  Freude  daran,  dass  ich  mir  Mühe  gab,  es 
richtig  zu  machen. 

Es  blieb  nicht  bei  diesem  Besuch,  ich  kam  auch  am 
folgenden  Abend  und  wurde  schliesslich  ihr  ständiger  Gast. 
Unsere  Exercitien  setzten  wir  fort  und  mussten  über  manches 
komische  Intermezzo  häiü’ig  recht  herzlich  lachen. 

Mitte  Dezember  hatte  die  schöne  Frau  eine  Idee:  Wissen 
Sie,  Willi,  Sie  kommen  immer  in  denselben  Fähnchen  zu  mir, 
wenn  Sie  eine  hübschere  Robe  hätten,  kein  Mensch  könnte  etwas 
merken.  Ich  werde  jetzt  Mass  nehmen  und  Ihnen  ein  Kostüm 
machen  lassen.  Stehen  Sie  mal  auf,  und  nun  nahm  sie  voller 
Eifer  Mass  und  iiess  bei  ihrer  Schneiderin  richtig  ein  herr- 
liches Kleid  machen.  Das  kam  zusammengeheftet  zum  An- 
probieren und  ich  fand  es  eines  Abends  vor,  als  ich  wieder 
zu  Besuch  kam.  Nun  musste  ich  ans  Anprobieren  und  zog 
etwas  bedenklich  den  Rock  aus,  so  dass  ich  im  Unterrock 
dastand.  Die  Taille  musste  aber  auch  aus,  recht  zögernd 
knöpfte  ich  auf,  einen  Knopf  nach  dem  andern  und  nun  sah 
die  schöne  Frau,  woher  mein  Busen  seine  üppige  Fülle  hatte 
und  wollte  platzen  vor  Lachen,  als  das  Luftkissen  zu  Boden 
fiel  und  eine  gähnende  Leere  in  meinem  Korsett  sichtbar 
wurde.  Mit  geheucheltem  Gleichmut  tat  ich  es  an  seine 
Stelle  zurück  und  streifte  den  Futterrock  und  die  Taille  über; 
voll  Eifer  und  mit  hochroten  Wangen  machte  die  schöne  Frau 
hier  und  dort  Kreidestriche,  heftete  mit  Stecknadeln  und 
und  zupfte  und  zerrte  an  mir  herum.  Die  Taille,  war  bald 
so  weit  und  Frau  Trude  nahm  den  Futterrock  vor,  der 
nun  nach  allen  Regeln  der  Kunst  ebenso  behandelt  werden 
sollte;  aber  ach,  in  der  Taille  war  ich  etwas  zu  stark  und 
in  den  Hüften  zu  schlank.  Ein  seidener  Unterrock  der  Frau 
Trude  änderte  nicht  viel  an  der  Sachlage,  es  blieb  nichts 


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übrig,  als  das  Korsett  noch  enger  zu  schnüren  und  in  den 
Unterrock  Watteeinlage  einzuheften;  dann  hatte  ich  eine 
leidliche  Figur.  Mit  Frau  Trude  war  doch  ein  Vergleich  nicht 
möglich;  sie  so  schlank,  biegsam  und  graziös,  ich  etwas 
plump  und  schwerfällig,  die  Hände  gross  und  rot.  Sie  freute 
sich  aber  doch  und  ihre  Augen  glänzten;  an  diesem  Abend 
schlossen  wir  einen  innigen  Herzensbund. 

Von  nun  an  waren  wir  täglich  zusammen;  ich  führte  da- 
durch ein  Doppelleben,  das  seines  Gleichen  sucht.  Tags 
über  im  Geschäft  eifrig  und  fleissig,  so 
dass  meine  Vorgesetzten  mit  mir  zufrieden 
waren,  in  männlicher  Beharrlichkeit,  — 
abends  umflossen  mich  die  weichenFrauen- 
kleider,  die  mein  Ich  vollständig  aus- 
wechselten. Frau  Trudes  Dienstboten, 
ihr  Mann,  keiner  ahnte,  dass  ein  völlig 
normaler  Mann  in  diesem  eleganten  Be- 
suchskleide steckte.  Hatte  mir  das  Dienstmädchen 
auf  dem  Korridor  Mantel  und  Hut  abgenommen,  trat  ich  in 
Trudes  Zimmer  und  wortlos  sanken  wir  uns  beide  in  die 
Arme  und  küssten  einander  wild  und  leidenschaftlich.  Trude 
liebte  es  über  alles,  meine  festen  Glieder  unter  den  weichen 
Kleidern  zu  wissen  und  ich  war  rasend  in  dies  schöne  Weib 
verliebt,  weil  sie  sich  so  weich  in  meiner  Umschlingung  an 
mich  schmiegte;  es  war,  als  wollte  eins  dem  andern  in  Küssen 
die  Seele  austrinken.  Wenn  wir  uns  etwas  beruhigt  hatten, 
dann  läutete  der  Gong  und  rief  zu  Tisch  und  dann  sass  ich 
an  Trudes  Seite  als  ehrbare  junge  Dame  und  vermied  es,  sie 
anzusehen,  weil  ihre  Augen  mit  verzehrenden  Feuer  auf  mir 
ruhten,  wie  wenn  sie  mich  verschlingen  möchten. 

Sonntags  machten  wir  Spaziergänge,  erst  in  den  menschen- 
leeren Gegenden  des  alten  Festungswalles,  später,  als  ich 
mich  sicherer  fühlte,  auch  in  der  Altstadt  und  Domgegend. 
Von  Sonnabends  Nachmittag  bis  Sonntag 
spät  abends  hatte  ich  nun  Frauenkleider 
an  und  fühlte  mich  wohl  darin,  als  hätte 
ich  nie  Männerhosen  getragen.  Schon  mehr- 
fach war  der  Wunsch  in  mir  auf  getaucht,  dass  es  doch  so 


46 


bleiben  möge;  dann  und  wann  sagte  ich  auch  Trude  davon 
Eines  schönen  Tages  brachte  sie  das  Gespräch  darauf  und 
schlug  mir  vor,  meine  Stellung  aufzugeben  und  ganz  zu  ihr 
zu  kommen,  vor  der  Welt  als  ihre  Gesellschaftsdame. 

Besonnen  habe  ich  mich  nitht  weiter,  ich  stimmte  freudig 
zu.  Mit  meiner  Wohnung  hatte  ich  längst  Schwierigkeiten, 
als  Herr  kam  ich  abends  nach  Hause,  als  Dame  ging  ich 
kurz  darauf  fort.  Sonntags  war  ich  nie  zu  sehen  und  aus 
all  diesen  Gründen  wurde  viel  über  mich  geklatscht,  was  mich 
mehrfach  nötigte,  die  Wohnung  zu  wechseln.  Mit  meiner 
neuesten  Zimmermutter,  einer  alten  Witwe,  traf  ich  nun  ein 
Uebereinkommen.  Ich  erklärte  ihr,  dass  ich  auf  Monate  ver- 
reisen müsse,  sie  solle  mein  Zimmer  stets  bereit  für  mich 
halten,  meine  Miete  zahlte  ich  auf  ein  Vierteljalir  im  Vor- 
aus und  trat,  als  meine  Kündigungszeit  im  Geschäft  abge- 
laufen war,  eines  Abends  bei  meiner  Trude  als  Gesellschafts- 
dame an. 

Herrliche  Tage  rauschten  an  mir  vorüber,  wie  ein  Traum 
zogen  sie  vorbei  und  machten  mich  zum  Glücklichsten  der  Sterb- 
lichen! Meine  kühnsten  Wünsche  wurden  von  den  Tatsachen  weit 
übertroffen!  Hatte  ich  mich  bisher  seelig  ge- 
fühlt, dass  ich  abends  undSonntags  in  meine 
geliebten  Röcke  schlüpfen  konnte,  so  war 
ich  jetzt  überglücklich;  denn  Woche  auf 
Woche  verging,  und  alle  die  niedlichen 
Sächelchen,  die  Frauen  an  sich  tragen, 
trug  auch  ich  an  mir  und  freute  mich  täg- 
lich aufs  Neue,  sie  anz  ulegen.  Meine  Taille 
wurde  zierlicher,  denn  ich  gewöhnte  mich  ans  Korsett;  nur 
die  offenen  Damenbeinkleider  vertrug  ich  nicht,  da  ich  hef- 
tige Schmerzen  im  Scrotum  davon  hatte.  Die  geschlossenen 
Beinkleider,  die  an  den  Seiten  zu  knöpfen  sind,  sind  etwas 
unbequemer;  aber  sie  boten  die  gewohnte  Stütze  und  die 
Schmerzen  Hessen  nach.  Mein  Haar  wuchs  länger  und  länger 
und  als  ein  wunderbarer,  sonniger  Frühlingstag  über  C. 
leuchtete  und  alles  in  Gold  tauchte,  wunderte  Frau  Trude 
mit.  mir  die  Ringpromenade  entlang  mid  ich  trug  zum  ersten 
Mal  mein  eigenes  Haar  nach  Frauen art  frisiert.  Wenn  es 


47 


zum  Anfang  auch  verhältnismässig  kurz  war,  eine  Perücke 
brauchte  ich  nun  doch  nicht  mehr,  das  machte  mich  sehr 
stolz.  Gegen  Mitte  April  gingen  wir  auf  Reisen  und  blieben 
bis  zum  Herbst  im  Süden. 

Während  dieses  halben  .Jahres  fühlten  wir  uns  sehr  sicher. 
Mein  Haar  war  lang,  leider  aber  glatt  und  strähnig  und 
musste  allabendlich  eingeflochten  werden.  Ohrringe  trug  ich 
auch,  in  meinen  Kleidern  fühlte  ich  mich  sehr  wohl  und 
wollte  um  keinen  Preis  wieder  einen  Männer-Anzug  tragen. 
jMein  Bartwuchs  war  gleich  Null.  Die  Hände  freilich  immer 
noch  zu  gross,  aber  doch  zarter  in  der  Farbe,  auch  das 
Gesicht  zeugte  von  Pflege.  Trotz  aller  Sorgfalt  machte  ich 
immer  einen  etwas  ländlichen  Eindruck.  Das  teilte  ich  aber 
mit  mancher  wirklichen  Dame. 

Hier  und  da  kam  es  doch  vor,  dass  wir  Entdeckung 
fürchteten.  Manchmal  fixierten  uns  Herren,  manchmal  Damen 
aus  irgend  welchen  vielleicht  recht  unschuldigen  Gründen, 
immer  übermannte  uns  die  Angst.  Stellte  es  sich  nachher 
heraus,  dass  die  Sorge  überflüssig  war,  nahmen  wir  uns  lachend 
vor,  das  nächste  Mal  ruhig  zu  bleiben;  es  ging  uns  trotzdem 
immer  wieder  so.  In  einem  Hotel  in  Meran  liess  bei  der 
Table  de  hote  ein  Herr  kein  Auge  von  mir.  Ich  wurde  unter 
seinen  Blicken  unruhig  und  verlegen,  Trude  aber  bekam 
Zittern  und  Herzklopfen  und  musste  das  Essen  unterbrechen. 
Zitternd  flüchteten  wir  auf  unser  Zimmer  und  fingen  schon 
an,  die  Koffer  zu  packen,  da  brachte  das  Zimmermädchen  ein 
kleines  Briefchen,  in  welchem  dieser  Herr  mich  um  eine  Unter- 
redung bat  und  zwar  in  einer  Form,  die  deutlich  zeigte,  dass 
er  nicht  im  Entferntesten  die  Wahrheit  ahnte.  Die  Angst 
war  wieder  einmal  mnsonst. 

Leider  war  Trude  manchmal  furchtbar  eifersüchtig  und 
das  bildete  eine  Gefahr,  grösser  als  alle  anderen.  Als  Dame 
kann  man  beim  besten  Willen  nicht  umhin,  anderen  Damen 
ein  freundliches  Wort  zu  sagen,  man  kommt  in  Unterhaltung 
und  hat  plötzlich  eine  Freundin.  Im  einsamen  Öchweizer- 
dorf  spazierte  ich  durch  die  Wiesen  und  traf  eine  Berlinerin, 
ein  hübsches  junges  Mädchen.  Wir  kamen  ins  Gespräch  und 
gingen  des  holprigen  Weges  halber  so,  dass  sie  ihren  Arm 


48 


in  meinen  legte,  unter  Damen  doch  nichts  ungewöhnliches. 
Das  nahm  Trude  ungemein  krumm,  sie  war  nur  schw'er  zu 
beruhigen  und  ich  musste  versprechen,  das  nicht  wieder  zu 
tun.  Auf  dem  Züricher  See  machten  wir  eine  Bootfahrt,  ich 
ruderte,  Trude  steuerte.  Die  Ruder  führte  ich  in  einer  durch- 
aus sportmässigen  Art  und  wir  kamen  hübsch  vorwärts.  Das 
hatte  man  von  einer  Dame  noch  nie  gesehen  und  bei  der 
Rückkehr  ins  Hotel  drückte  eine  Französin  mir  ihr  Erstaunen 
über  meine  Kraft  aus.  Dabei  griff  sie  öfter  an  meine  Arm- 
muskeln  ohne  etwas  Böses  dabei  zu  denken  und  wir  unter- 
hielten uns  ein  wenig  über  Sport.  Zufällig  schaute  ich  nach 
der  Richtung,  in  welcher  Trude  stand  und  sah  ihre  x\ugen 
dunkel  und  weitgeöffnet  auf  mir  ruhen.  Ehe  ich  sie  beruhigen 
konnte,  setzte  ein  Anfall  von  Schreikrämpfen  bei  ihr  ein,  der 
garnicht  enden  wollte.  Am  anderen  Morgen  reisten  \\ir  ab. 

Eine  nette  deutsche  Familie  lernten  wir  in  einem  anderen 
schweizerischen  Erholungsort  kennen,  dieser  schlossen  wir 
uns  etwas  mehr  an.«  Besonders  mit  den  beiden  Töchtern  stand 
ich  mich  sehr  gut,  manchmal  wälzten  wir  uns  in  lauter  Ueber- 
mut  auf  der  Wiese  herum,  Trude,  die  beiden  Mädchen  und 
ich.  Da  es  noch  ganz  junge  Dinger  waren,  fünfzehn-  und 
siebzehnjährig,  mochte  Trude  wohl  frei  von  Eifersucht  bleiben. 
Nach  etlichen  Tagen  zogen  noch  mehr  Erholungsbedürftige 
zu  und  wir  bekamen  dadurch  einen  grossen  Bekanntenkreis. 
Einladungen  hagelten  nur  so,  Picknicks,  Ausflüge  und  alles 
Mögliche.  Machten  wir  bunte  Reihe,  so  dass  ich  neben  einem 
Herrn  sass,  dann  hatte  Trude  nichts  dagegen;  das  war  mir 
aber  nicht  besonders  lieb,  denn  mit  einer  Dame  unterhielt  ich 
mich  weit  besser,  ln  dieser  Gesellschaft  habe  ich  interessante  Stu- 
dien gemacht.  Ein  junger  Mann,  der  eines  organischen  Fehlers 
halber  als  Mädchen  erzogen  vmrde,*)  erzählt,  dass  sich  in 
seiner  Gegenwart  Frauen  geniert  gefühlt  hätten.  Das  habe 
ich  in  meiner  Praxis  niemals  bemerkt,  mir  gegenüber  hat 
sich  nicht  eine  geniert;  ob  das  nun  die  suggestive  Wirkung 
meiner  Kleidung  war  oder  ob  die  Damen  meines  Umganges 

*)  Gemeint  ist  N.  0.  Body;  „Aus  eines  Mannes  Mädclienjahren 
Berlin,  1907. 


49 


nicht  so  feinfühlig  waren,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden, 
ich  glaube  aber  an  das  erstere.  Viele  Jahre  später,  wenn  ich 
gelegentlich  aus  irgend  welchem  Grunde  weibliche  Kleidung 
trug,  habe  ich  oft  bekannte  Herren  gefragt:  Wirke  ich  als 
Frau  auf  sie,  oder  haben  sie  die  Empfindung,  als  ginge  ein 
Mann  neben  ihnen?  Immer  erklärte  man  mir,  dass  man  das 
absolute  Gefühl  habe,  ich  sei  eine  Frau.  Die  Kleidung  muss 
also  doch  wohl  die  oben  erwähnte  suggestive  Wirkung 
haben,  wenn  nebenbei  nicht  andere  Faktoren  mitwirken,  die 
diesen  Eindruck  aufheben. 

Die  Zeit  verrann,  wir  kehrten  im  Herbst  nach  C.  zurück 
und  verlebten  einen  herrlichen  Winter.  Konzerte,  Theater 
und  Bälle  besuchten  wir  und  gerieten  so  recht  in  den  Gesell- 
schaftstrubel dieser  lebenslustigen  Stadt.  Bald  war  ein 
volles  Jahr  vergangen,  dass  ich  Frauen- 
kleidung trug  und  immer  noch  fühlte  ich  mich  wohl 
darinnen  und  hatte  keine  Sehnsucht  nach  J^Iännerhosen.  Diese 
Erkenntnis  machte  mir  viel  zu  schaffen  und  brachte  mich  oft 
zu  Zweifeln  an  meiner  Männlichkeit.  Wenn  ich  ein  absoluter 
Mann  bin,  so  sagte  ich  mir,  dann  müsste  doch  mein  Inneres, 
wenn  auch  nur  ein  wenig,  nach  der  Kleidung  streben,  die 
meinem  Geschlecht  wirklich  zukommt!  Aber  nein,  nichts  regte 
sich  in  mir,  im  Gegenteil,  immer  wieder  durchzog  mich  ein 
wohliges  Gefühl,  wenn  mich  die  seidenen  Unterröcke  um- 
rauschten. Trude  sagte,  in  Männerkleidern  könne  sie  mich 
garnicht  denken  und  möchte  mich  so  auch  nicht  sehen,  ich 
sei  für  den  Unterrock  geboren;  das  müsse  ich  schon  daraus 
sehen,  dass  mir  Niemand  den  Mann  anmerke.  Und  abends, 
wenn  ich  in  ein  weiches,  bequemes  Hauskleid  geschlüpft  war, 
schlang  sie  heiss  und  feurig  die  Arme  um  mich  und  versicherte, 
sie  würde  mich  nie  loslassen,  aus  den  Frauenkleidern  dürfe 
ich  nicht  wieder  heraus. 

Auch  das  machte  mir  viel  Kopfzerbrechen,  denn  ich  hatte 
bemerkt,  dass  ein  normales  Weib  einen  Mann  in  Frauenklei- 
dern nicht  leiden  mag,  sondern  Abscheu  empfindet.  Trude 
dagegen  war  am  feurigsten,  wenn  ich  noch  Korsett  und  Unter- 
röcke anhatte,  dann  löste  sie  mein  Haar  und  wühlte  darin, 

Hirschlelil,  Die  Transvestiten.  4 


50 


bis  eine  förmliche  leiderischaftliciie  Raserei  sie  ergriff,  die  mit 
innigster  Umarmung  endigte. 

In  sexueller  Hinsicht  war  sie  sehr  leidenschaftlich.  Ihr 
Mann  war  krank,  schwerkrank  und  musste  im  Rollstuhl  fort- 
bewegt werden,  er  konnte  dem  jungen  Weib  nichts  bieten. 
Ich  war  ein  Jahr  älter  als  Trude  und  in  einer  Lebensperiode, 
die  aus  der  Fülle  heraus  wirtschaften  lässt.  Soviel  ich  aber 
auch  zu  leisten  vermochte,  vollkommen  zufrieden  war  Trude 
nie,  war  eine  Viertelstunde  verflossen,  dann  tauchte  aufs 
Neue  die  heftigste  Begierde  in  ihr  auf.  Das  gab  mehrfach 
Zank  und  dem  Zank  folgte  immer  eine  Versöhnung,  die  ent- 
sprechend besiegelt  werden  musste.  So  ging  es  einen  Tag  wie 
den  anderen. 

In  einer  Gesellschaft  hatte  ich  eine  Dame  kennen  gelernt, 
eine  Witwe,  die  mich  auch  gern  als  Gesellschafterin  engagiert 
hätte.  Sie  lauerte  mir  häufig  auf  und  sprach  auf  mich  ein, 
trafen  wir  zu  irgend  einer  Gelegenheit  zusammen,  dann  sass 
sie  gern  neben  mir  und  unterhielt  sich.  Das  brachte  Trude 
zur  Verzweiflung!  Wenn  ich  ihr  hoch  und  teuer  versicherte, 
ich  hätte  nicht  die  geringste  Neigung,  den  Lockrufen  zu 
folgen,  sie  traute  mir  nicht  und  liess  mich  schliesslich  nicht 
einmal  allein  auf  die  Strasse.  Diese  Eifersucht  trübte  unser 
Zusammenleben  sehr,  dazu  kam  ihre  eben  geschilderte  Leiden- 
schaftlichkeit auf  sexuellem  Gebiete,  genug,  die  schönen  Tage 
waren  bald  nicht  mehr  schön. 

Ausserdem  fiel  es  mir  schwer  auf  die  Seele,  dass  ich  älter 
und  älter  wurde  und  es  doch  mit  keinem  Schritte  weiter 
brachte.  Wohlleben  und  5Iüssiggang  erzeugen  trübe  Gedanken 
und  stundenlang  sass  ich  und  brütete  mit  finsterem  Gesicht 
und  sah  vor  mir  eine  schwarze  Zukunft.  Als  Dame  war  ich 
gänzlich  ohne  Papiere,  um  nicht  aus  der  Reihe  der  Lebenden 
ganz  und  gar  gelöscht  zu  sein,  schickte  ich  vierteljährlich  an 
meine  Zimmerwirtin  die  liliete,  denn  bei  ihr  war  ich  polizei- 
lich gemeldet.  Einmal  brachte  ich  die  Äliete  persönlich  hin, 
ohne  dass  sie  mich  in  meinen  Kleidern  erkannte  und  fand 
einen  Brief  meiner  Mutter  vor,  die  sehr  verwundert  ob  meines 
Schweigens  schrieb. 


51 


Wenn  ich  mit  Trude  heftig  erzürnt  war,  dann  empfand 
ich  meine  Lage  als  Schmach  und  in  mir  tobte  und  gärte  es 
gewaltig.  Das  häufigere  Auftreten  von  Zerwüitnissen  liess 
den  Gedanken  an  heimliche  Flucht  in  mir  reifen  und  als  ich 
eines  morgens  einen  furch tbai’en  Auftritt  (allerdings  nicht 
ohne  meine  Schuld)  hinter  mir  hatte,  der  für  Trude  Wein- 
krärapfe  zur  Folge  hatte,  zog  ich  mich  reisefertig  an,  machte 
einen  Koffer  mit  den  allernotwendigsten  an  Wäsche  etc.  zu- 
recht und  war  gerade  dabei  ihn  zuzuschliessen,  als  Trude 
dazu  kam.  Sie  übersah  sofort  die  Sachlage,  die  sie  übrigens 
geahnt  haben  mochte,  brachte  kein  Wort  heraus,  hob  in 
schauerlichem  Schweigen  den  rechten  Arm  und  zweimal  sab 
ich  es  in  ihrer  Hand  blitzen  und  ein  Rauchwölkchen  auf- 
steigen:  das  rasende  Weib  hatte  auf  mich  geschossen. 

Einen  Knall  habe  ich  überhaupt  nicht  gehört,  aber  von 
meinem  Ohr  tropfte  rotes  Blut  herab  auf  meine  Bluse,  von 
einem  Streifschuss.  Eine  Kugel  hatte  in  die  Fensterscheibe 
ein  kleines  rundes  Loch  gemacht,  die  andere  war  an  das 
Mauerwerk  geschlagen  und  sprengte  etwas  Kalkputz  heraus. 

Ich  habe  nie  in  meinem  Leben  einen  Schreck  bekommen, 
auch  bei  dieser  Gelegenheit  nicht,  ich  fand  ihr  Vorgehen  ganz 
natürlich.  Als  Trude  geschossen  hatte,  liess  sie  den  Revolver 
fallen  und  sank  lautlos  auf  den  Teppich.  Ich  brachte  sie  ins 
Bett  und  schickte  zum  Arzt,  da  sie  nicht  aus  der  Ohnmacht 
zu  erwecken  war.  Der  konstatierte  ein  Nervenleiden  und  ver- 
ordnete  absolute  Ruhe.  Der  Dienerschaft  und  ihres  Mannes 
halber  blieb  ich  noch  14  Tage  bei  ihr,  dann  ging  ich  auf 
und  davon,  am  anderen  Morgen  war  ich  in  B. 

Hier  wohnte  ich  im  Christlichen  Hospiz  einige  Wochen, 
denn  ich  hatte  keinerlei  Papiere  und  konnte  darum  kein 
möbliertes  Zimmer  mieten.  Nach  allen  Richtungen 
bemühte  ich  mich,  um  die  Möglichkeit  zu 
finden,  mein  Leben  als  Dame  weiter  zw 
fristen  ; denn  ich  hatte  grosse  Abneigung  dagegen,  wie 
früher  wieder  als  junger  Mann  zu  arbeiten.  Das  Glück  war 
mir  nicht  besonders  hold  und  mein  Geld  wurde  immer  weniger. 

Es  würde  zu  weit  führen,  alle  meine  Versuche  zu  schil- 
Ti  dem,  ich  kann  nur  einiges  herausgreifen.  Zu  einer  Stellenver- 

4* 


mittlerin  kam  ich,  bezahlte  das  Einschreibegeld  und  wünschte 
Stellung  als  Gesellschafterin.  Ihre  Frage,  wo  ich  bisher  war, 
beantw'ortete  ich  wahrheitsgemäss,  Zeugnisse  konnte  ich  aber 
nicht  vorlegen.  Sie  sah  an  meiner  eleganten  Kleidung  her- 
unter und  ihr  Auge  blieb  auf  meinem  Busen  haften,  dessen 
innere  Leere  sie  ja  nicht  ahnen  konnte,  da  bückte  sie  sich  an 
mein  Ohr  und  sagte:  „Wollen  sie  nicht  lieber  als  Amme  gehen? 
Gute  Ammen  können  wir  immer  brauchen  und  sie  haben  ja 
eine  kräftige  Figur!“ 

Im  Hospiz  wurden  Einladungen  verteilt  zu  einem  Fest 
der  Stadtmission.  Um  etwas  auf  andere  Gedanken  zu  kommen, 
ging  ich  hin  und  führte  auf  diese  Art  ein  niedliches  Kostüm 
spazieren,  das  mir  Trude  in  letzter  Zeit  geschenkt  hatte.  Boi 
Tisch  sass  ich  zufällig  neben  einer  jungen  Dame,  die  mir  aus- 
nehmend gefiel  durch  ihr  sanftes  und  ruhiges  Wesen,  mit  der 
ich  in  eine  nette  Unterhaltung  kam.  Diese  junge  Dame  wurde 
bestimmend  für  mein  ferneres  Schicksal,  denn  sie  ist  jetzt 
meine  Frau.  Dass  ich  und  diese  Dame,  von  der 
sie  später  noch  öfter  sprach,  ein  und  die- 
selbe Person  sind,  weiss  meine  Frau  heute 
noch  nicht.  Denn  als  ich  einsah,  dass  es  keine  Möglich- 
keit für  mich  gebe,  als  Dame  eine  Existenz  zu  erringen,  als 
ich  sogar  als  Lehrmädchen  einige  Tage  in  einer  Kravatten- 
fabrik  gearbeitet  hatte  und  wegen  mangelnder  Invalidenkarte 
aufhören  musste,  da  bot  ich  alles  auf,  um  aus  meiner  Frauen- 
rolle herauszukommen.  Das  war  schwieriger  als  ich  glaubte. 

Im  Tiergarten  sah  ich  eines  Sonntags  nachmittags  ein 
bekanntes  Gesicht,  wusste  aber  nicht,  woher  diese  Bekannt- 
schaft rühren  könnte  und  folgte  dem  Herrn  in  einiger  Ent- 
fernung. Nachdem  ich  ihn  nochmals  angesehen  hatte,  wmsste 
ich  endlich,  wer  es  war,  ein  Landsmann  von  mir,  ein  Archi- 
tekt. Entschlossen  trat  ich  auf  ihn  zu  und  sprach  ihn 
mit  seinem  Namen  an.  Er  war  sehr  erstaunt,  denn  er  erkannte 
mich  garnicht.  Mit  vieler  Mühe  klärte  ich  ihn  über  meine 
peinliche  Lage  auf,  denn  er  war  sehr  geneigt,  meine  Angaben 
für  einen  schlechten  Scherz  zu  halten.  Als  er  endlich  begriffen 
hatte  und  aus  seinem  Staunen  heraus  war,  erschien  ihm  alles 
ungeheuer  spassig  und  lustig.  „Weisst  was?  sagte  er,  heute 


53 


bleibst  noch  in  deinen  Mädelskleidern,  morgen  auch.  Jetzt 
gehn  wir  erstlich  mal  uns  stärken,  morgen  Abend  haben  wir 
ein  kleines  Künstlerfest  und  da  kommst  du  mit  und  bist 
meine  Dame.  Und  übermorgen  in  der  Frühe,  da  bestellen  ivir 
den  Barbier,  der  schneidet  deine  langen  Haare  ab  und  du 
fährst  wieder  in  deine  Hosen.  Erst  pump  ich  dir  einen  Anzug, 
dass  du  wieder  nach  C.  kannst  und  den  schickst  mir  wieder 
und  siehst  dann  selber  zu,  wie  du  weiter  kommst!“ 

Mit  vieler  Wehmut  und  Trauer  liess  ich  am  Montag  mein 
schönes  braunes  Haar  zum  letzten  Male  frisieren,  betrübt  zog 
ich  mein  hellgraues  Seidenkleid  an  und  gab  in  der  Damen- 
garderobe des  Festsaales  meine  Sachen,  Mantel.  Hut  und  Boa 
ab.  Dann  bin  ich  aber  krampfhaft  lustig  geworden  und  habe 
den  jungen  Künstlern  als  ein  fesches  Weib  gegolten,  das  alle 
Scherze  mitmacht. 

Am  anderen  Morgen  in  meines  Freundes  Wohnung  schnitt 
der  Barbier  nach  etlichem  Sträuben  mein  Haar  ab  und  jeder 
Schnitt  tat  mir  weh.  Dann  zog  ich  zum  erstenmal  seit 
zwanzig  Monaten  wieder  Männerkleider  an  und  fühlte  mich 
sehr  unglücklich  darin.  Meine  weichen,  rauschenden  Kleider 
aber  kamen  in  den  dunklen  Koffer  und  abends  fuhr  ich  nach 
C.  zurück  zu  meiner  Zimmerwirtin  und  musste  mir  eine  neue 
Existenz  schaffen  und  sehr  angestrengt  arbeiten. 

In  meinem  Herzenaber  erlosch  dieSenn- 
sucht  nicht,  wieder  Frauenkleider  tragen 
zu  dürfen  und  als  Weib  zu  gelten,  und  wo  es 
nur  irgend  möglich  war,  trug  ich  meine 
Röcke,  auch  daheim  im  stillen  Zimmere  hen. 

Später  kam  ich  wieder  nach  B.,  diesesmal  als  Mann  \ind 
als  ich  eine  Existenz  hatte,  holte  ich  mir  das  liebe  junge 
Mädchen,  von  dem  ich  oben  schon  sprach,  als  inein  Frauchen 
und  wir  beide  sind  sehr  fleissig  am  Arbeiten  gewesen,  haben 
bisher  Glück  gehabt  und  sind  vorwärts  gekommen.  Zwei 
liebe  Kinder  machten  unser  Glück  voll- 
kommen. 

Die  Sehnsucht  nach  den  Frauenkleidern 
ist  aber  trotz  alle,  dem  nicht  verschwun  den, 
sondern  ist  immer  nochübermächtig  in  mir, 


54 


und  komme  ich  vom  Geschäft  nach  Hause, 
dann  ist  es  das  erste,  dass  ich  Unterröcke 
und  ein  bequemes  Hauskleid  anziehe.  Mein 
Frauchen  sieht  es  nicht  gern,  sie  ärgert  sich  etwas  darüber, 
duldet  es  aber,  denn  ich  bleibe  zu  Hause;  sie  halt  es  wohl 
für  eine  Marotte.  Dass  es  ein  innerer  Drang  ist,  weiss  sie 
nicht  und  soll  es  nicht  erfahren.“ 


Fall  VI. 

Herr  F.,  Künstler  von  Ruf,  ca.  40  Jahre  alt.  Inbezug 
auf  Vorfahren  und  Verwandtschaft  ist  nichts  Abnormes  oder 
Degeneratives  zu  erkunden.  Der  Altersunterschied  zwischen 
den  Eltern  betrug  20  Jahre.  Die  Kindheitsentwicklung  ver- 
lief ohne  bemerkenswerte  Zwischenfälle;  obwohl  er  sich  auch 
an  Mädchenspielen  beteiligte,  zog  er  die  Knabenspiele  doch 
vor.  Schwärmerische  Schulfreundschaften  bestanden,  aber 
ohne  geschlechtliche  Handlungen.  Mit  21  Jahren  Hess  er  sich 
auf  einer  Reise  im  Orient  von  Arabern  in  anu  gebrauchen. 

Status  praesens:  Konturen  des  Körpers  mehr 
rundlich,  Hände  und  Püsse  mittelgross,  Schritte  rhythmisch, 
liebt  Tanz  und  Fusstouren;  Teint  dunkel  und  unrein, 
Körperbehaarung  schwach,  Kopfhaar  wird  gern  lang 
getragen.  Bartwuchs  mittelstark.  Errötet  und  erblasst 
leicht;  Kehlkopf  wenig  hervortretend,  Stimme  ziemlich  tief. 
Uebung  zur  Fistelstimme.  Neigung  zum  Weinen, 
Eitelkeit,  Abenteuersucht,  Abhängigkeit  von  Stimmungen, 
exzentrisches  Benehmen  sind  hier,  wie  oft  bei  Künstlern, 
vorhanden.  Er  trinkt  und  raucht  stark.  Bildung  oberfläch- 
lich, Phantasie  lebhaft. 

Vita  sexualis:  Er  hat  immer  viel  masturbiert, 

so  dass  ihm  Pollutionen  unbekannt  sind.  Die  Stärke  seiner 
Libido  unterliegt  Schwankungen  und  drückt  sich  etwa  in  der 
Zahl  von  2 — 14  Ejakulationen  pro  Woche  aus.  Hat  er 
Prauenkleider  an,  so  fällt  es  ihm  leicht,  usque  ad  orgasmum 
zu  masturbieren,  ohne  dass  er  dabei  an  weibliche  oder  männ- 


55 


liehe  Personen  zu  denken  brauchte;  ja,  es  passierte  ihm, 
dass  die  Ejakulation  eintritt,  ohne  dass  er  sein  niembrum 
überhaupt  berührt  hätte.  Als  besonders  reizend 
bezeichnet  er  eine  melodische  Stimme,  die 
weiche  Haut  des  Weibes  und  Parfüms.  In 
coitu  bevorzugt  er  die  Stellung  des  succubus.  Er 
schloss  zweimal  Liebesheiraten,  aus  denen 
zwei  Kinder  hervorgingen.  Aus  seinen  autobio- 
graphischen Skizzen  sei  folgendes  hervorgehoben: 

..Soweit  ich  zurückdenken  kann,  wurde 
ich  immer  von  dem  einen  Gedanken  gequält, 
ich  möchte  weibliche  Kleidung  tragen.  Erst 
waren  es  die  Ohrringe  und  später  die  Damenstiefel,  deren  An- 
blick mir  jedesmal  heftige  Wünsche  erregte.  Im  Alter  von  10 
Jahren  träumte  ich  oft,  ich  ginge  mit  richtig  eingestochenen 
Ohrringen  auf  der  Strasse  spazieren,  und  jedermann  fände  das 
ganz  natürlich.  Die  Vorstellung,  dass  ich  so  frank  und  frei 
meinen  Wünschen  entsprechend  mich  zeigen  dürfe,  verursachte 
mir  ein  erotisches  Wohlbehagen.  Erzählt  habe  ich  niemandem 
je  von  diesen  Träumen,  sie  vielmehr  wie  ein  grosses  Geheim- 
nis sorgfältig  gehütet.  Dafür  masturbierte  ich  um  so  eifriger, 
da  ich  bei  dem  Gedanken  an  Ohrringe  von  den  heftigsten 
Erektionen  geplagt  wurde.  Einmal  bekam  ich  ein  paar  zier- 
lich benähte  Stiefeletten  nach  damaliger  Mode;  ich  schämte 
mich  furchtbar,  sie  anzuziehen  und  mich  darin  vor  den  Leuten 
zu  zeigen,  sodass  sie  schliesslich  umgetauscht  werden  mussten.“ 
„Je  älter  ich  wurde,  desto  schlimmer  wurden  diese  Zu- 
stände bei  mir.  Ich  schlich  auf  den  Boden,  zog 
die  Stiefel  meiner  Mutter  an,  kramte  in 
ihren  Koffern  nach  Garderobenstücken 
aus  den  „besser  n“  Tagen  und  kostümierte 
mich  nach  Herzenslust.  Endlich  wurde  ich  dreister, 
trat  mit  der  Behauptung  auf,  meine  Stiefel  drückten  mich 
beim  Schlittschuhlaufen,  und  veranlasste  meine  j\Iutter,  mir 
ihre  zu  borgen.  Dies  fiel  nicht  weiter  auf.  Ich  war  damals 
so  wild,  dass  ich  manche  Mädchen,  deren  Schuhe  mit  gefielen, 
hätte  überfallen  mögen,  um  mich  ihrer  Fussbekleidung  zu  be- 
mächtigen.“ 


56 


„Als  ich  ungefähr  17  Jahre  alt  war  und  die  Akademie 
besuchte,  kam  es  vor,  dass  wir  Freunde  uns  untereinander 
Modell  standen,  weil  damals  weibliche  Modelle  noch  nicht  üb- 
lich waren ; dies  war  für  mich  stets  ein  gern  ge- 
suchter Vorwand,  Weiberkleidung  anzu- 
z i e h n.“ 

„Es  kam  der  Augenblick,  wo  mir  zum  erstenmal  ein 
weibliches  Modell  nackt  posierte.  Ich  fand  die  Person  scheuss- 
lich  und  bemitleidenswert;  malen  konnte  ich  nichts  nach  ihr. 
Der  männliche  Körper  erschien  mir  bei  weitem  schöner;  be- 
sonders fesselten  mich  Statuen  des  Apollo,  wie  er  in  langen 
Gewändern  zur  Kithara  singend  einherschreitet.  Schliesslich 
aber  verliebte  ich  mich  doch  in  ein  Modell,  das  freilich  nicht 
mehr  so  „unschuldig“  war,  wie  ich;  ich  konnte  ihren  stillen 
Wünschen  indessen  nicht  willfahren,  da  ich  absolut  nicht 
wusste,  was  ich  mit  ihr  anfangen  sollte.“ 

,,Inzwischen  trieb  ich  mein  geheimes  Laster  weiter.  Als 
ein  Kollege  hei  einem  Kostümfest  mit  Geschick  eine  weib- 
liche Rolle  spielte,  kam  ich  auf  die  Idee,  das  auch  zu  ver- 
suchen. Maske  und  Allüren  gelangen  mir  so  vorzüglich  (es 
war  eine  Tanzpantomime  im  indischen  Stil),  dass  sogar  die 
Zeitungen  lobend  davon  berichteten.  So  wohl  fühlte 
ich  mich  in  den  Kleidern,  dass  ich  sie  nie 
hätte  ausziehn  mögen.  Doch  hütete  ich  mich 
wiederum,  das  jemandem  einzugestehn;  denn  es  hing  ja  mit 
der  Onanie  zusammen.“ 

„Dann  verheiratete  ich  mich,  mit  derselben,  die  „nicht 
mehr  so  unschuldig  war  wie  ich“,  aus  moralischen  oder 
irgend  welchen  Gründen;  denn  sie  hatte  inzwischen  ein  Kind 
von  mir.  Ich  schaffte  mir  dann  geschmack- 
volle Frauenkleidung  an  und  kostümierte 
mich  morgens  zum  Kaffeetisch.  Wenn  Besuch 
kam,  oder  wenn  ich  auszugehen  hatte,  musste  ich  zu  meinem 
grössten  Bedauern  die  Kleidung  wechseln.  Um  sexuell  mit 
meiner  Frau  verkehren  zu  können,  war  es  nötig,  dass  min- 
destens sie  diejenigen  Kleider  anzog,  die  ich  gern  angehabt 
hätte.“ 


57 


Eines  schonen  Tages  verliebte  sie  sich  in  einen  andern 
und  lief  mir  davon.  Mein  Trost  waren  die  armseligen  paar 
Kleider;  aber  die  Einsamkeit  überfiel  mich  doch  sehr  bitter. 
Ich  war  sicher  der  lasterhafteste  Mensch  unter  der  Sonne. 
Niemandem  durfte  ich  es  wagen,  mich  anzuvertrauen;  also 
weiter  heucheln!  Ich  brauchte  Gesellschaft:  gefallene  Mädchen, 
womöglich  frisch  gefallene,  die  mich  gern  hatten,  weil  ich  sie 
versorgte.  Ich  zog  ihnen  an,  was  mir  selber  so  gut  ge- 
standen hätte,  und  lief  daneben  als  „Herr“  (ich  war  damals 
eine  Tagesberühmtheit  geworden).  So  war  es  doch  keine 
„Selbstbefleckung“  mehr.  Meine  eigenen  Weiberkleider  waren 
abgeschafft;  ich  kam  mir  sehr  moralisch  vor!“ 

„Ich  benutzte  die  Mädchen  als  Modelle,  schrieb  ihnen 
Stellungen  vor,  die  sie  mit  der  Zeit  lernten,  gewöhnte  sie  an 
meinen  Modengeschinack,  bis  sie  — wegliefen,  sobald  sich  ein 
passabler  Verliebter  zeigte.  Ich  „tyrannisierte“  sie 
zu  sehr.“ 

„Meine  Einsamkeit  nahm  zu.  Manchmal  hatte  ich  heftige 
Sehnsucht  nach  einer  talentvollen  Theaterdame;  doch  diese 
Hessen  sich  nicht  „tyrannisieren“.  Sowie  ich  allein  war, 
brach  mein  Laster  mit  verdoppelter  Gewalt  aus.  Ich  suchte 
meinen  Ekel  vor  mir  selbst  mit  Alkohol  zu  überwinden.“ 

„Endlich  lernte  ich  wieder  ein  mir  zusagendes  Mädchen 
kennen.  Kurze  Zeit  vor  der  Hochzeit  bekam  ich  das  Buch 
von  Forel  in  die  Hände  und  erhielt  zum  erstenmal  Aufklärung 
über  meinen  Fall,  d.  h.  eigentlich  nur  über  meinen  Stiefel- 
fetischismus. Ich  vertiefte  mich  nun  weiter  in  ähnliche  Werke 
und  fand  schliesslich  den  Mut,  meiner  Frau  offen  zu  gestehn, 
was  mich  bedrückte.  Die  Erleichterung  meines  Gemüts  machte 
mich  förmlich  delirieren;  ich  war  geblendet,  wie  ein  Gefange- 
ner, der  aus  den  unterirdischen  Kerkerlöchern  des  Dogen- 
palastes plötzlich  auf  die  sonnige  Piazetta  in  Freiheit  ver- 
setzt wird.  Ich  hätte  die  Welt  umarmen  und  um  Verzeihung 
bitten  mögen  für  meine  kleinliche  und  scheussliche  Heuchelei. 
Nur  fern  im  Untergründe  fragte  eine  Stimme:  wozu  hast 
du  dich  eigentHch  verheiratet?“ 

„Jetzt  sehe  ich  ein,  dass  ich  nun  mal  so  geartet  bin.  Es 
geht  auch  besser  mit  der  Ehe,  als  ich  ursprünglich  fürchtete. 


58 


Man  kommt  mir  entgegen;  selbst  meine  Schwieger- 
eltern haben  nichts  dagegen,  dass  ich  zu 
Haus  beständig  Weiberkleider  trage,  wo- 
fern ich  nur  ihre  Tochter  gut  behandle.“ 


Fall  VII. 

Herr  Q.,  bis  vor  kurzem  Polizei-Beamter,  ca.  40  Jahre 
alt.  Ein  Onkel  war  Tabiker,  seine  Eltern  Cousin  und  Cou- 
sine. Sonst  ist  aus  der  Verwandtschaft  nichts  zu  ermitteln, 
was  auf  Degeneration  Bezug  haben  könnte.  Herr  G.  hat 
Aufzeichnungen  über  sich  gemacht  vom  Umfang  eines  recht 
ansehnlichen  Druckbandes  in  Lex.  8 . Hieraus  seien  die  be- 
merkenswertesten Details  mitgeteilt: 

Inbezug  auf  die  Kindheitsentwicklung  heisst  es:  .,Sah  ich 
in  Märchenbüchern  oder  auf  Bilderbogen  Männer  mit  struppigen 
Vollbärten  oder  von  rauhem,  rohem  Wesen  dargestellt,  so 
konnte  ich  es  mir  garnicht  vorstellen,  dass  ich  auch  einmal  ein 
Mann  werden  sollte.“  G.  hatte  stets  Sehnsucht  nach  Puppen 
und  Puppenwagen,  bekam  aber  nie  derartiges  Spielzeug. 
Allerhand  Puppengeschirr  besass  er;  sein  Wunsch,  damit 
Kochen  spielen  zu  dürfen,  wurde  ihm  von  der  Mutter  abge- 
schlagen. 

In  dem  kleinen  Jungen  entwickelte  sich  nun  sehr  bald 
eine  Zuneigung  zu  seiner  ein  paar  Jahre  alten  Schwester,  be- 
sonders zu  ihrem  Hals  oder  Halsausschnitt  und  zu  ihrer  ge- 
samten Kleidung.  Er  empfand  diese  Neigung  schon  deutlich 
als  erotisch;  denn  sie  wurde  für  ihn  bald  zu  einer  inneren 
Heimlichkeit.  „Kam  meine  Schwester  aus  der  Schule  und  setzte 
sich  dann  zum  Mittagessen  nieder,  so  kletterte  ich  von  hinten 
auf  ihren  Stuhl  und  bedeckte  ihren  Nacken  mit  innigen 
Küssen.“ 

Sehr  früh  trat  auch  schon  ein  Zug  auf.  den  er  in  seinem 
Bericht  selber  als  masochistisch  bezeichnet.  „Ich  empfand  eine 
sinnliche  Befriedigung,  wenn  ich  mich  als  kleiner  Knabe  mit 
dem  Bauch  platt  auf  die  Erde  legte,  und  wenn  meine  Mutter 
dann  ihren  Schuh  auszog,  mit  dem  Fuss  sanft  über  meinen 


59 


Rücken  strich  und  tretende  Bewegungen  machte.  Ich  nannte 
das  „Padde  (Frosch)  treten"  und  bat  im  Alter  von  5 — 6 
Jahren  meine  Mutter  fast  täglich  hierum." 

Mädchen  erschienen  ihm  wie  übernatürliche  Wesen.  Ob- 
wohl er  wenig  Gelegenheit  hatte,  an  ihren  Spielen  teilzu- 
nehmen, war  stets  sein  höchster  Wunsch,  als  Mädchen  sich 
unter  Mädchen  tummeln  zu  können.  Die  Raufereien  der 
Knaben  fand  er  roh  und  abstossend.  Dabei  bestand  und  be- 
steht grosse  Neigung  zum  Weinen. 

Mit  7 Jahren  kam  er  in  die  Schule.  Seine  erste  Ent- 
täuschung war  dort,  dass  er  keine  Lehrerinnen  bekam.  Da- 
gegen hatte  er  das  „Vergnügen“,  dass  ausnahmsweise  die 
Tochter  des  Schuldirektors  in  der  gleichen  Klasse  mitunter- 
richtet wurde.  Beim  Nachhausegehn  folgte  er  ihr  oft  von 
fern.  Wieder  regte  sich  der  Wunsch,  so  ein 
Mädchen  „in  duftigem,  tief  ausgeschnitte- 
nen Kleide“  sein  zu  können. 

Schläge  von  seiten  der  Eltern  und  Lehrer  gab  es  öfter. 
Sein  Ehrgefühl  litt  ausserordentlich  darunter.  Bekamen  andre 
Jungens  eins  ab.  so  hatte  er  dagegen  „beim  Anblick  des 
Opferlamms  erotische  Gefühle“ 

Im  9.  Jahre  stellten  sich  Nacht-  und  Tagträume  ein. 
„Ich  hatte  die  Illusion,  ald  stände  eine  ganze  Reihe  der 
schönsten  Frauen  in  ausgeschnittenen  Gewändern  vor  mir  und 
ich  küsste  und  beleckte  sie  an  Hals  und  Brust  nach  Herzens- 
lust.“ 


Sentimentale  Märchen  interessierten  ihn  ungemein.  Er 
vergoss  bittere  Zähren  über  das  Geschick  der  heiligen  Geno- 
veva. Die  Geschichte  der  Märtyrer,  das  Leiden  Christi  machten 
sein  Herz  klopfen. 

Mit  10  Jahren  geriet  er  einmal  in  eine  heftige  Erregun 
beim  Anblick  eines  .,stark  dekolletierten  Mädchens  von  6 — < 
Jahren“.  In  seinem  Bericht  vibrierte  dieser  Eindruck  noch  so 
sehr  nach,  dass  er  die  Einzelheiten  der  Kleidung  dieses  Mäd- 
chens genau  angibt.  „Ich  bedauerte,  dass  ich  nicht  auch  so 
frei  und  luftig  um  den  Hals  gehen,  nicht  auch  die  Haare  so 
schön  lang  wachsen  lassen  durfte  usw.“ 


bß  C 


60 


„Ein  neues  Moment:  Damals  bereits  empfand  ich  in 

meinen  Brüsten  ein  wollüstiges  Getühl,  sodass  ich  mir  mein 
Knabenhemd  zuweilen  öffnete  und  meine  Brüste  betastete. 
Auch  ging  ich  heimlich  ans  verschlossene 
Küchenspind,  nahm  mit  dem  Teelöffel  et- 
was Milch  aus  dem  Topf  und  träufelte  sie 
auf  meine  Warzen,  um  mir  die  Illusion 
einer  stillendenMutter  vorzugaukeln.  Hier- 
bei hatte  ich  ein  starkes  Gefühl,  natürlich  ohne  Eja- 
kulation." 

Dann  verliebte  er  sich  in  einen  Klassenlehrer,  den  „Typus 
eiues  verfeinerten  Urgermanen“.  Wenn  dieser  ihm  mit  der 
Hand  über  das  Haar  strich,  war  er  wie  elektrisiert.  „Ich 
errötete  tief,  denn  ich  spürte  das  Rieseln  des  Blutes  in  meinen 
Wangen.  Bei  einer  andern  Gelegenheit  hatte  ich  zum  ersten- 
mal das  Gefühl,  ich  möchte  die  Frau  dieses  Mannes  sein.“ 

Im  11.  Jahre  musste  G.  wegen  einer  Luxation  Monate 
lang  das  Bett  hüten.  „Ich  las  dabei  Romane  und  wurde 
durch  die  Schilderungen  von  schönen  Frauenarmen,  zierlichen 
Damenhänden  und  -füssen,  Alabasterbusen,  schönen,  herrlichen 
und  entzückenden  Damenkostümen  heftig  erregt.  Blätterte 
ich  in  Märchenbüchern  herum,  so  küsste  ich  die  Bilder  schöner 
Prinzessinnen“. 

Im  12.  Jahre  hatte  er  im  Turnsaal  beim  Stangenklettern 
„ungemein  schöne  Gefühle“.  Er  wurde  in  Gartenlokale  mit- 
genommen und  begeisterte  sich  für  Chansonetten  in  „ihren 
niedlichen  kurzen  Kleidchen“.  Ein  Damendarsteller 
erregte  in  ihm  die  lebhafte  Begierde, 
diesen  Beruf  zu  dem  seinen  zu  machen.  Seine 
Sexualität  wurde  nun  überhaupt  stärker.  „Zu  dieser  Zeit 
hatte  ich  Träume,  nach  denen  ich  recht  gestärkt  erwachte; 
wenn  ich  auch  darüber  ärgerlich  war,  dass  der  Traum  nun 
aus  sei.  Mirwar’s,  als  ginge  ich  in  Mädchen- 
kleidern auf  der  Strasse  spazieren  oder 
sässe  in  solchen  auf  der  Schulbank.  Manch- 
mal schien  mir’s,  als  hätten  auch  andere  Knaben,  ja  selbst 
der  Lehrer  Mädchenkleider  an.  Dann  wieder,  als  tanzte  eine 
wunderbare  Frauengestalt  mit  vollen  Brüsten  und  in  berückend 


61 


schönen  blauen  Gewändern  vor  mir  in  den  Lüften  und  Hesse 
sich  zu  mir  hernieder,  wie  Pallas  Athene  zum  Helden 
Achill.“ 

„Im  Sommer  desselben  Jahres  konnte  ich  der  Versuchung 
nicht  länger  widerstehn;  ich  schlich  in  unbewach- 
ten Augenblicken  an  den  Korb  mit  der 
schmutzigen  Wäsche,  holte  mir  ein  Hemd 
meiner  Schwester  hervor  und  zog  es  mir 
über.  Es  roch  so  schön  nach  Schweiss.  Mein  Herz  klopfte 
zum  Zerspringen,  Schauer  durchrieselten  meinen  Körper,  und 
ich  zitterte  wie  Espenlaub.  Vor  Entzücken  biss  ich  in  die 
Kanten  des  Brustausschnitts  und  schlug  klatschend  auf  meine 
Brust,  Schultern  und  Oberarme.“ 

Derartige  Szenen  wiederholten  sich  nun  öfter,  in  aller- 
hand Variationen.  Nach  einer  solchen  Extase  war  er  dann 
eine  Zeit  lang  „ganz  ruhig  und  vernünftig“  und  bereute  seine 
„Schwäche“  ein  wenig.  Ejakulation  war  immer  noch  nicht 
vorhanden.  Besonders  betont  muss  werden,  dass  manuelle 
Masturbation  erst  vom  24.  Jahre  an  geübt  wurde. 

Geschichten  von  Männern,  die  längere  Zeit  in  Frauen- 
kleidern lebten,  bevorzugte  er  als  Lektüre.  Achill  unter  den 
Töchtern  des  Lykomedes  erschien  ihm  „dumm“  in  dem  Augen- 
blick, wo  er  das  Schwert  ergreift.  Andererseits  kam  es  aber 
vor,  dass  ihm  der  Hauptmann,  der  mit  gezogenem  Degen 
unter  klingendem  Spiel  der  Truppe  reitet,  als  Ideal  vor- 
schwebte. Vom  Geschlechtsakt  und  der  Entstehung  des  Men- 
schen hatte  er  damals  noch  keine  Ahnung. 

Aus  dem  13.  Jahre  ist  folgender  Bericht  zu  erwähnen: 
„Es  traf  sich  einmal,  dass  Eltern  und  Geschwister  auf  einige 
Stunden  abwesend  waren.  Oh  wie  jubelte  ich  innerlich! 
Mein  Herz  war  zum  Zerspringen  voll.  Am 
ganzen  Körper  zitternd  zog  ich  mich  nackt 
aus,  holte  aus  demW  äschekorb  Hemd,  Hose, 
Schürze,  Strümpfe  meiner  Schwester  her- 
vor und  kleidete  mich  damit  an.  Ihre  Stiefel 
nahm  ich  gleichfalls,  befestigte  an  meinem 
Haar  ein  Bukett  künstlicher  Blumen,  band 
um  den  Hals  ein  schwarzes  Samtbändchen 


62 


und  z 0 s Mädchenhandschuhe  an.  Dann 

setzte  ich  einen  altenHut  meiner  Schwester 
auf  den  Kopf  und  spannte  ihren  Sonnen- 
schirm auf.  Wie  glücklich  fühlte  ich  mich 
d a ! Und  die  Kleidungsstücke  rochen  so  wunderbar  schön; 
wie  Balsam  kam  mir  der  Geruch  vor.  Nun  trat  ich  vor  den 
Spiegel  — das  sollte  ein  Knabe  sein?  Purpurröte  bedeckte 
mein  Antlitz  und  Wonneschauer  gingen  durch  meinen 
Körper. 

Im  14.  Jahr  begannen  nächtliche  Pollutionen  nach  denen 
er  „wie  neugeboren“  erwachte.  Eine  neue  Eigenart  schildert 
er  so:  „Ich  hatte  damals  die  Neigung,  auf  ein  Stück  Papier 
Sätze  zu  schreiben  wie:  „I  am  a very  fine  young  lady,  I am 
a beautiful  girl.“  Darnach  zerriss  ich  die  Zettel  wieder.  Auch 
Sätze  in  der  Gramatik  wie:  ]e  suis  une  belle  fille.  je  suis  ta 
tante,  ta  inere,  erregten  mich  erotisch.“ 

„Oft  bat  ich  meine  Schwester,  sie  möchte  einen  oder 
zwei  Knöpfe  an  ihrer  Taille  aufknöpfen;  was  sie  auch  manch- 
mal tat.  Dann  langte  ich  hinten  in  ihren  Nacken  und  zerrte 
den  Saum  ihres  Hemdes  hoch.  Oder  ich  bedeckte  ihren  Hals 
mit  stürmischen  Küssen.“ 

Mit  15  Jahren  hielten  ihn  die  schwierigem  Schulaufgaben 
oft  bis  in  den  späten  Abend  hinein  fest.  Es  ist  bemerkens- 
wert, dass  er  dazu  schreibt:  „Infolgedessen  war  ich 
sexuell  sehr  aufgeregt.“  Er  schlief  damals  mit  Vater  und 
Bruder  in  einem  Zimmer.  Sobald  diese  schnarchten,  schlich 
er  leise  zum  Wäschekorb,  nahm  Hemd,  Hose,  Unterrock  und 
Strümpfe  der  Schwester  heraus  und  zog  sie  an.  „Ich  bekam 
dann  zu  meinem  nicht  gelinden  Schreck  Pollutionen  und  legte 
alles  wieder  in  den  Korb  hinein.  Dann  erst  korinte  ich  ein- 
schlafen.  Dies  setzte  ich  eine  ganze  Zeit  hindurch  beinahe  täg- 
lich fort,  erwachte  aber  nie  besonders  geschwächt.“ 

Aus  dem  16.  Jahr  sagt  der  Bericht:  ..Die  rohen  und  ge- 
meinen Reden  meiner  Mitschüler  waren  mir  zuwider;  denn 
sie  erhöhten  meine  Phantasie  und  erregten  mich  sexuell  in 
hohem  Masse  . . . Jetzt  trat  wieder  eine  ganz  neue  Erschei- 
nung auf.  Wenn  wir  Schüler  ein  Extemporale  schrieben  und 
ich  war  beim  Läuten  mit  meiner  Arbeit  noch  nicht  fertig  ge- 


63 


worden,  so  ergriff  mich  die  Angst,  eine  schlechte  Note  zu  er- 
halten derart,  dass  ich  plötzlich  trotz  meines  energischen 
Sträubens  Ejaculation  hatte." 

Er  benutzte  nun  jede  Gelegenheit  zur 
Verkleidung.  Erklemmte  sichOhrringe  an, 
raffte  im  Zimmer  nach  Frauenart  den  Rock 
hoch  mit  hüpfenden  und  wiegenden  Bewe- 
gung e n.“  „Dann  hatte  ich  plötzlich  Orgasmus,  ohne  dass 
ich  masturbiert  hatte.“ 

Das  Gymnasium  absohderte  er  glatt  und  von  Quinta  an 
als  Klassenerster.  Als  Primaner  verkleidete  er  sich  seltener. 
Geschah  es  aber,  so  liebte  er  die  Illusion  einer  nährenden 
Amme.  Er  band,  gleichsam  als  Kopftuch  der  Spreewälderinnen, 
eine  SerGette  um  den  Kopf,  formte  aus  einer  andern  das 
„Kind“  und  legte  es  zum  „Stillen“  an,  indem  er  ein  Ammen- 
liedchen vor  sich  hin  summte.  Damals  erregte  ihn  auch  der 
Anblick  eines  Damendarstellers  so  heftig,  dass  er  nur  mit 
Mühe  und  mehrmals  erfolglos  die  spontane  Ejakulation  zu 
hemmen  versuchte. 

Ferner  schreibt  er:  ,,Yon  jeher  sah  ich  gern  weidende 

Kühe  und  Pferde,  die  mir  in  ihrer  fessellosen  Freiheit  höchst 
beneidenswert  erschienen.  Ich  wünschte,  ich  hätte  eine  Kuh 
sein  können;  namentlich  von  den  milchstrotzenden  Eutern 
konnte  ich  keinen  Blick  wenden.  Aufs  höchste  er- 
regte mich  das  Melken.“  Von  dieser  Ideenverbindung 
wird  noch  weiter  die  Rede  sein.  Er  hat  sich  eine  Serie  von 
Ansichtskarten  zugelegt,  die  das  Melken  der  Kühe  zum  Gegen- 
stand haben  und  deren  Betrachten  ihn  unfehlbar  in  Exzitation 
versetzt. 

Für  seine  Schüchternheit  und  PassiGtät  ist  folgendes  be- 
merkenswert: Er  bekam  einen  jüngeren  Schüler  zum  Nach- 
hilfe-Unterricht. Dieser  benahm  sich  bald  sehr  ungezogen, 
neckte  ihn  mit  Mädchennamen  und  begann  schliesslich,  ihn  zu 
zwicken,  zu  schlagen  und  zu  treten.  Er  aber  liess  alles  ruhig 
über  sich  ergehn,  ja  nahm  solche  Uebergriffe  mit  einem  ge- 
wissen Genuss  hin. 

Herr  G.  ergriff  nun  die  Beamtenlaufbahn,  hatte  aber  auch 
hier  von  vornherein  mit  Spöttereien  und  Widerwärtigkeiten 


64 


zu  kämpfen,  weil  seine  verschlossene  Sonderlingsnatur  viel- 
fach dazu  herausforderte,  ln  dieser  Zeit  bemühte  er  sich  nach 
Kräften,  des  Sperma,  wie  er  sagt,  in  seinem  Körper  zurück- 
zuhalten. Aber  gerade  dann  war  er  von  seinen  „weiblichen“ 
Ideen  sehr  geplagt,  wmhrend  er  sich  nach  Ejakulationen  frei 
und  als  .,Mann"  fühlte.  So  kam  er  auf  den  merkwürdigen  Ge- 
danken, das  Sperma  überhaupt  für  das  weibliche  Prinzip  in 
seinem  Körper  zu  halten,  „gewissermassen  die  Rippe,  aus  der 
Gott  das  Weib  schuf.“ 

Zum  Begriff  des  Obszönen  macht  er  aus  dieser  Periode 
folgende  Angaben:  Sexuell  erregend  waren  für 
ihn  die  Worte  Kuh,  Hirschkuh,  Stute;  die 
Karo-Dame  im  Kartenspiel;  das  Portrait 
des  Chevalier  d’Eon;  aus  dem  Liede  „Nun 
danket  alle  Gott“  der  Vers  „der  uns  von 
Mutterleib  und  Kindesbeinen  an“;  die  lite- 
rarischen Gestalten  der  Kriemhild,  Pene- 
lope. Gudrun,  Eboli;  der  Satz  in  Imm.  er- 
manns  Oberhof  „W  enn  die  Magd  die  Kuh 
melkt,  steht  ihr  immer  der  Geliebte  vor 
Augen“  erregte  ihnmasslos.  Wenn  er  eine  Braut- 
kutsche sah,  beneidete  er  die  Braut  stets  „viel,  viel  mehr  als 
den  Bräutigam“. 

Nach  dem  Tode  seiner  Eltern  gestand  er  den  Geschwistern, 
mit  denen  er  die  Wohnung  teilte,  seine  Neigung  zur  weib- 
lichen Verkleidung.  Er  lebte  dieser  nun  offenkundiger  nach, 
stand  ewig  vor  dem  Spiegel  und  bewunderte  „die  Inkarnation 
des  Weibes  in  sich“.  Sein  Körper  hatte  ziemlich  Fett  ange- 
setzt oder,  wie  er.  es  nannte,  die  „Weiberfleischwerdung“  war 
bei  ihm  vollendet;  das  Spiegelbild  seines  „Speckhalses“,  seiner 
„Wurschtarme“  war  für  ihn  berauschend;  er  küsste  es. 

Eines  Tages  begann  er  Zeitungsausschnitte  über  „Männer 
in  Frauenkleidern“  zu  sammeln.  Da  ihm  die  Spärlichkeit  der- 
artiger Notizen  aber  nicht  genügte,  spielte  er  seinen  eigenen 
Redakteur.  Er  verfasste  Lokal-Feuilletons  wie  folgendes: 
„Narcissus  redivivus!  Ein  heiteres  Intermezzo  gab  es  gestern 
Nachmittag  in  der  Friedrichstadt.  Promenierte  da  zwischen 
dem  Eisenbahnviadukt  und  der  Strasse  Unter  den  Linden  eine 


65 


bildschöne  junge  Dame  in  geradezu  reizender  Toilette  usw.'‘ 
Die  Dame  wird  auf  Veranlassung  einiger  eifersüchtiger  Prosti- 
tuierten nach  der  Polizei  gebracht  und  entpuppt  sich  hier 
als  „bildschöner  Jüngling“,  der  unter  Tränen  versichert,  von 
Kindheit  an  den  unwiderstehlichen  Drang  zu  Frauenkleidern 
gehabt  zu  haben.  Nachdem  er  sich  als  der  höhere  Beamte 
Herr  G.  legitimiert  hat,  wird  er  mit  der  freundlichen  Er- 
mahnung entlassen,  solche  Scherze  in  Zukunft  zu  vermeiden.“ 
Derartige  Dokumente  einer  geistigen  Masturbation  genoss 
er  dann  in  tagelang  wiederholter  Lektüre.  Seine  Verschlossen- 
heit und  Sonderlingsmanieren  nahmen  hierbei  begreiflicher- 
weise zu.  Die  Kollegen  narrten  ihn  oder  er  glaubte  von 
ihnen  genarrt  zu  werden.  Man  ■ stichelte  ihn,  weil  man 
merkte,  dass  er  nicht  mit  Weibern  verkehrte.  Die  Folge  war 
bei  ihm  eine  verstärkte  Phantasiearbeit  in  der  Einsamkeit. 
Schliesslich  verlor  er  bei  seinen  erotischen  Schrifttibungen  ganz 
und  gar  den  Massstab  und  Konnex  der  Aussenwelt.  Er  über- 
gab dem  Briefkasten  unfrankierte  und  nicht  oder  phantastisch 
adressierte  Briefe,  die  zur  Aufdeckung  seines  Treibens,  zur 
Entlassung  und  wegen  des  seltsamen  Inhalts,  dessen  Moti- 
vierung er  hartnäckig  verschwieg,  auch  zur  Entmündigung 
führten.  Seine  Manie  begann  damit,  dass  er  eine  Reihe  von 
Zetteln  ausschrieb,  etwa  mit  folgendem  Wortlaut:  „Ich  möchte 
eine  Amme  sein,  die  an  ihrer  blühenden,  knospenden  Brust 
ein  Kindchen  säugt“.  Diese  Zettel  deponierte  er  vorsichtig 
auf  Hausfluren,,  in  den  Sandkästen  der  Strassenreinigung  usw. 
Dann  ging  er  zu  umfangreicheren  Briefen  über.  Er  richtete 
sie  u.  a.  an  bekannte  Molkereien,  dann  aber  auch  ganze  Se- 
rien in  Kinderhandschrift  als  ..Unglücklicher  Neffe  Felix“  an  eine 
imaginäre  Tante  „Frau  verwitw.  Schulze  geb.  Müller  geschied. 
Lehmann  separ.  Lange  in  YY“.  Er  bettelte  darin  um  Mäd- 
chenkleider, da  er  doch  eigentlich  gar  kein  Junge  sei  etc.  Es 
kamen  aber  auch  sehr  obszöne  Briefe  vor,  andererseits  solche, 
die  bedenkliche  Folgen  haben  konnten,  wie  z.  B.  der  nach- 
stehende, an  dom  natürlich  kein  wahres  Wort  ist,  der  vielmehr 
eine  geträumte  erotische  Wunscherfüllung  bedeutet: 

(Ohne  Freimarke  und  Adresse  in  den  Briefkasten  ge- 
worfen.) „Ich  bin  ein  junger  Mann  und  Beamter  von  Beruf. 

HirachfeM,  Die  Transvestiten. 


o 


66 


Wenn  ich  nachmittags  aus  dem  Bureau  ermüdet  und  ermattet 
zu  Hause  ankomme,  zwingt  mich  meine  Schwester  unter  Fuss- 
tritten.  Stocksclüägen,  Peitschenhieben  und  Ohrfeigen,  dass 
ich  mich  als  Dame  verkleide.  Habe  ich  dann  Mädchenkleider 
angelegt,  dann  muss  ich  mir  immer  die  Taille  öffnen  und 
meiner  Schwester  die  Brust  geben,  die  dann  gierig  an  meinen 
Brüsten  herumtutscht,  wie  ein  Säugling  an  der  Mutterbrust. 
Auch  knetet  sie  an  meinen  Brüsten  mit  den  Händen  herum, 
wie  etwa  die  Magd  die  Kuh  melkt.  Sie  klopft,  befühlt  und 
betastet  meinen  Nacken,  beisst  in  meinen  Hals  und  in  meine 
fleischigen  Oberarme  hinein  und  betrachtet  mich  überhaupt 
wie  ihre  Milchkuh.  Dieses  Leben  halte  ich  nicht  länger  aus. 
Ist  niemand  da,  der  mich  befreit?“' 

Herr  G.  war  zu  dieser  Zeit  infolge  von  Differenzen  mit 
einem  Vorgesetzten  schon  ziemlich  irritiert.  Nach  Expedierung 
dieser  Briefe  glaubte  er  wahrzunehmen,  dass  seine  Kollegen 
absichtlich  öfter  Ausdrücke  wie  „Amme“  oder  „Milchkuh“  ge- 
brauchten, er  nahm  daher  an,  es  sei  alles  herausgekommen, 
obwohl  er  die  Mehrzahl  jener  Briefe  bei  Spaziergängen  in 
Wäldern  zwischen  den  Holzstapeln  versteckt  hatte.  Also  ging 
er  eines  Tages,  von  Gewissensbissen  getrieben,  zum  Chef  seines 
Ressorts  und  bezichtigte  sich  selber.  Die  Folgen  waren  die 
oben  erwähnten,  da  das  Faktum  als  solches  ohne  Kenntnis 
des  Zusammenhangs  ganz  unverständlich  war  und  einen  Schluss 
auf  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  nahe  legen  musste. 

Die  beharrliche  Phantasiebeschäftigung  mit  dem  Vorgang 
des  Melkens  einer  vollen  Brustdrüse  brachte  es  auch  mit  sich, 
dass  Herr  G.  seinen  Ferienurlaub  mit  Vorliebe  im  Gebirge 
verlebte,  wo  er  viel  Gelegenheit  hatte,  dergleichen  Manipu- 
lationen zu  sehn.  Zu  Hause  in  der  Gressstadt  setzte  ei  diese 
Beschäftigung  dann  insofern  fort,  als  er  systematisch  alle 
Kuhställe  zu  den  Melkzeiten  aufsuchte,  unter  dem  Vorgeben, 
er  bedürfe  zu  seiner  Gesundheit  des  regelmässigen  Trinkens 
kuhwarmer  Milch.  In  Wirklichkeit  war  es  ihm  um  den  ero- 
tischen Genuss  zu  tun,  die  Kuhmägde  bei  ihrer  Arbeit  zu  be- 
obachten und  ein  Gespräch  darüber  zu  beginnen,  wie  gut  es 
eigentlich  so  eine  Kuh  habe,  und  dass  es  schön  wäre,  wenn 
man  auch  eine  solche  sein  könnte  etc. 


67 


Trotz  seines  Abscheus  vor  der  Prostitution  liess  er  sich 
doch  zuweilen  mit  Masseusen  ein.  Diese  erschienen  ihm  wegen 
ihres  angeblich  „energischen“  Charakters  wie  „halbe  Männer“ 
und  daher  in  passendem  Gegensatz  zu  seinem  „weiblichen“ 
Wesen;  sie  mussten  ihn  manuell  behandeln  und  dabei  vom 
Melken  reden.  Er  malte  sich  auch  aus,  dass  ihn  eine  Masseuse 
„schlachte“,  ihm  mit  schnellem  Griff  den  Leib  aufschlitze  und 
die  Eingeweide  herausreisse.  Die  Masseusen  besuch- 
te er  oft  in  Damenkleidern.  Einmal  überredete  ihn 
eine  solche,  im  Damen-Unterkostüm  dabei  zu  sein,  während 
ein  dritter  mit  ihr  allerlei  Figurae  Veneris  ausführte.  Was 
der  dritte  damit  für  Ideen  verband,  ist  ihm  unbekannt  ge- 
blieben. 

Der  Wunsch,  ein  Weib  zu  sein,  veranlasste  ihn  auch  zu 
autocohabitatorischen  Gedanken  und  Handlungen.  Er  führte 
sich  stockähnliche  Instrumente  inter  femora  et  in  anum  ein. 

Ferner  brachte  ihn  seine  ewige  Unbefriedigtheit  zu  eigen- 
tümlichen Exhibitions Vorgängen.  An  heissen  Sommertagen 
spazierte  er  in  der  Umgegend  auf  Waldwegen  umher,  statt 
der  Weste  nur  mit  einem  Gürtel  angetan.  An  den  Hut  steckte 
er  sich  Rosen,  den  Gehrock  hängte  er  über  den  Arm,  Kragen, 
Vorhemd  und  Schlips  praktizierte  er  in  die  Tasche,  .letzt  war 
das  Damenhemd,  das  er  tiaig,  und  vor  allem  sein  „Schwanen- 
hals“, den  er  zudem  noch  mit  einem  schwarzen  Samtbändchen 
und  goldenem  Medaillon  schmückte,  in  ganzer  „Schönheit“ 
für  jeden  zufälligen  Passanten  sichtbar. 

Von  seinen  auf  gezeichneten  Träumen  seien  einige  Bei- 
spiele wiedergegeben,  z.  B.t  „Mir  träumte,  es  klingle.  Ich 
öffnete.  Ein  hässliches  altes  Weib  stand  vor  der  Tür  und 
wollte  mit  aller  Gewalt  in  die  Wohnung  eindringen.  Trotz- 
dem ich  die  Tür  zudrückte,  stand  sie  doch  plötzlich  auf  dem 
Korridor.  Unter  grosser  Depression  erwachte  ich.“  Oder; 
„Ich  war  eine  Ritterdarae  in  einem  geräumigen  altdeutschen 
Zimmer.  Ich  hatte  ein  hellblaues  Gretchen- 
Kostüm  an  und  einen  Knaben  an  der  Brust, 
während  ein  kleines  täppisches  Mädchen  zu  meinen  Füssen 
mit  der  Puppe  spielte.  Von  der  Holzveranda  überblickte  ich 
Wälder,  Täler  und  Höhen.  Ich  legte  das  Kind  in  die  Wiege 

h* 


68 


und  ging  ans  Spinnrad.  Das  kleine  Mädchen  hielt  sich  an 
meinem  Kleide  fest  und  sagte;  Mutti!  Da  küsste  ich  es  auf 
die  Stirn.  Eine  Fanfare  schmetterte,  und  mein  sieghafter  Ge- 
mahl trat  ein.  Seine  kräftigen  Männerarme  umschlangen 
mich.  “ 

Im  weiblichen  Kostüm  macht  Herr  G.  den  Eindruck  einer 
gealterten  wohlbeleibten  Dame  der  Halbwelt.  Das  Verzeich- 
nis' der  Kleidungsstücke,  die  er  bei  dieser  Vorstellung 
trug,  ist  folgendes:  Hemd  mit  Stickerei,  blaue 
Strümpfe,  dito  Strumpfbänder,  blaue 
Zeugschuhe,  hellgraues  Korsett,  weisses 
Beinkleid  mit  Stickerei,  weisse  Unter- 
röcke, hellblaues  Kostüm  mit  tiefem  Aus- 
schnitt und  entsprechende  Zutaten  an 
Schmucksachen,  Bändern,  Kämmen  in  der 
auffallenden  Frisur  etc.  Das  helle  Blau  ist  bei 
diesem  Herrn  und  anderen  ähnlicher  Neigung  die  bevorzugte 
Farbe. 

Fall  VIll. 

Herr  H..  Mitte  der  zwanziger,  Mediziner,  korrespondierte 
mit  uns  über  die  Angelegenheit  vom  Auslande  her.*)  Seinen 
Ausführungen  entnehmen  wir  folgende  Einzelheiten: 

„Ich  interessiere  mich  lebhaft  für  die  bisher  zu  wmnig  beach- 
teten femininen  Züge  bei  sonst  heterosexuellen  Männern. 
Der  Wunsch,  sich  als  Frau  zu  verkleiden,  ist  fast  immer  durch 
Erziehung,  Sitte  usw.  gehemmt.  Doch  haben  ihn  sicherlich 
viel  mehr  Männer,  als  ihn  betätigen.  Ich  selbst  liebe 
es,  mich  als  Frau  zu  verkleiden;  indessen  aus 
etwas  andern  Gründen.  Ich  habe  namentlich  das 
sogen.  Prinzesskleid  gern,  der  Aesthetik 
wegen,  und  fühle  mich  in  dieser  Kleidung 
total  Frau,  bin  auch  in  den  Bewegungen  etc. 
ganz  feminin.  Mit  abrasiertem  Schnurrbart  und  Perücke 
erkennt  man  mich  absolut  nicht  als  Mann.  Das  Kleid  muss 


*)  Nachträglich  lernten  wir  ihn  und  seine  Frau  auch  persönlich  kennen. 


69 


neu,  die  Wäsche  irisch  gewaschen  sein;  Parfüms  verwende  ich 
gern,  am  liebsten  Heuduff.  Dabei  bin  ich  so  hetero- 
sexuell wie  möglich,  war  mit  19  Jahren  verheiratet 
und  habe  mich,  seitdem  ich  meine  Frau  vor  2 Jahren  verlor, 
jetzt  von  neuem  verheiratet.  Obwohl  ich  seit  Jahren  viel  in 
homosexuellen  Kreisen  verkehre,  als  Wissenschaftler  die  The- 
orie der  natürlichen  Variabilität,  und  als  Philosoph  die  Wieder- 
aufnahme der  hellenistischen  Ansichten  vertrete,  so  kann  ich 
es  doch  über  eine  blosse  Freundschaft  mit  Männern  hin- 
aus beim  besten  Willen  nicht  bringen.  Der  blosse  Ge- 
danke an  gleichgeschlechtlichen  Verkehr 
ekelt  mich  direkt  an.  Im  Gegensatz  dazu  stehn 
einige  feminine  Eigenschaften  an  mir.  Man  sagt  oft,  ich 
„ginge  wie  eine  Dame“.  Meine  Hände  sind  ziemlich  klein,  be- 
weglich. mit  schmalen  Fingern.  Obwohl  es  hierorts  nicht  üb- 
lich ist,  trug  ich  längere  Zeit  hindurch  ein  Armband  und 
lange  Locken.  Ich  liebe  auch  weibliche  Hand- 
arbeit. sticke  gelegentlich  besser  als  die 
Damen  meiner  Bekanntschaft,  und  webe.“ 

„Eigentlich  hat  nun  der  Reiz  der  Frauen- 
kleidung für  mich  nichts  Erotisches.  Es 
ist,  als  wenn  zeitweise  das  Weibliche  in  meinem  Charakter 
besonders  stark  hervortritt;  dann  liebe  ich  die  Maskerade, 
weil  sie  meinem  Seelenzustand  entspricht.  In  Augenblicken, 
wo  ich  mich  mehr  Mann  fühle,  ist  mir  wiederum  ein  straff 
sitzendes  Sportkostüm  oder  eine  Studentenuniform  fLitewka) 
angenehmer.“ 

„Auf  der  psychiatrischen  Klinik  in  X.,  wo  ich  längere 
Zeit  arbeitete,  wurde  ich  oft  vom  Assistenten  der  Frauen- 
abteilung zu  Hilfe  geholt,  weil  „ein  Weib  immer  besser  mit 
Weibern  auskommt“.  Ich  glaube  eben,  der  weiblichen  Psyche 
besser  nachfühlen  zu  können,  als  die  meisten  meiner  Freunde. 
Dadurch  habe  ich  viele  intime  Freundschaften  mit  Frauen  ge- 
wonnen. ohne  dass  diese  im  übrigen  einen  mehr  als  plato- 
nischen Reiz  für  mich  gehabt  hätten.“ 

„Der  Weibtypus,  den  ich  liebe,  ist  einzig  folgender: 
Mittelschlank,  kräftig,  blond,  mit  sehr  üppigem  Haar,  blau- 
grauen Augen,  breitem  Becken,  also  körperlich  total 


Weib;  aber  geistig  stark  entwickelt,  eine  sogen.  Intellek- 
tuelle.“ 

^Was  meine  Libido  anlangt,  so  komme  ich  beim  ein- 
fachen Koitus  nicht  oder  schwer  zur  Befriedigung;  er  muss 
stupnimartig  sein,  mit  gleichzeitig  erzwungenem  ba- 
sium  linguarum.  Meine  Frau  war  etwas  masochistisch  ver- 
anlagt, sodass  sich  unsere  Bedürfnisse  hier  ausglichen.  Ich 
habe  bisher  nur  mit  meiner  Frau  verkehrt;  einer  puella  gegen- 
über würde  ich  aus  purem  Ekel  impotent  sein.  Wenigstens 
war  dies  Gefühl,  als  ich  einmal  ein  Bordell  besuchte,  so 
mächtig,  dass  ich  mir  von  der  puella  nur  ihre  Lebensgeschichte 
erzählen  liess  und  dann  davonging.  Uebrigens  lässt 
mich  jedes  Weib  kalt,  das  zu  willig  ist  oder 
sich  mir  mit  zu  deutlichen  Absichten 
nähert.  Gehst  du  zum  Weibe,  vergiss  die  Peitsche  nicht! 
dies  W^’ort  aus  dem  Zarathustra  ist  mehr  nach  meinem  Sinn.“ 


Fall  IX. 

Herr  I.,  37  Jahre  alt,  früher  Offizier  in  der  amerikanischen 
Armee,  schreibt:  Ich  habe  zwei  Feldzüge  mitgemacht  und  darf 
wohl  sagen,  dass  ich  mich  tapfer  gehalten  und  die  militärische 
Medaille,  die  ich  erhielt,  verdient  habe. 

Körperlich  bin  ich  durchaus  männlich  entwickelt;  Geni- 
talien sind  normal  gebildet,  und  ich  habe  immer  den  c o i t us 
cum  f e m i n a geübt.  Doch  habe  ich  mich  seit  meiner  Kind- 
heit innerlich  immer  weiblich  gefühlt.  Schon  mdt  14 
Jahren  reizte  es  mich  merkwürdig,  als  ich  einen  Knaben  in 
Mädchenkleidern  sah,  und  seitdem  interessierte  ich  mich  stets 
für  Männer,  die  wie  Frauen  aussahen  oder  gekleidet  waren. 
Von  Homosexualität  hatte  ich  bis  zu  meinem  20. 
Jahre  nie  etwas  gehört,  und  auch  dann  begriff 
ich  davon  nichts.  Mein  erster  coitus  cum  femina  fand 
im  20.  Jahre  statt,  und  der  Gedanke  an  einen  Beischlaf  mit 
Männern  hat  mir  (mit  einer  einzigen  Ausnahme)  immer 
Ekel  verursacht. 


Mehr  und  mehr  ü h e r k a m mich  der  Drang, 
mich  als  Dame  zu  verkleiden,  bis  er  un- 
widerstehlich wurde.  Insgeheim  zog  ich 
so  oft  wie  möglich  Frauenröcke  oder  son- 
stige Stücke  der  Damentoilette  an,  und  nur 
mein  Schnurrbart  hinderte  mich  daran,  ganz  im  Kostüm  auf 
die  Strasse  zu  gehn. 

Es  kommt  mir  vor,  als  sei  mein  Körper  im  Laufe  der 
Zeit  etwas  weiblicher  geworden.  Ich  habe  jetzt  eine  schmale 
Taille,  starke  Hüften,  mammae  wie  ein  15 jähriges  Mädchen, 
weisse  glatte  Haut  und  kleine  Füsse.*)  Meine  Hände  sind 
von  mittlerer  Grösse  und  mein  Gesicht  ist  durchaus  männlich. 
Und  doch,  wenn  ich  Perücke  und  Kostüm  anhabe,  den 
Schnurrbart  verdecke  und  gepudert  und  geschminkt  bin, 
komme  ich  mir  ganz  wie  ein  Mädchen  vor.  Kokotten  sagten 
mir  öfters:  Vous  avez  un  beau  corps  de  femme!  Meine  Kor- 
settweite ist  allerdings  68  cm,  aber  doch  einigermassen  im 
Verhältnis  zu  meiner  ganzen  Länge;  in  seidener  Chemise. 
Calegon  und  rosa  Unterrock  sehe  ich  ganz  wie  ein  kräftiges 
wohlproportioniertes  Mädchen  aus.  Und  bin  ich  derart  ange- 
zogen, dann  fühle  ich  mich  so  wohl,  so  „ä  mon  aise“,  dass 
ich  mich  höchst  ungern  wieder  umziehe.  Im  Korsett  atme  ich 
immer  mit  der  Brust  wie  eine  Frau.**) 


*)  Da  der  in  England  weilende  anonyme  Einsender  nicht  zu  erreichen 
war,  Hessen  sich  diese  Angaben  nicht  nachkontrollieren  und  müssen  dahinge- 
stellt bleiben. 

•*)  Diese  Bemerkung  ist  interessant  genug,  um  einen  Exkurs  zu  ent- 
schuldigen. Der  Unterschied  zwischen  Costal-Atmung  der  Frau  und  Abdo- 
nünal-Atmung  des  Mannes  ist  in  unseren  Breiten  evident,  von  den  Physi- 
ologen einmütig  konstatiert,  und  folglich  als  sekundärer  Ge- 
schlechtscharakter zu  bezeichnen.  Um  so  mehr,  als  beim  Kinde 
der  Unterschied  noch  nicht  deutlich  ist.  Dass  andrerseits  bei  heftiger,  gewalt- 
samer Inspiration  der  Unterschied  sich  verwischt,  ist  erklärlich  aus  der 
Anspannung  aller  accesso rischer  Muskelzüge,  die  irdengwie  eine  Volumens- 
vorgrösserung  des  Thora.x  herbeizuführen  imstande  sind.  Die  geläufigste 
Kausaltheorie  hierüber  besagt,  dass  ein  Zusammenhang  bestehe  zwischen  der 
möglichen  Gravidität  und  dem  geringeren  Herabsteigen  des  Zwerchfells  beim 
weiblichen  Atomtypus.  Soweit  schien  alles  in  Ordnung.  Neuerdings  aber  ist 
behauptet  worden,  die  Brustatmung  des  Weibes  sei  ein  Kunstprodukt  des 
Korsetts,  was  in  den  Kreisen  der  Reform-Hygieniker  nicht  ungern  gehört 


72 


In  der  Regel  verkleide  ich  mich  nur,  wenn  meine  Freun- 
din bei  mir  weilt;  manchmal  ist  der  Trieb  aber  so  stark,  dass 
ich  im  Kostüm  masturbiere.  Die  Sehnsucht,  mich  ganz  als 
Frau  zu  fühlen,  verleitet  mich  auch  dazu,  den  Coitus  „auf 
mich  selbst“  zu  machen,  mit  Wachskerzen,  Zigarren  u.  dgl. 
(Gemeint  ist  offenbar  eine  Bewegung  inter  femora  mit  diesen 
Gegenständen,  als  scheinbare  äussere  Erfüllung  des  begleiten- 
den Phantasiebildes).  Ich  muss  hier  auf  das  zurückkommen, 
was  ich  oben  die  „einzige  Ausnahme“  nannte.  Ich  sehne  mich 
mit  ganzem  Herzen  danach,  einmal  eine  Kokotte  zu  sein  und 
die  Nacht  mit  einem  „strammen  Kerl“  zubringen  zu  dürfen. 
Nicht  nur  die  paedicatio,  sondern  auch  die  irrumatio  müsste 
er  an  mir  vornehmen.*) 

Der  Hauptinhalt  meiner  Sehnsucht  also 
ist,  vollständig  Frau  zu  sein.  Ein  ausser- 
ordentlicher Reiz  wäre  es  für  mich,  dürfte 
ich  mich  ganz  rasieren,  schminken,  als 
Frau  kleiden;  allerdings,  recht  elegant, 
„d  e r n i e r er  i“.  doch  nicht  zu  ..c  r i a r d“,  U n - 

wurde.  Entscheidend  wäre  die  Beobachtung  an  korsettlosen  oder  besser  noch 
unbekleideten  Rassen.  Da  die  Literatur  darüber  nur  wenige  und  wider- 
sprechende Angiben  enthalt,  wurde  die  Frage  dem  Vorstande  der  Berliner 
authropol.  Gesellschaft  unterbreitet,  und  es  stellte  sich  heraus,  dass  in  der  Tat 
kaum  ein  Forscher  auf  den  Atemtypus  der  Primitiven  geachtet  hätte.  Das 
Beispiel  N.  0.  Bodys  (aus  eines  Mannes  Mädchenjahren,  Berlin  1907)  scheint 
mir  indessen  beweisend  genug,  um  vorläufig  an  dei-  alten  Auffassung  vom 
sekundären  Grschlechtscharakter  des  Atemtypus  festzuhalten.  N.  0.  Body, 
mil  Hypospadia  peniscrotalis  geboren,  lebte  bis  in  die  zwanziger  Jahre  als 
Weib  und  schnürte  sich  sehr  stark,  um  Taille  zu  erzeugen.  Ich  untersuchte 
ihn  kurz  vor  seinem  Personcnstandwcchsel  \md  fand  den  ausgebildetsten  abdomi- 
nalen Atemtypus.  Er  gab  an,  er  hätte  oft  gefürchtet,  dass  hinter  ihm 
sitzende  Personen  aus  dem  mangelnden  Heben  und  Senken  seiner  Schultern 
seine  männliche  Natur  aufdecken  würden.  Die  angebliche  Korsettwirkung  hat 
also  in  diesem  eklatanten  Fall  völlig  versagt.  Deshalb,  glaube  ich  auch,  kann 
man  die  obige  Angabe  des  Anonymu.s  ruhig  ins  Reich  der  autosuggestiven 
Wirkung  erweisen,  ebenso  wie  verschiedene  andere  Bemerkungen  über  seine 
Körperlichkeit. 

*)  Aus  dem  früher  geäusserten  Ekel  gegen  den  Verkehr  mit  Männern 
geht  wohl  hervor,  dass  es  sich  hierbei  nur  um  eine  ausmalende  Phantasie 
auf  dem  Grunde  des  originären  heterosexuellen  Kostümtriebes  handelt. 


73 


ter  wasche  fein  und  seidig,  schmale  Schuhe, 
viel  Stickerei,  kunstvolle  Hüte,  kurz  wie 
eine  brillant  unterhaltene  Kokotte. 

Von  sonstiger  Homosexualität  aber  ist 
keine  Spur  vorhanden.  Urninge  und  effe- 
minierte  Männer  verachte  ich  tief.  Die  Idee 
einer  Paedicatio,  ohne  im  Kostüm  zu  stecken,  erscheint  mir 
scheusslich;  werde  ich  aber  zur  passiven  Frau  in  Kleidung. 
Haltung  und  Sinnesart,  so  finde  ich  den  Geda-nken  natür- 
licher, ja  sogar  reizvoll.  Meine  „grande  passion“  habe  ich  nie 
verwirklichen  können;  will  ich  aber  die  „ejaculatio  suprema“ 
geniessen,  so  stelle  ich  sie  mir  recht  eindringlich  im  Geiste  vor. 

Ich  bin  guter  sportsman,  Schütze,  reite  gut  und  habe  mich 
in  Feldzügen  bewährt.  Dennoch- fühle  ich  mich  in  Damenge- 
sellschaft freier  und  wie  von  einem  unsichtbaren  Bande  ge- 
zogen. Sehe  ich  eine  Mutter  ihr  Kind  säugen,  so  seufze  ich; 
„Hätf  ich  doch  auch  solche  Brüste  und 
könnte  Milch  abgeben!“  Kinder  allein  interessieren 
mich  wenig. 


Fall  X. 

Herr  K.,  50  Jahre  alt,  Lehrer.  Von  den  Vorfahren  oder  der 
Verwandtschaft  her  ist  nichts  Degeneratives  zu  ermitteln.  Die 
Kindheitsentwicklung  verlief  ohne  Besonderheiten.  War  etwas 
schreckhaft.  Zog  Mädchenspiele  vor  (Kochen,  Häkeln,  Stricken). 
Schwärmerische  Freundschaft  zu  zwei  Mitschülern  bestand, 
ohne  geschlechtliche  Handlungen.  Geschlechtsreife  trat  im 
Alter  von  18 — 20  Jahren  ein. 

Status  praesens:  Figur  gross  und  kräftig.  Kon- 
turen mehr  rund  und  fett.  Muskulatur  schwach  entwickelt. 
Für  Sport  besteht  keinerlei  Interesse.  Haut  weise,  glatt  und 
i-ein.  Haupthaar  kräftig,  Körperbehaarung  schwach,  Bart- 
wuchs mittelstark.  Errötet  und  erblasst  leicht.  Kehlkopf 
wenig  hervortretend.  Ist  Stimmungen  leicht  zugänglich,  gibt 
Klatschhaftigkeit  zu.  Möchte  Putzmacherin  sein. 


74 


Vita  sexualis;  Herr  N.  veröffentlichte  bereits  im 
Jahrouch  für  sexuelle  Zwischentiifen,  Bd.  2,  1900,  p.  324 
bis  344,  unter  der  Ueberschrift  „Ein  Fall  von  Effemination  mit 
Fetischismus“  eine  ausführliche  Darstellung  seines  Falles.  Er 
bezeichnet  sich  dort  irrtümlicherweise  als  Urning,  während 
er  selbst  ausdrücklich  angibt,  sein  Geschlechts- 
trieb sei  stets  auf  das  Weib  gerichtet  ge- 
wesen. Allerdings  behauptet  er,  Frauen  gegenüber  gleich- 
gütig  zu  sein,  sich  vor  nackten  Weibern  zu  ekeln  und  vor 
dem  Koitus  Widerwillen  zu  haben.  Auch  habe  er  einmal  ge- 
träumt,  er  sei  ein  Weib  und  werde  von  einem  Manne  ge- 
schwängert; worüber  er  aufwachte  und  die  ganze  Nacht  in 
grosser  Erregung  verblieb.  Aber  alle  diese  Umstände  er- 
klären sich  zwanglos  aus  seinem  Kostümtrieb. 

Den  oben  erwähnten,  sonst  sehr  präzisen  Mitteilungen 
fügen  wir  hier  noch  folgende  neuere  Angaben  hinzu; 

.,Meiner  Neigung  zu  Frauenkleidern  entsinne  ich  mich 
schon  aus  den  ersten  Schuljahren.  Von  äusseren  Einflüssen, 
etwa  Maskeraden  oder  dergl..  ist  mir  nichts  bewusst.  Schon 
die  blossen  Namen  einzelner  Kleidungs- 
stücke, wie  Damenkleid,  Schürze,  Schleier, 
Unterrock,  hatten  für  mich  et  wasZa  uber- 
haft es.  Sobald  es  mir  irgend  möglich  war, 
zog  ich  mir  schon  als  Knabe  fremdeDamen- 
sachen  auf  Augenblicke  an.  Später  schaffte 
ich  mir  alles  Begehrenswerte  selber  an. 
Es  wurden  Schränke  gekauft,  die  sich  bald 
mit  den  schönstenToiletten  füllten.  Wohl 
20 — 25  Jahrgänge  gekaufter  Modejournale 
wurden  Seite  für  Seite  betrachtet,  die 
schönsten  „Kostüme“  herausgeschnitten 
und  der  Schneiderin  eingeschickt,  damit 
diese  danach  verfahre.  Alle  möglichen 
Stoffe,  Samt,  Seide,  Wolle,  fanden  Ver- 
wendung. Muster  zur  Auswahl  lieferten 
die  ersten  Spezialgeschäfte.“ 

„Folgendermassen  verfuhr  ich,  wenn  ich  die  Anfertigung 
von  Kleidern  in  Auftrag  gab.  Der  Schneiderin  wurde  eine 


75 


fertige  Taille  mitsamt  dem  neuen  Stoff  eingesandt  und  dabei 
mitgeteilt,  man  wolle  ein  Kostüm  zum  Geburtstage  ver- 
schenken; Massnehmen  sei  daher  nicht  gut  möglich.  So 
machte  sich  die  Sache.  Fand  sich  nahher  ein  Mangel  in  der 
Passform,  so  ging  das  Kleidungsstück  behufs  Abänderung  zu- 
rück, und  der  Fehler  war  bald  beseitigt.  Garnituren,  wie 
Seidenspitzen,  Einsätze  und  sonstige  Kleiderbesätze  (Galons, 
Posamentborten,  Tressen  mit  Chiffon-Applikation,  gestickte 
Chiffonbesätze,  seidene  Fransen,  Grelots,  Plisse  usw.)  wurden 
persönlich  eingekauft  und  dem  zu  verarbeitenden  Stoffe  bei- 
gelegt. Mitunter  garnierte  ich  die  Kleider  selber  damit,  nähte 
auch  Zierknöpfe  aus  Glas  oder  Gold  an.  Die  Beschaffung 
von  Unterröcken  und  dergl.  ist  natürlich  einfacher.  Zu  Gürteln 
kaufe  ich  Bänder  und  Schnallen  und  fertige  sie  dann  selbst 
an.  Schleier  habe  ich  in  grosser  Zahl,  getupfte  und  schlichte, 
in  allen  möglichen  Farben  und  den  Kostümen  entsprechend;  eben- 
so Hüte,  Baretts,  Capuzen,  Schulterkragen,  Jacketts,  Woll- 
tücher; ferner  Schürzen  aus  Wolle,  Seide  usw.  als  Reform-, 
Tändel-  oder  Wirtschaftsschürzen.  Die  Unterröcke  haben 
meist  die  Farbe  der  Kleider.  Armbänder,  prachtvolle  Hals- 
ketten, goldene  Broschen  und  Ohrringe  sind  zahlreich  vor- 
handen, auch  Perücken.  Kleiderstoffmuster,  Garnituren, 
seidene  und  Samtbänder  in  aller  Breiten  und  Farben  füllen 
ganze  Schachteln  aus.“ 

„Sobald  ich  in  einem  Schaufenster  hübsche  Schürzen, 
Halsketten,  Hüte  oder  auch  nur  zierliche  Sicherheitsnadeln 
sehe,  sofort  muss  ichs  kaufen.  Ueberhaupt  betrachte  ich  die 
Auslagen  von  Damenkonfektionsgeschäften  stets  mit  dem 
grössten  Entzücken.  Vor  Photographenkästen  interessieren 
mich  nur  Figuren  in  reizendem  Kostüm.  Ansichtskarten  mit 
kostümierten  Damenbildnissen  habe  ich  in  Menge.  Besondere 
Vorliebe  besteht  bei  mir  für  rote  Kleider,  jede  Art  seidenen 
und  weissen  Musselins  und  für  Spitzenunterröcke.  Der  Ge- 
nuss, welchen  ich  durch  die  Kleidungsmetamorphose  hatte  und 
noch  habe,  lässt  sich  nicht  aussprechen.“ 

„Ich  dränge  mich  gern  an  schön  gekleidete  Damen  her- 
an und  wünsche  erregt,  in  ihrer  Kleidung  zu  stecken.  Ich 
vergleiche  ihre  Figur  mit  meiner,  ob  mir  das  Kleid  wohl 


(6 


passen  würde.  Ich  sitze  auch  gern  so  zwischen 
Damen,  dass  ihre  Kleider  meine  Beine  zum 
Teil  verdecken.  Ich  betaste  gern  zarte  Stoffe.  Habe 
ich  innerhalb  des  Hauses  Gelegenheit,  in  einem  unbewachten 
Augenblick  den  schönen  Hut  einer  fremden  Dame  aufzupassen, 
so  tue  ichs  sicherlich  vor  dem  Spiegel.  Von  hübschen  Mäd- 
chen bin  ich  ein  Freund,  besonders  wenn  sie  Kleider 
nach  meinem  Geschmack  tragen,  ln  schlaflosen  Nächten,  die 
zahlreich  Vorkommen,  beschäftigt  meine  Phantasie  sich  ge- 
wöhnlich mit  hübschen  Damentoiletten.  Beim  Zeitungs- 
lesen sehe  ich  zuerst  nach  vermischten  No- 
tizen, ob  nicht  mitgeteilt  wird,  dass  ein 
Mann  wieder  als  Frau  gekleidet  ging. 
Männer  in  Damenkleidern  haben  einen  un- 
gemeinen  Reiz  für  mich." 

„Geselligen  Vereinigungen  bin  ich  Feind.  Ich  liebe  die 
grösste  Einsamkeit  und  verzichte  gern  auf  Festlichkeiten  und 
Vergnügungen.  Mein  Genuss  ist,  für  mich  in  der 
Stille  angetan  mit  Korsett,  feinen  Unter- 
röcken, entzückenden  Kleidern,  Hut, 
Schleier,  Armbändern  und  Halsketten  vor 
dem  Spiegel  zu  stehn,  mich  zu  betrachten, 
oder  Modejournale  zu  durchblättern.  -Ueber- 
glücklich  wäre  ich,  könnte  ich  einmal  des  Jahrs  mit  gleich- 
gesinnten  oder  verständnisvollen  Personen  in  einem  einsam 
gelegenen  Hause  für  einige  Zeit  zusammen  sein;  oder  wenn 
ich  bei  hellem  Tage,  wenn  auch  nur  auf  kürzern  Wegen,  als 
Dame  gekleidet  mit  wirklichen  Damen  promenieren 
dürfte.  Früher  erlaubte  ich  mir  diese  Passion  manchmal  des 
Abends  auf  einsamen  Spaziergängen;  doch  habe  ich  das  auf- 
gegeben, weil  mir  die  Sache  zu  gefährlich  war.“ 

Homosexuell  bin  ich  nicht,  im  Gegenteil,  ich  kann 
sagen,  ich  bin  ein  echter  Don  Juan  gewesen.  Ein  besonderes 
Vergnügen  war  es  mir,  hübsche  Mädchen  zu  küssen,  ihre  weichen 
Kleider  zu  betrachten  und  zu  befühlen;  fragte  auch  gewöhn- 
lich nach  dem  Preise,  nach  der  Schneiderin  und  wie  lange  man 
wohl  ein  solches  Kleid  tragen  könnte  usw.  Modebilder  hatten 
für  mich  grossen  Reiz.  Gelegenheiten,  ihrer  habhaft  zu 


werden,  liess  ich  nie  unbenutzt  vorübergehen.  Ich  kaufte 
mir  ganze  Jahrgänge  Modezeitungen.  Im  „praktiechen 
Wegweiser“  erliess  ich  einst  ein  Inserat,  laut  welches  ich  ver- 
schiedene Jahrgänge  Modenjournale  suchte;  von  den  zahlreich 
eingegangenen  Offerten  machte  ich  ausgiebigen  Gebrauch.  Von 
einem  Buchhändler  in  Heidelberg  kaufte  ich  vor  Jahren  ver- 
schiedene Jahrgänge  „Pariser  Moden“.  Auch  bin  ich  Abonnent 
von  der  „Wiener  Mode“,  der  „Moden  weit“  sowie  der 
“Grossen  Modenwelt“  gewesen.  Schaufenster  der  Damenkon- 
fektions-Geschäfte ziehen  mich  ungeheuer  an,  mögen  es  solche 
mit  Kleidern,  Blusen,  Jacken,  Schürzen  oder  Hüten  sein,  der 
Reiz  ist  immer  gross. 

Früher  glaubte  ich,  meine  eigentümliche  Veranlagung 
würde  mit  zunehmendem  Alter  verblassen  oder  ganz  auf- 
hören, aber  das  Gegenteilige  ist  der  Fall;  die  Neigung  ist 
augenblicklich  grösser  denn  je,  sie  ist  angeboren  und  wird 
darum  auch  wohl  nicht  nachlassen.  So  habe  ich  mir  z.  B. 
in  voriger  Woche  den  Modekatalog  von  AVertheim  und  noch 
einer  anderen  Firma  kommen  lassen,  ferner  das  Modealbum 
der  Schnittmanufaktur  in  Dresden  und  „Butterichs  Moden- 
revue“. Meine  Eltern  waren  ganz  normal,  dasselbe  kann  ich 
auch  von  meiner  kürzlich  verstorbenen  Schwester  sagen.  Ich 
habe  nur  noch  einen  Bruder,  der  ebenfalls  normal  ist.  AA’ir 
Kinder  lebten  unter  uns  und  mit  den  Eltern  stets  in  bestem 
Einvernehmen.  Für  meine  vor  einigen  Jahren  verstorbenen 
Eltern  (sie  wurden  81  und  83  Jahre  alt)  habe  ich  stets  die 
grösste  Achtung  und  kindliche  Verehrung  gehabt. 

Ich  füge  ein  Verzeichnis  meines  Toilettenbestandes  bei; 

Nr.  1.  Kleid  aus  carminrotem  Caschmir  mit  Samtbesatz 
und  glitzernden  Metallknöpfen. 

Nr.  2.  Rotes  Kleid  (etwas  andere  Nuance  als  Carmin)  mit 
Pelzbesatz. 

Nr.  3.  Ein  Kleid  aus  bordeauxähnlichem  Rot  mit  schwarzem 
Samteinsatz  und  prachtvoller  Bordengarnierung. 

Nr.  4.  Kleid  aus  scharlachrotem  AA''ollstoff,  Kragen  und 
Brusteinsatz  aus  fleischfarbenem  Taffet. 

Nr.  5.  Schwarzes  AVollkleid  mit  Perlenbesatz. 


Xr.  6.  Ein  kaffeebraunes  Kleid  von  ziemlich  einfacher 
Machart. 

Nr.  7.  Ein  blaues  Kleid  mit.  schwarzer  Borde  garniert,  die 
Taille  mit  gelbem  Brusteinsatz,  dazu  Gürtel  mit 
gelber  Schleife. 

N'r.  8.  Dunkelgrünes  Kleid  mit  hellgrünem  Samteinsatz. 

Nr.  9.  Hellgraues  Wollkleid  mit  hellrotem  Einsatz  und 
Kragen. 

Nr.  10.  Rotseidene  Bluse  mit  schwarzseidenem  Rock. 

Als  Hauskleider; 

1.  Ein  braunmeliertes  Prinzesskleid. 

2.  Ein  grün  und  rot  karriertes  Kleid  mit  Samtkragen, 
Aermel  mit  roten  Samtaufschlägen. 

3.  Ein  helles  Wollkleid  mit  Samtkragen. 

Jacken: 

1.  Schwarze  Krimmerjacke  mit  Besatz. 

2.  Braune  Tuchjacke  sowie  einen  Schulterkragen  aus 
schw'arzem  Crepp. 

Unterröcke; 

Ein  blau-  und  weissgestreifter  Unterrock  mit  Volants. 

Ein  schwarz-  und  rotgestreifter  Unterrock  mit  Spitze. 

Ein  braunmelierter  Unterrock  mit  Volants. 

Ein  Ueberziehrock  aus  rotem  Kaschmir  mit  Volants. 
Schürzen; 

Eine  chamoisfarbene  Trägerschürze  mit  rotem  Besatz. 

Eine  blaukarrierte  Wirtschaftsschürze  mit  Latz. 

2 schwarze,  wmllene  Tändelschürzen. 

Eine  blaubunte  Schürze  mit  weisser  Spitze  garniert. 

Eine  schw'arze  Alpaccaschürze. 

Eine  weisse  Battistschürze  mit  Stickerei  (die  schönste). 

Sodann  besitze  ich  noch: 

Eine  weisse  Battistunterhose  mit  Stickerei. 

2 Korsetts,  Strümpfe,  eine  braune  Haube. 

Ein  blaues,  gehäkeltes  Schultertuch. 

Ein  schw'arz-  und  weisskarriertes  Tuch. 

Ein  gewöhnliches  Wolltuch. 

Einen  Filzhut  mit  resedafarbenem  Band  garniert  und  mit 
2 Flügeln  (von  Vögeln)  versehen. 


79 


Einen  olivfarbenen  Hut  mit  Phantasiefedern. 

Ein  Samtbarett  mit  weissen  Phantasieiedern. 

4 Broschen,  teils  echt,  teils  unecht. 

2 Paar  Ohrringe. 

2 Armbänder. 

Schleier; 

2 schwarze  mit  Tupfen,  2 weisse  mit  Tupfen,  2 einfache 
weisse. 

Eine  Kollektion  Rüschen,  eine  Kollektion  Spitzen  in  weiss 
und  schwarz,  teils  baumwollene,  teils  seidene. 

2 Gürtel  aus  rotem  Samt,  einen  schwarzen,  einen  Silber- 
und Goldgürtel  mit  feinem  Schloss. 

2 Perücken,  2 Haarpfeile,  2 Haarschmucknadeln  mit  dicken 
Köpfen  sowie  einen  Haarkamm  mit  5 blanken  Knöpfen. 

Ungefähr  ein  Dutzend  Halsschmuckketten  in  schwarz,  weiss, 
grün,  blau,  opalfarbig  usw. 

Eine  grössere  Sammlung  von  Besatzstoffen  in  allen  Farben 
und  Stoffen. 

Eine  Sammlung  von  Seidenbändern  in  allen  Farben  und 
Breiten. 

Eine  grosse  Sammlung  von  Damenkleidermustern  in  Wolle, 
Baumwolle  und  Seide  in  vielen  Webarten  und  Farben. 

Hiermit  wäre  mein  Bestand  zu  Ende. 


Fall  Xf. 

Herr  S.,  40  Jahre  alt,  Techniker,  verheiratet.  Vater 

war  Potator;  im  übrigen  ist  zur  Frage  der  Degeneration 
nichts  zu  ermitteln.  Die  Kindheit  verlief  normal,  nur  Gehen 
erlernte  er  erst  Ende  des  zweiten  Jahres  Liebte  immer 
Knabenspiele.  Im  17.  Jahre  trat  die  Geschlechtsr^fe  ein. 

Status  praesens;  Figur  klein,  Konturen  eckig 
und  mager.  Muskulatur  schwach.  Wird  beim  Turnen  leicht 
schwindlig.  Haut  unrein  und  rauh.  Haupthaar  ausgegangen; 
Körperbehaarung  stark;  Bartwuchs  sehr  stark.  Errötet 
leicht.  Kehlkopf  wenig  hervortretend.  Stimme  laut  und  tief. 
Leidet  seit  längerer  Zeit  an  seelischen  Depressionen,  da  bei 


so  - 


seiner  Frau  alle  Anzeichen  der  Paranoia  aufgetreten  sind. 
Ist  Autodidakt,  geistig  sehr  regsam. 

Vita  sexualis:  lieber  diesen  Fall,  der  sich  im 

Jahre  1904  an  mich  wandte,  hatte  Iwan  Bloch  (Sexual- 
leben unserer  Zeit,  4.  Aufl.  p.  598 — 601)  die  Güte,  bereits 
eine  ausführliche  kasuistische  Notiz  zu  veröffentlichen.  Hier 
mögen  die  vollständigeren  Aufzeichnungen  des  Herrn  L.  vom 
Ende  des  Jahres  1907  folgen. 

„In  meinem  15.  Lebensjahr  wurde  ein 
Verlangen  in  mir  wach,  das  wie  Hunger  und 
Durst  nach  Befriedigung  heischte,  und 
dem  ich  anfangs  rein  instinktiv  folgte. 
Zuerst  zogen  mich  alle  in  den  Schaufen- 
stern ausgestellten  weiblichen  Beklei- 
dungsstücke mit  unwiderstehlicher  und 
rätselhafter  Gewalt  an.  Ich  konnte  es  nie  unter- 
lassen, vor  solchen  Schaufenstern  stehn  zu  bleiben  und  be- 
sonders schöne  Spitzenunterröcke  und  dergleichen  längere  Zeit 
zu  betrachten.  In  Schuhgeschäften  hatte  ich  nur  Augen  für 
Damenschuhwerk.  Alle  Auslagen,  die  irgend  etwas  mit  der 
Damenwelt  zu  tun  hatten,  wurden  von  mir  zunächst  darauf- 
hin gemustert,  ob  ein  Gegenstand  nach  meinem  Geschmack 
dabei  wäre.  Hatte  ich  einen  solchen  entdeckt,  der  mir  gefiel, 
so  war  sofort  auch  das  Verlangen  da,  ihn  nicht  nur  kaufen, 
sondern  auch  tragen  zu  können.  Eine  fast  unüber- 
windliche Sehnsucht  fasste  mich,  nach 
weiblicher  Art  gekleidet  zu  gehn;  ich 
hätte  zu  gern  Damenwäsche  angelegt,  mich 
geschnürt  usw.“ 

„Mein  eigentümlicher  Hang  brachte  es  mit  sich,  dass  ick 
dem  weiblichen  Geschlecht  gegenüber  scheu  und  verlegen 
wurde.  Ich  mied  vom  16.  Jahre  an,  so  gut  es  ging,  den  Um- 
gang mit  weiblichen  Wesen.  Ich  lernte  deshalb  auch  nicht 
tanzen,  fühlte  mich  aber  doch  beständig  zum 
Weibe  hingezogen  und  wäre  am  liebsten  schon  da- 
mals in  einer  Gesellschaft  von  gleichaltrigen  Mädchen  ver- 
kehrt.“ 


81 


„Eines  Tages  wurde  mein  Drang  so  stark,  dass  ich  ihm 
nicht  mehr  widerstehn  konnte.  Ich  war  damals  ungefähr 
16)4  Jahr  alt.  Als  niemand  zu  Haus  war,  nahm  ich  ein 
Korsett  meinerSchwester  aus  dem  Kleider- 
schrank und  begann  mich  zu  schnüren.  Andre 
Kleidungsstücke  standen  mir  nicht  zur  Verfügung.  Hier- 
bei trat  nun  die  erste  Erektion  ein.  Ich 
hatte  keine  Ahnung,  was  das  bedeutete,  und  zog  halb  er- 
schrocken das  Korsett  wieder  aus.  Ich  war  über  den  ganzen 
Vorgang  innerlich  unzufrieden,  denn  ich  hätte  das  Korsett 
viel  lieber  anbehalten.  Nach  einigen  Tagen  wiederholte  ich, 
einem  unklaren  Drange  folgend,  das  Schnüren.  Hierbei  trat 
ohne  mein  Dazutun  wiederum  Erektion  ein,  imd  ehe  ich  das 
Korsett  noch  entfernen  konnte,  auch  Ejakulation.  Zugleich 
empfand  ich  heftige  Sehnsucht  nach  einem 
mir  damals  bekannten  Mädche  n.“ 

„Ich  unter liess  es  nun  für  lange  Zeit,  irgend  ein  weib- 
liches Kleidungsstück  anzuziehn.  Ich  begann  vielmehr  einen 
Kampf  gegen  meinen  Drang.  Ich  lernte  zu  dem  Zweck  Zither 
spielen,  was  mir  wegen  Mangels  an  musikalischem  Gehör  sehr 
schwer  fiel.  Auch  in  einen  evangelischen  Jünglingsverein  trat 
ich  ein,  dem  ich  wohl  an  zwei  Jahre  angehörte.  Doch  half 
dies  alles  nichts.  Je  älter  ich  wurde,  um  so 
mächtiger  wurde  auch  mein  Verlangen, 
mir  Damenkostüme  und  Wäsche  anzu- 
schaffen. Ich  hatte  mir  vorgenommen,  sobald  ich  aus- 
gelernt, mir  ein  komplettes  Kostüm  anzuschaffen,  und  ich 
zerbrach  mir  schon  den  Kopf  darüber,  wie  ich  das  am  besten 
anstellen  sollte,  da.  brachte  mich  ein  bestimmtes  Ereignis  von 
diesem  Vorsatz  zunächst  wieder  ab.“ 

„In  X.  war  zufällig  eine  Künstlertruppe  anwesend,  und 
ich  bekam  ein  Billet  für  den  Abend.  Ich  war  bereits 
19)4  Jahr  alt,  und  hatte  noch  nie  eine  Vorstellung  besucht, 
wusste  auch  nichts  von  Damendarstellern.  Durch  das  Ge- 
spräch zweier  Herrn,  die  vor  mir  sassen,  wurde  ich  erst 
darauf  aufmerksam,  dass  die  Vortragende  Dame  männlichen 
Geschlechts  sei.  Einer  der  Herren  liess  dabei  eine  Bemerkimg 
fallen  über  die  Neigungen,  die  derartige  Individuen  ihrem 

Hirsch  leid,  Die  Transvestiten.  6 


82 


eigenen  Geschlecht  gegenüber  haben  sollten.  Dem  andern 
schien  das  nicht  recht  glaubhaft,  aber  der  erste  versicherte, 
er  Mvdsse  es  ganz  genau,  jedes  männliche  Individuum,  das  sich 
weiblich  kleide,  gehöre  zu  jener  Rasse  von  Menschen.  Ich 

ging  an  diesem  Abend  sehr  niedergeschlagen  nach  Haus  und 
verbrachte  eine  schlaflose  Nacht.  Noch  lange  klangen  mir 
diese  Worte  im  Ohr.  Wie  kam  hier  jemand  dazu,  über  seine 
Mitmenschen  ohne  weiteres  den  Stab  zu  brechen  und  etwas 
zu  behaupten,  was  unmöglich  wahr  sein  konnte!  Denn 
ich  fühlte  trotz  meiner  Sehnsucht  nach 
Weiberkleidern  nicht  die  Spur  von  einer 
Neigung  zum  Manne  in  mi  r." 

„Es  dauerte  indes  nich^  allzulange,  so  fing  ich  wieder 
an,  unruhig  zu  werden,  trotz  dem  Gehörten.  Mein  Interesse 
wandte  sich  Modezeitungen  zu;  ich  beschäftigte  mich  damit, 
erst  im  Geist,  dann  auf  dem  Papier  Kostüme  zu  entwerfen, 
wie  ich  sie  gern  getragen  hätte.  Ich  traf  Ausw'ahl  in  Farbe, 
Stoff,  Besatz  und  Futter  usw^  Doch  verspürte  ich  nie  die 
geringste  Neigung,  derartige  Kleider  selbst  anzufertigen  oder 
sonst  weibliche  Arbeiten  auszuführen.“ 

„Vom  20.  Jahr  an  bis  in  die  Mitte  der  Dreissiger  konnten 
mich  Kostüme,  Unterröcke,  Stiefel,  Korsetts  und  Leibwäsche, 
die  ich  in  den  Schaufenstern  ausgelegt  sah,  durch  ihre  Mach- 
art und  Farbe  förmlich  entzücken.  Ich  merkte  mir  bestimmte 
Lieblingsgegenstände  und  sah  immer  wieder  nach,  ob  sie  noch 
auslagen.“ 

„Nicht  immer  war  der  Kostümreiz  in  gleicher  Stärke 
vorhanden.  Erst  trat  er  periodisch  auf.  und  nach  dem  20. 
Jahre  konstant.  So  kam  es,  dass  ich  später  den  Widerstand 
aufgab  und  darüber  nachsann,  unter  welchen  Umständen  ich 
meine  Wünsche  wohl  am  ehesten  befriedigen  könnte.  Endlich, 
ich  war  24  Jahre  alt,  fand  ich  eine  Gelegenheit.  Zur  Wieder- 
herstellung meiner  angegriffenen  Gesundheit  bekam  ich  einen 
Urlaub  und  durfte  zu  m.einen  Eltern  reisen.  Hier  entdeckte 
ich  nach  ca.  8 Tagen  in  meinem  Zimmer  einen  Koffer,  der 
ein  vollständiges  Kostüm  nebst  Unterkleidern,  Schuhen  und 
Ballkorsett  enthielt;  alles  Sachen,  die  meine  Schwester  zu 
einem  Fest  getragen  hatte.  Ich  konnte  den  Abend  nicht  er- 


83 


warten,  an  dem  sich  die  Eltern  zur  Ruhe  begeben  würden, 
sondern  fing  gleich  an,  vor  dem  Spiegel  Stück  für  Stück  an- 
zuprobieren, und  konstatierte  mit  Freuden,  dass  mir  alles 
ziemlich  gut  passte.  Ein  nie  gekanntes  Gefühl 
des  Wohlbehagens  durchrieselte  mich  da- 
bei. Am  liebsten  wäre  ich  gleich  auf  die 
Strasse  geeilt,  um  mich  in  dieser  Tracht 
zu  zeigen.  Auch  befiel  mich  die  Sehnsucht 
nach  einemWeibe,  wie  ich  es  mir  wünschte, 
von  schlanken,  aber  gut  entwickelten 
Formen  und  vollen  Haaren.  Hätte  ich  auf  die 
Strasse  eilen  dürfen,  so  wäre  es  mein  erstes  gewesen,  mich 
einem  solchen  Weibe  zu  nähern.  So  lange  ich  bei  meinen  Eltern 
weilte,  unterliess  ich  es  keinen  Abend,  sobald 
ich  mich  sicher  wusste,  eine  Stunde  im  Kostüm  zu  bleiben. 
Das  Wunderbarste  war,  dass  ich  mich  jetzt 
rasch  und  in  kürzester  Frist  erholte, 
während  ich  vorher  6 Wochen  lang  vergeb- 
lich ein  Sanatorium  besucht  hatte.  In 
diesen  14  Tagen,  die  ich  damals  meinem 
Verkleidungstrieb  nachgab,  wuchs  meine 
Sehnsucht  nach  dem  Weibe  ausserordent- 
lich. Ich  wünschte,  ein  Weib  möchte  an 
mir  im  Kostüm  Gefallen  finden;  dannhätte 
ich  ganz  glücklich  sein  können.“ 

„Abermals  begann  ich  den  Kampf  gegen  den  Kostümreiz; 
doch  vergeblich.  Vorübergehende  Damen  musterte  ich  inten- 
siv auf  ihre  Kostüme,  Hüte,  Stiefel  und  Frisuren  hin;  war 
eine  recht  chic,  so  empfand  ich  eine  lebhafte  Freude.  Manch- 
mal erregte  schon  das  Rauschen  eines  Rockes  hinter  mir  den 
Wunsch,  auch  so  gekleidet  zu  sein.  Wenn  ich  geistig  auch 
noch  so  stark  von  irgend  einem  Thema  absorbiert  war,  es 
genügte  der  Anblick  eines  vorbeischwebenden  Tailor-raade- 
Kostüms,  um  mich  sofort  abzulenken.  Dagegen  waren 
nachlässige  Kleider,  Reform  - und  Sack 
kostüme,  sowie  traurige  weibliche  Ge- 
stalten überhaupt  auf  mich  vollständig 
w i r k u n g s 1 o-s.“ 

fi» 


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^Natürlich  tauchte  allmählich  auch  der  Wunsch  leben- 
diger in  mir  auf,  auch  körperlich  wenigstens  soweit  Weib 
sein  zu  können,  dass  ich  mich  im  Kostüm  auf  der  Strasse 
hätte  richtig  und  unauffällig  bewegen  können.  Hieran 
hinderte  mich  vor  allem  mein  starker  Vollbart,  den  ich  schon 
mit  18  Jahren  hatte.“ 

„Ich  sann  beständig  darauf,  wie  ich  zu  weiblicher  Klei- 
dung kommen  könnte.  Wäre  ich  zu  einer  Schneiderin  ge- 
gangen. so  hätte  ich  ausser  manchem  andern  befürchten 
müssen,  dass  die  Anproben  mich  erotisch  erregten  und  dass 
ich,  sobald  einmal  ein  Weib  erst  meinen  Hang  kannte,  da- 
durch in  ihre  bedingungslose  Gewalt  geraten  würde.“ 

„Ursprünglich  war  mein  männliches  Wiesen  mit  meiner 
femininen  Veranlagung  durchaus  nicht  einverstanden,  und  es 
kostete  einen  harten  Kampf,  bis  ich  mich  zu  dem  Selbstbe- 
kenntnis entschloss,  dass  ich  ein  Mischling  beider  Geschlechter 
sei.  Ich  fügte  mich  also  ins  Unabänderliche.“ 

„Ich  möchte  noch  ausdrücklich  be- 
merken, dass  meine  Sinnlichkeit  in  erster 
Linie  auf  die  Befriedigung  meinerKostüm- 
sehnsucht  gerichtet  ist,  und  dass  dem 
gegenüber  alle  andern  Wünsche  zurück- 
treten. Wenn  ich  aber  irgend  welche  weiblichen  Klei- 
dungsstücke an  mir  hatte,  so  trat  sofort  sexuelle  Erregimg 
ein  und  gleichzeitig  das  Verlangen  nach  einem  bestimmten 
Typus  Weib.  Niemals  in  meinem  Leben  fühlte 
ich  mich  zu  einem  Manne  hingezogen, 
auch  im  Kostüme  nicht.  Auch  minderjährige 
weibliche  Wesen  üben  keinen  Reiz  auf  mich  aus. 
Den  Koitus  führe  ich  in  normaler  Weise  aus,  lege  jedoch 
stets  vor  dem  Akt  Damenleibwäsche  an.  Soll  der  Akt  für 
mich  befriedigend  verlaufen,  so  muss  ich  die  nötige  Ruhe 
dazu  haben.  Auch  an  zarteren  manuellen  Liebkosungen, 
Küssen  usw.  finde  ich  dabei  viel  Gefallen.“ 

„W'enn  ich  manchmal  sah,  wie  zwei  intime  Freundinnen 
Arm  in  Arm  miteinander  gingen  oder  sich  um  die  Taille 
fassten,  hätte  ich  sofort  immer  eine  der  beiden  sein  mögen. 
Später,  als  ich  mehr  von  den  Abarten  der  Liebe  erfahren 


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hatte,  erfüllte  mich  stets  Neid,  wenn  ich  mit  ansehn  musste, 
wie  zwei  Freundinnen  zärtlich  taten.  Dies  erregte 
mich  auch  erotisch.“ 

„Mit  21  Jahren  schaffte  ich  mir  eine  Braut  an;  dieser 
gegenüber  hatte  ich  nur  das  Verlangen,  ich  möchte  an  ihrer 
Seite  weiblich  gekleidet  gehen  dürfen.  Oft  wünschte  ich, 
ich  möchte  wie  eine  Zwillingsschwester 
von  ihr  gekleidet  gehn,  d.  h.  absolut  gleich 
an  Farbe,  Schnitt  usw.  Mehr  als  hundert  Mal  hatte 
ich  mir  vorgenommen,  meiner  Braut  ein  Geständnis  über 
meinen  Zustand  abzulegen;  doch  hielt  mich  immer  folgen- 
des davon  ab:  Ich  fürchtete  erstens,  meine  Braut  könnte 
schon  Schlechtes  über  eine  solche  Veranlagung  gehört  haben; 
dann  hätte  ich  bei  ihr  natürlich  ausgespielt  gehabt.  Hätte 
sie  mir  aber  nachgegeben  und  mir  die  Kostümierung  erlaubt, 
so  wäre  ich  erotisch  erregt  geworden  und  hätte  der  fleischlichen 
Versuchung  nicht  widerstehen  können.  So  verschob  ich  die 
Lösung  des  Dilemmas  immer  von  neuem.  Liebkoste  ich  zu- 
weilen meine  Braut  und  war  in  Gedanken  bei  der  Kostüm- 
frage, so  trat  Ejakulation  ein.  Endlich,  ein  Jahr  vor  der 
Hochzeit,  machte  ich  meiner  Braut  Eröffnungen  über  meinen 
Zustand.“ 

In  einem  uns  zur  Verfügung  gestellten  Gedichte  sucht 
L.  in  etwas  naiven  aber  charakteristischen  Strophen  seiner 
Braut  seinen  Zustand  klarzulegen;  er  sagt,  dass  sie  ihr  Ab- 
bild doppelt  in  ihm  finden  werde,  schildert  ausführlich  die 
einzelnen  Kleidungsstücke,  die  e r tragen  möchte,  weil  sie 
i h n zu  höherem  Glücke  tragen  würden  und  schliesst  mit 
folgenden  Worten: 

„Nun  frage  ich  Dich,  Du  holde  Maid, 

Mit  der  ich  will  tragen  dasselbe  Kleid, 
Dich,  der  ich  mich  jetzt  anvertraute. 

Die  meine  Doppelseele  schaute, 

Liebst  Du  mich  dennoch  wie  ich  bin. 

Dann  nimm  mich  für  Dein  Leben  hin!“ 

Die  Frau  zeigte  jedoch  sehr  wenig  Verständnis  und  Ent- 
gegenkommen. „Später  erst  brachte  ich  sie  so  weit,  dass 
sie  mir  ein  Kostüm  anfertigte;  ich  schaffte  mir  dann  die  da- 


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zu  gehörigen  Unterkleider  nach  meinen  AVüniächen  an.  Jetzt 
konnte  ich  das  Vei’laiigen,  abends  weib- 
lich gekleidet  zu  gehn,  nicht  mehr  unter- 
drücken; es  war  um  so  heftiger,  wenn  bei  Tage  irgend 
ein  Vorkommnis  dazu  Anlass  gegeben  hatte.  Ich  vertröstete 
mich  dann  immer  auf  den  Abend,  wo  ich  Befriedigung  er- 
hoffte. Wurde  aber  nichts  damit,  so  geriet  ich  in  Miss- 
stimmung, ich  war  ärgerlich,  mir  war  unbehaglich  zu  Mute, 
und  ich  konnte  mich  oft  beim  besten  Willen  nicht  in  eine 
be.5sere  Stimmung  versetzen.  Sogar  das  Essen  wollte  mir 
nicht  schmecken.  Konnte  ich  mich  aber  einige  Tage  hinter- 
einander weiblich  kleiden,  so  wuchs  meine  Lebensfreudigkeit 
und  Arbeitslu.'t  ungemein.“ 

„Meine  Frau  betrachtete  die  Angelegenheit  zuerst  als 
eine  merkwürdige  Leidenschaft,  später  begann  sie  mit  Vor- 
würfen. ich  sei  „pervers“.  Nachbarinnen  mochten  sie  aufge- 
hetzt  haben.  Schliesslich  nahm  das  überhand,  und  sie  machte 
mir  Jahre  hindurch  das  Leben  zur  Hölle.  Es  bildete  sich  bei 
ihr  der  Verfolgungswahnsinn  heraus,  ich  sei  ein  Sittliclikeits- 
verbrecher  und  vergreife  mich  an  meinen  eigenen  Kindern. 
Was  ich  in  dieser  Ehe  alles  zu  leiden  hatte,  lässt  sich  über- 
haupt nicht  wiedererzählen.“ 

Es  sei  bemerkt,  dass  die  Frau  sich  seit  ca.  3 Jahren 
wegen  Paranoia  in  einer  Irrenanstalt  befindet. 


Fall  XII. 

Herr  M.,  Jurist,  Mitte  der  Zwanziger.  Aus  der  Vor- 
fahrenreihe und  Verwandtschaft  ist  nichts  Belastendes  zu  er- 
mitteln. Die  Mutter  soll  nervös  sein.  Mit  4 Jahren  machte 
er  eine  leichte  Gehirnerschütterung  durch.  Von  der  Muttei 
her  vererbte  sich  Schielen  auf  dem  linken  Auge,  das  durch 
Operation  gehoben  wurde.  Er  litt  öfter  an  Kopfschmerzen, 
war  etwas  schreckhaft,  neigte  zum  AVeinen.  Spielte  stets 
lieber  mit  Mädchen  als  mit  Knaben. 

Status  praesens:  Figur  gross,  aber  schlank  und 
zart.  Seine  Hüften  häit  er  für  übermässig  breit,  doch  sind  sie 


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es  nur  in  geringem  Grade.  Konturen  mager.  Arme  und  Schenkel 
abgeflacht.  Hand  klein  und  zart.  Muskulatur  schwach  ent- 
wickelt. Neigung  zu  ruhigen,  wiegenden  Bewegungen  be- 
steht; für  Sport  aber  wenig  Interesse.  Haut  rein  und  glatt. 
Haupthaar  normal,  Körperbehaarung  unbedeutend,  Bartwuchs 
stark.  Errötet  leicht;  Adamsapfel  wenig  hervortretend. 
Stimme  tief,  männlich;  nach  seiner  Ansicht  freilich  leise  und 
hoch.  Ist  Stimmungsmensch,  intelligent,  aber  verbummelt. 
Das  Gefühl,  Luetiker  zu  sein,  deprimiert  ihn  und  macht  ihn  zu- 
gleich leichtsinnig.  Dazu  hat  er  einen  Beruf  vor  sich,  der 
ihm  nicht  zusagt.  Phantasie  sehr  produlctiv.  In  der  Ge- 
schichte sind  Gestalten  wie  die  Dubarry,  die  Pompadour  oder 
Ninon  de  Lenclos  sein  Ideal.  Zu  leichten  weib- 
lichen Handarbeiten,  wie  Nähen  und  Putz- 
machen, besteht  Zuneigung. 

Vitasexualis:  Es  wird  am  besten  sein,  wenn  wir 
M.  fast  ganz  mit  eigenen  Worten  seine  Vita  schildern 
lassen,  obwohl  die  mannigfachen,  aus  verschiedenen  Zeiten 
stammenden  Aufzeichnungen  des  Herrn  M.  jeder  Systematik 
entbehren  und  sich  vielfach  wiederholen.  So  gut  es  geht,  soll 
Ordnung  in  die  Einzelheiten  gebracht  werden. 

..Meine  Erinnerung,  soweit  sie.  Se.xuelles  betrifft,  reicht 
ungefähr  bis  zum  5.  Lebensjahr  zurück.  Vom  6.  Jahr  an 
wird  sie  ziemlich  klar  und  genau,  während  aus  den  früheren 
.Tahren  nur  einige  markante  Punkte  hervorleuchten.  Mein 
Vater  starb,  als  ich  das  6.  Jahr  vollendete.  Ich  entsinne  mich 
genau,  von  ihm  wegen  der  Onanie,  die  ich  damals  scheinbar 
offen  und  ohne  böses  Bewusstsein  trieb,  verwarnt  worden  zu 
sein.  Ich  muss  also  letztere  jedenfalls  schon  vorher  begonnen 
haben.  Damals  war  ich  in  einige  junge  Damen  unseres  Be- 
kanntenkreises im  wahren  Sinne  des  Wortes  verliebt,  d.  h, 
ich  dachte  es  mir  im  Stillen  himmlisch,  wenn  sie  mich  ent- 
führten, mich  ganz  zu  sich  nähmen,  mich  verhätschelten,  ver- 
weichlichten, in  Mädchenkleider  steckten  und  verspotteten, 
kurz,  wenn  sie  wie  mit  einer  Puppe  mit  mir 
spielten.  Ich  genierte  mich  furchtbar,  wenn  icb  in  ihrer 
Gesellschaft  war,  und  wurde  von  meinen  Angehörigen  sehr  da- 
mit gehänselt,  dass  man  sie  meine  Bräute  nannte.“ 


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„Was  die  Masturbation  angcht,  so  betrieb  ich  diese  un- 
gefähr bis  zum  17.  Jahre  in  der  Weise,  dass  ich  die  Ober- 
schenkel fest  aneinanderpresste.  Dazu  kamen  immer  be- 
stimmte Vorstellungen,  wie  ich  sie  eben  schon  skizzierte.  Ich 
dachte  mir  ferner  auch,  dass  mich  die  betreffenden  Damen 
ganz  in  weiche  Pelze  oder  in  Watte  einwickelten,  bis  ich 
völlig  wehrlos  war;  ich  musste  auch  mit  ihnen  im  Bett 
Bchlafeu  und  bekam  hie  und  da  Schläge.  Wann  das  erste 
Mal  eine  Ejakulation  bei  mir  eintrat,  vermag  ich  nicht  zu 
sagen;  ich  glaube,  sie  stellte  sich  allmählich  ein.  Anfänglich 
machte  ich  aus  der  Masturbation  keinerlei  Hehl.  Soweit  es 
sich  also  um  den  körperlichen  Vorgang  handelte,  merkten 
meine  Angehörigen  die  Sache  bald.  Zuerst  wurde  ich  ver- 
mahnt und  erhielt  dann  später  jedesmal  Schläge  mit  der 
Rute  auf  das  blosse  Gesäss,  was  doppelt  widersinnig  war, 
weil  wir  Kinder  diese  entehrende  und  schwere  Strafe  sonst 
niemals  erhielten.  Man  bemerkte  meine  Verfehlungen  meist 
daran,  dass  ich  angegriffen  aussah  und  stärker  als  sonst 
schielte.  In  der  Schule  masturbierte  ich  meist  heimlich 
während  der  Stunde;  ferner  auch  nachts,  doch  war  der  Reiz 
grösser,  wenn  ich  wenigstens  irgend  etwas,  z.  B.  die  Hose, 
zwischen  die  Beine  geklemmt  hielt.“ 

„Ich  spielte  stets  lieber  mit  Mädchen.  Knabenspiele  nur, 
wenn  sie  friedlich  waren,  da  mich  der  leichteste  Schmerz  zum 
Weinen  brachte.  Sehr  gern  spielte  ich  mit  Puppen,  ferner 
Kochen,  Ball,  Mutter  und  Kind.  Schule  u.  dgl.  Ich  lernte 
leicht  stricken  und  konnte  Stunden  lang 
neben  einem  Kinderwagen  hergehn  und  mit 
dem  kleinen  Kinde  spielen.  Man  erklärte  mir 
öfter,  so  etwas  schicke  sich  nicht  für  einen  Jungen;  auch 
schämte  ich  mich  selber  dieser  Regungen  und  versuchte,  sie 
nach  Möglichkeit  zu  unterdrücken.  Ich  sah  mädchenhaft  aus 
und  wurde  manchmal  auch  so  genannt.“ 

„Eine  seltsame  Episode  ist  mir  im  Gedächtnis  geblieben. 
Eines  Mittags,  als  meine  Eltern  schliefen,  holte  ich  mir  heim- 
lich den  Morgenrock  meiner  Mutter,  zog  ihn  an,  schwärzte 
mir  das  Gesicht  mit  gebranntem  Kork  und  betrachtete  mich 
so  im  Spiegel;  dabei  masturbierte  ich.  Ich  wurde  dann  ent- 


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deckt  und  schämte  mich  furchtbar.  Hier  fällt  mir  auf;  ich 
sträubte  mich  stets  dagegen,  mit  meinen  Angehörigen  das 
Spiel  „Schwarzer  Peter'‘  (bei  welchem  dem  Verlierer  mit  ge- 
schwärztem Kork  ein  Bart  angemalt  wird)  zu  spielen;  mit 
dieser  scheinbar  törichten  Schamhaftigkeit  hat  man  mich 
immer  aufgezogen.  Mir  scheint  es  wichtig,  diese  kleinen  Ein- 
zelheiten mitzuteilen,  weil  gerade  das,  worüber 
ich  mich  öffentlich  schämte,  in  meiner 
Phantasie  heiss  begehrt  wurde.  Ich  stellte 
mir  auch  vor,  die  von  mir  geliebten  Frauen  verwandelten 
mich  in  einen  kohlschwarzen  Neger  oder  in  einen  weissbemalten 
buntausstaffierten  Clown.“ 

„Vom  Koitus  erfuhr  ich  etwa  mit  12  Jahren;  er  kam 
mir  im  Gegensatz  zu  meinen  Phantasien  direkt  ekelhaft  und 
schmutzig  vor.  Aber  der  Mensch  gewöhnt  sich  an  alles;  ich 
konnte  anfangs  auch  keinen  Kaviar  essen.  Jedoch  spielt  der 
regelrechte  Koitus  auch  heute  noch  in  meinen  Phantasien  eine 
sehr  nebensächliche  Rolle.“ 

„Schon  als  Kind  verspürte  ich  einen 
starkenDrang  in  ra  i r , P r a u e n k 1 e i d e r an- 
zuziehn.  Als  mich  ein  Kindermädchen 
einmal  zum  Spass  verkleidete,  regte 
mich  der  Vorgang  heftig  auf.  Doch  wagte  ich 
aus  Furcht  vor  Entdeckung  nicht,  in  dieser  Richtung  schon 
damals  eigenmächtig  zu  handeln.“ 

„Mit  9 Jahren  sah  ich  einmal  gelegentlich  einer  Auf- 
führung, wie  eine  der  von  mir  angebeteten  Damen,  in  ihren 
Pelz  gehüllt,  vom  Friseur  geschminkt  wurde.  Seit  jenem 
Tage  spielen  Schminke  und  Pelz,  sowohl  an  meinem  eigenen 
Körper  wie  an  dem  der  Geliebten,  eine  bedeutsame  Rolle  in 
meinen  Vorstellungen.  Ich  dachte  mir  später  Frauengestalten 
nach  eigenem  Geschmack  aus.  Sie  hatten  meist  goldblondes 
oder  schneeweisses  Haar,  waren  stark  geschminkt  und  trugen 
einen  Pelz.  Ich  stellte  mir  vor,  ich  sei  in  ihrer  Gewalt,  sie 
spielten  mit  mir,  demütigten  mich,  Hessen  sich  von  mir  be- 
dienen, ich  musste  mit  meinen  Herrinnen  schlafen,  ihnen 
cunnum  lambere  etc.  Sie  steckten  mich  in  die  mannig- 
faltigsten, möglichst  weibisch  oder  komisch  aussehenden  Ver- 


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kleidungeii.  Aus  diesem  Grunde  interessierte  ich  mich  auch 
sehr  für  Kostüme,  historische  wie  moderne;  am  meisten  ge- 
fiel mir  aber  stets  das  weibische,  weichliche  Roccoco  mit  den 
weissen  Perücken.  Woher  meine  Vorliebe  für  weisses  Haar 
stammt,  kann  ich  nicht  sagen.  Ich  halte  aber  die  z.  Z.  um 
sich  greifende  Mode  des  grellblonden  unnatürlichen  Haares  bei 
Frauen  und  ebenso  den  aufgetürmten  Lockenbau  für  ein  Zeichen 
einer  Perversion,  die  der  m e i n i g e n sehr  ähnlich  ist, 
und  die  scheinbar  zu  gewissen  Zeiten  auftritt;  man  denke  an 
das  alte  Aegypten,  an  Spät-Rom,  an  die  Roccoco-Zeit.  ihre 
Haartracht  und  Sexualität.“  (Diesen  Passus  Hess  ich  hier 
ausnahmsweise  stehn,  weil  diese  Art  der  Philosophie  für 
unsere  Fälle  typisch  ist.  Es  wiederholt  sich  hier  nur.  was 
auch  der  ..Normale“  so  gern  tut,  dass  er  nämlich  die  ganze 
Welt  nur  aus  seinem  Gesichtswinkel  beschaut.) 

„Mit  14  Jahren  schaffte  ich  mir  zum  ersten  Mal  Schminke 
und  Puder  an  und  fertigte  mir  aus  Wolle  eine  Damenperücke. 
Nächte  brachte  ich  damit  zu,  vor  dem 
Spiegel  zu  sitzen  und  mich  mit  Hilfe  der 
Kostüme  meiner  Mutter  als  Frau  zu  ver- 
kleiden.“ 

„Ich  machte  später  einmal  den  Versuch,  mit  Freunden 
eine  Aufführung  zu  arrangieren,  in  der  ich  die  Frauenrolle 
spielen  wollte.  Die  Sache  zerschlug  sich,  was  mir  im  Grunde 
angenehm  war,  da  ich  es  aufs  äusserste  scheute,  in  der 
Oeffentlichkeit  irgend  wie  als  weibisch  aufzufallen.“ 

„Als  ich  mit  16  Jahren  in  eine  sehr  ungenierte  Pension  kam. 
schaffte  ich  mir  Tricots  an  und  wattierte  sie  an  Brüsten  und 
Hüften  frauenhaft  aus;  ferner  besass  ich  eine 
blonde  Frauenperücke,  eineweisse  Clowns- 
perücke. einen  Damenpelzmantel,  Korse  tt, 
weibliche  Unterwäsche  etc.  und  verbrachte 
meine  Tage  und  Nächte  damit,  dass  ich 
mich  mit  Hilfe  einer  Spitzenbettdecke 
oder  sonst  passender  Gegenstände  auf 
alle  mögliche  Weise  maskierte.  Natürlich 
stets  recht  weibisch  und  geschminkt.  Die 
Betrachtung  meines  weibisch  entstellten  Spiegelbildes  regte 


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mich  stark  auf;  wollüstig  empfand  ich  die  Berührung  des 
weichen  Pelzes,  die  Behinderung  durch  das  Korsett  und  die 
schnürende  Kleidung,  ja  sogar  das  Ziehen  der  dick  auf  getra- 
genen Schminke  erregte  mich.  Bei  alledem  stellte  ich  mir 
vor,  es  müsse  viel  schöner  sein,  wenn  nicht  ich,  sondern  je- 
mand anders,  am  besten  ein  Weib,  mich  in  diese  Lage 
versetze,  mich  zwänge,  darin  zu  verharren  und  mich  andern 
Personen  zum  Spott  oder  zur  Bevninderung,  oder  um  sic 
sexuell  zu  erregen,  so  zeigte.“ 

..Meine  Gefühle  waren  also  mehrfacher  Art:  Erstens  sah 
ich  da  im  Spiegel  ein  Wesen,  dessen  Aeusseres  mich  sexuell 
erregte.  Zweitens  erregten  mich  die  Kleidungsstücke  an 
meinem  Körper,  teils  an  sich,  teils  durch  das  Gefühl,  dass  es 
weibische  waren.  Drittens  versetzte  ich  mich  nach  Möglichkeit 
in  die  Situation,  als  wäre  sie  von  fremden  Personen  herbei- 
geführt und  bedeute  für  mich  als  Mann  eine  schmach- 
volle Zwangslage.“ 

..Meines  Erachtens  will  der  Masochist  1.  in  der  Gewalt 
des  geliebten  Wesens  sein,  2.  von  ihm  gedemütigt  werden. 
Das  erste  lässt  sich  am  besten  erreichen  durch  Behinderung 
der  körperlichen  und  möglichst  auch  der  geistigen  Bewegungs- 
freiheit. Ein  Mittel  hierzu  ist  äusserer  Zwang  (Fesselung  u. 
dergl.);  doch  bleibt  dabei  die  völlige  geistige  Bewegungs- 
freiheit bestehn.  Ausserdem  ist  die  Wirkung  gering  auf  einen 
ernstlich  widerstrebenden  Menschen,  der  lieber  in  den  Tod 
gehn  würde,  als  dass  er  sich  demütigen  Hesse.  Der  Masochist 
will  aber  ernstlich  widerstreben;  denn  seine  ganze  Kraft  soll 
ja  durch  das  geliebte  Wesen  bezwungen  werden.  Endlich 
würde  es  garnichts  Demütigendes  oder  Erniedrigendes  sein, 
wenn  man  durch  eine  zehnfach  stärkere,  keinen  Widerstand 
duldende,  brutale  üebergewalt  bezwrmgen  würde;  dies  wäre 
im  Gegenteil  fast  ein  Heldenschicksal.“ 

,,Viel  demütigender  dagegen  ist  es.  wenn  der  Mann  dau- 
ernd in  eine  für  ihn  schmachvolle  oder  lächerliche  Rolle  hin- 
eingezwungen wird,  in  der  er  zwar  äusserlich  scheinbare  Be- 
wegungsfreiheit besitzt,  während  es  ihm  dennoch  jeden  Augen- 
bHck  ins  Bewusstsein  gerufen  wird,  dass  alles,  worauf  der 
Mann  sonst  stolz  ist,  seine  männlichen  Fähigkeiten,  seine 


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Stärke,  sein  Ernst,  seine  (Jeberlegenheit  über  das  weibliche 
Geschlecht,  gleichsam  lahmgelegx  sind.  Jeden  Augenblick  fühlt 
er  die  Demütigung  vor  den  Leuten  und  vor  dem  geliebten 
Weibe;  dies  stachelt  ihn  an,  sich  aufzulehnen.  Aber  nicht 
grobe,  übermächtige  Gewalt,  sondern  der  eigene  Schwächezu- 
stand, in  den  ihn  das  Weib  klug  versetzt  hat,  wird  ihm  zum 
Hindernis.  Hilflos  muss  er  zuschn,  wie  sie  das  Netz  enger 
und  enger  zieht,  wie  sie  ihn  immer  mehr  schwächt  und  damit 
erniedrigt  und  demütigt.  Gibt  es  eine  grössere 
Demütigung,  als  w-e  nn  der  körperlich 
starke  Mann  gezwungen  wird,  die  Ge- 
stalt des  Weibes  anzunehmen?  Für  den 

echten  Mann,  der  zu  den  stolzesten  seines  Geschlechts  gehört, 
ist  die  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  nur  ein  Gebot  der 
Gcsundheitserhaltung,  eine  zum  Wohlbefinden  nötige  Körper- 
übung; sein  grosszügiger,  schaffender  Geist  wandelt  sonst  in 
höheren  Bahnen  und  betrachtet  die  Frauen  bloss  als  Ver- 

gnügungsobjekt.  Ein  solcher  Mann  nun  wird  in  die 
kleinen  Grenzen  des  Frauengeistes  gebannt;  er  wird  ge- 

zwungen. das  zu  sein,  was  ihm  die  Frau  sein  sollte,  d.  h. 
ein  Werkzeug  zur  Befriedigung  von  Geschlechtstrieb  und 
Laune.  — Der  oben  beschriebene  Zwang  wäre  wohl  am 

besten  durch  Hypnose  zu  erreichen;  doch  dabei  fehlt  dem  Be- 
zwungenen das  Bewusstsein  seiner  Erniedrigung.  Also  muss 
der  scharf  denkende  Masochist  auf  andere  Mittel  sinnen.“  (Die 
krausen  Pfade  dieser  ganzen  Philosophie  sind  hier  mit  Ab- 
sicht reproduziert  - worden,  da  sie  zum  psychologischen  Tat- 
bestand des  Falles  gehören.)  — 

„Ich  habe  nie  von  jemandem  gehört  oder  gelesen,  der 
die  Masturbation  so  stark  betrieben  hätte  wie  ich.  Noch  heute 
ist  der  Durchschnitt  für  mich  dreimal  täglich.  Ich  glaube, 
daher  stammt  meine  Magerkeit;  auch  mein  Gedächtnis  und 
meine  Energie  scheinen  gelitten  zu  haben.  Doch  hat  mir 
niemand  je  Nervosität  oder  Aehnliches  angemerkt.  Ich  be- 
obachte mich  selber  scharf,  verstelle  mich  und  zeige  immer 
nur  das,  was  ich  gesehen  wissen  will.  Bis  jetzt  habe  ich  noch 
jeden  in  sexueller  Beziehung  über  mich  hinters  Licht  führen 
können.  Natürlich  habe  ich  die  Onanie  mit  Anspannung  aller 


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Kräfte  zu  bekämpfen  gesucht;  anfangs  durch  Beten  zu  Gott 
um  Beistand;  dann  durch  Versprechungen,  die  meine  Ange- 
hörigen (einmal  sogar  auf  Ehrenwort!)  von  mir  verlangten. 
Schliesslich  durch  Vernunftgründe,  die  mir  meine  naturwissen- 
schaftlichen und  philosophischen  Studien  an  die  Hand  gaben. 
Ich  habe  mir  das  körperliche  und  geistige  Elend,  das  früher 
oder  später  einmal  über  mich  hereinbrechen  würde,  klar  vor 
Augen  gestellt;  ich  habe  mir  all  die  Freuden  und  das  Glück, 
die  ein  massvolles  Geniessen  krönen  würde,  aufs  lebhafteste 
ausgemalt;  ich  habe  mich  zur  Ehre  dressiert  und  bin 
Korpsstudent  geworden:  es  hat  alles  nicht  das 
geringste  genützt.  Nirgends  kam  mir  die  Seelenruhe,  und 
ich  bin  immer  wieder  zu  meinen  Träumen  zurückgekehrt.“ 
„Zum  ersten  Mal  koitierte  ich  mit  17  Jahren.  Es  war 
eine  arge  Enttäuschung;  schon  wegen  der  Schmerzen,  da  ich 
eine  Phimose  hatte.  Ich  habe  dann  in  halbjährigen  Zwischen- 
räumen etwa  den  Koitus  fortgesetzt,  wie  es  sich  zufällig 
machte,  nur  aus  Eitelkeit  dem  Mädchen  und  der  Welt  gegen- 
über, nicht  weil  mich  die  Sache  reizte,  und  meist  mit  Ko- 
kotten. Meiner  starken  Sinnlichkeit  verdanke  ich  es  wohl, 
dass  mir  der  Akt  meistens  gelang;  doch  musste  das  betr. 
Weib  stets  selbst  etwas  aktiv  dabei  vorgehn.  Ich  simulierte 
meistens  den  Genuss;  einiges  Vergnügen  hatte  ich  nur,  wenn 
ich  sah,  dass  das  Weib  aufgeregt  wurde.  Erst  nach  längerer 
Hebung  gelang  es  mir,  während  des  Aktes  zur  Ejakulation  zu 
kommen.  Gleich  bei  einem  der  ersten  Male  holte  ich  mir 
übrigens  eine  Lues,  die  zwar  bisher  bei  sorgfältiger  und 
wiederholter  Behandlung  keine  erschreckenden  Symptome 
zeigte,  deren  Dasein  für  mich  aber  doch  äusserst  nieder- 
drückend und  entmutigend  ist.  Ich  kann  es  in  meinem  Zu- 
stand nicht  wagen,  mich  dem  Ideal  meiner  Träume,  falls  ich 
es  finden  sollte,  zu  nähern.  Dieser  Umstand  macht  mich 
mehr  als  alles  andre  lebensüberdrüssig.  Freilich  habe  ich  die 
Hoffnung  auf  das  Ideal  auch  wegen  der  Schwierigkeit,  es  zu 
finden,  fast  aufgegeben.  Seit  1)4  Jahren  habe  ich  kein  Weib 
mehr  berührt,  eine  Tatsache,  die  meine  Bekannten  als  die 
grösste  Lüge  des  Jahrhunderts  bezeichnen  würden.  Trotzdem 
^ hatte  ich  früher  immer  einiges  Glück  bei  Frauen,  weniger  auf 


94  - 


den  ersten  J31ick  hin,  als  durch  freundliches  und  doch  wunsch- 
loses Verhalten  ihnen  gegenüber.  Da  ich  aber  in  der  Liebe 
körperlich  wie  geistig  stets  der  weiblich  passive 
Teil  sein  möclite,  um  ihnen  dann  allerdings  alles  hinzu- 
geben, alles  für  sie  zu  erdulden,  so  habe  ich  die  Frauen  nie 
lange  mit  meiner  Schauspielerei  bei  Zufriedenheit  erhalten 
können." 

..Leber  Homosexualität  erhielt  ich  zuerst  Aufschluss 
durch  das  Buch;  Die  Enterbten  des  Liebesglücks.  Hier  fesselten 
mich  manche  Stellen  ausserordentlich,  mehr  noch,  als  in  maso- 
chistischen Werken,  deren  ich  gleichfalls  eine  ganze  Reihe  ge- 
lesen habe.  Da  ich  auf  mein  Weibideal  aus  obigen  Gründen 
Verzicht  leisten  musste,  kam  ich  in  Gedanken  dazu,  mir  als 
das  Kompliment  meiner  Sehnsucht  einen  Mann  zu  wünschen. 
Denn  auch  die  stärkste  Frau  wird  in  der  Liebe  dem  Manne 
stets  unterlegen  sein  wollen.  Ich  brauche  aber  einen 
Partner,  der  mich  gewissermassen  erobert  und  vergewaltigt. 
So  sagte  ich  mir,  diese  Rolle  könne  nur  einem  M a n n e zu- 
fallen. Vieles,  was  ich  von  der  Homose.xualität  in  den 
Büchern  las.  bestärkte  mich  in  diesen  Vorstellungen.“ 

Eine  mehrjährige  Beobachtung  des 
Herrn  M.  hat  ergeben,  dass  die  Schwen- 
kung zur  Homosexualität  nur  eine  schein- 
bare war,  ein  zufälligesAccidenz  zu  der 
gleichbleibenden  Grundfärbung  seiner 
Libido.  Irgend  eine  homosexuelle  Betätigung  hat  niemals 
stattgefunden.  Herr  M.  hat  den  Teil  seines  Gefühlslebens,  in 
dem  die  Erscheinung  eines  von  ihm  geliebten  Mannes  psy- 
chi.sch  eindrang,  in  Form  einer  novellistischen  Skizze  festge- 
haltcn.  die  wir  nachstehend  auszugsweise  reproduzieren.  Es 
geschieht  dies  aus  folgenden  gewichtigen  Gründen; 

Die  Skizze  stellt  einen  richtigen  Tag  träum  dar.  wie  er  in 
dieser  Abgerundetheit  (auch  in  den  Arbeiten  der  Freud’schen 
Schule)  verhältnismässig  selten  veröffentlicht  worden  ist.  Dieser 
Tagtraum  ist  zwar  im  allgemeinen  erotisch  gehalten;  hoch- 
erotisch ist  er  aber  (für  die  Psyche  des  Träumers)  gerade  an 
den  Stellen,  die  für  die  Mehrzahl  der  Menschen  garnichts  Ero- 


( 


95 


tisches  bedeuten,  nämlich,  wo  vom  Kostümieren,  Schminken, 
von  der  Beschämung  durch  Zwangsmassregeln  die  Rede  ist. 
Die  Anomalie  des  Traumes  entspricht  also  genau  der 
Anomalie  des  Träumers. 

Wie  sehr  der  Versuch,  sich  homosexuelle  Vorstellungen  der 
ursprünglichen  Reaktionsfähigkeit  gefügig  zu  machen,  miss- 
lingt, ersieht  man  daraus,  dass  sich  ganz  unwillkürlich 
in  den  Lauf  der  Begebenheiten  ein  Weib  einschmuggelt, 
dessen  Gegenwart  dem  Träumer  überhaupt  erst  das  weitere 
ermöglicht.  Dennoch  ist  das  Ganze  in  gewisser  Hinsicht  auch 
ein  Beweis  dafür,  dass  die  Starrheit  der  Triebanlagen  Flexi- 
bilität genug  besitzt,  um  fremden  Elementen  sich  wenigstens 
temporär  zu  assimilieren. 

Endlich  sieht  man  aufs  Vortrefflichste  den  Zusammenhang 
der  Erotik  mit  dem  belletristischen  (und  weiterhin  künst- 
lerischen) Fabulieren.  Viele  Werke  der  Literatur,  die  ganz 
asexuell  erscheinen,  entstehen  trotzdem  auf  ähnlichem  Unter- 
gründe. 

Es  folgt  nun  einiges  aus  der  Skizze  selber; 


„Reinhold  war  ein  fröhlicher  Student.  Er  hatte  viel  Kameraden,  und 
lebte  mit  ihnen  sorglos  in  den  Tag  hinein.  Nur  in  einem  konnte  er  sie  nie 
so  recht  verstehen  und  ihre  Gefühle  teilen.  Das  war  in  der  Sucht  nach  Frauen 
und  dem  geschlechtlichen  Verkehr.  Auch  ihn  reizten  die  Weiber  zwar,  und 
besonders  wenn  sie  chick  und  elegant  waren,  aber  seltsame  Gedanken  stiegen 
ihm  meist  bei  ihrem  Anblick  auf,  „Ach,  könntest  du  nur  ein  einziges  Mal 
auch  so  eine  chicke  Toilette  anziehen  und  so  reizend  aussehen,  und  so  ver- 
ehrt werden.“  Schnell  aber  verbannte  er  dies  weibische  Begehren  in  den 
Tiefen  seines  Herzens  und  tat,  als  sei  er  wie  die  andern.  Vor  Männern  hatte 
er  eine  eigenartige  Scheu,  die  er  nie  recht  begründen  konnte,  und  ebenso 
vor  der  Berührung  mit  ihnen. 

Eines  Tages,  als  er  allein  durch  den  Tiergarten  wandelte,  bemerkte  er, 
dass  ein  vornehmer,  älterer  Herr  ihm  folgte.  Von  einem  seltsamen  Gefühl  ge- 
trieben, ging  er  langsamer.  Der  Herr  holte  ihn  ein  und  sprach  ihn  an.  Er 
sah  ihn  mit  seinen  schönen,  lebensemsten  Augen  so  seltsam  an,  dass  Rein- 
hold den  Blick  senken  musste.  Er  hatte  Furcht  vor  ihnen.  Sie  kamen  io’s 
Gespräch  und  verabredeten  sich  bei  der  Trennung  auf  ein  ander  Mal.  So 
trafen  sie  sich  öfter,  und  wurden  näher  bekannt.  Reinhold  fasste  ein  unbe- 
grenztes Vertrauen  zu  dem  freundlichen  Herrn,  er  vermeinte  ihn  mit  ganz 
anderen  Augen  anzusehen,  als  andere  Männer.  Jener  sagte  ihm  Schmeichleien 


96 


über  seine  Schönheit,  was  ihn  jedesmal  verwirrt  machte,  und  dennoch  hörte 
er  sie  sehr  gern.  Seinen  Kameraden  sagte  er  von  setner  neuen  Bekanntschaft 
nichts.  Sein  Freund,  der  sich  Edmund  nannte,  besuchte  ihn  auch  einmal.  Sie 
sassen  auf  dem  Sofa  und  plauderten,  und  im  Laufe  des  Gesprächs  legte  jener 
den  Arm  um  seinen  Hals.  Ein  Schauer  durchrann  seinen  ganzen  Körper.  0'. 
wenn  Edmund  jetzt  seine  bärtigen  Lippen  — er  trug  einen  schön  gepflegten 
Spitzbart  — auf  die  seinigen  drücken  würde;  er  fühlte  ein  seltsam  süsses 
Lähmungsgefühl.  Aber  nein!  Entsetzlich,  bärtige  Lippen  aufeinander!  und 
überhaupt  zwei  Männer!  Pfui!  und  erschrocken  entwand  er  sich  dem  Arm 
des  Freundes,  und  sprang  auf.  Jener  schien  nichts  bemerkt  zu  haben. 

Eines  Tages,  als  sie  von  Vergnügungen  sprachen,  meinte  Edmund; 

„Weiset  du  was!  Am  Mittwoch  findet  hier  grosser  Maskenball 
statt.  Dort  müssten  wir  eigentlich  einmal  hingehen! 

Ja!  aber  in  welchem  Kostüm?  meinte  Reinhold. 

Ich  habe  eine  famose  Idee!  Du  gehst  als  elegante  Kokotte  verkleidet, 
und  ich  als  dein  Kavalier!  Du  musst  entzückend  aussehen  in  Frauenkleidem. 
Ja,  bitte  tu  mir  den  Gefallen!  mit  flehendem  Blick  sah  er  ihn  an,  seine 
Hände  fassend. 

Reinhold  konnte  nicht  widerstehen.  Sein  Inneres  jauchzte;  sein  Herzens- 
wunsch sollte  in  Erfüllung  gehen. 

Ja,  aber  wie  wollen  wir  denn  das  machen,  wandte  er  schüchtern  ein. 

Das  lass  nur  meine  Sorge  sein'  Komm  du  nur  Mittwoch  Nachmittag 
zu  mir.  Das  andere  wir  sich  finden! 

Also  gut,  ich  bin  einverstanden,  erklärte  Reinhold  lächelnd. 

Pass  auf!  es  wird  entzückend  werden.  Du  wirst  dich  so  gut  als  Mädel 
machen,  dass  man  dich  nicht  erkennt. 

Edmund  nahm  nun  einige  Masse,  und  sie  trennten  sich. 

Reinhold  befand  sich  die  nächsten  Tage  in  fieberhafter  Aufregung.  Er 
dachte  nur  an  seinen  Freund  und  Mittwoch.  Edmund  würde  ihn  als  Weib  an- 
ziehen.  Man  würde  ihn  als  seine  Geliebte  ansehn,  und  Edmund  würde  ihn 
als  seine  Geliebte  behandeln.  Er  würde  sich  wie  ein  Weib  ihm  gegenüber  be- 
nehmen müssen,  und  würde  er  nicht  vielleicht  auf  Augenblicke  seine  Männ- 
lichkeit ganz  vergessen?  Himmlischer  süsser  Gedanke!  Er  wagte  nicht, 
ihn  auszudenken.  Er  sah  sich  bereits  als  Weib  in  den  Armen  des  Ge- 
liebten! Denn  er  liebte  ihn;  das  wusste  er  jetzt;  und  nicht  nur  den  Freund, 
sondern  auch  den  schönen,  starken,  geistvollen  Mann. 

Punkt  vier  stand  Reinhold  vor  Edmunds  Wohnung  in  einem  eleganten 
Haus  einer  Berliner  Vorstadt.  Schüchtern  klingelte  er.  Der  Freund  öffnete, 
und  führte  ihn  sogleich  durch  einen  geschmackvoll  eingerichteten  Salon  in 
ein  wundervolles  Schlafzimmer. 

Die  Zimmer  kannst  du  dir  alle  später  ansehen,  komm  nur  erst  hier 
hinein. 

Das  Zimmer  war  ganz  in  weiss  und  rosa  gehalten,  aber  — Reinhold 
stutzte,  es  schien  für  ein  Ehepaar  eingerichtet  zu  sein.  Ein  grosses,  zwei- 
schläfriges Himmelbett,  eine  doppelte  Waschtoilette,  ein  Toilettentisch  wie 
für  eine  Dame. 


97 


Lächelnd  bemerkte  Edmund  das  Erstaunen  des  Freundes. 

Ja,  ich  war  einmal  verheiratet,  bin  aber  von  meiner  Frau  geschieden. 
Es  war  nicht  meine  Schuld,  aber  ich  bin  froh,  um  ihret-  und  meinetwillen, 
fügte  er  seufzend  hinzu. 

Dann  schellte  er.  Eine  ältere  Dame  im  Hauskleide  erschien.  Dies  ist 
mein  kleiner  Freund,  aus  dem  du  mir  heute  eine  kleine  Freundin  machen 
sollst,  Brigitte.  Und  dies  ist  meine  Hausdame  Brigitte,  die  mich  schon  als 
Kind  treulich  gewartet  hat,  stellte  Edmund  vor. 

Wird  es  denn  auch  gehen?  meinte  er  dann,  zu  ihr  gewandt.  Brigitte 
sah  den  Jüngling  prüfend  an. 

Aber,  ausgezeichnet!  er  wird  eine  reizende  Kokotte  abgeben;  die  Männer 
werden  verrückt  nach  ihm  sein. 

Reinhold  errötete  über  und  über.  Er  scliämte  sich  vor  der  Frau  furcht- 
bar der  Rolle,  zu  deren  Annahme  ihn  Edmund  überredet  hatte,  und  doch 
entzückte  ihn  ihre  Prophezeiung. 

Aber  dann  wollen  wir  beginnen,  meinte  Edmund,  immer  mit  demselben 
seltsamen  Lächeln  auf  den  Lippen. 

Reinhold  sah  ihn  flehentlich  an. 

Nicht  hierbleiben,  du,  bitte! 

Nun,  du  schamhaftes  Fräulein,  wenn  du  keine  Männer  bei  deiner 
Toilette  duldest,  muss  ich  mich  wohl  oder  übel  zurückziehen;  aber,  wart’,  ich 
räche  mich  nachher! 

Nun  begann  eine  fieberhafte  Tätigkeit.  Reinhold  musste  sich  ent- 
kleiden. Brigitte  rasierte  seinen  kleinen,  blonden 
Schnurrbart  fort,  und  von  den  starken  Augenbraunen  Hess  sie  nur 
einen  schmalen,  schöngeschwungenen  Strich  stehen.  Aber,  wenn  man  mich 
morgen  so  sieht?  wagte  er  einzu wenden. 

Das  wmchst  ja  bald  wieder,  meinte  eie  unbeirrt.  Dann  nahm  sie  eine 
Nadel,  und  ehe  er  ihre  Absicht  ahnte,  hatte  eie  ihm  das  eine  Ohrläppchen 
durchstochen. 

Oh  weh!  rief  er  aus,  nein,  das  geht  nicht' 

Es  muss  aber  sein,  erklärte  sie,  es  wächst  ja  alles  wieder  zu.  Damit 
hing  sie  ihm  zwei  grosse,  unechte  Brillanten  ins  Ohr. 

Das  wusste  er,  in  den  nächsten  Tagen  durfte  er  sich  vor  niemanden 
sehen  lassen. 

Dann  zog  sie  ihm  eine  wundervolle,  goldblonde  Strassenperücke  über  den 
Kopf.  Sie  war  entsetzlich  schwer,  und  wurde  seiner  Ansicht  nach  ganz  über- 
flüssigerweise auch  noch  mit  Klebstoff  befestigt. 

Die  Haare  an  Armen  und  Beinen  wurden  gleichfalls  entfernt. 

Aber  wmzu  machen  Sie  denn  das? 

WeU  eine  junge  Dame,  wie  Sie.  überall  schön  aussehen  muss. 

Den  Körper  rieb  sie  ihm  mit  einer  duftenden  Flüssigkeit  ein. 

Das  reizt  die  Männer  riesig,  meinte  sie. 

Aber  das  hat  doch  für  mich  keinen  Zweck!  tief  er  erschrocken  aus; 
doch  Hess  er  sich  ruhig  einreiben,  und  freudig  erregt  erhob  sich  seine  Brust, 
H Irschfeld,  Die  Transvestiten.  7 


98 


Nun  folgte  das  Ankleiden,  Schminken  und  Frisieren,  dessen  detaillierte 
Beschreibung  M.  förmlich  begeistert,  hier  aber  zu  weit  führen  würde.  Man 
stelle  sich  das  Bild  einer  eleganten  Demimondaine  in  Gesellschaftstoilette 
vor,  beladen  mit  unechten  Brillanten,  einen  riesigen  weisseii  Straussfederhut, 
Boa,  über  und  über  parfümiert  usw.  i 

Reinhold  betrachtete  sich  mit  halbgeschlossenen  Augen,  den  Kopf 
hinüber,  im  Spiegel.  Seide  und  Spitzen  umrauschten  seine  Knie,  das  enge 
Korsett  zwang  ihn  in  eine  weibisch-grade  Haltung,  der  zarte  Flaum  der  Boa 
im  Nacken,  das  schwere,  lästige  Haar,  die  langen,  engen  Handschuhe,  das 
alles  peitschte  seine  Sinne  zu  nie  gekannter  Lust. 

Im  Nu  hatte  er  sich  die  Bewegungen  des  Weibes  angeeignet.  Es  war, 
als  sei  es  eine  zweite  Natur.  Alles  andere  war  für  ihn  vergessen,  er  brannte 
darauf,  von  dem  Geliebten  bewundert  zu  werden. 

Brigitte  war  entzückt. 

0 wie  wird  sich  Edmund  freuen!  Aber  nun  will  ich  das  gnädige  Fräu- 
lein gleich  ihrem  Kavalier  zuführen.  Damit  öffnete  sie  die  Flügeltür  und 
führte  die  verschämt  Zögernde  in  den  Salon. 

Reinhold  errötete  unter  der  Schminke.  Da  stand  lächelnd  der  Geliebte 
elegant  wie  immer,  im  Frack,  schön  wie  ein  Gott.  Er  wäre  ihm  am  liebsten 
an  den  Hals  geflogen,  hätte  ihn  nicht  Brigittes  Gegenwart  zurückgehalten. 

Galant  küsste  Edmund  der  Schönen  die  Hand. 

Mein  Kompliment!  Nun,  bist  du  mit  deiner  Verwandlung  unzufrieden, 
mein  Kleinchen? 

Nein,  kam  es  schüchtern  von  Reinholds  Lippen. 

Nicht  wahr,  ich  hatte  Recht!  Aber  wie  soll  er  denn  nun  heissen? 
meinte  Brigitte  scherzend. 

Wir  wollen  ihn  „Lilli“  nennen,  unsere  süsse  Lilli!  Der  Name  gefällt 
Ihnen  doch,  meine  Gnädigste?  fragte  Edmund  scherzend. 

Reinhold  antwortete  nicht.  Jede  Fiber  in  ihm  zitterte  vor  Aufregung. 

Aber,  da  steh’  ich  und  gaffe,  rief  Brigitte  plötzlich  aüs,  und  draussen 
geht’s  drunter  und  drüber.  Damit  war  sie  hinaus  und  im  Nu  fühlte  LiUi  sich 
von  den  Armen  des  Geliebten  umschlungen. 

In  mädchenhafter  Scham  wollte  sie  sich  ihm  entwinden.  Vergebens!  das 
Rauschen  der  Röcke,  das  schwere  Haar,  der  berauschende  Duft,  das  alles 
Hess  sie  vergessen,  wer  sie  eigentlich  war.  Sie  war  jetzt  nur  das  verlangende 
Weib,  das  sich  nach  den  Küssen  des  geliebten  Mannes  so  lange  gesehnt  hatte. 

Willenlos  liess  er  sich  auf  den  Divan  legen. 

„Du  süsser,  geliebter  Mann!  Dank,  tausend  Dank,  dir  will  ich  gehören 
für  immer  — Töte  mich  — aber  lass  mich  dein  Weib  sein, 
stammelte  er,  und  wild  graben  sich  seine  Zähne  in  die  Lippen  des  Geliebten. 

Plötzlich  sprang  er  auf,  und  sah  seine  in  ihrer  Verwirrung  reizende 
Frauengestalt  im  Spiegel. 

Unseliger,  was  hast  du  getan!  kam  es  bestürzt  von  seinen  Lippen,  und 
voll  Scham  und  Reue  eilte  er,  so  schnell  es  seine  Kleidung  erlaubte,  ins 
Nebenzimmer. 


99 


Himmel,  was  war  geschehen?  Er  wollte  fort  von  hier;  er  suchte  seine 
Sachen,  üeberaü  vergebens,  sie  waren  verschwunden.  Er  war  ein  Ge- 
fangener, und  so  würde  er  seinem  Schicksal  nicht  entgehen;  das  fühlte 
er  genau.  In  seinem  Innern  kämpften  die  wildesten  Gewalten  miteinander, 
und  bitterlich  weinend  warf  er  sich  aufs  Bett. 

Mit  zynischem  Lächeln  war  Edmund  ihm  gefolgt.  Er  erschien  ihm  in 
seiner  mädchenhaften  Verwirrung  entzückend.  Leise  trat  er  nun  zu  ihm  und 
beugte  sich  über  die  schluchzende  Schöne.  Ein  sanfter,  inniger  Kuss  auf  den 
Hals  machte  die  ganze  Gestalt  durchschauern. 

Sanft  hob  er  sein  Opfer  auf  und  führte  den  Willenlosen  in  kluger  Be- 
rechnung grade  vor  den  Spiegel. 

Was  ist  dir  denn?  meine  süsse,  kleine  Lilli!  tröstete  er  liebkosend. 

Ich  möchte  fort,  gib  mir  meine  Sachen  wieder,  bitte,  bitte!  kam  es  nur 
noch  schüchtern  von  den  Lippen  Reinholds. 

Deine  Sachen?  Aber  Liebling,  sieh  doch  mal!  Zu  diesen  schwellenden 
Kirschenlippen,  zu  diesen  süssen,  lüsternen  Mädchenaugen,  gehört  da  nicht 
eine  so  süsse,  duftige  Toilette,  wie  du  sie  anhast.  Merkst  du  es  denn  nicht? 
du  bist  ja  gar  kein  Mann,  du  bist  ja  ein  furchtsames 
Mädchen  und  gehörst  darum  in  den  Unterrock,  mein 
dummes,  kleines  Frauchen! 

Ja,  du  hast  recht,  Geliebter,  und  ich  will  es  immer  bleiben!  hauchte 
ßeinhold  iustdurchschauert. 

Aber  nun,  Schatz,  wollen  wir  auch  ans  Essen  denken,  meinte  EdmunJ 
fröhlich.  Ich  will  Brigitte  rufen,  dass  sie  dich  wieder  ein  bischen  in  Ord- 
nung bringt. 

Nein,  nein!  rief  Reinhold  nach;  aber  gleich  darauf  erschien  Brigitte  mit 
einem  seltsamen  Lächeln  auf  den  Lippen,  das  ihn  ärgerte.  Er  schämte  sieb 
furchtbar  vor  ihr. 

Dann  führte  Edmund  seine  Dame  ins  Esszimmer,  wo  der  Tisch  bereits 
reich  gedeckt  war  und  der  Teekessel  dampfte.  Man  ass  zu  dritt. 

Brigitte  unterwies  Reinhold  oder  vielmehr  Lilli  wie  eine  Tochter. 
Sie  musste  den  Tee  servieren,  die  Butterbrödehen  streichen,  helfen  usw.  Lilli 
wagte  kaum  die  Augen  aufzuschlagen;  nur  hie  und  da  traf  ein  verstohlener 
Blick  den  Geliebten. 

Wollen  udr  denn  nun  noch  auf  den  Ball  gehn?  fragte  Edmund  einmal. 

Es  wird  ja  zu  spät,  Kinder!  meinte  Brigitte,  und  Lilli  schwieg. 

Nach  Tisch  plauderte  man  ein  wenig;  zu  rauchen  bekam  Lilli  mir  eine 
ganz  kleine  Damenzigarette,  zu  ihrem  grossen  Bedauern. 

Es  ärgerte  sie  überhaupt,  dass  Brigitte  eie  so  ohne  weiteres  ganz  und 
gar  als  Mädchen  behandelte.  Aber  konnte  sie  es  denn  anders  verlangen?  Auf 
einmal  meinte  sie  sogar,  es  sei  Zeit  für  Lilli,  ins  Bett  zu  gehn. 

Aber  ich  muss  doch  nach  Hause!  erklärte  diese. 

Heute  nicht!  bat  Edmund,  heute  hist  du  Lilli  und  hast  gar  kein 
anderes  Zuhause  als  liier. 

Wie  eine  Träumende  Hess  sie  sich  von  der  Hausdame  ins  Schlafzimmer 
führen.  Lilli  wollte  die  Perücke  abnehmen. 

7* 


100 


Das  wird  nicht  gehen,  erklärte  Brigitte,  die  habe  ich  Ihnen  zu  fest  mit 
Ihrem  eigenen  Haar  verklebt,  Fräuleinchen.  Behalten  sie  sie  nur  auf.  Sie 
sehen  ja  auch  so  niedlich  damit  aus.“ 

Bis  hierher  mag  es  an  der  Probe  aus  dem  Manuskript 
des  Herrn  M.  sein  Bewenden  haben.  Die  oben  erwähnten  Fol- 
gerungsmomente sind  unschwer  zu  erkennen. 


Fall  Xni. 

Im  Jahre  J905  erhielt  die  Herausgeberin  der  Zeitschrift 
„Mutterschutz“  von  einem  gewissen  John  0.  aus  S.  Francisco 
mit  der  Bitte  um  Veröffentlichung  ein  sehr  merkwürdiges 
Schreiben.  Als  der  von  ihm  erwartete  Abdruck  während 
längerer  Zeit  nicht  erfolgte,  wandte  sich  0.  an  mich;  „Er  sei 
sehr  enttäuscht,  dass  man  ihn  nicht  hätte  zu  Worte  kommen 
lassen.“  Der  seltsame  mir  in  Abschrift  beigefügte  Brief,  von 
dem  ich  sehr  wohl  verstehe,  dass  ihn  die  Redakteurin,  ihrem 
Leserkreise  nicht  zumuten  wollte,  da  sein  Inhalt  ihnen  wohl 
kaum  verständlich  gewesen  wäre,  hatte  in  der  Hauptsache 
folgenden  Wortlaut; 

„Ihre  Zeitschrift  Mutterschutz  interessiert  mich  so  sehr, 
dass  ich  sie  halten  muss;  ich  bin  körperlich  männlich,  geistig 
weiblich,  deshalb  habe  ich  für  alles  was  weiblich  ist,  sehr 
viel  Sympathie.  Da  Sie  für  sexuelle  Freiheit  kämpfen,  möchte 
ich  ein  Wort  sprechen  über  die  Verfolgung  der  Effeminierten. 
Denn  manche  Mutter  versteht  ihren  Sohn  nicht,  weil  er  mäd- 
chenhaft ist.  Ich  bin  der  lieber zeugung,  dass  wenn  ein 
Knabe  einmal  8 oder  10  Jahre  ist  und  er  zeigt  Vorliebe  für 
Mädchenkleider,  Mädchenarbeit  und  Mädchenspiele,  dass  dann 
die  Mutter  zum  Wohle  des  Kindes  besser  tut,  ihn  in  seinem 
Wunsche  freie  Wahl  zu  lassen.  Der  Knabe  ist  dann,  nämlich 
nur  geschlechtlich  männlich,  aber  geistig  Mädchen  und  wenn 
solche  Kinder  nach  ihrem  Gefühl  erzogen  werden,  dann  sind 
sie  viel  glücklicher  als  wenn  man  ihnen  durch  Strafen,  Spott 
oder  gar  Misshandlungen  das  Knabenhafte  beibringeii  will. 
Wird  er  aber  dann  als  Mädchen  erzoeen,  so  verliert  er  allen 
Zweifel  und  wird  im  weiblichen  fester,  so  dass  er  dann  nie- 


101 


mals  mehr  den  Wunsch  hat  ein  Mann  zu  sein;  wird  er  ge- 
zwungen sich  als  Knabe  zu  bewegen,  so  fühlt  er  sich  nieder- 
geschlagen und  sehnt  sich  nach  der  Zeit  "wo  er  als  Dienst- 
mädchen oder  ähnliches  sein  Leben  machen  kann.  Ich  bin 
nicht  mit  Dr.  Moll  in  seiner  konträren  Sexualempfindung 
S.  448  einverstanden,  wo  er  sagt;  man  solle  durch  Strafen 
die  Effemination  zu  beseitigen  suchen.  Er  sagt  ja  auf  S.  157 
selbst,  „es  ist  in  der  Tat  auffallend,  wie  mächtig  sich  bei 
manchen  Homosexuellen  das  weibische  Benehmen  zeigt.  Wenn 
man  berücksichtigt,  dass  die  Erziehung  derartiger  Knaben 
meistens  der  der  anderen  gleich  ist,  so  ist  es  wunderbar,  mit 
welcher  Stärke  trotzdem  die  weibliche  Natur  schliesslich  bei 
ihnen  durchbricht.“  Ich  will  zugeben,  dass  bis  zum  5.  Jahre 
vielleicht  noch  manches  Kind  durch  Erziehung  zu  seinem  Ge- 
schlecht erzogen  werden  kann,  aber  meistens  auch  dann  nicht 
und  zeigen  sich  die  mädchenartigen  Eigenschaften  viel  stärker 
als  die  knabenartigen,  so  ist  es  für  das  Kind  viel  besser,  es 
nach  seinem  geistigen  Geschlecht  zu  erziehen.  Deshalb,  liebe 
Mütter,  erzieht  doch  solche  Söhne  als  Mädchen,  denn  gute 
Ehemäner  werden  sie  selten,  sie  haben  sogar  eine  Abneigung 
vor  dem  Verkehr,  ausser  wenn  sie  später  vielleicht  einmal 
eine  Frau  finden,  die  männlich  ist.  Auch  wäre  ich  dafür, 
dass  die  Polizei  solche  weiblichen  Männer  in  Ruhe  lässt  und 
dass  sie  den  Frauen  gleich  behandelt  werden.  Ich  selbst  habe 
als  Kind  jede  Gelegenheit  benutzt  die  Kleider  meiner  Schwester 
anzuziehen,  wurde  oft  dafür  geschlagen,  verspottet  und  ge- 
neckt, spielte  mit  Mädchen  und  sehnte  mich  nach 
der  Zeit  wo  ich  aus  der  Schule  war,  um 
als  Kindermädel  arbeiten  zu  können. 
Schliesslich  stahl  ich  von  einem  Mädchen  die  Kleider  und 
einen  Heimatschein  und  floh  in  Mädchentracht  in  die  Schweiz, 
so  dass  niemand  für  Jahre  wusste,  wo  ich  war.  Das  erste 
Vierteljahr  wünschte  ich  manchmal  noch  lieber  als  Junge  zu 
arbeiten,  denn  die  Arbeit  war  hart  und  die  Frau  bös,  aber 
die  zweite  Frau  Meisterin  war  besser,  zu  mir,  und  so  vergass 
ich  bald  meine  Heimat  und  mein  Geschlecht.  Mit  19  Jahren 
hatte  ich  den  ersten  Liebesakt  durch  Angriff  eines  Mädchens 
gehabt,  und  während  des  Aktes  wünschte  ich  auch  Mädchen 


102 


zu  sein.  Ich  weinte  manchmal,  dass  ich  kein  Weib  war  und 
nicht  Mutter  werden  konnte.  Als  ich  in  die  20  kam,  liefen 
mir  die  jungen  Leute  nach,  zumal  ihre  Mütter  mich  ihnen 
lobten,  ich  würde  eine  gute  Hausfrau  werden.  Aber  was 
für  Leiden  hatte  ich,  dass  ich  das  andere 
Geschlecht  hatte,  o wie  schmerzlich  war  es  mir. 
wenn  ich  ein  Liebespaar  mit  einander  tändeln  sah,  wie  neidisch 
war  ich  auf  jene  Mädchen  und  bin  es  heute  noch.  Mein 
Liebesideal  waren  stets  starke  männ- 
liche Frauen,  solchen  gegenüber  will  ich 
mich  als  Weib  fühlen.  Nur  der  Polizeiwillkür 
halber  trage  ich  ausser  Hause  die  männliche  Tracht.  D i e 
Unterröcke  sind  mir  ein  Heiligtum  und 
würde  am  liebsten  ganz  und  gar  die  Frauentracht  behalten, 
wenn  es  auf  der  Strasse  erlaubt  wäre.  Seit  längerer  Zeit  habe 
ich  den  Vorsatz,  sobald  ich  eine  sichere  Stellung  als  Kinder- 
frau oder  ähnliches  finde,  sie  anzunehmen,  damit  ich  bestän- 
dig und  frei  in  weiblicher  Toilette  gehen  kann.  Ich  bin  jetzt 
43  .Jahre  alt  und  ledig,  seit  6 Jahren  aller  Liebesumarmung 
frei,  öfters  habe  ich  Träume  als  Weib, 
von  Kindbett  und  Kinderstillen,  und  freue 
mich  noch  beim  Erwachen,  bis  ich  mich  dann  überzeuge,  ob 
es  wirklich  wahr  ist  und  ich  dann  zu  meinem  Bedauern  das 
Gegenteil  ausfinde.  So,  liebe  Frauen,  könnt  Ihr  Euch  ein 
Bild  machen,  wie  unglücklich  Euer  Kind  sich  fühlt,  wenn  ihr 
versucht  seine  Angeborenheit  zu  unterdrücken.  Ein  solcher 
Knabe  schämt  sich  nicht  als  Mädchen  aufzutreten,  im  Gegen- 
teil. er  ist  ja  geistig  ein  Mädchen  und  will  es  auch  sein.  Ich 
habe  \üele  Weibmänner  gesprochen,  die  meisten  hatten 
w'enig  Geschlechtstrieb  und  von  Männerfreund- 
schaften hatten  sie  keine  Ahnung,  solange  sie  sich  in  Gesell- 
schaft von  Frauen  und  Kindern  bewegen  konnten.  Wenn  sie 
auch  nicht  in  Frauenkleidung  waren,  so  hatten  sie  doch  die 
Vorliebe  für  die  w'eiblichen  Sachen  und  wohnten  lieber  bei 
einer  Familie,  wo  Kinder  waren.  Wenn  einmal  volle  Kleider- 
freiheit aufkommen  wird,  so  werden  sich  die  Effeminierten  der 
weiblichen  Gesellschaft  anschliessen,  grade  so  wie  die  Mann- 
weiber sich  dem  sogenannten  stärkeren  Geschlecht  zugesellen 


103 


werden;  wenn  der  Modezwang  nicht  mehr  besteht,  so  wächst 
der  AVeibmann  ins  weibliche  hinein  und  wird  von  einem  Mann- 
weib angezogen,  denn  beide  fühlen  sich  von  Natur  für  einander 
bestimmt,  e r a 1 s AA^  e i b und  sie  als  Mann  und  sie 
werden  so  glücklich  leben  als  die  normalen  Ehegatten  von  heute 
Das  gewöhnliche  Weib  reizt  den  Weib- 
mann nicht  und  der  männliche  Mann  zieht 
das  männische  Weib  nicht  an.  Viele  Erauen 
haben  sich  über  mich  gewundert,  wenn  sie  durch  Zufall  mein 
Geschlecht  erfuhren,  dass  sie  keine  männlichen  Eigenschaften 
bei  mir  hatten  sehen  können;  wie  oft  sagten  sie  dann;  „Jo- 
hanna, du  hättest  besser  ein  Mädchen  abgegeben“.  Alles,  was 
ich  hier  sage,  gilt  umgekehrt  für  Mädchen  mit  knabenartigen 
Anlagen.  Wie  manche  würde  als  Techniker,  Erfinder  oder 
ähnliches  grosses  leisten  wenn  sie  frei  als  Mann  geduldet 
würde,  so  wie  sie  es  sein  will.  Beide  würden  ihr  Geschlecht 
vergessen  und  wären  glücklich.  Die  Menschheit  würde  des- 
wegen nicht  aussterben,  dafür  sorgt  schon  die  Natur  genügend, 
und  zudem  würde  es  vor  mancher  unglücklichen  Ehe  schützen, 
denn  ein  AVeibmann  ist  ein  schlechter  Bettgemahl  für  eine 
normale  Frau  und  umgekehrt.  Aber  heiraten  sich  zwei,  von 
denen  eins  ein  AA^eibmann  und  eins  ein  Mannweib  ist,  so  ist 
er  der  weibliche  und  sie  der  männliche  Teil,  und  sie  werden 
glücklich  sein;  denn  wenn  auch  das  Geschlecht  anders  ist,  i n 
geistiger  Beziehung  sind  sie  ja  doch  vom 
entgegengesetzten  Geschlecht,  so  wie  sie 
die  Natur  begabt  hat.  Deshalb,  liebe  Mütter,  warum  nicht 
dieses  Thema  in  die  öffentliche  Diskussion  bringen,  handelt  es 
sich  doch  um  das  AA'ohl  Eurer  Kinder?  Wenn  einmal  die 
Menschen  duldsamer  und  vernünftiger  werden,  wird  mancher 
Effeminierter  und  manche  Alasculierte  sich  zu  dem  bekennen, 
wozu  sie  geschaffen  ist.  Blickt  nur  einmal  hinein  in  das 
menschliche  Leben,  ihr  werdet  ausfinden,  dass  sich  etwas  so 
Hineingeborenes  nicht  verdrängen  lässt.  Ist  es  doch  auch  ge- 
schichtlich erwiesen,  dass  manche  Weibmänner  grosse  Kinder- 
erzieher waren  und  in  vielen  weiblichen  Fächern  gutes  ge- 
leistet haben.  Bei  so  manchem  ist  sein  wahres  Geschlecht 
nur  durch  Zufall  oder  Unglück  entdeckt  worden  zum  Erstaunen 


104 


der  Umgebung,  welche  so  etwas  nicht  ahnte.  Ich  selbst 
bin  vom  14.  bis  2 0.  .Jahr  beständig  als 
Mädchen  aufgetreten  und  später  auch 
noch  sehr  oft  6 Monate  und  länger  und 
wenn  ich  als  Mann  arbeitete,  so  war  nach  Feierabend  der 
Mann  gleich  wieder  in  ein  Weib  gekleidet  und  hatte  keine 
Ruhe  ausser  in  den  Unterrocken.  Aber  weil  man  sich  schämt 
vor  Entdeckung  und  vor  Polizei,  so  fügt  man  sich  unter 
Qualen  diesen  Gewaltmassregeln.  Ich  habe  schon  viel  ge- 
grübelt  über  männliche  Vorteile  und  weibliche  Nachteile,  aber 
am  Ende  wünschte  ich  stets  ein  Weib  zu  sein,  selbst  Mutter 
wäre  ich  gern  gewesen,  und  alle  meine  Träume  sind  als 
Weib  und  Mutter.  Deshalb,  liebe  Mütter,  lasst  euren  Kindern 
doch  die  Freiheit  und  stillt  ihr  Verlangen,  sie  werden  es 
euch  danken;  wenn  sich  beide  nach  ihrer  Na- 
tur bewegen  können,  so  finden  sie  sich 
als  Paare  zusammen  und  die  gleichge- 
schlechtliche Liebe  verschwindet  von 
selbst  mehr  und  mehr.  Durch  die  heutige  Unduld- 
samkeit werden  in  Wirklichkeit  sittliche  Menschen  in  unmo- 
ralische Handlungen  hineingezogen,  deshalb  sollten  alle  mensch- 
lichen Fragen  und  auch  diese  offen  besprochen  werden,  damit 
jeder  über  seine  Natur  aufgeklärt  wird.  Ueber  die  Homo- 
sexuellen ist  doch  so  viel  geschrieben,  über  uns  Effeminierte 
aber  fast  garnichts.  Schenkt  doch  diesem  Thema,  werte 
Frauen,  etwas  Aufmerksamkeit,  damit  die  nächste  Generation 
glücklicher  werde  als  wir  es  sind. 

Mit  Gruss 
John  0.“ 

Nachdem  ich  diesen  Brief  gelesen  hatte,  trat  ich  mit  0. 
in  schriftlichen  Verkehr  und  fand  meine  Vermutung,  dass  es 
sich  um  einen  typischen  Vertreter  der  hier  behandelten 
Gruppe  handelt,  vollauf  bestätigt.  Aus  seinen  recht  ausführ- 
lichen Mitteilungen,  die  vielfach  dasselbe  in  immer  neuen  Wen- 
dungen und  Beleuchtungen  wiederholen,  extrahiere  ich  das  Be- 
merkenswerteste. 

„Ich  bin  — so  schreibt  0.  — 1862  geboren.  Mein  Vater 
war  10  oder  mehr  Jahre  Tyroler  Kaiserjäger,  Hornist  und 


105 


machte  59  und  66  mit.  Drei  Brüder  sind  kinderlos,  meine 
einzige  Schwester  hat  zwei.  Ein  Bruder  ist  verheiratet  mit 
einer  Norwegerin  in  Amerika,  der  andere  lebt  mit  einer  Witwe. 
Von  Mutterseite  haben  wir  eine  sehr  grosse  Verwandtschaft, 
Grossvater  zeugte  13  Kinder  mit  zwei  Frauen,  mit  der  ersten 
3 und  10  mit  der  zweiten,  die  hochbejahrt  1886  starb.  Gross- 
vater starb  1873  an  Lungenentzündung  mit  63  Jahren.  Alle 
Tanten  und  Onkel  von  Mutterseite  haben  viele  Kinder.  Mein 
Vater  und  meine  Mutter  waren  beide  in  H.,  Vorarlberg,  ge- 
boren, BO  auch  wir.  Vater  starb  67  an  der  Auszehrung,  er 
soll  viel  getrunken  haben.  Mutter  starb  1%  Jahre  später, 
sie  soll  sich  am  kranken  Vater  angesteckt  haben.  Ich  soll  das 
Ebenbild  der  Mutter  sein.  Wie  ich  später  erfuhr  habe  ich  noch 
Mädchenkleider  getragen,  als  mein  2 Jahre  jüngerer  Bruder 
schon  Hosen  hatte.  Mutter  erzählte,  ich  hätte 
keine  Hosen  haben  wollen  und  mich  so 
sehr  dagegen  gewehrt,  deshalb  behielt  ich  die 
Röcke;  und  da  meine  Schwester  ein  Jahr  älter  war,  konnte 
ich  ihre  Kleider  auf  tragen,  bis  Mutter  1868  starb.  Die  Tanten 
zwangen  mich  dann  zu  Knabenkleidern,  meine  Schwester  kam 
zu  einer  Tante,  welche  mehrere  Kilometer  von  uns  entfernt 
wohnte.  Mutter  soll  sich  vor  meiner  Geburt  ein  Mädchen  ge- 
wünscht haben.  Grossvater  hätte  mir  die  Mädchenkleider  ge- 
lassen, wenn  die  Tanten  nicht  so  sehr  dagegen  gewesen  wären. 
Der  Arzt  soll  gesagt  haben,  ich  werde  ein  fester  Junge 
werden.  Ich  erinnere  mich  aber  ganz  deut- 
lich, ich  wollte  immer  nur  Mädchen  sein, 
und  von  Verwandten  und  Bekannten  wurde  ich  mit  Worten 
wie  „Madli“,  „Mädchengesicht“  oder  „Johanna“  geneckt.  Auch 
sollen  manche  gefragt  haben,  warum  denn  das  Mädchen  Kna- 
benkleider trägt.  Lange  vorher  freute  ich  mich  schon  auf 
Fastnacht,  indem  es  den  Tag  erlaubt  war,  als  Mädchen  her- 
umzubummeln. Stets  war  ich,  wenn  ich  meine  Tante  sich  an- 
kleiden  sah,  neidisch,  dass  ich  nicht  mich  auch  als  Mädchen 
kleiden  konnte.  Da  Tante  und  Onkel  viel  frommer  waren  als 
mein  Grossvater  und  Vater,  so  brachten  sie  mich  bald  in 
ein  katholisches  Waisenhaus  zu  den  Barmherzigen  Schwestern. 
Nach  einiger  Zeit  wurde  ich  dort  der  Liebling  der  Schwester 


106 


Oberin  Joachima,  sass  oft  auf  ihrem  Schoss.  Sie  küsste  mich 
viel  und  mir  wurde  vieles  erlaubt,  was  andere  Kinder  nicht 
durften.  Auch  war  ich  ausersehen  alle  Gänge  zum  Herrn 
Pfarrer  in  den  Ort  zu  machen,  selbst  in  der-  Nacht  wurde  ich 
geweckt,  um  den  Priester  zu  einem  Sterbenden  zu  holen.  Die 
Oberin  sagte,  der  Hansel  führt  alles  am  besten  aus,  ohne  zu 
fragen,  behält  auch  alles  für  sich  oder  vergisst  es  nachher. 
Meine  Schwester  hat  mir  später,  als  ich  schon  in  Amerika 
war,  oft  Grüsse  von  der  Schwester  Oberin  geschrieben;  sie 
erinnere  sich  heute  noch,  dass  ich  ein  so  verständliches  Kind 
gewesen  wäre  und  zu  allem  zu  gebrauchen.  Auch  ich  habe 
mich  im  späteren  Leben  oft  an  die  Oberin  erinnert,  mehr  wie 
an  irgend  jemand  anders,  und  oft  gedacht,  dass  jene  Oberin 
eine  gute  Mutter  geworden  wäre.  Mädchenkleider 
wollte  sie  mir  aber  nicht  erlauben,  im 
Gegenteil  sie  redete  mir  diesen  Gedanken  stets  aus  und  ar- 
beitete darauf  hin,  dass  ich  nach  Brixen  in  Tyrol  ins  bischöf- 
liche Knabenseminar  gehen  sollte,  aber  ich  wollte  ins  Lehrer- 
seminar nach  Bregenz,  weil  ich  dachte  später,  wenn  ich  das 
Lehrerseminar  absolviert  habe,  würde  ich  als  Gouver- 
nante oder  Kindererzieherin  gehen.  Ich 
hatte  schon  damals  fest  vor,  wenn  ich 
einmal  selbständig  werde,  als  Frau  auf- 
zutreten. Aber  da  ich  einsah,  dass  mein  Vormund  das 
väterliche  Vermögen  nicht  anders  hergeben  würde,  als  wenn 
ich  nach  Brixen  ging,  so  sann  ich  auf  Mittel,  dies  zu  ver- 
eiteln. Die  Oberin  erzählte  mir  immer,  wie  schön  ich  es  als 
Priester  haben  würde,  wenn  die  Eltern  aus  dem  Feg- 
feuer erlöst  werden,  sobald  ich  einmal  die  erste  heilige  Messe 
gelesen  hätte  und  vieles  mehr.  Aber  ich  betete  schon  damals 
nur  deshalb,  weil  es  die  Oberin  wünschte.  Auch  nahm  mich 
die  Oberin  oft  mit,  wenn  sie  in  die  anderen  Orte  ging,  um  die 
dortigen  Schwestern  zu  besuchen,  ich  war  dort  mit  ihr  immer 
unter  den  barmherzigen  Schwestern,  die  mich  gut  behandelten 
und  als  Beispiel  den  Kindern  vorstellten.  Sonst  war  es 
Sitte,  dass  das  beste  Mädchen  als  Be- 
gl.eiterin  mitkam.  aber  die  Oberin  zog 
mich  vor.  Einmal  nahm  sie  mich  sogar  mit  ins  Mutter- 


107 


haus  bei  Feldkirch,  und  ich  hörte,  als  die  dortige  Oberin, 
welche  ihre  Vorgesetzte  war.  sie  fragte,  warum  sie  denn  einen 
Knaben  als  Begleiter  habe,  sagte  sie;  ., Hochwürdige  Schwester 
Oberin,  der  Hansel  ist  das  artigste,  aufrichtigste  und  schweig- 
samste Kind  in  meiner  Obhut  und  ersetzt  in  vieler 
Beziehung  manches  Mädchen."  Da  ich  nun  sah. 
dass  man  mir  das  Lehrerstudium  nicht  gestattete,  so  ging 
mir  trotz  der  frommen  Erziehung  immer  wieder  der  Gedanke 
durch  den  Kopf,  wie  ich  heimlich  einen  Mädchenanzug  bei- 
seite schaffen  konnte,  um  in  ihm  fortzulaufen.  Und  als  ich 
nun  bei  einem  reichen  Gutsbesitzer,  der  viel  Land,  Kühe  und 
Alphütten  besass,  als  allgemeiner  Bursche  eingetreten  war, 
stahl  ich  bei  Gelegenheit  einem  Mädchen,  deren  Beschreibung 
auf  mich  passte,  den  Heimatschein,  zog  ihre  Sachen  an  und 
verbrannte  in  der  Nacht  meine  Knabenkleider.  Alles  Knaben- 
artige liess  ich  in  Voralberg  und  ging  nach  der  Schweiz,  so 
dass  die  Verwandten  von  mir  nichts  wussten.  Ich  hatte  Angst 
zu  schreiben  und  fürchtete  auch,  man  könnte  mich  wieder 
zwingen,  als  Knabe  zu  gehen.  Ich  arbeitete  nun  zuerst  als 
Kindermädchen  und  in  der  allgemeinen  Hausarbeit,  nebenbei 
lernte  ich  in  einer  Stickerei.  Die  erste  Meisterin  gefiel  mir 
nicht,  aber  später  bekam  ich  eine  bessere  und  auch  mehr  Lohn. 
Sie  fand  aber  leider  heraus,  dass  ich  kein  richtiges  Mädchen 
war,  doch  machte  sie  nicht  viel  davon,  weil  sie  meinte,  sie 
hätte  noch  nie  eine  so  gute  Arbeiterin  gehabt.  Inzwischen 
wurde  ich  stark  und  nicht  übel,  so  dass  mir  die  Jungen  nach- 
stellten. Die  Meisterin  gab  mir  manchen  guten  Rat,  ich 
folgte  ihr  und  ging  auch  nicht  mehr  tanzen  und  abends  in 
Knabengesellschaften.  Ich  fühlte  mich  damals  ganz  als  Mäd- 
chen, nur  wenn  die  Buben  zu  frech  wurden,  da  fiel  mir  ein. 
dass  ich  leider  keines  war.  Am  meisten  freute  ich 
mich  auf  Sonntag,  wo  ich  mit  den  Kin- 
dern spazieren  konnte  im  gestärkten 
Unterrock,  weisser  Schürze  und  Häub- 
chen, dann  fühlte  ich  mich  wie  im  Himmel- 
reich; nur  wenn  mir  ein  schöner  Mann  freundlich  nach- 
blickte, ärgerte  ich  mich,  dass  ich  keine  besseren  Brüste  und 
Hüften  hatte.  Wie  manchmal,  wenn  ich  ein  Mädchen  baden 


108 


sah,  wünschte  ich  ihren  Körperbau  zu  besitzen,  hätte  ihnen 
gerne  meinen  dafür  gelassen.  Als  ich  noch  religiös  war,  betete 
ich,  ,,Lieber  Gott  mache  mich  doch  zum  Mädchen".  Mit  16^2 
Jahren  überwältigte  mich  ein  Mann,  jedoch  ich  wehrte  mich, 
er  aber  verschrie  mich  als  Zwitter,  so  hatte  ich  keine  Ruhe 
mehr,  ich  musste  in  eine  andere  Gegend  und  zog  nach  Frank- 
reich, wo  ich  in  Luneville  als  Stickerin  anfing.  Ich  hielt  dort 
Freundschaft  mit  einem  Mädchen,  die  entgegengesetzt  wie  ich 
war,  nämlich  männisch,  und  als  sie  in  die  Stickerei  nach 
St.  Quentin  ging,  folgte  ich  ihr.  Nicht  lange  darauf  lockte 
micb  ein  Sticker  nach  Paris,  wo  ich  mehr  verdienen  würde. 
Dort  hatte  ich  Gelegenheit  zuerst  mit  Frauen  zusammen  zu 
kommen,  die  ndt  anderen  Frauen  zusammen  lebten  in  ehe- 
artigem  Bund,  wie  es  eine  in  Frankreich  ziemlich  verbreitete 
Sitte  ist. 

Da  ich  nun  eine  gute  Arbeiterin  auf  Seide  war,  so  ersuchten 
manchmal  Sticker  meinem  Arbeitgeber,  mich  ihnen  für  einige 
Zeit  abzutreten,  da  ihre  Stickerinnen  nicht  so  geschickt  waren 
als  ich.  So  kam  es  einmal,  dass  ich  gezwungen  war  mit  einem 
gleich  alten  Mädchen  zusammen  zu  schlafen.  Ich  hatte  stets 
die  Gewohnheit  das  Hemd  so  zwischen  die  Beine  zu  legen, 
dass  niemand  meine  Organe  sehen  konnte.  Mitten  in  der  Nacht 
aber  weckte  mich  meine  Bettgenossin  auf  und  sagte  mir,  dass 
ich  nicht  richtig  geschaffen  sei.  Ich  schämte  mich  zuerst  und 
frug,  wie  sie  das  behaupten  könne,  sie  sagte:  „ich  berühre 
stets  meine  Schlafgenossinnen  und  fand  so,  dass  du  anders 
bist“.  Ich  bat  sie  nichts  zu  verraten,  sonst  müsste  ich  so- 
gleich verschwinden.  Sie  sagte,  du  brauchst  dich  nicht  zu 
schämen,  es  gibt  noch  andere  Mädchen,  die  sind  wie  du,  und 
bat  mich  ich  solle  nichts  sagen,  dass  sie  mich  berührt  hätte. 
Jedoch  am  Morgen  liess  sie  mir  keine  Ruhe,  ich  sollte  mich 
ihr  zeigen,  sie  könne  mir  vielleicht  einen  Rat  geben;  und 
durch  ihr  vertrauliches  Reden  erlaubte  ich  ihr  schliesslich, 
mich  zu  untersuchen.  Dieses  Mädchen  war  die  erste  mit  der 
ich  in  geschlechtliche  Beziehungen  trat,  wobei  ich 
succubus  war.  Ich  hatte  den  sehnlichen  Wunsch  von 
ihr  Mutter  zu  werden.  Sie  heiratete  aber  bald  wegen  Geld, 
wollte  jedoch  haben,  ich  sollte  zu  ihr  ziehen.  ' Aber  ich  merkte, 


109 


dass  auch  ihr  Mann  mir  nicht  abhold  war,  und  so  traute  ich 
dem  Frieden  nicht.  Doch  besuchte  ich  sie  öfter;  einmal  war 
der  Mann  allein  zu  Hause,  er  lud  mich  ein  zu  w'arten  bis  die 
Frau  käme,  Hess  mich  viel  trinken  und  plötzlich  umfasste  er 
mich,  wollte  mich  küssen  und  gewaltsam  gebrauchen,  wobei 
er  herausfand,  dass  ich  kein  Mädchen  war.  Da  bedrohte  er 
mich  mit  der  Polizei,  wenn  ich  nicht  die  Gegend  verlasse.  Da 
entschloss  ich  mich  wieder  als  Mann  zu  gehen,  und  fand  als 
solcher  Arbeit  bei  Claparede,  St.  Denis  an  der  Seine,  trug 
aber  die  Mannestracht  nur  während  der  Arbeit,  zu  Hause 
legte  ich  sofort  die  Frauengewänder  an 
und  hielt  mich  von  allem  so  fern  wie  möglich.  Es  gefiel  mir 
aber  garnicht  unter  den  Männern  zu  arbeiten,  noch  weniger 
behagte  mir  die  Kleidung  und  immer  befürchtete  ich  noch, 
dass  der  Mann  meiner  Freundin  mich  anzeigen  würde.  Der 
Zufall  gab  es,  dass  ich  dieser  eines  Abends  begegnete,  sie 
drang  in  mich,  doch  wieder  mit  ihr  zu  leben,  sie  sei  ihres 
Mannes  über,  er  wäre  zu  leidenschaftlich,  auch  hätte  sie  sich 
die  Ehe  besser  vorgestellt.  Ihr  Mann  hätte  ihr  alles  viel 
schöner  versprochen,  sie  sagte,  ich  solle  doch  ihre  Freundin 
werden,  sie  würde  nie  wieder  mit  einem  anderen  Mann  Zu- 
sammengehen. Ich  wollte  nicht,  indem  ich  damals  selbst  an 
mir  zweifelte;  wenn  ich  damals  die  Erfahrungen  und  Kenntnisse 
gehabt  hätte,  die  ich  heute  habe,  ich  hätte  ihr  die  Frau  er- 
setzt. Damals  aber  betrachtete  ich  es  als  Schlechtigkeit,  litt 
sehr  viel  unter  Selbstmordgedanken,  und  hatte  keine  Freude 
mehr  an  einem  Leben  wie  ich  es  führte.  So  verliess  ich  1882 
Frankreich  und  ging  nach  New  York.  Fand  auch  hier  bald 
Arbeit  als  Stickerin,  wurde  aber  entdeckt  und  nahm  dann 
eine  Stellung  als  Magd  auf  einem  Bauerngut  im  Staate  New 
York  an,  denn  ich  dachte,  ich  würde  dort  unbehelligt  leben 
können.  Die  Bauern  hatten  damals  grosse  Not  Mägde  zu 
bekommen.  Eine  Weile  ging  es  auch  ganz  gut,  aber  eines 
Tages  wurde  der  Bauer  in  Abwesenheit  seiner  Frau  zudring- 
lich, ich  fürchtete  Entdeckung  und  als  ich  las,  dass  in  Jersey- 
City  Stickerinnen  gesucht  wurden,  verliess  ich  den  Platz  und 
bekam  in  Jersey  C.  gute  Arbeit.  Damals  kaufte  ich  mir  die 
modernste  Damentoilette,  so  dass  ich  reizend  aussah,  gab 


110 


meine  ganzen  Ersparnisse  dafür  aus,  denn  ich  dachte,  hier 
lange  zu  arbeiten  und  viel  Geld  zu  verdienen;  jedoch  die 
anderen  Mädchen  machten  mir  die  Arbeit  sauer,  deshalb  gab 
ich  sie  auf.  Einige  Wochen  konnte  ich  noch  gut  leben.  In- 
zwischen lernte  ich  einen  Sticker  kennen,  der  mich  nicht  aus 
den  Augen  liess  und  mir  überall  nachging.  In  einer  Sauf- 
nacht fand  er  heraus,  dass  ich  kein  Mädchen  war,  ich 
wollte  nichts  mit  ihm  zu  tun  haben,  aber  er  liess  nicht ‘locker 
und  der  Trunk  lieferte  mich  ihm  aus;  unter  seiner  Drohung 
er  würde  der  Polizei  anzeigen,  dass  ich  Maskerade  treibe»  er- 
gab ich  mich  seinem  Wüllen.  Er  trieb  mit  mir  paedicatio 
und  fellatio  und  behandelte  mich  vollkommen  als  Frau,  kaufte 
mir  sogar  schöne  Toiletten,  so  dass  ich  damals  ganz  kokett 
war.  Es  ging  einige  Monate  in  denen  ich  mich  je- 
doch von  Tag  zu  Tag  elender  und  un- 
glücklicher fühlte  und  eines  Morgens  packte  ich 
alles  zusammen,  verkaufte  als  er  fort  war  alles,  was  W^ert 
hatte,  schickte  meine  Frauenkleider  fort,  zog  mich  als  Mann 
an  und  fuhr  nach  ^^lilwaukee.  Hier  arbeitete  ich  als  Mann 
auf  einem  Holzplatz,  dann  im  Winter  als  Koch;  da  ich  nun 
aber  doch  viel  lieber  Frauensachen  trug,  ging  ich  im  Früh- 
jahr als  Köchin  nach  Montana.  Dort  aber  wieder  verraten 
machte  ich  mich  nach  S.  Francisco  auf,  wo  ich  im  Februar 
1Ö85  eintraf  und  heute  noch  wohne.  Bald  nachdem  ich  dort 
angekommen  war,  wurde  der  Frau,  bei  der  ich  wohnte  und 
boardete,  ein  Mädchen  geboren.  Jetzt  begannen  für  mich 
glückliche  Stunden,  indem  ich  das  liebe  kleine  Wesen  pflegen 
und  abwarten  durfte.  W’er  war  froher  als  ich,  wenn  die  Frau 
sagte:  ,, Jenny  — die  weibliche  Anrede  war  mir,  wenn  wir 
allein  waren,  lieber  — Rieh,  und  ich  wollen  ausgehen  oder 
gar  verreisen,  versehen  sie  das  Kind“.  Mit  welcher  Freude  und 
Sorgfalt  nahm  ich  es  aus  seinem  Bettchen,  machte  es  sauber, 
warf  das  nasse  Zeug  in  die  Wasch,  zog  es  wieder  an,  herzte 
und  koste  es  und  ging  spielend  mit  ihm  auf  und  ab.  Ich 
WTisste  genau,  wie  es  eine  Mutter  zu  besorgen  hatte  und  war 
glücklich  wenn  die  Frau  mich  lobte  und  meinte,  ich  wäre  eine 
gute  Mutter  geworden,  ln  den  vier  Jahren,  wo 
ich  das  Kind  hatte  und  ihm  alle  freie 


111 


Zeit  widmete,  habe  ich  nur  ein  einziges 
Mal  geschlechtlichen  Verkehr  gehabt. 
Ich  dachte  überhauptnicht  daran,  denn 
das  Kind  war  mir  viel  zu  lieb.  Lizzie  hing 
sehr  an  mir  und  wollte  bald  nur  von  mir  bedient  sein.  So 
wie  sie  aufwachte,  rief  sie  meinen  Namen.  Der  Vater  war 
sogar  ärgerlich,  weil  sie  mich  viel  lieber  hatte,  als  ihn,  und 
dies  auch  aussprach.  Das  Kind  wuchs  mir  ans  Herz,  als 
wäre  es  mein  eigen,  und  nie  wieder  habe  ich  ein  Kind  so  lieb 
haben  können  wie  dieses.  Und  das  war  auch  gut,  denn  als 
Lizzie  mit  ihren  Eltern  fortzog,  war  ich  ganz  verzweifelt,  so 
gerne  hatte  ich  es.  Um  den  älteren  Knaben  gab  ich  nicht  so 
viel,  tat  allerdings  auch  für  ihn  alles,  wenn  die  Mutter  fort 
war,  küsste  ihn  aber  viel  seltener.  Noch  heute  über- 
lege ich  mir  oft,  ob  ich  nicht  meinen 
Buchhandel  auf  geben  und  lieber  als  Kinds- 
magd gehen  soll.  Die  Erziehung  und  Pflege  der 
Kleinen  ist  mein  höchstes,  sie  im  Sinne  von  Eröbel,  Pesta- 
lozzi und  anderen  grossen  Kinderlehrern  heranzubilden  meine 
ganze  Freude.  Ich  lese  alles  was  ich  über  Kindererziehung  be- 
kommen kann  und  glaube  bestimmt,  wenn  ich  mich 
der  Kinderpflege  ganz  hätte  hingeben 
können,  mein  G e s c h 1 e c h t s s i n n überhaupt 
abgestorben  wäre.  Allerdings  habe  ich  bemerkt, 
dass  mir  fremde  Kinder  nicht  so  lieb  sind  wie  die,  welche 
zum  Haus  gehören.  Inzwischen  hatte  ich  in  S.  Francisco  an- 
gefangen als  Kolporteur  zu  handeln,  ich  suchte  mit  Schund- 
literatur die  Tanzkeller  auf,  nebenbei  mit  sozialistischen 
Schriften  und  nahm  auch  selbst  an  der  Arbeiterbewegung  teil, 
da  ich  mich  jetzt  wieder  ausserhalb  der  Wohnung  als  Mann 
bewegte.  Durch  die  Tanzmädchen  bekam  ich  später  auch  am 
Tage  Arbeit,  wie  Reinigung  ihrer  Zimmer,  musste  ihnen  auch 
manchmal  kochen  und  wurde  mit  ihnen  sehr  vertraut.  Sie 
gaben  mir  oft  die  Kleider,  welche  sie  nicht  mehr  trugen,  so 
dass  mich  viele  Besucher  auch  für  eine  Prostituierte  hielten. 
Damals  trank  ich  auch  viel,  es  war  mir  jetzt  alles  gleich, 
durch  die  Gesellschaft  gewöhnte  ich  mich  an  viel  Schlechtes, 
wovor  ich  allerdings  im  nüchternen  Zustand  Abscheu  hatte. 


112 


Ich  musste  aber  doch  das  Leben  machen,  und  entsprach  es 
mir  damals  so  noch  am  besten,  denn  die  Tänzerinnen,  unter 
denen  manche  Gebildete  waren,  die  einst  in  ihrer  Heimat 
bessere  Tage  gesehen  hatten,  nahmen  mich  so,  wie  ich  nun 
einmal  von  der  Natur  war.  Schliesslich  richtete  ich  mir  mit 
Hülfe  von  einigen  dieser  Mädchen  eine  Wohnung  ein  und  wurde 
ihre  Logierfrau,  kochte  wenn  sie  ihre  Freundinnen  einluden 
und  machte  nebenbei  auch  noch  mein  Geschäft  als  Kolporteur. 
Nur  als  Solcher  brauchte  ich  den  Mann 
zu  spielen.  Leicht  hätte  ich  damals  der  Liebhaber  von 
einem  dieser  Mädchen  werden  können,  aber  ich  hatte  keine 
Lust  dazu  und  arbeitete  lieber  als  dass  ich  mich  von  solchen 
Mädchen  ernähren  liess.  So  bald  ich  nun  Geld  erspart  hatte, 
kaufte  ich  mir  ein  kleines  Grundstück,  baute  mir  ein  Haus 
und  gab  die  Tanzmädchenarbeit  ganz  auf.  In  jener  Zeit  hatte 
ich  mich  in  ein  Mädchen  von  männlichem  Wesen  sehr  stark 
verliebt,  jedoch  sie  verstand  mich  nicht  und  ich  konnte  sie 
wohl  nicht  richtig  nehmen,  kurz  sie  heiratete  einen  andern 
und  soll  nie  glücklich  gewesen  sein.  In  den  90er  Jahren  fing 
ich  dann  an  für  deutsche  Zeitungen  zu  reisen,  bereiste  Kali- 
fornien. Oregon  und  Washington,  alle  drei  Staaten  abwech- 
selnd und  betrieb  noch  dabei  in  S.  Francisco  den  Kolportage- 
buchhandel. Ich  hoffte,  ich  würde  bei  den  Reisen  meine 
weibische  Natur  vergessen,  aber  vergebens,  sie  kam  erst  recht 
zum  Vorschein.  Eigentlich  glücklich  fühlte 
ich  mich  nur  im  Traum.  Da  träumte  ich,  „ich 
wäre  ein  Mädchen  und  ein  junger  Mann  stellte  mir  nach,  den 
ich  auch  liebte,  ich  dachte,  wenn  er  sich  doch  an  meine  Seite 
legen  würde,  aber  als  Mädchen  hatte  ich  ein  zurückhaltendes 
Benehmen,  doch  mein  Wehren  war  nur  Schein“ 
und  dann  träumte  ich  wieder,  „ich  sei  guter  Hoffnung  und 
schämte  mich  nicht  eine  uneheliche  Mutter  zu  werden,  nur 
der  Gedanke  beschäftigte  mich,  wird  der  Liebhaber  mir  auch 
helfen  das  Kind  zu  ernähren?  Die  Mutterwehen  setzten  ein 
und  kaum  w'ar  das  Kind  geboren  und  gewaschen,  so  verküsste 
ich  es  und  liess  meinen\  Schatz  von  der  Geburt  wissen  und 
als  er  an  das  Bett  kam,  streckte  ich  ihm  das  Kind  entgegen, 
worauf  er  mich  küsste  und  ich  vor  Freude  weinend  fragte, 


113 


ob  wir  beide  nun  nicht  auch  das  Kind  erziehen  könnten,  ich 
legte  das  Kleine  dann  an  meine  Brust  und  spielte  mit  ihm“; 
noch  wmnn  ich  erwachte  suchte  ich  es  neben  mir,  da 
immer  noch  das  Muttergefühl  da  war.  Aber  dann  begriff  ich 
zu  meinem  Leid,  dass  es  nur  ein  Traum  war  und  beim  Fühlen 
meines  Leibes  merkte  ich,  dass  ich  eine  Pollution  gehabt 
hatte.  Ich  aber  fühlte  mich  sehr  befriedigt  und  habe  manch- 
mal schon  jahrelang  keinen  Verkehr  gehabt,  da  mich  diese 
und  ähnliche  Träume,  wie  ich  sie  seit  ungefähr  1881  oft  hatte, 
glücklich  und  zufrieden  machten.  Heute  träume  ich  schon, 
ich  sei  eine  ältere  Frau,  die  zehn  und  mehr  Kinder  um  sich 
hat,  manchmal  sind  es  auch  Grosskinder  und  wir  sprechen 
über  Handarbeiten,  neue  Moden,  Schleier,  Kindererziehung  und 
vieles  andere,  so  dass  ich  mich  im  Traum  ganz  als  Weib  be- 
tätige. 1904  habe  ich  in  einigen  Heirats- 
zeitungen angezeigt,  dass  ein  effemi- 
nierter  Mann  eine  männische  Frau  sucht , 
ich  könnte  kochen,  nähen,  waschen,  bügeln  etc.  Ich  bekam 
viele  Antworten,  aber  meistens  waren  es  raffinierte  Weiber, 
denen  es  nur  um  das  Geld  zu  tun  war.  Im  März  1906  kam 
eine  entfernte  Verwandte  von  mir  zu  Besuch  aus  Dakota,  sie 
verleitete  mich  zum  Verkehr,  aber  es  gelang  nicht,  so  dass 
sie  mich  nachher  neckte  ich  wäre  nichts  wmrt.  Sie  war  recht 
weiblich,  aber  im  Juni  desselben  Jahres  wohnte  in  meiner 
Nähe  eine  Amerikanerin  mit  starkem  männlichem  Charakter, 
gut  geschult,  wir  wurden  befreundet  und  sprachen  viel  mit 
einander.  Ich  liebte  sie  sehr  und  wäre  gern  ihr  Weib  ge- 
wmrden,  aber  sie  bot  es  mir  nicht  an  und  mich  selbst  anzu- 
tragen bringe  ich  nicht  fertig.  Vom  Weibe  erwarte 
ich  den  Angriff  und  die  Reizung,  doch  muss  es  ein 
energisches,  starkes  Weib  sein,  die  mir  imponiert 
geistig  und  körperlich,  auch  ein  ganz  klein 
wenig  Schnurrbart  habe  ich  bei  ihr  gern,  ich  würde  sie  auch 
die  Männertracht  tragen  lassen,  so  lange  sie  bei  mir  die  Un- 
terröcke duldet  und  will  ganz  und  gar  die  Frauenrolle  durch- 
führen, wenn  sie  sich  als  Mann  bewähren  würde.  In  der  weib- 
lichen Garderobe  bin  ich  ganz  wie  die  Frauen;  was  andere 
tragen,  muss  ich  auch  haben  nur  darf  die  weibliche  Kleidung 

Hl rschfeld,  Die  Transvestiten.  8 


114 


keinen  männlichen  Schnitt  haben  oder  sonst  männlichen  An- 
zügen ähnlich  sein,  mein  Geschmack  ist  ganz  weiblich.  Ich 
selbst  glaube,  ich  hätte  der  Menschheit  als  Weib  mehr  ge- 
nützt als  ich  es  so  konnte.  Meine  früheste  Neigung  war  die 
Kindererziehung  und  so  lange  ich  unter  Kindern  war  kamen 
mir  nie  sinnliche  Gedanken.  Wie  kann  man  denn  behaupten, 
alles  das  sei  nur  eine  launische  Einbildung,  wenn  man  doch 
die  Neigung  stets  wieder  vor  sich  hat,  so  sehr  man  sie  auch 
mit  bester  Absicht  zurückzudrängen  sucht.  Ich  bin  jetzt  47 
Jahre  alt,  in  Oesterreich  geboren,  habe  in  der  Schweiz  und 
in  Frankreich  gearbeitet,  seit  25  Jahren  in  Amerika,  seit 
1885  in  Kalifornien,  bin  für  eine  der  grössten  deutschen  Zei- 
tungen Milwaukees  gereist  und  war  stets  überall  ein  will- 
kommener Gast  und  kann  in  jedes  Haus  wieder  eintreten,  wo 
ich  einmal  gewesen  bin,  bin  noch  nie  eines  Vergehens  ange- 
klagt gewiesen  und  heute  noch  ist  es  meine  höchste  Glück- 
seligkeit ein  neues  Prinzesskleid,  einen  neuen  Blumenhut  und 
Spitzenunterröcke  zu  tragen,  auch  Handarbeiten  würde  ich 
noch  gerne  machen,  habe  aber  keine  Zeit  mehr  dazu  und 
wenn  ich  eine  energische  Männin  als  Frau  fände,  dann  würde 
ich  ihr  zu  Liebe  mich  allen  Arbeiten  unterziehen  wie  sie  nach 
heutiger  Ordnung  der  Frau  zustehen,  ohne  mich  zu  scheuen, 
im  Gegenteil  würde  ich  die  höchste  Wonne  geniessen 
als  Weib  zu  leben  wenn  ich  nur  die  verhassten  Mannskleider 
nicht  mehr  tragen  brauchte.  Heute  trage  ich  auf  meinem 
Grundstück  schon  seit  Jahren  nur  die  Frauentracht,  schreibe 
auch  dieses  darin  mit  weissem  Häubchen  und  weisser  Schürze, 
schmücke  mein  Schlafzimmer  nach  Frauenart  und  betritt 
selten  ein  Mann  mein  Zimmer,  denn  ein  Männer- 
freund bin  ich  nicht.  Frauengespräche  befriedigen 
mich  mehr  und  gebildeten  Frauen  neige  ich  mich  stets,  i n - 
dem  ich  solche  als  höherstehend  be- 
trachte. 

Deshalb  agitiere  ich  stets  für  Gleichberechtigung  und 
ich  glaube,  wenn  einmal  ganz  und  gar  Freiheit  wäre,  manche 
Frau  besser  die  Waffen  führte  als  der  Effeminierte,  der  je- 
doch anders  seine  Pflicht  tun  würde.  Wenn  sich  die  Effcmi- 
nierten  mehr  offen  bekennen  würden,  wäre  es  um  ihre  Sache 


115 


besser  bestellt,  warum  sollen  wir  uns  denn  schämen!  Ziemt 
uns  denn  das  Weibliche  nacht  besser  als  manchem  gelehrten 
Weibe?  Ludwig  Büchner  „Am  Sterbelager  des  Jahrhunderts'' 
S.  327  sagt:  „Umgekehrt  hat  es  zu  keiner  Zeit  an  Männern 
gefehlt  und  fehlt  es  auch  heute  nicht,  welche  mehr  Weib  als 
Mann  sind  und  besser  verdient  hätten  hinter  dem  Strick- 
strumpf oder  an  den  Spinnrocken  zu  sitzen.“  Ich  kann  es 
nicht  begreifen,  dass  sich  die  Wissenschaft  nicht  mit  den  Effe- 
minierten  abgibt,  wo  es  doch  etwas  alltägliches  und  natür- 
liches ist;  und  leider  werden  wir  fälschlich  auch  noch  oft  für 
Päder asten  gehalten.“ 


Fall  XIV. 

Ein  amerikanischer  Journalist,  33  Jahre  alt,  schreibt:  Von 
frühester  Jugend  her  hatte  ich  einen  Drang,  in  weiblicher  Klei- 
dung zu  erscheinen,  und  wenn  immer  sich  eine  Gelegenheit  bot, 
schaffte  ich  mir  elegante  Wäschestücke,  seidene  Unterröcke  amd 
was  immer  in  der  Mode  war,  an.  Schon  als  Knabe 
entwendete  ich  meiner  Schwester  Kleidungsstücke  und  trug 
sie  heimlich,  bis  ich  später,  als  meine  Mutter  starb,  in  die 
Lage  kam,  meinen  Wünschen  vollen  Lauf  zu  lassen  und  so 
kam  ich  bald  in  den  Besitz  einer  Garderobe,  die  der  der  ele- 
gantesten Modedame  gleichkam.  Obwohl  tagsüber  gezwungen, 
als  Mann  zu  erscheinen,  trage  ich  doch  unter  dieser  Kleidung 
vollständige  Damenunterwäsche,  Korsett,  durchbrochene 
Strümpfe  und  was  sonst  noch  einer  Frau  zukommt,  selbst 
ein  Armband  und  Frauenlackstiefeletten  mit  zierlichen  hohen 
Hacken.  Wenn  es  Abend  wird,  atme  ich  er- 
leichtert auf,  denn  dann  fällt  die  lästige 
Maske  und  ich  fühle  mich  ganz  Weib.  Einge- 
hüllt in  ein  Tea  Gown  (Hauskleid)  von  eleganter  Ausstattung 
und  rauschenden  Seidenunterröcken  bin  ich  befähigt,  erst  recht 
meinen  Liebhabereien^  daromter  die  Erforschung  der  Prähistorie, 
einem  ernsten  Studium  oder  mit  Routine  Geschäften  nachzu- 
gehen. Ein  Gefühl  der  Ruhe  umfängt  mich, 
•?  das  mir  bei  Tag  in  männlicher  Kleidung  unmöglich  ist.  Ob- 

8* 


116 


wohl  völlig  ein  Weib,  empfinde  ich  doch  nicht  das  Bedürfnis, 
mich  einem  Manne  hinzugebeu.  Wohl  schmeichelt  es  mir, 
wenn  ich  in  Frauenkleidung  Gefallen  errege,  aber  irgend 
welche  Wünsche  meinem  eigenen  Geschlecht  gegenüber  hege 
ich  nicht.  Im  Gegenteil.  Trotz  meiner  ausgesprochenen 
weibischen  Gewohnheiten,  heiratete  ich  eine  Dame  und  bin 
Vater  eines  kräftigen,  schönen  Mädchens,  welches  keine  ' den 
meinen  im  entferntesten  ähnliche  Neigungen  hegt.  Meine 
Frau,  eine  energische,  gebildete  Dame, 
wusste  genau  von  meiner  Leidenschaft,  glaubte  aber  im  Laufe 
der  Zeit  mich  davon  abzubringen,  was  aber  nicht  gelang, 
sondern  ich  gab  mich  zwar  meinen  ehelichen  Pflichten,  noch 
mehr  aber  meinen  Gewohnheiten  hin.  Einer  angebotenen 
Scheidung  wich  meine  Frau  aus  und  ist  jetzt,  soweit  es  ihr 
möglich  ist,  einverstanden  und  gegenwärtig,  wo  ich  diese 
Zeilen  schreibe,  schwanger.  Mein  Habitus  ist  durchaus  männ- 
lich, mit  Ausnahme  des  Beckens  und  der  Waden,  die 
weibische  Formen  auf  weisen.  Resümee:  Aenssere  Erscheinung 
männlich,  wenn  in  Frauenkleidern  vollständig  die  ent- 
sprechende Figur,  Taille  20  Zoll,  Brust  34  Zoll,  Figur  hoch 
176  cm,  Gewicht  125  Pfund,  Hände  lang  und  schmal,  Gefühl 
Weib.  Wenn  in  Männerkleidung  ein  gewisses  Unbehagen. 
Wenn  ich  eine  elegante  Frau  oder  Schauspielerin  sehe,  denke 
ich,  wie  ich  wohl  in  deren  Kleidung  aussehen  würde.  Ohr- 
ringe, Perlen,  Kollier  und  ähnlichen  Schmuck  habe  ich  in 
Fülle  und  auf  Bällen  schwelge  ich  in  dem  Gedanken,  mich  in 
Frauenkleidern  zeigen  zu  dürfen.  Wenn  möglich,  werde  ich 
männliche  Kleidung  vollständig  ablegen.“*) 

Fall  XV. 

Vor  einer  Reihe  von  Jahren  wurde  auf  einem  Bau  im 
Osten  Berlins  ein  junger  Anstreicher  sistiert;  es  war  gegen 
ihn  eine  Anzeige  von  einem  Manne  eingegangen,  der  be- 
nauptete,  dass  seine  Gattin  mit  diesem  Maler  die  Ehe  breche. 
Zur  grossen  Ueberraschung  nicht  am  wenigsten  des  eifer- 

•)  Dieser  Fall  wurde  bereits  von  Dr.  Iwan  Bloch  im  „Sexualleben  unserer 
Zeit“  publiziert. 


117 


süchtigen  Ehemannes  und  seiner  Frau  ergab  sich  auf  der 
Polizei,  dass  der  Verdächtige  überhaupt  nicht  dem  männ- 
lichen, sondern  dem  weiblichen  Geschlecht  angehörte,  worauf 
dann  ihre  Entlassung  erfolgte.  Der  Fall  ging  damals  durch 
die  Berliner  Zeitungen.  Mein  verstorbener  Kollege  Dr.  med. 
Lubowski  in  Charlottenburg,  hatte  diese  Person  in  seiner 
Praxis  kennen  gelernt,  nahm  an  ihrem  Geschick  lebhaften 
Anteil  und  führte  sie  mir  zu.  Leider  entschwand  sie  nach 
einigen  Monaten  wieder  unseren  Blicken.  Ihren  Erzählungen 
und  Aufzeichnungen,  welche  im  Wesentlichen  auf  uns  einen 
durchaus  glaubwürdigen  Eindruck  machten,  von  ihr  unter 
anderem  auch  durch  ein  Gruppenbild  bestätigt  wurden,  das 
sie  als  Matrose  auf  Deck  eines  Schiffes  zeigt,  entnehmen  wir 
folgendes: 

Helene  N.  wurde  im  April  1880  zu  Berlin  geboren.  Als 
wir  sie  kennen  lernten,  war  sie  27  Jahre.  Ihr  Vater  war  an 
Blinddarmentzündung  gestorben,  ihre  Mutter  lebt  und  ist 
gesund.  Sie  hat  zwei  Brüder,  der  ältere  29,  der  jüngere 
25  Jahre  alt,  beide  gesund  und  anscheinend  normal.  Als 
Kind  war  sie  sehr  wild,  beteiligte  sich  lebhaft  an  den 
Indianer-  und  Soldatenspielen  der  Knaben.  Wir  lassen  sie 
nun  selbst  berichten:  „Aus  meiner  Kinderzeit  kann  ich  nicht 
viel  von  Bedeutung  mitteil en,  nur  dass  ich  immer 
den  einen  sehnlichsten  Wunsch  hatte,  dass 
ich  doch  ein  Junge  wäre,  ich  habe  meinem  seligen 
Vater  oft  Vorwürfe  gemacht,  dass  ich  kein  Junge  bin,  aber 
was  kann  der  arme  Mann  dafür,  meine  lieben  Eltern  haben 
sich  ja  mit  mir  die  grösste  und  erdenklichste  Mühe  gegeben, 
um  aus  mir  ein  sanftes  ruhiges  Wesen  zu  machen.  Mit 
14  Jahren  schickten  sie  mich  zu  einem  Pfarrer  in  Pension, 
damit  ich  häuslich,  wirtschaftlich,  kurzum  ein  geduldiges 
Schaf  werden  soll;  es  misslang  aber  gänzlich,  da  ich  schon 
nach  einem  Vierteljahr  durch  das  Fenster  verschwand.  Nicht 
etwa,  dass  ich  irgend  etwas  verbrochen  hätte,  sondern  weil 
der  Pfarrer  die  Keckheit  gehabt  hatte,  mir  eine  Ohrfeige  zu 
geben  und  warum?  Nim  weil  wir  uns  ein  bischen  lustig 
machten  und  wenn  er  über  Land  war,  tanzten.  Freilich  war 
ich  der  Anstifter,  wir  waren  nämlich  neun  Pensionärinnen 


118 


und  sollten  alle  kuschen  lernen,  aber  was  hat  solcher  Land- 
pfarrer für  eine  Ahnung  von  Berliner  Blut,  ich  habe  es  ihm 
auch  deutlich  genug  gesagt,  er  solle  sich  zum  Schlagen  keinen 
Berliner  aussuchen,  sondern  seine  Landpommeranzen  nehmen. 
So  bin  ich  denn  bei  Xacht  und  Nebel  zum  Fenster  heraus, 
habe  mich  an  der  Dachrinne  von  der  ersten  Etage  herunter- 
gelassen,  vorher  hatte  ich  meine  Sachen  einem  Müllerknecht 
gegeben  und  nun  fing  mein  Leben  an,  denn  endlich  war  ich 
frank  und  frei.  Die  Welt  lag  offen  vor  mir,  ich  dachte  sie 
mir  ordentlich  anzusehen  und  da  mir  meine  Mäd- 
chenkleidung unbequem  war,  zog  ich  mir 
Männerkleider  an.  Mein  sehnlichster  Wunsch  war  er- 
füllt, wenn  auch  nicht  in  dem  l\Iasse  wie  mein  Verlangen  war, 
aber  es  wusste  doch  niemand  ausser  mir,  dass  ich  ein  Mäd- 
chen war.  Zuerst  zog  ich  in  den  Harz,  von  einem  Ort  zum 
andern,  habe  mich  schlecht  und  recht  dimchgeschlagen,  ver- 
schiedene Arbeiten  gemacht,  was  mir  ]a  zuerst  etwas  schwer 
fiel;  da  ich  aber  gross  und  kräftig  war,  wurde  ich  es  bald 
gewöhnt.  Schliesslich  nahm  ich  eine  Stelle  in  einem 
Kohlenbergwerk  an.  Das  bergmännische  Leben  ge- 
fiel mir  ganz  gut,  aber  ich  merkte  bald,  dass  es  für  meine 
Gesundheit  doch  ein  gefährliches  Arbeiten  ist,  deshalb  musste 
icb  nach  6 Wochen  .meine  Beschäftigung  niederlegen,  was  mir 
sehr-  leid  tat,  da  ich  gern  ein  bischen  mehr  vom  Bergmanns- 
leben erfahren  hätte.  Aber  es  ging  nicht,  da  meine  Kollegen 
es  sonst  gewahr  geworden  wären,  dass  ich  ein  Weib  bin, 
denn  ich  fürchtete  immer  in  der  stickigen  Luft  einmal  ohn- 
mächtig zu  werden,  dann  wäre  es  zu  spät  gewesen,  dann 
hätten  sie  wunder  gedacht,  was  ich  getan  habe  und  mir 
nicht  geglaubt,  dass  ich  nur  aus  Abenteuerlust  als  Mann 
verkleidet  ging.  Dann  wäre  das  schöne  Leben  vorbei  ge- 
wesen und  es  sollte  doch  erst  anfangen.  Von  Mägdesprung 
ging  es  nach  Nordhausen,  nachdem  sämtliche  Orte  durchge- 
walzt waren,,  dort  machte  ich  Station  und  arbeitete  bei 
einem  Schlosser.  Ich  hatte  zwar  von  diesem  Hand- 
werk keine  Ahnung,  aber  Not  bricht  Eisen,  ich  gab  mich 
einfach  für  einen  Schlosser  aus,  da  gerade  Saison  und  Nach- 
frage nach  Arbeitern  war.  Der  Meister  frug  auch  nicht  nach 


119 


den  Papieren  und  schickte  mich  zur  Aushilfe  mit  auf  Bauten; 
ich  fand  mich  sehr  gut  in  allem  zurecht  und  blieb  3 Monate 
dort.  Es  passte  mir  nur  nicht,  dass  ich  mich  meinen  Kollegen 
anschliessen  und  vieles  mitmachen  musste,  auch  mit  tanzen 
gehen  sollte.  Die  anderen  wunderten  sich,  dass  ich  mir  keine 
Braut  wie  sie,  anschaffte  und  schliesslich  halfen  sie  mir,  dass 
ich  eine  bekam.  Es  war  ja  ein  ganz  niedliches  Mädchen,  aber 
im  stillen  dachte  ich,  was  soll  ich  mit  ihr  anfangen,  denn 
ein  Mädchen  will  doch  auch  einmal  einen  Kuss  haben  und 
das  getraute  ich  mir  damals  doch  noch  nicht.  Es  blieb 
mir  aber  nichts  übrig  und  nun  kommt  das  Schlimmste;  sie 
fing  nämlich  vom  Verloben  an  zu  sprechen,  da  wusste  ich. 
hier  hat  deine  letzte  Stunde  geschlagen,  also  kurz  und  gut, 
ich  verliess  plötzlich  meine  sehr  gut  bezahlte  Arbeit  um  weiter 
zu  wandern.  Gewiss  war  es  unrecht,  dass  ich  das  arme  Mäd- 
chen sitzen  liess,  aber  es  half  doch  nichts,  heiraten  hätte 
ich  sie  doch  nicht  können  und  so  ging  ich  w'eiter,  bis  ich 
endlich  nach  Kassel  kam.  Ich  hatte  noch  so  viel  Geld  mir 
einen  ordentlichen  Gasthof  auszusuchen,  bis  ich  etwas  ge- 
eignetes gefunden  hatte.  Zuerst  bekam  ich  eine  Stelle,  auf 
der  ich  mit  einem  Handwagen  herumfahren  musste,  das  gefiel 
mir  nicht,  so  arbeitete  ich  dort  bloss  3 Wochen,  dann  ver- 
suchte ich  es  als  Hausdiener,  hatte  aber  das  Pech 
mit  einem  anderen  das  Logis  zu  teilen,  so  dass  auch  hier 
meines  Bleibens  nicht  länger  als  einen  Monat  war;  dann  nahm 
ich  eine  Stelle  als  Einseifer  bei  einem  Friseur  an,  wo 
ich  2 Monate  blieb,  länger  hielt  ich  es  nicht  aus,  denn  meine 
Hände  waren  durch  die  Feuchtigkeit  ganz  aufgesprungen.  Als 
ich  sah,  dass  ich  in  Kassel  kein  Glück  hatte,  schrieb  ich  an 
meine  Mutter,  dass  ich  nach  Hause  kommen  würde,  packte 
meine  sieben  Sachen  und  verschwand,  nachdem  ich  mir  vor- 
her meine  weiblichen  Kleider  aus  Ballenstedt  schicken  liess, 
wo  ich  sie  in  Aufbewahrung  gegeben  hatte.  Vor  der  Abreise 
zog  ich  mir  nun  nach  langer  Zeit  zum  ersten  Mal  wieder 
die  Mädchenkleider  an,  da  meine  Eltern  doch  nichts  wissen 
sollten.  Kaum  aber  war  ich  acht  Tage  zu  Hause,  da  fing 
ich  an,  mich  wieder  sehr  zu  langweilen.  Ich  quälte  meine 
Mutter,  sie  solle  mich  Maschinen-  und  Handplätten  lernen 


120 


laßsen,  was  sie  auch  tat,  denn  sie  dachte  mich  dadurch  an 
Berlin  zu  fesseln,  da  ich  doch  ihr  einziges  Mädchen  war. 
Aber  als  ich  ausgelernt  hatte,  da  kam  mein  Lehrmeister  zu 
mir  und  fragte,  ob  ich  viel  Geld  verdienen  wolle,  ich  könne 
eine  Stelle  in  Norwegen,  annehmen.  Wer  war  froher  als  ich, 
da  mir  zu  Hause  beinahe  schon  die  Decke  auf  den  Kopf  fiel, 
also  erklärte  ich  mich  sofort  bereit,  fuhr  noch  an  demselben 
Abend  vom  Stettiner  Bahnhof  nach  Warnemünde  und  von 
dort  mit  dem  Dampfer  nach  Schweden  und  weiter  mit  der 
Bahn.  Meine  liebe  Mutter  und  mein  Vater  waren  nicht  schlecht 
erstaunt,  als  ich  ihnen  mitteilte,  dass  ich  wieder  abreisen 
wollte,  ich  erzählte  ihnen  aber  nicht,  wohin  ich  wollte,  da 
sie  mich  sonst  nicht  fortgelassen  hätten,  auch  war  es  gerade 
14  Tage  vor  Weihnachten  Was  kümmerten  mich  aber  alle 
solche  Rücksichten  und  Kleinigkeiten,  es  ging  los.  Als  ich 
nun  so  allein  die  Nacht  durchfuhr  war  mir  doch  ein  bischen 
eigenartig  zu  Mute,  aber  das  verging  im  Schlaf  und  als  ich 
am  Morgen  erwachte  und  wir  dann  in  Warnemünde  den 
Dampfer  bestiegen  und  ich  das  erste  Mal  das  bewegte  Meer 
sah,  war  mir  sehr  wohl  zu  Mute.  -Endlich  langten  wir  in 
Malmö  an,  wo  Aufenthalt  genug  war,  dass  ich  mich  ein  wenig 
Umsehen  konnte,  da  ich  Geld  genug  hatte,  denn  mein  Chef 
hatte  mir  in  Berlin  100  M.  für  die  Reise  gegeben.  Als  ich 
nun  aber  in  Christiania  war,  da  merkte  ich,  dass  es  doch 
nicht  sc  leicht  war  wie  ich  es  mir  gedacht  hatte,  denn  ich 
konnte  kein  Wort  norwegisch;  abgeholt  hat  mich  auch  nie- 
mand, da  mein  zukünftiger  Chef  glaubte,  ich  würde  erst  später 
eintreffen.  Hätte  ich  nicht  einen  Brief  gehabt,  auf  dem  die 
Adresse  stand,  ich  wüsste  nicht,  was  ich  hätte  machen  sollen, 
so  zeigte  ich  dem  Kutscher  die  Adresse  und  dann  ging  es 
weiter,  ach  war  dort  ein  Schnee  und  Eis,  denn'  es  war  gerade 
mitten  im  Winter  und  ein  norwegischer  Winter  ist  nicht  so 
ohne.  Also  nun  war  ich  junges  Mädel  Plättdirektrice 
in  Christiania,  konnte  mich  mit  niemandem  verständigen  und 
da  die  meisten  auch  viel  älter  waren  als  ich  und  sich  nichts 
von  mir  gefallen  lassen  wollten,  auch  weil  sie  einem  Aus- 
länder gegenüber  misstrauisch  waren,  so  war  es  in  den  ersten 
vier  Wochen  sehr  schwer,  aber  dann  lebte  ich  mich  ein.  Doch 


121 


war  mir  das  Leben  zu  gebunden  und  da  ich  ganz  gut  Geld 
verdient  hatte,  hielt  ich  es  nicht  länger  als  ein  Jahr  aus.  Die 
Wanderlust  kam  wieder  über  mich  und  ich  fuhr  nach  Dront- 
heim.  Aber  dort  das  Leben  in  einer  Wäscherei  wieder  zu 
beginnen,  dazu  fehlte  mir  die  Neigung,  also  stracks  Männer- 
kleidung angezogen  und  nun  los;  zuerst  sorgte  ich  für  ein 
gutes  Logis,  was  ich  auch  schnell  bekam,  da  man  verhält- 
nismässig als  Herr  viel  willkommener  ist  wie  als  Dame.  Dann 
ging  es  auf  die  Suche  nach  einer  Beschäftigung.  Ich  hatte 
Glück  und  fand  Arbeit  bei  einem  Barbier,  zuerst  wieder  als 
Einseifer,  ich  war  aber  schon  dreister  und  versuchte  mich 
auch  mit  Rasieren,  es  ging  tadellos;  dort  blieb  ich  vier 
Monate,  da  es  mir  in  Trom.men  sehr  gut  gefiel.  Auch  hatte 
ich  ein  liebes  ^lädchen  zur  Freundin,  die  Tochter  des  Ge- 
fängniswärters, mit  der  ich  die  Zeit  über  viel  verkehrte,  denn 
sie  hatte  mich  gern  und  ich  muss  gestehen  ich  sie  auch, 
leider  hatte  aber  unser  beider  Traum  bald  ein  Ende,  denn 
eir  Kollege  war  hinter  mein  Geheimnis  gekommen  und  ver- 
riet mich.  Ich  musste  zu  dem  dortigen  Polizeichef,  der  sich 
sehr  für  die  Sache  interessierte,  auch  meine  Freundin  bekam 
alles  heraus,  aber  sie  war  mir  nicht  böse,  wie  ich  zuerst  ver- 
mutete, sondern  schloss  sich  nur  noch  fester  an  mich.  Wir 
sind  sogar  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  Freunde,  auch 
lernte  ich  nun  ihre  Eltern  kennen,  da  mich  der  Polizeichef 
dort  unterbrachte.  Er  wollte  mich  gern  als  Detektiv  be- 
halten, was  mir  auch  bei  meinen  späteren  Wanderungen  noch 
öfter  angeboten  wurde.  Aber  alle  Versprechungen  nützten 
nichts,  es  trieb  mich  weiter  und  so  fuhr  ich  nach  Randefjord, 
einem  trüben  Nest,  da  hielt  es  mich  nicht  lange,  dann  weiter 
nach  Skien;  blieb  dort  auch  bloss  2 Monate,  indem  ich  bei 
einemi  Geldschrankschlosser  Arbeit  fand,  aber 
das  Transportieren  der  Schränke  war  mir  ein  bischen  zu 
schwer,  die  übrige  Arbeit  nicht.  Ich  ging  nun  nach  Christian- 
aund,  dort  hatte  ich  mehr  Glück,  bekam  Arbeit  in  einer 
mechanischen  Werkstatt  und  blieb  dort  von  Februar  bis 
Juli.  Auch  dort  schaffte  ich  mir  eine  kleine  Freundin  an, 
denn  es  steht  ja  scüon  in  der  Bibel:  es  ist  nicht  gut,  dass 
der  Mensch  allein  sei,  auch  hatte  ich  nicht  Lust  mit  meinen 


Kollegen  umzugehen,  denn  es  waren  meist  ältere  verheiratete 
Männer  und  die  unverheirateten  waren  mir  nicht  sympathisch, 
so  dass  es  schon  das  Beste  war,  ich  schloss  mich  wieder  an 
ein  junges  Mädchen  an.  Aber  als  nun  der  Sommer  kam  und 
die  Sonne  immer  so  schön  in  die  dumpfe  Werkstatt  hinein- 
lachte, da  hielt  es  mich  nicht  länger.  Ich  schnürte  schnell 
mein  Bündel.  Ich  hatte  schon  immer  viel  von  dem 
Walfischfang  gehört,  schwärmte  sehr  davon  und  als 
ich  nun  in  der  Zeitung  las,  dass  junge  tüchtige  Burschen 
für  den  Walfischfang  gesucht  wurden,  machte  ich  mich  auf 
die  Beine  nach  Arendal,  dort  meldete  ich  mich  bei  einem 
Heuerbaas  und  kam  auf  einen  Walfischfänger. 
Ach  was  war  das  für  ein  elender  Kasten!  wir  waren  dort  zu 
acht  Mann  in  einer  Mannschaftskabine  eingepfercht,  aber  es 
half  nichts,  ich  wollte  doch  den  Walfischfang  kennen  lernen. 
Am  26.  Juli  fuhren  wir  ab.  Die  Sonne  schien  so  heiter  in 
Arendal,  aber  als  wir  14  Tage  unterwegs  waren,  da  waren 
wir  im  strengsten  Winter,  zur  Abwechslung  froren  wir  auch 
einmal  auf  acht  Tage  im  Eismeer  fest;  waschen  und  sauber 
halten  konnten  wir  uns  wiegen  der  Kälte  schon  gar  nicht  mehr. 
Endlich  ging  der  Fang  los,  wir  hatten  Glück,  brachten  viele 
Walfische  zur  Strecke  und  es  wäre  alles  ganz  gut  und  schön 
gewesen,  wenn  uns  bloss  nicht  die  Läuse  so  gequält  hätten. 
Denn  das  kann  ich  sagen,  ekeln  darf  man  sich  auf  solchem 
Walfischfänger  nicht.  Bald  hatten  wir  kein  frisches  Fleisch 
mehr  und  nun  ging  es  auf  die  Renntierjagd;  habe  ich  schon 
einmal  etwas  schönes  gegessen,  so  war  es  damals  das  Renn- 
tierfleisch  und  der  selbst  geröstete  Schinken,  auch  erlegte 
unser  Kapitän  einen  Eisbären;  so  wäre  das  Leben  herrlich 
gewesen,  wenn  es  bloss  nicht  so  kalt  und  so  furchtbar 
schmutzig  gewesen  wäre.  Was  ich  in  der  Zeit  ausgehalten 
habe,  ist  nicht  leicht  zu  beschreiben  und  dabei  immer  noch 
die  Angst,  dass  mein  Geschlecht  entdeckt  würde.  Im  Früh- 
jahr kamen  wir  wieder  nach  Hause.  Da  packte  mich  förm- 
lich das  Heimweh;  da  ich  Geld  hatte,  schaffte  ich  mir  alles 
vollständig  neu  an  und  fuhr  nach  Deutschland.  Natürlich  be- 
zahlte ich  nicht,  sondern  arbeitete  mich  als  Steward  nach 
Hamburg  herüber,  denn  da  ich  nun  einmal  auf  einem  Schiff 


123 


gewesen  war,  wollte  ich  auch  das  ausnutzen  und  das  Geld 
sparen.  So  kam  ich  wieder  nach  Berlin,  was  brachte  ich  für 
Erfahrungen  mit,  ich  erzählte  aber  nicht  viel,  denn  wenn 
meine  Eltern  das  alles  gewusst  hätten,  sie  hätten  mich  nicht 
mehr  fortgelassen.  Aber  wie  der  Mensch  nun  einmal  ist,  knapp 
war  ich  vier  Wochen  zu  Hause,  da  trieb  mich  schon  die 
Sehnsucht  immer  an  “die  Havel  heraus,  nach  Schildhorn,  das 
Wasser  zog  mich  furchtbar  und  ini  Oktober  hielt  ich  es  gar- 
nicht  mehr  aus,  es  drängte  mich  mit  Gewalt  fort.  Ich  suchte 
einen  Vermieter  auf  und  vermietete  mich  nach  London,  wo- 
hin ich  freie  Reise  hatte,  mich  aber  auf  2 .Jahre  verpflichten 
musste.  Ich  tat  dies  auch,  hatte  aber  gleich  den  Gedanken, 
mich  dort  so  schnell  wie  möglich  wieder  frei  zu  machen.  Die 
Hauptsache  war,  dass  ich  fortkam,  das  andere  würde  sich 
dann  schon  finden.  Also  zog  ich  frohen  Muts  von  dannen, 
kam  auch  wohl  und  munter  nach  Hamburg  und  von  da  nach 
einer  stürmischen  Seefahrt  nach  London.  Doch  mm  kommt 
etwas,  was  ich  in  meinem  Leben  nicht  vergessen  werde,  ich 
traf  dort,  wo  ich  in  Stellung  gehen  sollte,  meine  angeführte 
Braut  aus  dem  Harz,  dieselbe  der  ich  ausgerückt  war,  kurz 
bevor  ich  mich  mit  ihr  verloben  sollte.  Diese  traf  ich  dort 
als  Frau  des  Hauses,  trotz  der  Mädchenkleider  erkannte  sie 
mich  und  so  musste  ich  jetzt  alles  aufklären.  Mit  ihrem  Ein- 
verständnis lösten  wir  unseren  Kontrakt  und  ich  nahm  eine 
Stelle  in  einem  englischen  Badeort  Skarbourough  als  Zimmer- 
inspektrice  an,  wo  ich  die  Saison  über  blieb.  Ich  hielt  es 
aber  in  den  Frauenkleidern  schon  gar  nicht  mehr  aus  und 
als  ich  eines  Tages  hörte,  dass  es  in  England  ein  Schiff 
gäbe,  dessen  Personal  nm*  aus  Frauen  bestände  und  auch  von 
Frauen  geführt  wird,  hielt  es  mich  nicht  länger.  Ich  dachte, 
was  die  können  kann  ich  schon  lange,  aber  als  Frau  hatte 
ich  keine  Lust  und  so  fuhr  ich  denn  wieder  nach  London, 
schaffte  mir  Männerkleider  an  und  richtete  meine  Gedanken 
darauf,  so  bald  als  möglich  in  eine  Steuermannsschule  aufge- 
nommen zu  werden.  Es  gelang  mir  auch.  Ich  schlug  mich  recht 
und  schlecht  das  halbe  Jahr  durch,  indem  ich  deutsche  Stunden 
gab  und  deutsche  Korrespondenz  schrieb,  im  April  bestand 
ich  dann  mein  Examen  und  nun  ging  das  Suchen  nach  einer 


passenden  Stelle  los.  Es  bot  sich  auch  bald  eine  solche  auf 
einem  englischen  Steamer  als  \derter  Steuermann.  Diese  nahm 
ich  an  und  ging  auf  die  Fahrt,  welche  über  ein  Jahr  dauerte. 
Zuerst  nach  Japan  (Yokohama),  von  da  nach  Brasilien,  (Rio 
de  Janeiro),  von  dort  nach  Nordamerika  (St.  Francisco)  und 
von  da  nach  Hamburg,  wo  ich  abmunsterte,  da  ich  Sehnsucht 
nach  Hause  bekam.  Hamburg  ist  ein  schönes  Städtchen,  aber 
ich  wünschte,  ich  hätte  es  damals  nicht  gesehen,  denn  da 
lernte  ich  meinen  Mann  kennen  und  beging  die  grosse  Dumm- 
heit mich  zu  verheiraten.  Zuerst  ging  alles  ganz 
schön  und  gut.  Ich  drückte  die  Wanderlust  herunter,  schon 
um  des  Kindes  wegen,  aber  als  mein  Mann  leichtsinnig  wurde, 
gab  ich  meiner  Mutter  mein  Kind  und  ging  fort.  Damit  mich 
mein  Mann  nicht  finden  sollte,  schaffte  ich  mir  wieder  Männer- 
kleidung an  und  da  ich  mich  nicht  mehr  so  stark  fühlte  als 
Schlosser  zu  arbeiten,  nahm  ich  mir  das  Malerhandwerk  an, 
von  dem  ich  schon  auf  dem  Schiff  etwas  gelernt  hatte.  Es 
gelang  mir  auch  ganz  gut.  Ich  ging  nach  Frankfurt  a.  0.. 
arbeitete  dort  3 Monate,  dann  nach  Küstrin,  blieb  dort 
4 Monate,  aber  inzwischen  war  die  Arbeit  ausgegangen,  weil 
es  zu  kalt  wurde.  Da  fing  ich  dann  in  Küstrin-Neustadt  in  einer 
Kartoffelmehlfabrik  zu  arbeiten  an,  was  schwer  war,  aber  es 
musste  gehen,  wenigstens  den  Winter  durch.  Im  Frühjahr  bekam 
ich  dort  einen  Gestellungsschein,  da  hätte  wohl  der  Ober- 
stabsarzt schöne  Augen  gemacht,  wenn  ich  zur  Stellung  ge- 
kommen wäre,  so  zog  ich  es  vor,  zu  retirieren  und  steckte 
mich  schnell  wieder  in  Frauenkleidern.  Sonst  hätte  es  wer 
weiss  was  für  Aufsehen  gegeben,  denn  in  solcher  kleinen  Stadt 
sind  die  Leute  etwas  beschränkt,  da  können  sie  sich  gar 
nicht  vorstellen,  dass  es  so  was  auf  der  Welt  gibt.  Also  fuhr 
ich  knall  und  fall  nach  Berlin,  hielt  es  aber  als  so 
lide  Frau,  die  zu  Hause  wirtschaften 
sollte,  nicht  aus.  Ich  mietete  mir  eine  Wohnung  und 
suchte  mir  in  Männerkleidern  Arbeit  als  Maler.  Fand  aucti 
welche,  verdiente  ganz  gut,  beging  aber  die  Torheit  mir 
wieder  eine  Braut  anzuschaffen  und  noch  dazu  fiel  diesmal 
meine  Wahl  auf  eine  verheiratete  Frau,  die  von  ihrem  Mann 
getrennt  lebte  und  bei  ihrer  Mutter  wohnte.  Sechs  Wochen 


125 


lang  ging  alles  gut  und  schön,  da  eines  Tages  sind  wir  ge- 
rade beim  Tassadenstreichen  und  ich  sitze  ganz  oben  auf 
dem  Gerüst,  da  will  mich  der  Kriminalbeamte  holen;  „nanu“, 
sage  ich,  da  ich  das  doch  nicht  gewohnt  war  und  mir  die 
Polizei  doch  noch  niemals  etwas  angetan  hatte,  ich  war 
mir  doch  auch  nichts  bewusst,  ich  „türmte“  also  mit  nach 
nach  dem  Alexanderplatz,  da  sagte  der  Beamte  zu  mir:  „Nun 
Kleiner  bekommst  Du  aber  etwas  heraus.“  Ich  wurde  immer 
neugieriger  und  bekam  endlich  zu  hören,  dass  ich  auf  Ehe- 
bruch verklagt  sei.  Der  Mann  meiner  sogenannten  Braut  war 
eifersüchtig  geworden  und  hatte  mich  angezeigt,  dass  ich  mit 
seiner  Frau  Ehebruch  triebe,  aber  sie  können  mir  glauben, 
es  war  nicht  wahr,  denn  ich  wüsste  wirklich  nicht  wie  ich 
es  hätte  anfangeu  sollen,  kurz  ich  war  unschuldig  und  der 
Mann  musste  mit  einer  langen  Nase  abziehen.  Ich  aber  hatte 
mich  dadurch  unnütz  in  meiner  Arbeit  versäumt  und  warf 
sie  nun  ganz  hin,  da  ich  die  Lust  verloren  hatte,  fing  aber 
bald  wieder  in  einer  är-ztlichen  Instrumenten- 
f a b f i k an,  wo  ich  eine  Weile  blieb,  bis  mir  Berlin  wieder 
über  wrirde  und  ich  in  die  Welt  ging.  Zuerst  machte  ich 
als  reisender  Maler  ins  Mecklenburgische,  klapperte  dort  alles 
ab  und  landete  in  Hamburg,  wo  ich  dann  z\ir  Abwechselung 
wieder  Frauenkleider  anzog,  da  eine  Stewardess  verlangt 
wurde.  Ich  verheuerte  mich  als  solche  und  machte  erst  die 
Orientfahrt  mit.  Dann  munsterte  ich  in  Hamburg  ab  und  ging 
als  Stewardess  auf  einen  Westafrikaner,  einen  Wörmann- 
dampfer,  mit  Endstation  Duala;  nach  ein  paar  Reisen  wieder 
auf  einen  Ostafrikaner,  der  nach  Zansibar  fuhr.  Dann  hatte 
ich  keine  Lust  mehr,  munsterte  ab  und  fuhr  nach  Hause  zu 
meiner  Mutter,  wo  ich  mir  fest  vorgenommen  hatte  zu  bleiben; 
aber  ich  glaube,  sie  hätte  mich  anschmieden  können,  ich  hätte 
mich  doch  abgerissen  und  wäre  wieder  losgegangen.“ 

Status  praesens:  Helene  N.  ist  mittelgross,  die 
Körperlinien  sind  namentlich  an  den  Oberarmen  und  den 
Oberschenkeln  mehr  abgeflacht  als  rund.  Hände  und  Füsse 
ziemlich  kräftig,  Schritte  fest  und  schnell;  Muskeln  gut  ent- 
wickelt, Haut  glatt,  Brüste  klein,  Warzenhof  gross  und 
dunkel.  Aeussere  Bildungsanomalien  an  den 


126 


Genitalien  bestehen  nicht,  Bartflaum  nicht  vor- 
handen. Das  dunkelblonde  dichte  Haupthaar  trägt  sie  kurz 
und  gescheitelt.  Kehlkopf  tritt  nicht  hervor,  Stimme  ein- 
fach, nicht  hoch.  Sie  raucht  und  trinkt  ziemlich  viel,  ver- 
trägt beides  gut,  ihr  Charakter  zeigt  eine  merkwürdige 
Mischung  von  zähem  Willen  imd  starker  Unbeständigkeit; 
sie  liebt  körperliche  Arbeit  und  jede  Art  von  Sport  sehr. 
Kleidung,  die  augenblicklich  weiblich  ist,  zeichnet  sich  durch 
Einfachheit  aus.  Jeder  Schmuck,  der  ihr  zuwider  ist,  fehlt. 
Wenn  sie  in  Männerk  leidernist  oder  wenig- 
stens männliche  Mützen,  Kragen,  Unter- 
wäsche und  Stiefel  trägt,  fühlt  sie  sich 
leicht,  wohl  und  leistungsfähig,  inFrauen- 
kleidern  beengt  und  unfrei.  Eine  besondere  Vor- 
liebe hatte  sie  für  die  blaue  Farbe,  was  wohl  mit  ihrer  Nei- 
gung zum  Seemannsberui  zusammenhängt.  Ihre  Intelligenz 
ist  eine  gute  imd  rege,  auffallend  sogar  wenn  man  ihr  ein- 
faches Herkommen  und  ihre  Erziehung  in  Betracht  zieht.  Auf 
die  Frage  für  welche  bekanntere  Persönlichkeit  sie  sich  be- 
sonders interessiert,  antwortet  sie  prompt  „Wagner“.  Bezüg- 
lich ihres  Geschlechtslebens  gibt  sie  an,  dass  ihr  Trieb 
zwischen  beiden  Geschlechtern  gewechselt 
habe;  sexuelle  Träume  hätten  sich  allerdings  auf  Frauen 
erstreckt,  wobei  sie  dann  ganz  als  Mann  empfunden  hätte. 
Doch  seien  ihr  Männer  sexuell  nicht  -unsympatisch,  i m 
ganzen  scheint  ihr  sexueller  Betätigungs- 
drang aher  sehr  gering  zu  sein,  jedenfalls 
tritt  er  ganz  und  gar  zurück  hinter  dem 
dringenden  Wunsch  Mann  zu  sein,  als  Mann 
zu  gehen  und  als  Mann  zu  leben.  Sie  ist  sich 
dabei  aber  stets  deutlich  bewusst  in  Wirklichkeit  Frau  zu 
sein.  Ihre  Kinder  hat  sie  sehr  lieb,  auch  ihren  Gatten  mochte 
sie  gut  leiden,  aber  die  Ehe  selbst  betrachtet  sie  für  sich 
als  eine  Fessel,  sie  hätte  schon  oft  bereut,  sich  verheiratet 
zu  haben. 


Die  beiden  folgenden  Fälle  sind  in  dem  analytischen  und 
kritischen  Teil  dieses  Buches  nicht  mitberücksichtigt,  da  ich 
sie  erst  nach  Beendigung  derselben  erhielt.  Ihre  Veröffent- 
lichung erscheint  mir  aber  um  so  angebrachter,  als  sie  das 
aus  den  Fällen  I bis  XV  gewonnene  Bild  in  frappanter  Weise 
bestätigen. 


Fall  XVI. 

Ende  August  09  suchte  mich  die  Ehefrau  des  Schlossers 
0.  auf;  sie  wusste  sich  keinen  Rat  mehr,  da  ihr  Mann,  mit 
dem  sie  sonst  in  glücklicher  Ehe  lebt,  erklärt  hatte,  er  würde 
seinem  Leben  ein  Ende  bereiten,  wenn  er  nicht  seinen  Wunsch, 
in  Frauenkleidern  zu  leben  und  zu  arbeiten,  verwirklichen 
könne.  Der  etwa  24jährige  Mann,  der  sich  mir  zunächst  in 
Männerkleidern  vorstellte,  machte  einen  sehr  deprimierten  Ein- 
druck. Er  ist  offenbar  vollkommen  von  dem  Gedanken  be- 
herrscht, seinem  inneren  Weibempfinden  einen  äusseren  Aus- 
druck geben  zu  dürfen.  Aus  seiner  Lebensbeschreibung,  die 
er  auf  meine  Aufforderung  anfertigte,  sei  das  Wesentlichste 
wiedergegeben. 

„Ich  vmrde  am  10.  März  des  Jahres  1881  zu  K.  in  Ost- 
preussen  als  uneheliches  Kind  der  ehelichen  Tochter 
Marie  D.  des  Arbeiters  Johann  D.  geboren.  Mein  Grossvater, 
bei  dem  ich  aufwuchs,  stand  zu  der  Zeit  in  den  40er  Jahren. 
Seiner  Ehe  entsprossen  4 Kinder  weiblichen  Geschlechts,  wovon 
2,  meine  Mutter  und  noch  eine  Schwester,  am  Leben  blieben. 
Meine  Grossmutter  habe  ich  kaum  gekannt;  als  ich  2 Jahre 
alt  war,  ist  sie  gestorben.  Nach  Aussage  meiner  Mutter  soll 
ich  ein  sehr  schwächliches  Kind  gewesen  sein.  Später  habe 
ich  mich  aber  ganz  gut  entwickelt,  soll  mit  2 Jahren  schon 
alles  gesprochen  haben  und  schon  früh  allein  gelaufen  sein. 
Ich  soll  sehr  schönes  Haar  gehabt  haben,  welches  meine 
Mutter  mir  lang  wachsen  Hess,  so  dass  es  bis  auf  die  Schulter 
hing.  Es  soll  auffallend  hell  gewesen  sein.  Selbst  kann  ich 
mich  darauf  nicht  besinnen,  da  ich  nur  bis  zu  meinem 
4.  Lebensjahre  zurückdenken  kann.  Wie  ich  später  von  Be- 


128 


kannt-en  gehört  habe,  soll  Ich  einen  sehr  mädchenhaften  Ein- 
druck gemacht  haben,  sodass  Mutter  mir  deshalb  die  Haare 
ganz  kurz  schneiden  liess.  Ferner  soll  Ich  einen  sehr  auf- 
geweckten Verstand  für  alles  gezeigt,  mich  aber  sehr  gesträubt 
haben,  mit  anderen  Kindern  meines  Geschlechts  zu  spielen. 
Ich  soll  dann  scheu  in  irgend  eine  Ecke  gelaufen  sein,  wo  ich 
stundenlang  mit  irgend  einem  Spielzeug  für  mich  allein  gesessen 
habe.  Soweit  ich  mich  entsinnen  kann,  habe  ich  eine  grosse 
Furcht  vor  meiner  Mutter  gehabt;  sie  verstand  es  nicht, 
mir  Liebe  zu  sich  einzuflössen.  Da  der  Verdienst  meines 
Grossvaters  nur  ein  geringer  und  er  auch  öfters  krank  ans 
Haus  gefesselt  war,  mag  meine  Mutter  Sorgen  und  Kummer 
genug  gehabt  haben,  so  dass  sie  mir  nicht  die  Aufmerksam- 
keit zu  Teil  werden  lassen  konnte,  die  sie  anderenfalls  für 
mich  aufgewendet  hätte.  Mein  Grossvater  mochte  mich  auch 
nicht  gut  leiden,  da  ich  nach  seiner  Aussprache  die  Schande 
seiner  Tochter  und  nur  zum  Unglück  auf  der  Welt  war.  So 
bin  ich  denn  ohne  rechte  Liebe  und  Aufmerksamkeit  aufge- 
wachsen, was  auch  viel  dazu  beitragen  mag,  dass  ich  etwas 
menschenscheu  geworden  bin  und  auch  bis  heute  kein  grosses 
Zutrauen  zu  fremden  Menschen  gewinnen  kann.  Wunder  und 
Geistererscheinungen,  überhaupt  alles  Uebersinnliche  lässt 
mich  kalt,  da  ich  daran  nicht  glaube  und  mir  diesbezüglich 
auch  noch  nichts  begegnet  ist,  was  meine  Meinung  ändern 
könnte. 

Ich  bin  auf  dem  Lande  in  sehr  beschränkten  Anschauungen 
aufgewachsen.  Zeitungen  waren  bei  uns  Luxusartikel,  die 
sich  die  unbemittelte  Klasse  nicht  leisten  konnte.  Daher 
kann  ich  es  meiner  Mutter  auch  nicht  verdenken,  die  niemals 
über  die  Grenzen  ihrer  Vaterstadt  hinausgekommen  war, 
wenn  sie  von  Dingen,  die  sich  im  Leben  öfter  abspielen,  bis 
auf  den  heutigen  Tag  kein  Verständnis  hat;  denn  wer  ein- 
mal in  kleinen  Anschauungen  alt  geworden  ist,  der  kann  sich 
für  Ungewöhnliches  und  Neues,  welcher  Art  es  sein  mag, 
nicht  mehr  erwärmen.  Und  wenn  ich  vor  meine  Mutter  jetzt 
in  Frauenkleidung  hintreten  und  ihr  sagen  würde:  Nur  so 

fühle  ich  mich  wohl!  Ich  will  fortan  nur  als  Weib  leben, 
so  würde  sie  mir  einfach  antworten,  dass  ich  reif  für  ein 


129 


Irrenhaus  sei;  ob  sie  mich  dazu  erzogen  hätte,  ihi’  solche 
Schande  zu  machen  u.  dgl.  m.  Da  würde  alle  Üeberzeugungs- 
kunst  nichts  nützen  und  der  beste  Redner,  der  sonst  Herzen 
im  Sturm  erobert,  würde  hoffnungslos  wieder  abziehen  müssen. 
So  tief  sind  die  Vorurteile  bei  Leuten,  die  in  ihrer  Jugend 
nicht  die  richtige  Aufklärung  erhalten  haben,  eingewurzelt. 

Im  April  des  Jahres  1887,  im  Alter  von  6 Jahren,  be- 
gann für  mich  der  Schulbesuch  in  der  katholischen  Knaben- 
schule. Vor  diesem  ersten  Tage  habe  ich  mich  gefürchtet, 
aus  welchem  Grunde  vermag  ich  nicht  anzugeben.  Ich  weiss 
nur,  dass  ich  mich  fürchterlich  gesträubt  habe  und  davon- 
gelaufen wäre,  wenn  mich  der  Lehrer  nicht  mit  Süssigkeiten 
beschenkt  hätte.  Schon  als  Kind  schwärmte  ich  sehr  für 
Süssigkeiten,  was  bis  auf  den  heutigen  Tag  beigeblieben  ist. 
Ich  hatte  vor  den  anderen  Knaben  grosse  Furcht.  Allmählig 
gewöhnte  ich  mich  aber  daran  und  da  der  Lehrer  auch  sehr  nett 
und  freundlich  zu  mir  war,  so  gefiel  es  mir  schliesslich  ganz 
gut.  Da  ich  für  mein  Alter  ein  sehr  geweckter  ■ .Junge  war, 
so  kam  ich  über  die  ersten  Anfangsgründe  des  A-B-C  spielend 
hinweg.  Es  waren  im  ganzen  in  der  Schule  4 Klassen  einge- 
richtet, von  welcher  in  jeder  die  Schüler  2 Jahre  verblieben. 
Leider  aber  wurden  an  uns  Schüler  keine  zu  grossen  An- 
forderungen gestellt  und  es  tut  mir  heute  noch  leid,  dass 
mir  in  meiner  Jugend  nicht  mehr  zu  lernen  geboten  wurde. 
Ausser  Lesen,  Schreiben,  Rechnen,  biblische  Geschichte  und 
etwas  Geographie  wurde  in  keinem  anderen  Fache  unterrichtet. 
Infolge  meiner  Auffassungsgabe  blieb  ich  in  jeder  Klasse  nur 
ein  Jahr,  sodass  ich  mit  10  Jahren  schon  in  die  erste  Klasse 
aufrückte.  Leider  war  dies  für  mich  keine  grosse  Freude, 
weil  ich  als  kleiner  Bursche  viel  von  den  grossen  bald  vier- 
zehnjährigen Jungen  zu  leiden  hatte.  Ich  wurde  viel  ver- 
spottet wegen  meines  Charakters,  des  öfteren  auch  geprügelt, 
was  ich  später  dadurch  verhinderte,  dass  ich  gewissermassen 
das  Lexikon  der  übrigen  Schüler  wurde.  Da  ich  ausser 
schriftlichen  Arbeiten  überhaupt  keine  Schularbeiten  zu  machen 
brauchte,  so  habe  ich  nur  für  andere  gearbeitet,  was  mir  mein 
Leben  erträglicher  gestaltete.  In  dieser  Zeit  kam  mir  auch 
das  Bewusstsein,  dass  ich  anders  war,  als  die  übrigen 

Hirschfeld,  Die  Transvestiten.  9 


130 


Kameraden.  Ich  wusste  es  mir  aber  nicht  zu  erklären. 
Meine  unüberwindliche  Abneigung  für  alle  Knaben  und  deren 
Gebühren  liess  mich  zu  der  Ileberzeugung  kommen,  dass 
ich  nicht  zu  ihnen  gehöre  und  ich  hatte  nie  Lust,  nach  den 
Schulstunden  auf  die  Strasse  zu  gehen,  sondern  blieb  lieber 
zu  Hause.  Geschwister  hatte  ich  damals  keine  und  so  war 
ich  auf  mich  allein  angewiesen.  Dies  war  meiner  Mutter 
sehr  recht.  Sie  beschäftigte  mich  dann  mit  häuslichen  Ar- 
beiten, ging  halbe  Tage  lang  fort,  wobei  sie  mich  jedoch  ein- 
schloss mit  dem  Bemerken,  dass  niemand  zu  mir  hereinkommen 
solle. 

Schon  damals  hatte  ich  eine  grosse  Vorliebe  für  die 
Kleider  meiner  Mutter  und  eine  grosse  Sehnsucht  in  mir, 
dieselben  zu  besitzen.  Darum  kam  mir  das  Alleinsein  sehr 
gelegen.  Sobald  meine  Mutter  fort  war,  hatte  ich  flugs  deren 
Rock  und  Bluse  angezogen.  Auch  eine  Schürze  durfte  nicht 
fehlen,  imd  so  geschmückt  machte  ich  mich  über  die  auf- 
getragenen Arbeiten  her  und  fühlte  mich  glückselig.  Leider 
musste  ich  mich  vor  meiner  Mutter  in  Acht  nehmen.  Da  sie 
sehr  streng  war,  hatte  ich  Furcht,  da  ich  Schläge  bekommen 
hätte,  wenn  sie  mich  so  erblickte.  Zu  fragen  getraute  ich 
mich  auch  nicht;  denn  ich  wusste  nicht,  wie  ich  mich  aus- 
drücken  sollte,  und  schliesslich  hätte  sie  mich  auch  nicht 
verstanden.  Nebenbei  will  ich  noch  bemerken,  dass  meine 
Mutter  ihre  Kleider  meist  selbst  angefertigt  hat  und  da  es 
ihr  an  einer  Büste,  wie  die  Schneiderinnen  haben,  fehlte,  hat 
sie  alles  auf  mir  zusammengesteckt  und  -geheftet. 

Später  zogen  wir  zur  Stadt.  Hier  hatte  ich  nun  Ge- 
legenheit, mit  mehr  Kindern  zusammen  zu  kommen,  was  zur 
Folge  hatte,  dass  ich  mir  nur  Mädchen  zum  Spielen  suchte, 
die  mich  auch  ganz  gerne  leiden  mochten.  Da  fragte  ich 
mich  denn  oft,  warum  die  Mädchen  andere  Kleider  trugen 
wie  ich.  Und  da  ich  für  Röcke  mehr  Geschmack  hatte  als 
für  meine  Hosen,  so  war  ich  höchst  imglücklich  darüber, 
dass  ich  keine  Röcke  tragen  durfte.  Einmal  wagte  ich  doch, 
meine  Mutter  zu  fragen,  ob  ich  nicht  auch  Röcke  trageu 
dürfe  wie  die  Mädchen,  worauf  ich  die  barsche  Antwort  be- 
kam, ich  sei  ein  Junge  und  solle  nicht  solche  dumme  Reden 


131 


führen.  Damit  musste  ich  mich  begnügen  und  wagte  mich  mit 
dieser  Frage  an  Niemand  wieder  heran.  Mein  häufiges  Zu- 
sammensein und  Spielen  mit  Mädchen  fiel  bald  auf  und  trug 
mir  viel  Spott  und  komische  Bemerkungen  ein.  Auch  ein 
Spottname  wurde  mir  beigelegt;  nämlich  Mädchenvater. 
Ach,  wie  gerne  hätte  ich  mich  verspotten  lassen,  wenn  ich 
nur  meine  geliebten  Röcke  bekommen  hätte.  So  fühlte  ich 
mich  aber  höchst  unglücklich.  Wenn  ich  alle  Arbeiten,  die 
mir  aufgetragen  waren,  erledigt  hatte,  blieb  mir  noch  viel 
freie  Zeit.  Da  mir  der  Umgang  mit  Mädchen  sehr  verleidet 
wurde,  so  suchte  ich  mir  Bücher  zu  verschaffen.  Um  mein 
Tun  bekümmerte  sich  niemand  und  so  wurde  das  Lesen  bald 
zu  einer  Leidenschaft  bei  mir,  sodass  ich  alles  mit  einem 
wahren  Heisshunger  verschlang,  was  mir  nur  unter  die  Hände 
kam.  Grösstenteils  waren  es  Indianergeschichten  und  Schauer- 
romane, die  ich  mit  Vorliebe  las.  U.  a.  kam  mir  auch  ein  Buch 
in  die  Hände,  dessen  Verfasser  und  Titel  ich  nicht  mehr 
weiss,  doch  der  Inhalt  wird  mir  unvergesslich  bleiben.  Es 
handelte  von  einem  Manne,  der  wegen  eines  Vergehens  mit 
Gefängnis  bestraft  wurde,  dann  aber  floh  und,  um  nicht  ge- 
kannt zu  werden,  sich  Frauenkleider  verschaffte,  die  er  bis 
zu  seinem  Tode  getragen  hat.  Dieser  Mann  wurde  nun  mein 
Ideal  und  mit  einer  glücklichen  Phantasie  malte  ich  mir 
Bilder  aus,  in  denen  ich  ihn  nachahmte.  So  vergingen  die 
Jahre  und  mein  ganzes  Sinnen  und  Trachten  ging  dahin,  wie 
ich  mir  später  Röcke  verschaffen  könnte,  um  als  Mädchen 
zu  leben.  Mittlererweile  wurde  ich  12  Jahre  alt  und  da  ich 
von  gesittetem  Benehmen  war,  ausersehen,  den  katholischen 
Priestern  zur  Messe  zu  dienen.  Hier  muss  ich  einschalten, 
dass  ich  die  katholischen  Priester  wegen  ihrer  Kleidung  als 
Frauen  betrachtete.  Ich  schwärmte  dafür,  auch  ein  Priester 
zu  werden,  da  ich  dann  öffentlich  solche  langen  Talare  und 
darunter  die  schönsten  Spitzenunterröcke  tragen  dürfte;  denn 
der  Talar  würde  alles  verdecken. 

So  w’urden  meine  Gedanken  hin-  und  hergeworfen,  nur  in 
dem  einen  gipfelnd,  wie  ich  mir  auf  die  eine  oder  andere  Art 
Röcke  verschaffen  könnte.  Als  ich  14  Jahre  alt  geworden, 
wurde  ich  aus  der  Schule  entlassen.  Es  trat  jetzt  die  Frage 

9* 


an  mich  heran,  welchen  Beruf  ich  ergreifen  sollte.  Ich  hatte 
grosse  Lust  zur  Schneiderei,  weil  ich  mir  sagte,  da  kannst 
du  immer  in  Röcken  gehen,  da  man  für  sich  alleine  arbeiten 
kann,  ohne  mit  vielen  Menschen  in  Berührung  zu  kommen. 
Aber  meine  Mutter  hatte  anderes  mit  mir  im  Sinn.  Da  wir 
oft  mit  des  Lebens  Sorge  und  um  das  tägliche  Brot  zu 
kämpfen  hatten,  so  sah  meine  Mutter  nur  auf  Gelderwerb 
und  hat  mir  sehr  viel  vorgeredet,  das  Schlosserhandwerk  zu 
erlernen,  da  ich  dann  viel  Geld  verdiene  und  schon  als  Lehr- 
junge  welches  bekomme.  Ich  wars  schliesslich  zufrieden,  aber 
nur  weil  ich  hoffte,  mir  später  für  mein  verdientes  Geld  Röcke 
zu  kaufen,  um  als  Frau  leben  zu  können.  So  kam  ich  denn 
in  eine  Fabrik,  wo  ich  4 Jahre  lernen  musste.  Im  ersten 
Lehrjahre  bekam  ich  3. — , im  zweiten  4. — , im  dritten  5. — 
und  im  Gerten  6. — M.  pro  Woche.  Das  Geld  kam  meiner 
Mutter  in  der  Wirtschaft  gut  zu  statten. 

Das  erste  Lehrjahr  verlief  ohne  Störungen,  da  mir  nichts 
weiter  übrig  blieb,  als  mich  dem  Zwange  zu  fügen.  Die  Ar- 
beit fiel  mir  sehr  schwer.  Wir  waren  im  ganzen  etwa  16  Lehr- 
linge. Ich  war  der  jüngste  und  schwächste  unter  ihnen  und 
hatte  Gel  von  den  anderen  zu  leiden.  Da  die  Arbeit  früh 
morgens  um  6 Uhr  begann  und  bis  abends  ^ 7 Uhr  dauerte, 
musste  ich  schon  um  5 Uhr  aufstehen.  Davon  ging  eine 
halbe  Stunde  Frühstück,  eine  Stunde  Mittag  und  eine  halbe 
Stunde  Xachmittagkaffee  ab.  Mithin  verblieben  11  Stunden 
Arbeitszeit.  Da  ich  gut  begriff,  lernte  ich  leicht,  fühlte  mich 
aber  in  dieser  Zeit  sehr  unglücklich.  Ich  war  des  Abends 
immer  sehr  müde  und  schlief  deshalb  meistens  gleich  ein,  so- 
bald ich  mich  zu  Bett  gelegt  hatte.  Ich  träumte  dann  oft, 
ich  wäre  in  einem  schönen  Hause  mit  vielen  Mädchen  zu- 
sammen und  hätte  die  schönsten  Kleider  an, 
würde  mit  einem  Mädchennamen  gerufen 
und  von  einer  fremden  Frau  sehr  lieb  be- 
handelt. Leider  weckte  mich  aus  diesen  Träumen  Gel  zu 
früh  die  Stimme  meiner  Mutter,  die  mich  zur  Arbeit  rief. 
Ich  war  dann  oft  ganz  verstört  und  wusste  nicht,  wo  ich 
mich  befand.  Auch  litt  ich  schon  während  meiner  Kindheit 
an  einer  Art  von  Ohnmachtsanfällen,  die  während  meiner 


Lehrzeit  sehr  häufig  auftraten.  Sobald  ich  aufgestanden  war, 
fühlte  ich  einen  Schwindel,  sodass  ich  mich  sofort  setzen 
musste,  um  nicht  hinzufallen.  Ich  legte  mich  dann  hin  und 
mir  schwand  das  Bewusstsein.  So  lag  ich  dann  manchmal 
bis  20  Minuten.  Meine  Mutter  war  das  schon  gewöhnt;  wenn 
sie  dann  hereinkam  und  mich  so  liegend  fand,  holte  sie 
Essig,  rieb  mir  die  Schläfe  ein,  wonach  ich  dann  aufwachte, 
mich  anzog  und  zur  Arbeit  ging.  Ich  fühlte  mich  aber  den 
ganzen  Tag  nicht  richtig  wohl.  Einen  Arzt  hat  meine  Mutter 
nie  zu  Kate  gezogen,  weil  sie  kein  Geld  dafür  übrig  hatte. 

In  dieser  Zeit  kam  mir  einmal  ein  Stück  Zeitung  in  die 
Hände,  in  der  ein  kleiner  Artikel  stand,  dass  in  der  benach- 
barten Stadt  A.  eines  Tages  eine  Frau  gesehen  worden  sei, 
die  einen  langen  Vollbart  trug.  Wie  es  sich  dann  heraus- 
stellte, war  es  ein  Mann,  dem  es  wegen  eines  Bruchleidens  er- 
laubt war,  Röcke  zu  tragen.  Von  dem  Tage  ab  hatte  ich 
keine  Ruhe  mehr.  Ich  wollte  den  Mann  sehen  und  eines 
Tages  war  ich  verschwunden;  es  war  gerade  ein  Sonntag. 
Ohne  einen  Pfennig  Geld,  nur  mit  einer  Stulle  versehen, 
machte  ich  mich  auf  den  Weg  nach  A.  Leider  kam  ich  nicht 
so  weit;  denn  als  ich  die  erste  Nacht  im  Freien  zugebracht 
hatte,  fing  mich  der  Hunger  an  zu  plagen  und  da  auch  die 
Füsse  wund  geworden  waren,  war  ich  ganz  verzweifelt.  So 
fand  mich  ein  Bauer,  nahm  mich  mit  in  sein  Haus,  gab  mir 
zu  essen  und  zu  trinken  und  da  er  gerade  in  meiner  Heimat- 
stadt zu  tun  hatte,  nahm  er  mich  mit  und  lieferte  mich  bei 
meiner  Mutter  ab.  Ich  war  ein  paar  Tage  zu  Hause  bis 
meine  Füsse  gesund  waren,  dann  ging  es  wieder  zur  Fabrik. 
Dort  wurde  ich  gerade  nicht  sehr  freundlich  empfangen. 
Ausser  ein  paar  Ohrfeigen  erhielt  ich  eine  Masse  Scheltworte 
und  musste  dann  wieder  an  die  verhasste  Arbeit.  Meine 
Mutter  trug  mir  dieses  auch  sehr  nach,  sie  war  in  dieser 
Zeit  überhaupt  sehr  erregbar,  da  sie  bald  darauf  von  einem 
Mädchen,  ebenfalls  ausser  der  Ehe,  entbunden  wurde.  Ich  habe 
mich  viel  mit  meiner  kleinen  Schwester  abgegeben,  sie  ver- 
wartet und  trocken  gelegt,  was  ich  immer  sehr  gerne  tat. 
Dabei  bemerkte  ich  auch,  dass  meine  Schwester  anders  ge- 
baut war  wie  ich  und  erhielt  von  meiner  Mutter  die  Er- 


134 


klärung,  das  sei  ein  Mädchen.  Da  hai>e  ich  dann  oft  im 
Stillen  meine  Geschlechtsteile  weggewünscht,  weil  sie  das  ein- 
zige Hindernis  waren,  dass  ich  keine  Röcke  tragen  durfte. 
Meine  Schwester  wurde  von  meiner  Mutter  abgöttisch  geliebt. 
Ich  dagegen  fühlte  eine  kleine  Abneigung  gegen  sie,  weil  sie 
ein  Mädchen  war  und  meine  Mutter  sie  lieber  hatte  als  wie 
mich,  was  sich  aber  mit  der  Zeit  legte.  So  kam  allmäh- 
lich das  Ende  meiner  Lehrzeit  heran. 

Mit  18  Jahren  wurde  ich  Schlosser  geselle.  Weil  ich  ein 
geschickter  Arbeiter  war,  behielt  mich  mein  Chef  sehr  gern 
und  ich  verdiente  12  Alark  pro  Woche,  was  nach  den 
dortigen  Lohnsätzen  und  als  eben  ausgelernter  Geselle  ein 
sehr  guter  Verdienst  war.  Da  ich  meinen  ganzen  Verdienst 
abgeben  musste  und  meine  Mutter  mir  ein  kleines  Taschen- 
geld bewilligte,  so  dauerte  es  ziemlich  lange,  bis  ich  so  viel 
zusammen  hatte,  um  reisen  zu  können.  Da  ich  nun  aber, 
wie  schou  erwähnt,  viel  gelesen  hatte,  wollte  ich  in  andere 
Länder  reisen,  vielleicht  dass  es  mir  da  glückte,  mir  R.öcke 
zu  verschaffen.  Und  so  fuhr  ich  denn  eines  Tages  nach 
Berlin.  Ich  bekam  hier  auch  bald  Arbeit  und  einen  Lohn, 
den  ich  mir  nie  hatte  träumen  lassen,  nämlich  24  Mark  pro 
Woche.  Jetzt  dachte  ich,  könnte  ich  mir  alles  kaufen,  was 
ich  möchte.  Die  Eindrücke  von  Berlin  w'aren  auf  meine  Natur 
zu  gross,  um  vieles  gründlich  zu  sehen  und  zu  lernen,  schliess- 
lich geriet  ich  in  schlechte  Hände  von  Leuten,  die  mich 
durch  Leichtsinn  um  meinen  ganzen  Verdienst  brachten.  Damals 
kam  ich  oft  mit  Seeleuten  zusammen,  wenigstens  gaben  sich 
viele  dafür  aus,  und  die  Bilder,  die  sie  mir  vormalten,  übten 
auf  meinen  Geist  eine  grosse  Wirkung  aus.  Ich  beschloss, 
ebenfalls  zur  See  zu  gehen.  Auch  reizte  mich  das  viele  Geld, 
was  ich  da  verdienen  würde.  Ich  fuhr  nach  Bremerhaven  und 
wurde  als  Kohlenzieher  an  Bord  des  Schnelldampfers  Kaiser 
Wilhelm  der  Grosse  geniunstcrt.  Die  Reise  ging  nach  New- 
York.  Unterwegs  wurde  ich  seekrank  und  wünschte  zu 
sterben.  Ich  wurde  aber  bald  nachdem  wir  in  den  Hafen 
kamen,  gesund.  Dort  überredeten  mich  mehrere  von  meinen 
Kameraden,  zu  entfliehen  und  in  Amerika  zu  bleiben.'  Ich 
bekam  von  New-York  aus  eine  Stellung  als  Donkeymann 


135 


auf  einem  Segelschiff  nach  Westindien.  Hier  war  ich  ca.  vier- 
zehn Monate  an  Bord,  wo  ich  auch  kochen  lernte.  Ueber- 
haupt  gefiel  es  mir.  dass  man  an  Bord  viele  Arbeiten 
verrichten  muss,  die  an  Land  nur  die  Frauen  machen.  Da 
ich  mich  durch  meine  Veranlagung  zu  solchen  Arbeiten  hin- 
gezogen fühle,  so  habe  ich  oft  manche  Arbeit  für  meine 
Kollegen  verrichtet,  die  dazu  keine  Lust  hatten.  Auf  die 
Dauer  aber  sagte  mir  dies  Leben  nicht  zu;  denn  die  Sehn- 
sucht nach  Frauenkleiderii  wurde  in  mir  immer  stärker.  Ich 
beschloss  daher,  sobald  ich  an  Land  käme,  mir  Röcke  zu 
kaufen  und  als  Frau  zu  gehen.  Leider  bin  ich  aber  nicht 
dazu  gekommen.  Da  ich  sehr  gutmütig  bin,  fand  ich  immer 
Freunde,  die  mich  auf  die  eine  oder  andere  Art  um  mein 
Geld  brachten.  Auf  meinen  Reisen  kam  ich  auch  nach  San 
Franzisko  und  hier  habe  ich  auch  den  ersten  Mann  in  Frauen- 
kleidern gesehen.  Wenigstens  wurde  mir  bedeutet,  es  sei  ein 
Mann.  Ich  bin  nicht  dazu  gekommen,  mit  ihm  zu  sprechen. 
Wie  gern  hätte  ich  mich  ihm  angeschlossen,  um  von  ihm  zu 
erfahren,  wie  man  es  anstellen  müsse,  um  Röcke  tragen  zu 
dürfen. 

Im  Jahre  1902  kam  ich  nach  Deutschland  zurück  und 
wurde  sogleich  zum  Militär  ausgehoben.  Trotzdem  ich  über- 
haupt keine  Lust  verspürte  Soldat  zu  werden,  musste  ich 
dienen,  und  da  ich  zur  See  gewesen,  kam  ich  zur  Marine 
und  zwar  als  Heizer  zu  der  Torpedo-Division.  Im  allgemeinen 
war  meine  Führung  gut,  nur  konnte  ich  mich  für  die  mili- 
tärische Disziplin  nicht  recht  begeistern,  was  mir  einige 
Strafen  wegen  Widersetzlichkeit  eintrug.  Wie  beneidete  ich 
da  die  Frauen,  die  Röcke  tragen  durften  und  wie  oft  habe 
ich  mein  Schicksal  verwünscht,  dass  ich  als  Mann  auf  die 
Welt  gekommen  bin.  1905  wurde  ich  entlassen  und  kam  nach 
Berlin.  Ich  bekam  auch  bald  Arbeit  bei  einem  Schloseer- 
meister.  Da  mir  aber  immer  keine  Gelegenheit  kam,  Röcke 
zu  tragen,  ich  auch  keine  Freude  an  Vergnügungen  hatte, 
trug  ich  mich  viel  mit  Selbstmordgedanken.  Dieselben  kamen 
jedoch  nie  zur  Ausführung,  da  ich  den  Gedanken  nicht  los 
werden  konnte,  mich  schliesslich  unnötig  tot  zu  machen, 
denn  es  könnte  doch  noch  einmal  kommen,  dass  ich  Röcke 


136 


tragen  dürfte.  Wenn  ich  den  definitiven  Besdieid  bekäme, 
dass  mir  niemals  das  Glück,  Röcke  zu  tragen,  zuteil  werden 
dürfe,  so  würde  ich  mein  Leben  unbedingt  von  mir  werfen, 
weil  es  dann  für  mich  absolut  keinen  Wert  mehr  hat.  Dieses 
soll  nicht  etwa  eine  Drohung  sein,  wie  mancher  meinen  würde, 
sondern  es  ist  mein  vollständiger  Ernst.  Ohne  Röcke 
ist  mir  das  Leben  vollständig  vergällt! 

Die  weibliche  Kleidung  ist  bei  mir  die  Hauptsache.  Das 
Leben  hat  allen  Reiz  für  mich  verloren,  wenn  ich  keine 
Röcke  tragen  darf.  Ich  würde  mich  vor  Glück  kaum  zu 
fassen  wissen,  wenn  mir  dieser  einzige  Wunsch,  den  ich  habe, 
erfüllt  würde.  Obgleich  ich  ganz  gerne  Schmuck  haben 
möchte,  bevorzuge  ich  ganz  einfache  Kleidung,  wie  sie  jede 
anständige  Frau  heutzutage  trägt. 

Ich  kam  zu  dem  Entschluss,  mich  zu  verheiraten.  Ich 
dachte,  hast  du  eine  Frau,  kann  es  vielleicht  anders  werden. 
Da  ich  keine  Vergnügungen  aufsuchte,  sah  ich  mich  genötigt,  von 
der  Zeitung  Gebrauch  zu  machen.  Die  Antworten,  die  ich 
bekam,  sagten  mir  aber  nicht  zu.  Da  lernte  ich  durch  einen 
Bekannten  meine  Frau  kennen.  Wir  sahen  uns  öfter  und 
ich  fasste  eine  grosse  Zuneigung  zu  ihr,  sodass  ich  beschloss, 
sie  zu  heiraten.  Sie  war  damit  einverstanden  und  im  April 
1906  gingen  wir  die  Ehe  ein.  Anfangs  getraute  ich  mich 
nicht,  meiner  Frau  zu  sagen,  was  mich  stets  bedrückte,  aber 
da  sie  einen  guten  Charakter  besitzt,  ich  mir  auch  meinen 
Pflichten  als  Ehemann  bewusst  bin  und  ihnen  nachkomme, 
so  enthüllte  ich  ihr  eines  Tages  mein  ganzes  Leben.  Sie  war 
zwar  sehr  erstaunt  darüber,  aber  schliesslich  gewillt,  mich 
meine  Röcke  tragen  zu  lassen.  Auch  wollte  sie  nach  besten 
Kräften  mir  dazu  verhelfen.  Meine  Frau  liebe  ich  mit  ganzem 
Herzen,  da  sie  das  einzige  Wesen  ist,  das  nur  Liebe  ent- 
gegenbringt, wie  sie  mir  noch  von  keiner  Seite  zuteil  wurde. 
Ganz  ausgeschlossen  ist  die  Liebe  von 
oder  zu  einer  männlichen  Person. 

Der  Geschlechtstrieb  ist  bei  mir  nicht  so  gross;  wenn 
ich  keine  Röcke  anhabe,  verspüre  ich  jetzt  überhaupt  keinen 
mehr.  Ich  verkehre  nur  auf  Verlangen  mit  meiner  Frau  alle 
6 bis  8 Wochen  einmal.  Sonst  leben  wir  sehr  zufrieden,  auch 


137 


hat  es  meine  Frau  sehr  gut  bei  mir;  denn  ich  besorge  fast 
alle  häuslichen  Arbeiten.  Meine  Frau  gebar  auch  ein  Kind 
männlichen  Geschlechts,  das  aber  nach  Aussage  der  Aerzte 
nicht  lebensfähig  war 

Leider  hat  mich  meine  weibliche  Veranlagung  auch  oft 
in  pekuniäre  Verlegenheiten  gebracht.  Da  die  Sucht  nach 
Röcken  in  mir  sehr  gross  ist,  nützt  es  fast  garnichts,  wenn 
ich  mich  nach  des  Tages  Arbeit  anziehen  kann.  Ich  kann 
in  letzter  Zeit  ohne  Unterrock  nicht  mehr  einschlafen  und 
wenn  ich  dann  morgens  aufstehe  und  zur  Arbeit  gehen  soll, 
so  ist  es  mir  oft  unmöglich,  den  Unterrock  auszuzieheii.  Es 
ist  eine  Gewalt  in  mir,  der  ich  nicht  widerstehen  kann. 
Dieses  stete  Ankämpfen  gegen  eine  Gewalt  hat  meine  Nerven 
schon  sehr  zerrüttet.  Da  ich  nur  auf  den  Verdienst  von 
meiner  Hände  Arbeit  angewiesen  bin,  so  muss  ich  mich  mit 
grosser  Gewalt  beherrschen  und  zur  Arbeit  gehen.  Dann 
kommt  es  plötzlich  wie  ein  Sturm  über  mich,  meinen  Nerven 
versagt  die  Kraft  und  ich  muss  meine  Arbeit  versäumen  und 
zu  Hause  bleiben,  was  mir  sehr  oft  den  Verlust  der  Arbeit 
gekostet  hat,  da  bei  den  heutigen  Arbeitsverhältnissen  ge- 
nug Kräfte  vorhanden  sind.  Und  so  haben  wir  dann  oft  mit 
bittrer  Not  zu  kämpfen,  da  Arbeitsuchen  auch  für  den  ge- 
schicktesten Arbeiter  heutzutage  immer  lange  dauert.  Wie 
gerne  wollte  ich  die  schwersten  Arbeiten  verrichten,  ja  i c h 
könnte  Tag  und  Nacht  arbeiten,  wenn  ich 
mich  nicht  von  meinen  geliebten  Röcken 
zu  trennen  brauchte.  Da  ich  nun,  wenn  ich  arbeite, 
ganz  gutes  Geld  verdiene,  aber  kein  Trinker  bin  und  nur 
etwas  rauche,  so  kaufe  ich  mir  oft  recht  schöne  Sachen.  Ich 
gebe  leichter  1 oder  2 Mark  für  eine  Schürze  aus,  als  wie 
10  oder  20  Pfennige  für  ein  Glas  Bier.  Aber  was  nützen 
mir  alle  schönen  Kleider,  wenn  ich  sie  nicht  tragen  darf! 
Wenn  ich  permanent  Röcke  tragen  dürfte  und  mich  äusser- 
lich  durch  die  Kleider  vor  anderen  Frauen  nicht  zurückgesetzt 
zu  fühlen  brauchte,  würde  mein  ganzes  Leben  eine  heitere 
Wendung  nehmen. 

Möchte  sich  doch  der  liebe  Gott  erbarmen  und  mir  zu 
Röcken  verhelfen  oder  mich  aus  diesem  Leben  abrufen,  denn 


138 


ich  fühle  es,  wenn  mir  nicht  geholfen  wird,  gehe  ich  daran 
zu  Grunde.“ 

0.  ist  ca.  1,78  gross,  schlank,  wiegt  136  Pfund,  mittel- 
kräftig,  Muskulatur  weich,  Haut  rein,  Hände  und  Füsse  klein 
und  zierlicher  als  dem  Körperbau  entspricht.  Bartwuchs  an- 
geblich gering;  er  trägt  keinen  Bart,  das  blonde  Haupthaar 
ist  sehr  weich.  Der  Gesichtsausdruck  ist  nicht  ausgesprochen 
männlich,  aber  auch  nicht  auffallend  feminin.  Als  er  mich 
ein  zweites  Mal  in  seiner  weiblichen  Kleidung  aufsuchte,  machte 
er  vollkommen  den  Eindruck  einer  gut  bürgerlich  gekleideten 
Frau.  Seine  ihn  begleitende  Ehefrau,  die  in  rührender  Weise 
an  ihm  hängt,  sieht  allerdings  viel  einfacher  als  er  selber 
aus.  Er  ist  den  fast  einstündigen  weiten  Weg  in  der  elek- 
trischen Bahn  zu  mir  gekommen,  ohne  dass  er  irgend  welches 
Aufsehen  erregt  hätte. 


Fall  XVIi. 

Der  folgende  Fall  gelangte  erst  zu  meiner  Kenntnis, 
nachdem  dieses  Buch  nahezu  vollendet  war.  Der  Herr  hatte 
sich  im  Oktober  09  an  Kollege  J.  Bloch  mit  einem  Brief  ge- 
wandt. in  dem  er  ihm  unter  Bezug  auf  den  in  seinem  „Sexual- 
leben unserer  Zeit“  veröffentlichten  Fall  (XIV  dieser  Kasu- 
istik) u.  a.  Folgendes  schreibt; 

-Bislang  glaubte  ich,  meinen  Zustand  als  einen  durchaus 
akzessorischen,  krankhaften  ansehen  zu  sollen,  der  also  mit 
Willenstherapie  heilbar  sein  müsste.  Wenn  ich  es  nun  auf 
diesem  Wege  unter  starkem  Aufgebot  von  Energie,  die  ich 
damit  ” von  anderer  Betätigung  absorbierte,  dahin  gebracht 
habe,  für  längere  oder  kürzere  Zeit  mich  von  dem  Verlangen, 
meiner  inneren  Empfindung  durch  weibliche  Bekleidung  kon- 
formen Ausdruck  zu  verleihen,  zu  befreien,  so  sah  ich  doch 
schon  seit  längerem  diesen  Kampf  als  'einen  fruchtlosen  (auf 
die  Dauer)  und  vom  Standpunkte  der  Geistesökonomik  un- 
rationellen an.  Letzteres  aus  dem  Grunde,  weil  ich  im  weib- 
lichen Habitus  das  grösste  Gedeihen  meines  Arbeitens  finde. 


139 


Sitze  ich  z.  ß.  des  Abends  im  Neglige  und  in  Damenfrisur 
(Perücke  aus  reichlichem.,  echtem  Material)  an  meinem  Schreib- 
tisch, so  reihen  sich  die  Gedanken  freiwillig,  die  ich  am  Tage 
mühselig  ergattern  muss.  Ich  bin  dann  völlig  als  Dame  ge- 
kleidet in  Wäsche,  Unterrock  und  einem  japanischen  Ueber- 
wurf,  die  Beine  in  eleganten  Strümpfen,  die  Füsse  mit  hohen 
Halbschuhen  bekleidet.  Das  Anlegen  weiblicher  Wäsche  und 
Kleidung  ruft  in  keiner  Weise  sexuelle  Reize  hervor,  sondern 
befriedigt  mich  eben  insofern,  als  ich  damit  meiner  Gemüts- 
empfindung das  äusserliche  Gewand  verleihe.  Vergangenen 
Winter  unternahm  ich  beispielsweise  eine  zweitägige  Skitour 
im  Schwarzwald  in  Gesellschaft  zweier  Herren,  ohne  dass  mein 
Geschlecht  in  dem  Damensportkostüm  sich  verraten  hätte. 
Der  Einfluss  dieses  mir  entsprechenden  Zustandes  äussert  sich 
deutlich,  indem,  wie  ich  oben  schon  andeutete,  in  weiblicher 
Kleidung  mich  eine  solche  Ruhe  und  Denksicherheit  erfüllt, 
dass  ich  während  diesen  Zeiten  mein  Bestes  leiste.  Anderer- 
seits glaube  ich  mich  nicht  zu  den  geistig  Degenerierten  rech- 
nen zu  müssen,  da  ich  mein  Studium  in  verhältnismässig 
kurzer  Zeit  beendet  habe  und  auch  auf  meinen  grösseren 
Reisen,  die  mich  durch  den  grössten  Teil  von  Europa  und 
weite  Strecken  durch  Afrika  und  Asien  führten,  Mängel  in 
der  Fassungskraft  und  Urteilsfähigkeit  nie  habe  entdecken 
können.  Sie  werden,  verehrter  Herr,  es  verstehen,  wenn  ich 
mich  unter  solchen  unentschiedenen  Verhältnissen  unbefriedigt 
und  unglücklich  fühlen  muss.  Was  soll  ich  tun?  Weiter 
kämpfen?  Mich  als  Weib  geben  und  weibliche  Kleidung  tragen? 
Ich  wäre  zu  hohem  Dank  verbunden,  wenn  Ihnen  diese  Con- 
fessio, in  der  ich  mich  meiner  Schwester  in  ihrem  Werk  S.  597 
zum  grösseren  Teil  anschliessen  kann,  nicht  nur  als  mehr 
oder  weniger  interessantes  Material  ihrer  Studien,  sondern  als 
Anregung  zu  einer  geistigen  Meinungsäusserung  dienen  würde, 
durch  die  Sie  die  Existenz  meiner  Person  nach  mehr  als  nur 
nach  der  sexuellen  Seite  hin  sichern  würden." 

Kollege  Bloch  hatte  die  Güte,  mir  im  Einverständnis  mit 
Herrn  P.,  den  ich  später  auch  persönlich  kennen  zu  lernen 
Gelegenheit  hatte,  den  Fall  zu  überweisen. 

Ich  gebe  zunächst  die  ausführlichen  Auskünfte,  die 


140 


mir  der  sehr  intelligente  P.  in  Beantwortung  des  ihm  von 
mir  vorgelegten  Fragebogens  gegeben  hat. 

P.,  24  Jahre,  Dr.  iur.,  Berliner,  unverheiratet.  Mutter 
lebt  noch,  soll  zuweilen  an  Herzschwäche  leiden,  Vater  vor  11 
Jahren  an  Blutsturz  gestorben;  er  gibt  an,  dass  weder  seine 
Eltern  noch  Grosseltern  blutsverwandt  waren.  Bei  seiner  Ge- 
burt stand  sein  Vater  im  32.,  seine  Mutter  im  24.  Lebens- 
jahre. Im  Gesicht  ist  P.  seiner  Mutter  ähnlich,  die  Grösse 
hat  er  vom  Vater.  Im  übrigen  habe  er  ziemlich  wenig  von 
den  Charaktereigenschaften  seiner  Eltern  übernommen  und 
sich  sehr  selbständig  entwickelt.  Geschwister  hat  er  keine, 
doch  wünschte  sich  angeblich  seine  Mutter  sehnlich  vor  seiner 
Geburt  ein  Mädchen.  Die  Ehe  seiner  Eltern  sei  aus  Neigung 
geschlossen  und  eine  glückliche  gewesen,  seine  Erziehung  war 
eine  strenge.  Er  gibt  an,  für  die  Mutter  mehr  Sympathie  ge- 
habt zu  haben  als  für  den  Vater.  In  der  näheren  Verwandt- 
schaft seien  väterlicher-  wie  mütterlicherseits  durchaus  gute 
körperliche  und  geistige  Gesundheitsverhältnisse.  Beide  Eltern 
stammen  vom  Lande,  die  Mutter  aus  badischem.  Grossgrund- 
besitz, der  Vater  aus  einem  Landpfarrhause  der  Provinz 
Sachsen.  Geistigen  Getränken  gegenüber  sollen  sich  seine 
Eltern  mässig  verhalten  haben.  Selbstmorde  und  bemerkens- 
werte Konflikte  mit  den  Gesetzen  sind  bei  seinen  Verwandten 
nicht  vorgekommen,  ebensowenig  finden  sich  Unverheiratete 
über  30  Jahre  und  männliches  Aussehen  weiblicher  oder  weib- 
liches Aussehen  männlicher  Familienglieder.  Ueber  das  Vor- 
kommen abnormer  geschlechtlicher  Neigungen  unter  seinen 
Verwandten  äussert  sich  P.  wie  folgt;  „Ein  Oheim 
(Bruder  der  Mutter)  Grutsbesitzer  in  Bosnien,  scheint  nach 
den  Büchern,  die  ich  bei  einem  Besuche  bei  ihm  gefunden. 
Masochist  zu  sein.  Zwei  verheiratete  Schwestern  der  Mutter 
sind  stark  sinnlich  veranlagt.  Auch  bei  meiner  Mutter  ver- 
mute ich  sinnlich  gesteigerte  Anlagen;  da  organische  Unter- 
leibsstörung nach  meiner  Geburt  eintrat,  sind  weitere  Kinder 
nicht  geboren.  P.  lernte  nach  den  Aeusserungen  seiner 
Mutter  erst  spät  gehen,  nachdem  er  vorher  schweren  Diphte- 
ritis  und  Keuchhusten  überstanden.  Die  ersten  Zähne  kamen 
früh,  er  büsste  sie  mit  4 Jahren  durch  einen  unvorsichtigen 


141 


Sprung  in  eine  Sandgrube  grösstenteils  ein.  II.  Zahnung 
stellte  sich  bereits  im  5.  Jahre  ein.  Er  will  an  „Kopf- 
krämpfen" infolge  der  Diphteritis  gelitten  haben.  Er  sei  in 
seiner  Kindheit  weder  ängstlich  noch  schreckhaft,  vielmehr 
ziemlich  couragiert  gewesen.  Mit  Vorlielje  sah  er  militärischen 
Exerzitien  zu.  P.  gibt  ferner  an,  in  frühester  Jugend  vor- 
nehmlich mit  Knaben,  vom  4.  Jahre  ab  jedoch  gern  mit 
Mädchen  gespielt  zu  haben;  vorher  deshalb  nicht,  weil  Ge- 
legenheit dazu  fehlte.  Mit  Bleisoldaten  will  er  sich  ebenso 
gern  wie  mit  Puppen,  wovon  er  einige  besass,  beschäftigt 
haben.  An  Strassenspielen  nahm  er  nicht  teil.  Er  konnte  als 
Kind  gut  sticken.  Im  Verkehr  mit  anderen  Kindern  wurde 
P.  von  seinen  Eltern  sehr  exclusiv  gehalten.  Als  er  noch 
Kleidchen  trug,  soll  man  ihn  sehr  oft  für  eia  Mädchen  ge- 
halten haben.  Wie  seine  Mutter  ihm  oft  erzählte,  wollten  die 
Leute  ihre  Angaben  bezügl.  seines  Geschlechtes  nicht  glauben. 
Auch  später  hat  er  weiche  Züge  behalten.  Auf  Träume  aus 
seiner  Kindheit  kann  sich  P.  nicht  besinnen.  Sein  Lernen  war 
durchschnittlich.  Von  Schulfächern  interessierten  ihn  vor- 
nehmlich Geographie,  Geschichte  und  Deutsch,  später  auch 
Latein.  Gleichmässig  unsympathisch  waren  ihm  Mathematik 
und  Religion,  nach  seiner  Meinung  letztere  wohl  deshalb,  weil 
er  in  dieser  Hinsicht  zu  Hause  sehr  streng  gehalten  wurde. 
Wenn  ihn  sein  Vater  strafte,  was  nicht  häufig  geschah,  gab 
es  Prügel  auf  das  Gesäss.  Unter  den  Lehrern  will  er  nicht 
zu  leiden  gehabt  haben,  mit  Ausnahme  eines  katholischen 
Geistlichen  in  S.,  der  die  Gewohnheit  hatte,  die  Schüler  an 
den  Schläfenhaaren  in  die  Höhe  zu  ziehen.  In  den  beiden 
ersten  schulpflichtigen  Jahren  erhielt  P.  Hausunterricht  und 
sollen  geschlechtliche  Anregungen  nicht  vor  gekommen  sein. 
Zu  Kameraden  willP.  keine  aussergewöhnlichen  Freundschaften 
gehabt  haben,  wegen  seines  angeblichen  Hochmuts  mieden  ihn 
dieselben,  und  er  machte  sich  auch  nichts  aus  ihnen.  Eine 
Zuneigung  empfand  er  zu  einem  Freunde  seines  Vaters  wegen 
dessen  ernsten,  gründlichen  Verstandes  und  seiner  Herzens- 
bildung. Vom  4.  Jahre  ab  hatte  P.  stets  ein  Zimmer  für 
sich  und  ist  ein  Zusammenschlafen  mit  erwachsenen  oder  un- 
erwachsenen Personen  nicht  vorgekomraen.  Mit  14  Jahren 


142 


will  er  das  erste  Mal  von  geschlechtlichen  Dingen  sprechen 
gehört  haben  und  entnahm  mancherlei  aus  den  Gesprächen 
seiner  Mitschüler,  ohne  jedoch  sich  weiter  darum  gekümmert 
zu  haben.  Im  15.  Jahre,  nach  der  Konfirmation,  unterhielt 
er  sich  auch  mit  Mädchen  darüber,  und  zwar  in  der  Anschau- 
ung, wie  diese  sie  hatten.  lieber  seine  geschlechtlichen  Er- 
lebnisse vor  der  Pubertät  äussert  sich  P.;  „Als  ich  11  Jahre 
alt  war,  wurde  ich  einige  Tage,  der  Vorbereitungen  unserer 
Uebersiedelung  nach  Leipzig  wegen,  zu  einer  meinen  Eltern 
befreundeten  angesehenen  Berliner  Familie  in  Pension  gegeben. 
Eines  Abends  sah  ich  dort,  wie  die  Brüder  die  Schwestern 
unzüchtig  berührten;  in  der  folgenden  Nacht,  — ich  schlief 
im  Zimmer  der  beiden  ältesten  Schwestern,  die  damals  17  und 
19  Jahre  alt  waren,  — legten  sich  beide  nach  einander  in 
mein  Bett  und  zogen  mich  an  sich.  Dann  drohten  sie  mir, 
ich  dürfte  nichts  davon  sagen,  sonst  würden  sie  meinen  Eltern 
erzählen,  ich  sei  unartig  gewesen.  Geschlechtliche  Erregung 
bewirkten  diese  Fälle  nicht.  Ich  erregte  mich  aber  ander- 
w'eitig  unbewusst,  indem  ich  schon  auf  meinem  Schaukelpferd, 
das  mit  Pferdehaut  und  echtem  Haar  bezogen  war,  beim 
Schaukeln  nach  vorn  an  den  Hals  rutschte,  dabei  ein  nicht 
unangenehmes  Gefühl  an  den  Genitalien  empfindend;  dies  hörte 
aber  mit  dem  Verschwinden  des  Pferdes  etwa  im  6.  Jahre  auf. 
Im  15.  Jahre  berührten  die  erwähnten  Mädchen,  mit  denen 
ich  mich  über  geschlechtliche  Dinge  unterhielt,  mich  an  meinen 
Genitalien.  Seitdem  habe  ich  niemals  wieder  weder  selbst 
onaniert,  noch  bin  ich  dazu  von  anderen  veranlasst  worden.” 
Die  Geschlechtsreife  des  P.  fällt  in  das  14. /15.  Jahr,  wo 
er  eines  Morgens  beim  gewohnheitsmässigen  Kaltbad  ein  Sekret 
an  seinen  Genitalien  beobachtete,  das  von  der  ersten  nächt- 
lichen Pollution  herrührte.  Anderweitige  Zeichen  der  Ge- 
schlechtsreife sollen  sich  bei  P.  erst  später  entwickelt  haben. 
Im  18.  Jahre  zeigte  sich  schwacher  Bartwuchs,  der  mässig 
blieb.  Vom  20.  Jahre  ab,  zu  der  Zeit  seines  Militärdienstes, 
will  er  ein  leises  Hervortreten  der  Brustwarzen,  deren  Um- 
gebung im  Gegensatz  zu  den  umJiegenden  straffen  Partien 
eigentümlich  weich  blieb,  beobachtet  haben.  Ueber  den  ersten 
Versuch  eines  Geschlechtsverkehrs  berichtet  P.  folgendes: 


143 


^Mit  22  Jahren  gab  ich  auf  einer  Reise  in  den  deutschen 
Kolonien  dem  Drängen  einer  sinnlich  stark  veranlagten  adligen 
Dame,  die  ich  auf  der  Ueberfahrt  kennen  gelernt  hatte,  nach. 
Als  ich  bereits  einige  Monate  im  Lande  war,  lud  mich  der 
Mann  jener  Dame,  — zwischen  beiden  Gatten  war  ein  Unter- 
schied von  15  Jahren, — auf  seine  Pflanzung  ein,  mit  der  Bitte, 
ihn  während  seiner  4 wöchigen  Abwesenheit  in  einem  Hafen- 
ort den  Arbeitern  und  europäischen  Angestellten  gegenüber 
zu  vertreten,  da  seine  Frau  der  Negersprache  nicht  mächtig 
sei.  Wiederholt  war  ich  dem  deutlichen  Wunsch  der  Dame 
nach  einem  Coitus  mit  ihr  ausgewichen.  Eines  Nachmittags 
kam  ich  stark  ermüdet  von  einem  weiten  Ritt  zurück  und 
gedachte,  einige  Stunden  zu  ruhen.  Zufällig  (es  kann  aber 
auch  Befehl  der  Dame  gewesen  sein)  hatten  meine  beiden 
Boys  die  Gelegenheit  benützt,  mein  Zelt  auszukehren  und  alle 
Sachen  zum  Schutz  gegen  Feuchtigkeit  zum  Sonnen  ausge- 
breitet. Müde  und  schläfrig,  wie  ich  war,  nahm  ich  das  An- 
erbieten der  Dame,  im  Bett  ihres  Mannes  zu  ruhn,  an,  war 
auch  bald  fest  eingeschlafen.  Ich  erwachte  durch  eine  leiden- 
schaftliche Umarmung  seitens  der  Frau  des  Hauses,  die  sich 
zu  mir  gelegt  hatte.  Den  Liebkosungen  konnte  ich  nicht 
widerstehen  und  so  kam  es,  dass  ich  mit  ihr  koitierte.  Es 
geschah  in  normaler  Weise.  Ich  wiederholte  den  Akt  mit 
jener  Dame,  die  übrigens  steril  war,  noch  2 oder  3 Mal." 

Ueber  seine  körperlichen  Eigenschaften  ist  folgendes  zu 
sagen;  P.  ist  1,84  m lang,  wiegt  72  kg,  hat  gut  entwickelte, 
doch  nicht  übermässig  kräftige  Muskeln,  das  Fleisch  ist  fest 
und  hart.  Er  selbst  fühlt  sich  sexuell  auch  von  grossen  Per- 
sonen bis  zu  der  Untergrenze  von  1,75  m,  jedoch  nicht 
grösser  als  1,86  m angezogen,  namentlich  wenn  Körperfülle 
fehlt,  und  die  Frauen  einen  gut  ausgebildeten  Körper,  keine 
übertriebenen  Muskeln,  aber  auch  kein  schlaffes  Fleisch  be- 
sitzen. P.  treibt  alle  Sportarten  ausser  Rad-  und  Jagdsport, 
letzteren  nicht,  weil  ihm  Jagd  keine  Freude  macht.  Er  hat 
besondere  Vorliebe  für  Fechten,  Reiten,  Turnen  undSchwimmen. 
Den  Tanz  liebt  er  sehr,  kann  ihn  jedoch  wegen  leicht  ein- 
tretender Schwiudelgefühle  zu  seinem  Bedauern  nicht  ausübon. 
Er  bevorzugt  den  harmonischen  Musiktanz  (Schrittanz),  na- 


144 


meutlich  ^lenuett  nach  Art  der  Rococozeit  mit  graziösen  Be- 
wegungen. Seine  Schritte  sind  gross  und  fest  bei  ruhiger 
Körperhaltung.  Er  besitzt  eine  helle,  reine  Haut,  liebt  beim 
Weibe  sehr  von  der  Sonne  gebräunten  Teint.  Besonders  hat 
ihm  die  Haut  der  Pellachinnen  gefallen.  Sein  Haupthaar  ist 
kurz,  dicht  und  sehr  weich.  Arme,  Beine  und  Achselhöhlen 
sind  wenig,  Brust  und  Bauch  garnicht  behaart,  die  Genitalien 
im  männlichen  Typus.  P.  hat  sein  dunkelblondes  Haupthaar 
links  gescheitelt,  vorn  eine  Sträne  gewellt,  gibt  beim  Weibe 
braunem  Haar  in  allen  Nuancen  den  Vorzug.  Er  errötet  nicht 
sehr  leicht,  es  kommt  aber  bei  ernstlichen  Anlässen  vor;  er- 
blasst will  er  noch  nie  sein.  Seine  ziemliche  Schmerzempfind- 
lichkeit vermag  er  durch  starken  Willen  im  Einzelfalle  zu 
mässigen.  Hand  und  Fuss  sind  gross,  sein  Handschlag  ohne 
Affektation,  mit  mässigem,  nicht  zu  kräftigem  Händedruck. 
Er  besitzt  eine  schlanke,  ausgeglichene  Figur,  wie  er  solche 
auch  bei  Frauen  liebt.  Die  Schulterbreite  beträgt,  von  Achsel 
zu  Achsel  gemessen,  52  cm,  der  Brustumfang  in  Einatmungs- 
stellung 98  cm,  die  Taille  68  cm  und  der  Beckenumfang  rund 
unterhalb  der  Hüften  105  cm.  Seine  Brust  ist  männlich  voll 
entwickelt,  Brustwarzen  leicht  feminin.  Er  liebt  beim  Weibe 
volle,  pralle  Brüste.  Die  Ohren  sind  mässig  gross  und  weisen 
keine  Besonderheiten  auf.  Sein  graues  Auge  mit  leicht  grün- 
lichem Schimmer  und  ruhigem  Blicke  zieht  nach  seiner  An- 
gabe viele  Damen  an,  ohne  dass  er  bewusst  damit  kokettiere. 
Er  selbst  liebt  bei  der  Frau  ein  klares  Auge  von  brauner 
oder  grüner  Farbe.  P.  hat  eine  Vorliebe  für  Tannen-  und 
Rosenduft,  jedoch  nur,  wenn  sie  nicht  aufdringlich  sind. 
Parfüm  gebrauche  er  nicht,  schätzt  aber  an  Damen  ein  mässig 
verwendetes  englisches  Parfüm.  Bittere,  salzige  oder  stark 
gewürzte  Speisen  geniesst  er  nicht  gern.  Sein  Gesichtsaus- 
druck wird  allgemein  als  durchaus  männlich  gefunden.  Sein 
Kehlkopf  ist  normal  gebaut.  Die  mässig  laute,  einfache, 
mittelhohe  Stimme  ermüdet  bei  langem  Sprechen  leicht,  bei 
lautem  Sprechen,  z.  B.  Kommandieren,  wird  sie  bald  heiser. 
Bei  Gesang  ist  Neigung  zur  Bassstimme  vorhanden.  Zu 
Zeiten  starker  Arbeitshäufung  leidet  P.  an  Unruhe  und 
Zittern;  Schlaflosigkeit  und  Mattigkeit  sind  vorhanden,  wenn 


145 


vsein  Geschlechtstrieb  sehr  rege  ist  und  nicht  befriedigt  wird. 
An  den  Genitalien  bestehen  keine  Bildungsiehler. 

Die  Gemütsart  des  P.  ist  eher  hart  als  weich,  na- 
mentlich seit  seinem  18.  Jahre.  Er  gibt  an,  keine  starke 
Empfänglichkeit  für  Freude  oder  Schmerz,  keine  besondere 
Lach-  oder  Weinneigung  zu  besitzen.  Er  hat  ein  gleich- 
massiges,  ruhiges  Wesen,  gibt  viel  auf  Familientradition  und 
alte  Abstammung,  hat  aber  für  die  lebenden  Angehörigen 
wenig  Familiensinn;  am  Vaterlande  hängt  er  sehr.  Er  ist  im 
Umgang  liebenswürdig.  Menschenliebe  achtet  und  schätzt  er 
besonders  theoretisch;  früher  war  er  gutmütig,  jetzt  weniger. 
Der  Ehrgeiz  sei  seit  früher  Jugend  bei  ihm  stark  entwickelt, 
doch  bleibt  er  sich  seiner  Grenzen  bewusst.  Auffallen  möchte 
er  nicht  mit  seiner  Person,  sondern  mit  seinen  Arbeiten. 
Herrschsucht  leugnet  er  nicht,  doch  äussert  sich  dieselbe  mehr 
in  einer  gewissen  Rücksichtslosigkeit.  Er  ist  sehr  verschlossen 
und  zurückhaltend;  findet  er  aber  eine  Idee  für  gut,  so  tritt 
er  energisch  dafür  ein;  er  ist  eher  misstrauisch  als  leicht- 
gläubig. ln  Religion  ist  er  über  die  äussere  Aufnahme 
des  Gebotenen  nicht  hinausgekommen;  gleichwohl  schätzten 
ihn  seine  Religionslehrer,  soweit  es  nicht  Dogmatiker  waren, 
wegen  seiner  überlegten,  freimütigen  Antworten.  Einer  Sekte 
gehört  er  nicht  an  und  bringt  er  bei  starker  Ausbildung  des 
Intellekts  dem  Ueber sinnlichen,  Wunder-  und  Aberglauben 
kein  Verständnis  entgegen.  P.  hat  einen  grossen  Hang  zum 
Reisen,  um  zu  lernen,  und  gibt  eine  gewisse  Vorliebe  für  un- 
erwartete sensationelle  Ereignisse  an.  Er  ist  ordentlich  und 
pünktlich,  verschwenderisch  mm  insofern,  als  er  wie  er 
sagt  „das  Aussenleben  der  Reichhaltigkeit  seines  Innenlebens 
anzupassen  sucht“.  An  zwangsmässigen  Vorstellungen, 
Zwangsantrieben  oder  Unterlassungen,  abgesehen  von  dem  Ge- 
schlechtsgebiet, leidet  er  nicht;  doch  ist  in  Bezug  auf  seine 
Verschwendungssucht  hinzuzufügen,  dass  er  das,  was  ihn  in 
seinen  Gedanken  äusserlich  zu  fördern  scheint,  auch  besitzen 
will.  Er  war  früher  sehr  nachtragend,  jetzt  gleich- 
gültiger; schätzt  gerechten  Hass  sehr,  da  er  darin  die 
Triebfeder  mancher  moralischen  Tat  sieht.  Sein  Wille 
ist  anderen  gegenüber  stark  entwickelt,  gegenüber  der 

Ilirschteld,  Die  Transvestiten.  10 


146 


eigenen  Person  nicht  so  sehr.  Furchtsamkeit  ist  ihm  fremd 
er  liebt  nur  energische,  sich  und  ihres  Zieles  bewusste  Per- 
sönlichkeiten. P.  bemerkt  weiter,  zum  Wohlleben  zu  neigen 
und  habe  dies  auf  Fruchtbarkeit  und  Möglichkeit  seiner 
geistigen  Arbeit  einen  grossen  Einfluss.  Ausser  Sport  treibt 
er  keine  körperliche  Tätigkeit.  Alkohol  geniesst  er  massig, 
raucht  aber  reichlich  bessere  Zigaretten,  was  ihm  auch  an 
Damen  gefällt;  Völlerei  mag  er  nicht  leiden.  Sein  Gedächtnis 
bezeichnet  er  als  nicht  hervorragend,  es  hat  durch  Chinin- 
genuss in  den  Tropen  gelitten;  Aufmerksamkeit  wendet  er 
nur  ihn  interessierenden  Dingen  zu,  will  Rückgang  der  Phan- 
tasie infolge  zunehmender  Verstandestätigkeit  bemerkt  haben. 
Seine  geistige  Beanlagung  sucht  möglichst  das  gesamte 
Geistesleben  der  Zeit  nachzuempfinden  und  strebt  sich  kritisch 
zu  betätigen.  Literarische  oder  künstlerische  Veranlagung  ist 
nicht  vorhanden.  Er  beschäftigt  sich  besonders  mit  der  Lek- 
türe, die  sein  Studium  betrifft,  geniesst  auch  Dichtungen, 
namentlich  der  Klassiker;  Zeitungen  liest  er  nur  zur  Re- 
gistrierung der  wichtigsten  Vorgänge  auf  politischem,  recht- 
lichem und  sozialem  Gebiete.  Brieflicher  Verkehr  als  Ideen- 
austausch ist  ihm  sehr  erwünscht.  Uebt  Musik  nicht  aus,  hört 
sie  aber  gern;  liebt  namentlich  Zusammenspiel  von  Flügel, 
Violine  und  Flöte,  besitzt  Neigung  aber  keine  rechten  Fähig- 
keiten zur  Schauspieler kunst.  Diejenigen  Personen,  die  ent- 
sprechend ihrer  Individualität  den  Zielen  der  Menschheit 
rücksichtlos  nachstrebten  und  die  zur  Erreichung  ihrer  der 
Allgemeinheit  zu  Gute  kommenden  Gedanken  Opfer  nicht 
scheuten,  um  sich  und  ihrem  Wollen  die  Bahn  frei  zu 
machen,  sind  sein  Ideal.  Sport  ist  ihm  notwendige  Er- 
gänzung seiner  geistigen  Tätigkeit;  zu  „modernen  Amüsements ‘‘ 
hat  er  keine  Neigung.  Am  politischen  Leben  nimmt  er  bis- 
her nicht  teil;  in  seinem  Studium  fühlt  er  sich  zufrieden.  P. 
ist  ein  Freund  geschmackvoller  Kleidung,  die  elegant  aber 
nicht  auffällig  sein  soll.  Kleiderformen,  die  die  Körperlinien 
andeuten,  aber  nicht  zu  deutlich  markieren,  bevorzugt  er  und 
liebt  sie  auch  am  anderen  Geschlecht;  er  hat  dunkle  Farben 
namentlich  blau,  schwarz  und  braun  gern,  Wäsche  nur  weiss; 
schätzt  guten  Schmuck.  Im  allgemeinen  ist  er  beliebt:  in  ihm 


147 


ferner  stehenden  Kreisen  gilt  er  für  stolz  und  exclusiv.  Ge- 
sellschaftsleben braucht  er  zuweilen,  lebt  aber  sonst  sehr  für 
sich,  liebt  das  Landleben  oder  grössere  Kulturstätten. 

Ueber  seine  geschlechtliche  Neigung  und  Triebrichtung 
äussert  sich  P.  nun  wie  folgt:  „Mein  Geschlechtstrieb  ist 

auf  das  Weib  gerichtet,  an  dem  ich  all  das  schätze,  was  den 
Männern  fehlt:  langes  Haar,  die  Körperform,  schöne  Brüste 
sowie  den  Uebergang  von  der  Taille  zum  Becken.  Besonders 
angenehm  und  schön  empfinde  ich  den  Bau  der  weiblichen  Ge- 
nitalien im  Gegensatz  zu  den  männlichen,  namentlich  ihre 
Lage  im  Innerorganismus;  beim  Weibe  das  Diskrete,  im  Ge- 
gensatz zu  dem  Aufdringlich-verletzenden  des  männlichen 
Organes.  Vor  der  Geschlechtsreife  fand  ich  mich  in  meinen  Ge- 
danken vorzugsweise  mit  Mädchen  übereinstimmend,  ohne  aller- 
dings jemals  eine  Triebrichtung  auf  das  männliche  Ge- 
schlecht zu  empfinden.  Im  weiteren  Laufe  der  Entwicklung, 
als  mir  die  körperlichen  Reize  des  Weibes  bewusst  wurden, 
war  es  ästhetisches  Wohlgefallen,  was  mich  zu  dem  weib- 
lichen Geschlechte  zog.  Durch  den  Aufenthalt  einer  20  jähri- 
gen Kusine,  die  sich  stets  elegant  trug,  lernte  ich  die  Aus- 
stattung weiblicher  Wäschestücke  kennen.  Es  war  mir  ein 
inneres  Wohlbehagen,  zu  sehen,  wie  die  intimsten  Stücke  mit 
prachtvollen  Spitzen  und  Stickereien  besetzt  und  in  so  schönen 
Formen  gefertigt  waren.  Wenn  ich  mir  vorhielt,  dass  diese 
Sachen  doch  nicht  zur  Schau  getragen  werden,  so  entsprach 
dies  sehr  meinem  Geschmack,  ich  war  der  Meinung,  dass  man 
in  erster  Linie  sich  selbst  gut  schmücken  und  kleiden  müsse, 
auch  wenn  Dritte  es  nicht  gewahr  werden,  besonders  dann, 
wenn  ein  entwickeltes  Empfinden  für  schöne  stilvolle  Sachen 
vorhanden  ist.  Später  nach  der  Pubertät  und  vollends  nach 
dem  ersten  Koitus  empfand  ich  geschlechtlich  oft  wie  ein 
Weib.  Ich  sehnte  mich  nach  Liebkosungen  und  wenn  ich  in 
gesteigerte  geschlechtliche  Stimmung  kam,  so  geschah  es,  dass 
ich  mich  in  die  Lage  eines  kodierenden  Weibes  versetzte  und 
mir  die  Anwesenheit  des  anderen  Teiles  suggerierte.  Doch 
traten  auch  zuweilen  Vorstellungen  und  Wünsche  zur  Aus- 
übung des  Beischlafes  nach  Männerart  ein.  Das  waren  aber 
die  selteneren  Fälle.  Es  ist  beim  Akt  wiederum  das  Auf- 

10* 


148 


nehmende,  Empfangende.  Darbringende,  was  mir  so  sympa- 
thisch ist  und  mich  dem  AVeibe  so  gemütsverwandt  macht. 
Sozial  und  geistig  über  mir  stehende  Personen  verfeinerter 
Art  ziehen  mich  an;  denn  ich  betrachte  das  ganze  geschlecht- 
liche Triebleben  nicht  als  leibliches  Bedürfnis,  sondern  sehe 
in  ihm  seelische  Bande.  Mich  reizt  mehr  der  halbverhüllte 
Körper  als  der  nackte.  Stimmen  ziehen  mich  nicht  besonders 
an,  können  aber  abstossend  wirken.  Eine  zu  weiche, 
schwellende  Haut  wie  eine  sich  allzu  hart  anfühlende 
Muskulatur  sind  mir  unangenehm.  Rein  seelische  Momente, 
Eigenschaften  des  Charakters,  des  AAullens  oder  des  Intellekts 
sind  wohl  ausschliesslich  bei  mir  bestimmend.  Im  allgemeinen 
fühle  ich  mich  alsAVeib  zumAA^eibe  hingezogen  und  würde 
wohl,  wäre  ich  vollkommen  AA’eib,  gleichgeschlechtlich  lieben. 
Sehr  häufig  sah  ich  mich  im  Traum  als  Weib  und  empfand 
schon  einigemale  deutlich  die  physiologischen  Vorgänge  eines 
an  mir  als  AA'eib  vollzogenen  Beischlafes.  Mich  fesseln  un- 
willkürlich mehr  Bilder,  Photographien  und  Darstellungen  von 
Damen,  wie  dieselben  auch  auf  der  Strasse,  im  Theater  etc. 
meine  Aufmerksamkeit  erregen;  dem  weiblichen  Geschlecht 
gegenüber  fühle  ich  mich,  weil  mehr  verwandt,  unbefangener; 
deshalb  ist  diesem  gegenüber  das  Schamgefühl  etwas  geringer 
als  beim  männlichen  Geschlecht.  Ich  scheue  mich  zum  Bei- 
spiel, in  Herrengesellschaft  zweifelhafte  AVitze  zu  hören  oder 
gar  zu  erzählen.  In  meinen  Zuneigungen  bin  ich  mehr  be- 
ständig. Freundschaft  ist  für  mich  das  Zusammengehen 
zweier  Menschen,  die  geistig  gleich  stark  und  von  gleichem 
Streben  beseelt  sind;  versagt  einer,  so  endet  das  Band  und 
der  andere  geht  allein  weiter,  da  er  sich  nicht  aufhalten  lassen 
darf.  Anders  die  Liebe,  die  den  Schwankenden  zu  stärken 
und  zu  sich  zu  ziehen  sucht.  Da  ich  rücksichtslos  genug  bin, 
kann  nicht  nur.  sondern  muss  Freundschaft  mir  Liebe  er- 
setzen. Ich  bin  ledig,  habe  auch  keine  unehelichen  Kinder. 
Der  Geschlechtstrieb  in  seiner  Beziehung  auf  das  See- 
lische ist  gleichmässig  andauernd,  mitunter  von  Steigerungen 
unterbrochen,  doch  nie  unter  ein:  gleichbleibendes  Niveau 
sinkend.  Anders  in  Beziehung  auf  das  Tierisch-Physische. 
Hier  ist  der  Trieb  sehr  entwickelt  und  zuweilen  (wohl  durch 


149 


meine  sitzende  Arbeitsweise  veranlasst)  ausserordentlich  stark. 
Eine  Zeitlang  versuchte  ich  die  Unterdrückung  durch  Sport 
und  Abwechslung;  dann  aber  fehlte  mir  die  Zeit  für  solche 
Betätigung.  Im  Interesse  der  kontinuierlichen  Erhaltung 
meiner  Arbeitsfähigkeit  musste  ich  dem  Triebe  nachgebeu. 
Ich  folgte  meiner  Neigung,  mich  als  Weib  zu  kleiden  und  zu 
geben.  Wusste  ich  mich  dann  im  Aeusseren 
vollkommen  übereinstimmend  mit  mei- 
nem Empfinden,  so  trat  allmählich  auch 
Ruhe  ein.  Selbstbefriedigung  durch  Onanie  oder  andere 
als  im  normalen  Verkehr  herbeigeführte  Ejakulation  fand 
nicht  statt.  Seit  dem  auf  einer  Reise  in  den  Kolonien  er- 
wähnten Fall,  in  dem  ein  Wunsch  nach  sexueller  Betätigung 
meinerseits  nicht  vorlag,  habe  ich  während  jetzt  1%  Jahr 
nur  viermal  geschlechtlich  verkehrt.  Es  geschah  in  einem 
Fall  in  der  Sommerfrische  im  Hotel  mit  einer  Gouvernante 
in  den  drei  anderen  Fällen  mit  der  Tochter  meiner  Wirtin. 
Im  ersten  Fall  koitierten  wir  in  normaler  Stellung,  ln  den 
anderen  Fällen  wusste  das  Mädchen,  die  geistig  über  dem 
Durchschnitt  stand,  um  meine  Neigung  zur  Verkleidung. 
Wenn  sie  auch  nicht  gleichempfindend  war,  so  hatte  sie  den 
Willen,  mir  zu  helfen.  Um  mich  als  Weih  fühlen  zu  können, 
legte  ich  mich  mit  Damenhemd,  Höschen  und  langen  Strümpfen 
zu  Bett,  während  sie  die  Stellung  und  Lage  eines  Mannes 
einnahm  Im  allgemeinen  empfinde  ich  beim  normalen  Akt- 
in männlicher  Betätigung  kein  nennenswertes  Lustgefühl;  ich 
■betrachte  dann  die  Funktion  als  eine  blosse  Leibesverrichtung. 
Wesentlich  anders  verhält  es  sich,  wenn  ich  Weib  bin.  Einen 
Versuch,  mich  in  irgend  einer  Form  mit  einem  Manne  zu 
vereinigen,  habe  ich  nie  unternommen.  Da  ich  vermöge 
Suggestion  die  Empfindung,  als  Weib  mit  einem  Manne  zu- 
sammen zu  sein,  herbeizuführen  vermag,  so  möchte  es  mir 
am  geeignetsten  erscheinen,  wenn  ich  mit  einem 
Weibe  Zusammenkommen  würde,  das  die 
Rolle  des  Mannes  spielt.  Event,  würde 
der  Eindruck  auf  mich  verstärkt  werden, 
wenn  es  ein  Weib  ist,  das  sich  — vice  versa 
— gerne  als  Mann  kleidet  und  fühlt.  Am 


150 


leichtesten  könnte  ich  wohl  durch  Instruktion  einer  Prosti- 
tuierten zum  Ziele  gelangen,  doch  ist  es  mir  unmöglich,  mit 
solchen  Personen  in  Berührung  zu  treten,  bei  denen  doch 
jedes  höhere  Empfinden  erstickt  ist.  Neigung  zu  geschlecht- 
lich unreifen  Personen  oder  Neigung,  der  geliebten  Person  körper- 
liche oder  seelische  Schmerzen  zuzufügen,  noch  von  der  geliebten 
Person  eine  solche  Behandlung  zu  erleiden,  also  masochistische 
oder  sadistische  Anwandlungen  sind  niemals  aufgetreten.  Ich 
leide  überhaupt  ausser  an  meinem  erotischen  Verkleidungstrieb 
an  keiner  sexuellen  Abweichung  von  der  Norm.  Auch  dieser 
dient  nicht  direkt  zu  einer  Steigerung  sexueller  Empfindungen, 
vielmehr  steht  er  im  Zusammenhang  mit  der  primären  Tat- 
sache, dass  ich  in  Denken  und  Fühlen  in  vielfacher  Hinsicht 
feminin  bin.  Kleide  ich  mich  somit  als  Weib,  so  geschieht 
das  in  dem  Bestreben,  jenem  Teil  meines  Gemütslebens  ein 
Relief  im  äusseren  Gebühren  zu  verleihen. 
Als  Beweis,  dass  ich  die  Verkleidung  nicht  im  fetischistischen 
Sinne  vornehme,  möge  der  Umstand  angeführt  werden,  dass 
ich  seit  ich  in  der  Lage  bin  mir  eigene  zu  kaufen,  nie  von 
anderen  getragene  Frauenwäsche  anlegen  würde,  sondern  z.  B. 
in  bezug  auf  die  Wäsche  sehr  wählerisch  bin  und  in  deren 
Auswahl  eine  gewisse  Eleganz  nicht  ausser  Acht  lasse;  sollte 
ich  andere  als  Kniebeinkleider  mit  reicher  Verzierung  tragen, 
so  würde  ich  eher  ganz  auf  diese  Kleidungsstücke  verzichten. 
Der  Trieb  beruht  m.  E.  vollkommen  bei  mir  auf  einer  inneren 
Anlage,  so  dass  ich  einen  bestim.mten  Zeitpunkt  seines  Ent- 
stehens nicht  anzugeben  vermag.  Ich  betätige  den  Trieb  in 
mässigem  Umfange  seit  meinem  10.  Lebensjahre;  ich  legte 
damals  — es  war  im  Ostseebad  Swinemünde  — erstmals 
Mädchenwäsche  an,  die  ich  mir  von  der  Tochter  einer  be- 
kannten Familie  verschafft  hatte.  Da  ich  die  Verkleidungen 
stets  geheim  hielt,  beschränkte  ich  mich  auf  die  Bekleidung 
mit  Wäsche  während  der  Nacht  oder  wenn  ich  ganz  allein  im 
Hause  war.  Späterhin,  namentlich  im  15.  bis  17.  Jahre, 
trug  ich  unter  meiner  Tageskleidung  Damenhemden  und  Hosen, 
die  ich  mir  von  meinem  Taschengelde  anschaffte.  Als  der 
Vorrat  von  Damenwäsche  dann,  ich  hatte  dieselbe  mitwaschen 
lassen,  von  meiner  Mutter  entdeckt  wurde,  gab  es  eine  Aus- 


151 


einandersetzung,  in  der  ich  jedoch  die  Artung  meines  Triebes 
nicht  zu  erkennen  gab,  da  ich  annahm,  dass  mich  meine 
Mutter  doch  nicht  verstehen  würde.  Bezüglich  der  übrigen 
Stücke,  Eöcke,  Blousen  und  Hüte,  beschränkte  ich  mich  vor- 
läufig- auf  die  Mitbenutzung  der  Garderobe  meiner  Mutter 
SQ-wie  deren  Gesellschafterin.  Ich  besitze  auch  eine  gut  ge- 
arbeitete Perücke,  die  ich  jeweils  bei  den  Verkleidungen  sowie 
des  Nachts  trage.  Auch  habe  ich  ein  Damenhemd  mit  reicher 
Garnierung.  Während  meiner  Studienzeit  hatte  ich  einige 
Kopfkissenbezüge  mit  Spitzeneinfassung  und  Banddurchzug, 
die  ich  jeweils  den  Wirtinnen  zur  Verwendung  für  meine 
Betten  gah.  Seitdem  ich  nunmehr  im  Hause  meiner  Mutter 
wohne,  muss  ich  auf  diese  verzichten.  Sollte  das  Resultat  der 
Prüfung  meines  Falles  dahin  lauten,  dass  ich  fernerhin  meinem 
Triebe  nachleben  darf,  so  werde  ich  mir  ausserhalb  des  mütter- 
lichen Hauses  ein  Zimmer  mieten  und  dieses  für  mich  als 
Weib  einrichten.  Trotz  dieser,  wenn  auch  nicht  andauernden, 
so  doch  intensiven  Stärke  meiner  Neigung,  hat  es  an  Ver- 
suchen zu  deren  Unterdrückung  nicht  gefehlt.  Ich  benutzte 
hierzu  die  Reste  meiner  streng  christlichen  Erziehung  und 
hielt  mir  wieder  und  immer  wieder  das  Bibelwort  des  alten 
Testamentes  vor;  „Und  Männer  sollen  nicht  in  Weiber- 
kleidern einhergehen.“  Ferner  versuchte  ich,  mir  in  grotesker 
Weise  eine  Ueberraschung  in  der  V erkleidung  durch  Dritte 
vorzustellen,  oder  malte  mir  die  Situation  so  aus,  dass  man 
mich  eines  Morgens  mit  der  Perücke  und  dem  Damenhemd 
etwa  tot  im  Bette  finden  möchte.  Dann  hielt  ich  mir,  der 
ich  dazu  neige  die  Gesetze  der  Oekouomik  sowohl  in  bezug 
auf  geistige  wie  physische  Energie  zu  betätigen,  das  Zeiter- 
fordernis der  Verkleidung  vor  Augen.  Führten  letztere  Er- 
wägungen zu  dem  Teil-Erfolg,  dass  ich  die  Verkleidung 
während  der  Tagesstunden  unterliess  und  lieber  ein  oder  zwei 
Stunden  früher  aufstand,  so  vermochten  auch  alle  anderen 
Mittel  nicht,  mich  von  der  Betätigung  des  Triebes  abzu- 
bringen. Dann  liessen  mich  die  Befreiung  und  Erleichterung, 
die  mir  die  Verkleidung  brachte,  die  Gründe  dagegen  als  un- 
zureichend empfinden.  Es  bedrückt  mich  sehr,  dass  ich  meiner 
Mutter  gegenüber,  obwohl  ich  die  Verschiedenheit  in  grund- 


152 


sätzlicheii  Lebensanschauungsiragen  ciidgiltig  mit  ihr  be* 
sprochen  habe  und  dies  zu  einer  innerlichen  Trennung  ge- 
führt hat,  stets  das  heimliche  Wesen  zeigen  und  ihr  meine 
Neigung  verbergen  muss,  umsomehr,  als  doch  die  Möglichkeit 
nicht  ausgeschlossen  erscheint,  dass  trotz  aller  Vorsicht  ich 
von  ihr  in  meiner  Verkleidung  angetroffen  werden  könnte. 
Ihrer  Auffassung  nach  könnte  eine  solche  Neigung  nur 
eine  niedrige  ^Schmutzerei"  sein,  da  sie  annehmen  würde,  ich 
benützte  diese  Kleidung  lediglich  zur  Erregung  meiner  Sinnen- 
lust  und  wollte  mich  solcherart  selbst  befriedigen.  Ich  habe 
es  deshalb  an  unauffälligen  Versuchen  in  gelegentlichen  Unter- 
haltungen nicht  fehlen  lassen,  sie  mit  meiner  Neigung  ver- 
traut zu  machen;  sei  es,  dass  ich  an  Erzählungen  aus  meiner 
Kindheit  (während  einer  Zeit  rief  man  mich  damals  Erika) 
anknüpfte,  oder  Aeusserungen  der  Gesellschafterin  oder  der 
Dienstmädchen  aufgriff,  die  zuweilen  ihre  Verwunderung  über 
meine  Geschicklichkeit  in  Tisch-Arrangements,  häuslichen  Dispo- 
sitionen und  anderen  Formen  weiblicher  Betätigung  hervor- 
hoben. Das  Resultat  ist  jedoch  ein  äusserst  negatives; 
höchstens,  dass  ich  ab  und  zu  hören  muss;  „Ach  ja,  ich  hatte 
mir  ja  so  sehnlich  eine  Tochter  gewünscht;  denn  ich  weiss 
wohl,  dass  Söhne  sich  so  leicht  von  der  ^ilutter  losreissen!" 

Ich  lebte  des  Glaubens,  dass  mein  Fall  eine  ganz  ver- 
einzelte Erscheinung  sei,  die  im  gewissen  Sinne  gegen  die 
Natur  verstosse.  Gleichwohl  vermochte  ich  mich  nicht  als 
krank  zu  bezeichnen,  da  eine  nachteilige  Beeinflussung  der 
Geistesanlagen  nicht  eintrat,  wenn  ich  meinen  Trieben  nach- 
gab. G e w'  a n n ich  doch  im  Gegenteil  dann,  wenn  ich 
mich  äusserlich  als  Weib  geben  konnte  die  nötige  Sammlung 
und  Ruhe.  Ob  mein  Zustand  naturwidrig  ist,  lässt  sich 
meines  Erachtens  nur  individuell  entscheiden.  In  meiner  Ar- 
beitsweise bin  ich  zuerst  nachempfindend  und  rezeptiv;  nach- 
dem ich  dann  die  mannigfachen  Eindrücke  geprüft  und  in  mir 
habe  reifen  lassen,  kann  ich  erst  das  Neue  von  mir  geben. 
So  äusserte  ich  einmal,  dass  ich  in  solchen  Zeiten  der  geisti- 
gen Produktion  die  Empfindungen  eines  schwangeren  Weibes 
in  seelischer  Beziehung  hätte:  einmal  das  starke  Hoffen  und 
die  damit  verbundene  Freude,  dann  wdeder  das  Verzagen  am 


153 


Gelingen.  Ich  würde  weniger  eine  Aenderung  meines  ge- 
schlechtlichen Zustandes  nach  einer  Betonung  der  männ- 
lichen Seite  hin  wünschen,  als  eine  Vervollkomm- 
nung nach  der  weiblichen  Seite,  soweit  es 
sich  auf  das  Physische  bezieht  (Genitalien,  langes  Haar, 
Brüste  etc.).  Personen,  die  ähnlich  wie  ich  empfinden  mögen, 
habe  ich  nie  kennen  gelernt.  Darüber,  ob  meine  Veranlagung 
einem  Natur  zweck  dient,  vermag  ich  mir  keine  Meinung  zu 
bilden.  Ich  bin  der  Ansicht,  dass  mein  geschlechtliches 
Empfinden  die  notwendige  Ergänzung  meiner  psychischen  In- 
dividualität ist,  die  in  der  geistigen  Art  des  "Weibes  so  viele 
verwandte  Züge  findet. 

Aus  den  weiteren  Korrespondenzen  mit  Herrn  P.  seien 
noch  einige  Stellen  hervorgehoben,  die  das  psychologische  und 
Lebensbild  seiner  Persönlichkeit  vervollständigen. 

„Nur  notgedrungen,  so  erzählt  meine  Mutter,  habe  sie 
mir,  den  sie  selbst  in  ihrer  Sehnsucht  nach  einer  Tochter  mit 
Vorliebe  Erika  rief.  Knabenanzüge  machen  lassen.  \Vurde  sie 
doch  in  ihren  Wünschen  unterstützt  durch  die  Aeusserungen 
Dritter  über  das  mädchenhafte  Aussehen  des  Jungen. 

Waren  ohne  Zweifel  w'eibliche  Elemente  von  Beginn  an  in 
mir,  so  wurde  deren  Entwicklung  zum  mindesten  nicht  be- 
einträchtigt durch  den  Umstand,  dass  ich  fast  ausschliesslich 
der  Erziehung  durch  die  Mutter  unterstand.  Mein  Vater, 
Direktor  eines  weit  im  Ausland  verzweigten  kommerziell- 
industriellen Unternehmens,  war  sehr  Gel  abw'esend.  War  er 
zu  Hause,  so  w'ar  er  nicht  derjenige,  dem  ich  mich  rückhalt- 
los vertrauen  mochte.  Sein  puritanischer  Sinn,  der  dem  P.- 
schen  Geschlechte  von  lange  her,  besonders  aber  von  dem 
Herrenhuter  Vorfahr  Graf  Z.,  anhaftet,  Hess  mich  ihn  stets 
nur  als  einen  äusserst  rechtschaffenen,  streng  frommen  — 
wenn  auch  nicht  pietistischen  — Mann  erscheinen. 

Weit  mehr  hat  auch  meiner  Mutter  süddeutsche  Eigen- 
art als  Badenserin  auf  mich  eingewirkt  gegenüber  der  mittel- 
deutschen Denkungsart  des  Vaters.  Gleichwohl  Hess  auch  sie 
mir  nichts  durchgehen  und  in  puncto  Religion  und  deren 
Uebung  merkte  man  nicht  zuletzt  ihre  frühere  Zugehörigkeit 
zur  katholischen  Kirche. 


154 


Persönliche  Erinnerungen  an  meine  Kindheit  habe  ich 
keine,  nur  einzelne  ungewisse  Empfindungen  über  das  Spiel 
mit  meinen  Puppen,  das  Erlernen  des  Vater-Ünsers  und  die 
Versuche  der  Betätigung  meiner  Kochkunst. 

Im  Sommer  1896  siedelten  meine  Eltern  nach  Leipzig 
über.  Für  mich  hatte  dieser  Umstand  den  unangenehmen  Bei- 
geschmack, dass  ich  eine  Umschulung  durchmachen  musste. 
Dazu  kam  noch,  dass  mein  Vater  infolge  Missstimmigkeiten 
mit  Geschäftsleuten  damals  sehr  gereizt  wurde,  worunter  ich 
und  meine  Mutter  nicht  minder  viel  litten.  Dieser  Zustand 
meines  Vaters  führte  ihn  denn  1898  auf  Anraten  des  Arztes 
im  Frühjahr  nach  Wiesbaden.  Da  der  Aufenthalt  dort  längere 
Zeit  dauern  sollte,  so  folgten  wir  ihm  im  März.  Am  4.  April 
verlor  ich,  nachdem  am  Tage  vorher  eine  herrliche  Rhein- 
fahrt en  famille  uns  alle  entzückt  hatte,  meinen  Vater  durch 
seinen  unerwarteten  Tod.  Meine  Mutter  war  zunächst  untröst- 
lich und  liess  sich  in  dieser  Verfassung  bestimmen,  zu  ihrer 
Schwester  nach  St.  zu  ziehen,  die  kinderlos  verheiratet  und 
in  den  besten  materiellen  Verhältnissen  lebte.  Um  einen  Halt 
zu  haben,  zog  meine  Mutter  für  die  Tage,  die  wir  noch  bis 
zum  August  98  in  Wiesbaden  verbrachten,  eine  Nichte  mieines 
Vaters  zu  sich.  Durch  diese  Kusine  lernte  ich,  wie  schon  im 
Fragebogen  angeführt,  die  Ausstattung  weiblicher  Wäsche- 
stücke kennen  und  habe  ich  damals  wiederholt  solche  Wäsche 
angelegt.  Von  jeher  hatte  ich  mehr  das  Bedürfnis  mit  weib- 
lichen Freunden  zu  verkehren  denn  mit  männlichen;  nicht  aus 
einem  Sinnentrieb,  sondern  aus  gemütlicher  Veranlagung  her- 
aus. Jedoch  war  ich  hierbei  sehr  wählerisch.  Ich  be- 
tätigte hier  wie  bei  anderen  Gelegenheiten  die  Abneigung  gegen 
den  „Armleutegeruch“,  den  ich  jedoch  nicht  auf  Kreise  ma^ 
terieller  Armut  beschränke. 

Nachdem  ich  dem  Wunsch  meiner  Eltern  — zuletzt  meiner 
Mutter  — . ich  möge  Theologie  studieren,  nicht  gefolgt  war, 
■ÄUirde  mir  ein  anderes  Studium  fürs  nächste  nicht  gestattet: 
ich  wurde  Kaufmann.  Doch  wusste  ich  es  nach  2 Jahren 
durchzusetzen,  dass  ich  meiner  Neigung  zum  Studium  folgen 
und  Nationalökonomie  studieren  durfte. 


155 


Während  der  Studienzeit  — vornehmlich  in  Tübingen  — 
gab  ich  mich  zu  wiederholten  Malen  dem  Verkleidungstrieb 
hin.  Ich  schaffte  mir  nach  und  nach  eine  vollkommene  Damen- 
ausstattung an,  die  sich  bis  auf  das  Bett  erstreckte,  indem 
ich  mit  Spitzen  und  Stickerei  versehene  Kissenbezüge  mein 
Eigen  nannte.  Ganz  besonderen  Wert  legte  ich  auf  die 
Dessous:  Hemden  von  feinem  Tuch,  Beinkleider  in  Knieform, 
in  moderner  Weite,  mit  Stickerei,  Spitzen  und  Banddurchzug, 
Battiströckchen  und  durchbrochene  Strümpfe.  Darüber  trug 
ich  einen  plissierten  Unterrock  mit  Seidenvolant  und  Lack- 
Halbschuhe. 

Wenn  ich  in  dieser  Verkleidung  arbeitete,  so  warf  ich 
über  mich  einen  japanischen  Ueberwurf,  den  ich  von  meiner 
Reise  mitgebracht  hatte.  Nebenbei  bemerkt,  ich  führte  auch 
auf  der  Reise  nach  Madagaskar  und  Ost-  und  Südafrika 
Damenwäsche  bei  mir,  so  vie  ich  es  auch  stets  auf  grösseren 
oder  kleineren  Reisen  tue.  Grund  hierfür  ist,  dass  ich  mich 
in  den  Hotels  ungestörter  verkleiden  kann. 

Fragt  man  mich  nach  den  Beweggründen  zu  jenem  Ver- 
halten, so  vermag  ich  zunächst  nur  diese  Antwort  zu 
geben : 

Es  geht  meiner  Auffassung  zuwider,  dass  in  der  Askese, 
in  der  Abkehr  vom  Triebleben,  die  Seele  grösser  wird.  Je 
stärker  ich  eine  sinnliche  Seligkeit  fühle,  um  so  mehr 
empfinde  ich  in  deren  Herbeiführung 
geistige  Vervollkommnung.  Um  die  Intensität 
des  seelischen  Lebens  — und  der  intellektuellen  Betätigung 
— zu  steigern,  scheint  es  mir  notwendig,  das  Glück  des  kör- 
perlichen Lebens  zu  erhöhen.  Wurden  bislang  die  Gesetze  der 
Natur  entdeckt,  so  sind  es  heute  die  Gesetze  der  Seele,  die 
wir  kennen  lernen  müssen;  dann  erst  können  wir  die  Gesetze 
gesellschaftlichen  Lebens  erkennen  und  entdecken.  Heute 
handelt  es  sich  immer  noch  um  das  Materielle,  um  den  Lebens- 
unterhalt. Wir  müssen  aber  auch  lernen,  die  Ursachen  des 
Leidens  fortzuschaffen,  das  Leben  zu  verlängern,  zu  sichern, 
zu  verschönern.  Hierfür  sirrd  überall  Ansätze  vorhanden;  sie 
kranken  aber  alle  daran,  dass  sie  erst  nur  noch  Früchte  der 


156 


\’ernunft  sind.  Die  tiefste  Weisheit  liegt  aber  nicht  in  unserer 
Vernunft,  sondern  in  den  Empfindungen,  die  dem  bewussten 
Willen  oft  entgegengesetzt  sind. 


_Es  wird  verständlich  sein,  wenn  ich  das  Bedürfnis  habe, 
nach  einer  Darstellung  der  Zusammenhänge  meiner  transvesti- 
tischen  Veranlagung  mit  der  Tätigkeit  des  Intellekts  auch 
über  die  Einwirkungen  dieses  Triebes  auf  die  Gefühlswelt  einige 
analytische  Angaben  zu  machen.  Die  Zweckmässig- 
keit einer  solchen  Ergänzung  wird  bei  mir  nachgerade  zur  Not- 
wendigkeit, da  ich  in  beträchtlichem  Umfange  unter  dem  Zwie- 
spalt leide,  der  daraus  entsteht,  dass  mir  die  reine  Wahr- 
nehmung sinnlicher  Erscheinungen  getrübt  wird  durch  die  so- 
fort hinzutretende  Betätigung  des  Verstandes.  Es  ist  mir 
nicht  möglich,  irgend  eine  Wahrnehmung  zu  machen,  ohne 
alsbald  nach  ihrer  Entstehung,  ihrem  ursächlichen  Zusammen- 
hang mit  den  ihr  zugrunde  liegenden  äusserlichen  Tatsachen 
und  ihrer  Zweckrichtung  zu  fragen.  Ein  reiner  Sinnengenuss 
ist  damit  m den  meisten  Fällen  für  mich  ausgeschlossen.  So 
suche  ich  stets,  ein  Kunstwerk  mehr  zu  verstehen  als  zu  ge- 
messen und  es  lediglich  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung  auf 
mich  einwirken  zu  lassen. 

Ich  neige  zu  der  Ansicht,  dass  der  Grund  hierfür  nicht 
in  einer  Unempfänglichkeit  für  ästhetische  Werte  liegt,  sondern 
völlig  sekundär  entstanden  ist  aus  dem  Bedürfnis,  über  mich 
nach  jeder  Richtung  ins  Klare  zu  kommen.  Notwendiger- 
weise führte  dieses  Bestreben  zu  einer  Steigerung  der  Er- 
kenntnistätigkeit, zu  einer  weitgehenden  Anwendung  der  durch 
die  Logik  gebotenen  Mittel  für  eine  solche  Erkenntnis.  Die 
primär  wirkende  Ursache  sehe  ich  aber  in  jener  Unausge- 
glichenheit meines  Wesens,  die  ich  wiederum  zurückführe  auf 
jene  Mischung  femininer  und  männlicher  Elemente  in  der  Ge- 
fühls- und  Willenstätigkeit.  Deren  äusserer  Ausdruck  ist 
schliesslich  der  Verkleiduugstrieb. 

Eine  bestimmte  Zeit,  in  der  meine  Geschlechtslust  er- 
wachte, vermag  ich  nicht  anzugeben.  Die  „Aufklärungen“, 
die  ich  auf  dem  üblichen  Wtege  durch  Schulkameraden  über 


157 


die  orgaaischen  Unterschiede  der  Geschlechter  erhielt,  weckten 
nicht  so  sehr  den  Geschlechtstrieb  als  vielmehr  die  Neugier 
zum  Sehen,  zum  Kennenlernen,  'Zum  Verstehen  der  Funktionen. 
Das  Ergebnis  war,  dass  ich  ungleich  grösseres  Wohlgefallen 
am  weiblichen  Körper  fand  als  an  dem  männlichen.  Schon 
äusserlich:  das  Fehlen  der  Behaarung  der  Gliedmassen,  des 

Leibes,  die  etwa  vorhandene  schöne  Formen  stark  zu  be- 
einträchtigen geeignet  ist.  Dann  die  Uebereinstimmung  des 
Haupthaares  mit  der  Fülle  und  Harmonie  der  Körperteile: 
bildet  es  doch  gewissermassen  einen  natürlichen  Mantel.  Ferner 
die  Grösse  und  die  Formen  der  Hände  und  Füsse,  die  beim 
Weibe  harmonischer  mit  dem  Leibe  in  Verbindung  stehen  als 
beim  Manne;  desgleichen  die  Arme.  Weiterhin  die  Entwick- 
lung des  Busens  mit  jener  natürlich-schönen  Linie  vom  Hals 
zum  Leib.  Endlich  aber  war  es,  wie  schon  im  Fragebogen 
angedeutet,  die  Anordnung  der  Genitalien,  die  mir  den  Mann 
hässlich  erscheinen  liess.  Es  liegt  etwas  Bestialisches  in  der 
Ostentativität,  mit  denen  sich  die  männlichen  Organe  geltend 
machen.  Ganz  besonders  in  Fällen  geschlechtlicher  Erregung 
ist  mir  der  Anblick  verletzend.  Wie  anders  beim  Weibe,  dem 
ich  hierin  eine  grössere  Vollkommenheit  als  menschliche 
Wesenserscheinung  zuspreehe.  Alles  ist  diskret  und  un- 
auffällig. Es  wmre  mein  Wunsch,  schon  um  dieser  Eigen- 
schaften willen,  ein  Weib  zu  sein.  Es  wäre  mir  eine  Freude, 
meine  Genitalien  atrophieren  lassen  zu  können. 

Auch  in  der  Kleidung  äussert  sich  diese  Diskretion;  ist 
doch  die  männliche  Kleidung  nur  zu  geeignet,  die  Genitalien 
zur  Geltung  zu  bringen.  Wenn  man  andererseits  auch  von 
der  weiblichen  Kleidung  vielfach  sagt,  sie  enthülle  mehr  statt 
zu  verhüllen,  so  kommt  diese  Tatsache  doch  weit  mehr  dem 
gesamten  Körper  zu  Gute,  im  Gegensatz  zum  Manne. 

Im  höchsten  Masse  widerstrebt  es  mir,  auch  nur  einen 
Versuch  zu  einer  Vereinigung  mit  einem  Manne  zu  machen. 

Hinsichtlich  der  Stärke  meiner  Geschlechtslust  möchte  ich 
noch  erwähnen,  dass  sie  am  heftigsten  und  dann  kaum  meister- 
bar  auftritt,  wenn  ich  längere  Zeit  mit  einer  Arbeit  be- 
schäftigt war,  die  alle  geistigen  Fähigkeiten  in  Anspruch 
nahm.  Dann  treibt  es  mich  weg  vom  Schreibtisch  und  den 


158 


Büchern;  mein  ganzes  Denken  erfüllt  sich  mit  sexuellen  Vor- 
stellungen. Jedoch  nur  sehr,  sehr  selten  bietet  sich  mir  zu 
solch’  geeigneter  Zeit  eine  Gelegenheit.  Denn  ich  habe  einen 
unüberwindlichen  Abscheu  vor  Prostituierten  und  gewinne  es 
nicht  über  mich,  solche  aufzusuchen.  Ander'weitigen  Verkehr 
habe  ich  nicht;  zudem  möchte  es  dabei  schwer  fallen,  ein 
Mädchen  zu  finden,  dass  meiner  Veranlagung  Verständnis  ent- 
gegenbringen würde.  Aehnlich  liegt  es  in  Rücksicht  auf  die 
Erörterung  der  Möglichkeit  einer  Heirat.“ 


B.  Analytischer  Teil. 

Was  ist  das  Gemeinsame,  das  Typische,  wodurch 
sich  der  hier  beschriebene  Personenkreis  von  anderen 
Menschen  abhebt?  Da  tritt  uns  in  allen  Fällen  als 
deutlichstes  der  heftige  Drang  entgegen,  in  der  Klei- 
dung desjenigen  Geschlechts  zu  leben,  dem  die  Betreffen- 
den ihrem  Körperbau  nach  nicht  angehören.  Der 
Kürze  halber  wollen  wir  diesen  Trieb  als  transvesti- 
tischen  (von  trans  = entgegengesetzt  und  vestis  = Kleid) 
bezeichnen.  Dabei  sei  von  vornherein  betont,  was  später 
allerdings  noch  zu  erläutern  sein  wird,  dass  das  Kleid  uns 
hier  nicht,  um  mit  C a r 1 y 1 e*)  zu  reden,  „als  totes 
Ding“  entgegentritt,  dass  die  Art  des  Kostüms  nicht  die 
beliebige  Aeusserlichkeit  einer  willkürlichen  Laune  ist,  son- 
dern als  Ausdrucksform  der  inneren  Persön- 
lichkeit, als  Zeichen  ihrer  Sinnesart  zu  gelten  hat. 
Was  der  feinsinnige  Giessener  Psychologe  Dr.  Rob.  Sommer 
in  dem  Briefe  ausspricht,  mit  dem  er  die  Widmung  des 


*)  Tiiomas  Carlyle:  »Sartor  resartua  oder  Leben  und  Meinungen  dea 
Herrn  Teufelsdrückh.“  In  diesem  merkwürdigen  Buch  aus  dem  Jahre  1831 
führt  Carlyle  darüber  Klage,  „dass,  trotzdem  doch  die  Wissenschaft  in  den 
letzten  5000  Jahren  immer  weiter  fortgeschritten  sei  und  jetzt  überall  ihre 
Fackeln  leuchten  lasse,  sodass  kaum  noch  ein  Winkel,  kaum  noch  ein  Spalt 
im  Gebiet  der  Kunst  und  Natur  im  Dunkel  sei,  gleichwohl  kaum  etwas  von 
grundlegender  Bedeutung,  sei  es  vom  Standpunkt  des  Philosophen,  sei  es  von 
dem  des  Geschichtsforschers  aus  über  die  Kleider  geschrieben  sei.  Er 
bezeichnet  sie  an  einer  anderen  Stelle  seiner  Schrift  als  „die  lebensvolle  Heim- 
statt unseres  Daseins,  die  Werkstatt  unserer  Kräfte  und  meint  dann  weiter, 
der  Flug  der  Denker  wäre  zu  hoch  gewesen,  als  dass  sie  der  Kleider  acht 
gehabt  hätten,  „für  sie  war  das  Kleid  ein  totes  Ding 
und  niemals  ward  es  begriffen  als  Stück  unseres 
eigensten  Wesens.“ 


160 


Werkes  von  Fritz  Rumpf  ; „Der  Mensch  und  seine  Tracht, 
ihrem  Wesen  nach  geschildert“,*)  annimmt,  dass  nämlich 
alle  Trachten  nicht  nur  Beziehungen  zu  der  morphologischen 
und  physiologischen  Beschaffenheit  des  Körpers  haben,  son- 
dern auch  „zu  bestimmten  psychischen  Gr  und - 
ei'genschaften  und  daraus  im  letzten  Grunde 
herzuleiten  sind“,  trifft  bei  der  Transves- 
titen- Gruppe  in  hervorragendem  Masse  zu. 

Unter  andern  geht  das  aus  dem  ungemein  starken  Ein- 
fluss hervor,  den  in  den  geschilderten  Fällen  die  männliche 
oder  weibliche  Kleidung  auf  das  Seelenleben  ihrer  Träger  hat. 
In  der  Tracht  ihres  eigenen  Geschlechts  fühlen  sie  sich  ein- 
geengt, unfrei,  gedrückt,  sie  empfinden  sie  als 
etwas  Fremdes,  ihnen  nicht  Entsprechendes  und  Zu- 
gehöriges; dagegen  finden  sie  nicht  Worte  genug,  um  das 
Gefühl  der  Ruhe,  Sicherheit  und  Erhebung,  das  Glück  und 
Wohlbehagen  zu  schildern,  das  sie  in  der  Gewandung  des 
anderen  Geschlechts  überkommt.  So  führt  Fall  III  in 
sehr  bezeichnenden  Worten  aus:  „ich  fühle  mich  in  männ- 
licher Kleidung  wie  vergewaltigt,  und  flüchte  ge- 
wissermassen  in  meinem  eigenen  Ich  um- 
her, um  aus  demZustand  herauszukommen,“ 
— — „erblicke  ich  mich  aber  in  weiblichem  Anzug,  werde 
ich  vollständig  ruhig;  ich  kann  die  Ruhe  ganz 
deutlich  wahrnehmen.  Der  ganze  Organismus  funk- 
tioniert gleich  mässiger,  es  ist  wie  ein  Aus- 
ruhen bei  grosser  Müdigkeit,  wie  das  Hei- 
matgefühl der  ganzen  Individualität  in 
der  Rolle  der  Frau.“  Nicht  minder  beredt  berichtet 
XL,  wie  ihn  seit  seinem  15.  Jahre  ein  Verlangen  nach  Frauen- 
kleidern beherrschte,  das  „wie  Hunger  und  Durst 
Befriedigung  heischte“.  Endlich  mit  24  Jahren, 
als  er  krankheitshalber  vom  Lehramt  beurlaubt  im  elterlichen 
Hause  weilte,  bietet  sich  die  ersehnte  Gelegenheit.  Er  zieht 
sich  ein  vollständiges  Ballkostüm  seiner  Schwester  an.  „Ein 


•)  Verlag  von  Alfred  Schall,  Berlin.  Verein  für  Bücherfreunde.  190.^ 
mit  29  Tafeln. 


161 


nie  gekanntes  Gefühl  des  Wohlbehagens 
durchrieselte  mich“,  „in  den  14  Tagen,  wo  ich  meinem  Ver- 
kleidungstrieb  nachgab,  wuchs  meine  Sehnsucht 
nach  einem  Weibe,  wie  ich  es  mir  wünschte,  von 
schlanken,  gut  entwickelten  Formen,  mit  vollen  Haaren 
ausserordentlich“  und  ^„das  Wunderbarste  war, 
dass  ichmich  jetzt  rasch  erholte,  wä.  hrend 
ich  vorher  6 Wochen  lang  vergeblich  oin 
Sanatorium  besucht  hatte.“  Und  XIII.  schreibt 
sogar  in  dem  oben  zitierten  Brief;  „Die  Unterröcke  sind  mir 
ein  Heiligtum“  und  an  anderer  Stelle:  „am  meisten 
freute  ich  mich  auf  Sonntag,  wo  ich  mit  den  Kindern  im 
gestärkten  Unterrock,  weisser  Schürze  und  Häubchen  spazieren 
konnte,  dann  fühle  ich  mich  wie  im  Himmel- 
reich.“ 

In  völlig  analoger  Weise  hören  wir  von  unserer  weiblichen 
Transvestitin  — Fall  XV  — dass  sie  sich  „in  Männer- 
kleidern oder  wenigstens,  wenn  sie  männ- 
liche Mützen,  Kragen,  Unterwäsche  und 
Stiefel  trägt,  leicht,  wohl  und  leistungs- 
fähig fühlt,  dagegen  in  Frauenkleidern 
beengt  und  unfre  i.“ 

Bei  den  meisten  lässt  sich  dieser  Drang  b i s i n die 
frühe  Kindheit  verfolgen,  er  steigert  sich  während  der 
Pubertät,  tritt  um  diese  Zeit  auch  klarer  ins  Bewusstsein 
und  hält  dann  fast  unverändert  durch  das  ganze  Leben  an; 
schon  sehr  früh  ist  diese  Neigung  mit  einem  eigenartigen 
Schamgefühl  verbunden,  das  die  Vermutung,  sie  wurzele  im 
Se.xualleben,  nahe  legt.  So  berichtet  Fall  V,  „dass  er  zuerst 
im  Alter  von  4 Jahren  versuchte,  das  Kleid  seiner  Schwester 
anzuziehen  und  sehr  geniert  war,  wenn  man  diese  Ver- 
suche bemerkte,  dabei  war  der  deutliche  Wunsch  vorhanden, 
lieber  oin  Mädchen  sein  zu  wollen.“  XII  erzählt:  „schon  als 
Kind  Verspürte  ich  einen  starken  Drang  in  mir,  Frauen- 
kleider anzuziehen;  als  mich  ein  Kinderm.ädchen  einmal  zum 
Spass  verkleidete,  regte  mich  der  Vorgang  heftig  auf“  und 
ebenfalls  recht  bezeichnend  teilt  uns  XIII  mit,  dass  er  von 
seiner  Mutter  gehört  habe,  er  habe  sich  heftig  gewehrt,  als 

Hirschfeld,  Die  Transvestiten.  1 1 


er  die  ersten  Hosen  haben  sollte  und  deshalb  noch  Mädchen- 
kleider getragen,  als  sein  zwei  Jahre  jüngerer  Bruder  schon 
Hosen  hatte.  Auch  Frau  P.  (XV)  schilderte,  wie  sie  in  kind- 
licher Weise  ihren  Eltern  „Vorwürfe  gemacht  hätte,  dass  sie 
kein  Junge  wäre.“ 

Bei  den  Männern,  I — XIV,  steht  es  vor  dem  zwanzigsten 
Jahre  fest,  wenn  sie  erst  selbständig  sind,  gelegentlich  als 
Frau  aufzutreten  und  tatsächlich  sehen  wir,  dass  sämtliche, 
dem  übermässigen  Drange  folgend,  schliesslich  nicht  nur  kom- 
plette weibliche  Garderobe  anschaffen  und  vor  dem  Spiegel 
heimlich  anlegen,  sondern  dass  sie  auch,  und  zwar  oft  unter 
nicht  geringen  Schwierigkeiten  und  Gefahren  längere  oder 
kürzere  Zeit  die  Rolle  der  Frau  durchführen;  da 
fährt  der  eine  (I)  in  eine  entfernte  Stadt  und  bringt  als  Dame 
gekleidet  einige  Wochen  in  einer  Pension  zu,  deren  Inhaberin 
von  allem  unterrichtet  ist,“  ein  anderer  (V)  lebt  Jahre  lang 
als  Gesellschafterin  seiner  Freundin,  ein  dritter  (XIII)  der 
eigentlich  ein  Priester  werden  sollte,  verbringt  einen  grossen 
Teil  seines  Lebens  in  Frauenkleidern  als  Stickerin,  Kinder- 
mädchen, Köchin,  Logierfrau  und  Magd  auf  einem  Bauerngut. 
Und  nicht  minder  wechselvoll  gestaltet  sich  das  Schicksal 
unseres  weiblichen  Falles  (XV),  die,  trotzdem  sie  kaum 
30  Jahre  überschritten  hat,  bereits  in  Männertracht  als  Berg- 
mann, Schlosser,  Hausdiener,  Friseur,  Walfischfänger,  Steward, 
Maler  und  Fabrikarbeiter  und  dazwischen  in  den  Kleidern 
ihres  wirklichen  Geschlechts  als  Plätterin,  Stewardess  auf 
überseeischen  Dampfern  und  — Ehefrau  tätig. 

Die  Mehrzahl  führt  ein  eigenartiges  Doppelleben,  tags- 
über im  Beruf  und  Geschäft  als  Mann,  zu  Hause  und 
abends  als  Frau.  So  beschreibt  XI,  Techniker,  ver- 
heiratet und  Vater  dreier  gesunder  Töchter,  wie  er  kaum  den 
Abend  erwarten  kann,  um  daheim  weiblich  gekleidet  zu  sein. 
„Wurde  nichts  damit  — schreibt  er  — so  geriet  ich  in  eine 
Missstimmung,  mir  war  unbehaglich  zu  Mute,  ich  war  ärger- 
lich und  konnte  mich  oft  beim  besten  Willen  nicht  in  eine 
bessere  Stimmung  versetzen;  sogar  das  Essen  wollte  mir 
nicht  schmecken.  Konnte  ich  mich  aber  .einige  Abende  hinter- 
einander weiblich  kleiden,  so  wuchs  meine  Lebensfreudigkeit 


163 


und  Arbeitslust  ungemein.“  XIV  erzählt:  „wenn  es  abend 
wird,  atme  ich  erleichtert  auf,  denn  dann  fällt  d i e 
lästige  Maske  und  eingehüllt  in  ein  Hauskleid  von  ele- 
ganter Ausstattung  und  in  rauschende  Seidenunterröcke  fühle 
ich  mich  ganz  Weib“  und  ähnlich  V:  „Tagsüber  war  ich  im 
Geschäft  eifrig  und  fleissig,  sodass  meine  Vorgesetzten  mit 
mir  zufrieden  waren,  in  männlicher  Beharrlichkeit  — abends 
lunflossen  mich  die  weichen  Frauengewänder,  die  mein 
Ich  vollständig  auswechselten.  Frau  Trudes 
Dienstboten,  ihr  Mann,  keiner  ahnte,  dass  ein  völlig  normaler 
Mann  in  dieser  eleganten  Besuchstoilette  steckte.“  Ganz  be- 
sonders merkwürdig  ist,  dass  vielfach  gerade  in  Ge- 
sellschaft von  Frauen  der  Wunsch  rege  ist,  wie 
diese  gekleidet  zu  sein,  so  bemerkt  einer:  „vor  allen  möchte 
ich  im  Verkehr  mit  Damen  als  Dame  erscheinen.“ 

Um  aber  auch  in  der  unsympatischen,  „erzwungenen“ 
Männertracht  wenigstens  durch  einige  Stücke,  die  gleichsam 
als  pars  pro  toto  dienen,  an  die  so  wohltuende  ersehnte 
Frauenkleidung  erinnert  zu  werden,  tragen  die  Transvestiten, 
wie  ich  mich  bei  ihrer  körperlichen  Untersuchung  wiederholt 
selbst  überzeugte,  unter  den  Herrensachen  vielfach  weibliche 
Unterwäsche,  Korsetts,  lange  durchbrochene  Strümpfe,  führen 
parfümierte  Spitzentaschentücher  bei  sich,  legen  gelegentlich 
auch  Frauenstiefeletten  mit  hohen  Hacken,  Frauenschmuck, 
wie  Halskettchen,  Armspangen,  Marquisenringe  an  md  was 
man  sonst  unauffällig  anbringen  kann. 

Doch  ist  das  alles  nur  ein  schwacher  Notbehelf,  e i n 
Ersatz  faute  de  mieux,  denn  in  Wirklichkeit  richtet  sich 
der  Verkleidungstrieb  auf  das  ganze  Kostüm  bis  in  die 
subtilsten  Kleinigkeiten,  diese  Männer  setzen  gerade  ihren 
Stolz  darin,  eine  möglichst  vollständige  und  zahlreiche  Damen- 
garderobe zu  besitzen  mit  allem  Zubehör,  wenn  die  Verhält- 
nisse es  gestatten  (vgl.  Fall  X)  womöglich  Haus-,  Strasseu- 
und  Besuchstoilette,  Ball-,  Theater-  und  Dinerkostüme;  auf 
Einzelstücke  etwa  schöne  Ohrringe,  elegante  Lack- 
stiefeletten,  teure  Korsetts  wird  nur  ausnahmsweise  ein  be- 
sonderer Nachdruck  gelegt. 

Entsprechend  ihrer  Neigung  studieren  alle  diese  Per- 

!!♦ 


164 


bonen  natürlich  aut's  eifrigste  die  Modenjournale  und 

Frauenzeitungen,  lassen  sich  die  Kataloge  von  Her- 
zog, Gerson,  Israel  und  anderen  grossen  Warenhäusern 
kommen,  auch  Musterproben,  stehen  lange  vor  den 

Auslagen  der  Mode-  und  Konfektionsbazare  und  schwelgen 
im  Anblick  der  „herrlichen  Sachen,"  wie  sie  die  zahlreichen 
Läden  für  Frauenputz  in  so  reicher  kostbarer  Fülle  bieten. 
„Wohl  20  bis  25  Jahrgänge  gekaufter  Modejournale“,  teilt 
X.  uns  mit,  „wurden  Seite  für  Seite  betrachtet,  die  schönsten 
Kostüme  herausgeschnitten  und  der  Schneiderin  eingeschickt, 
damit  diese  danach  verfahre.“  Und  sehr  tj'pisch  fügt  er  hin- 
zu: „schon  die  blossen  Namen  einzelner  Kleidungs- 
stücke, wie  Damenkleid,  Schürze,  Schleier,  Unterrock,  hatten 
für  mich  etwas  Zauberhaftes.“ 

Auch  über  die  Kleidung  hinaus  haben  diese  Personen 
den  Drang  im  weiblichen  Rahmen  zu  leben;  sie  richten 
sich,  wenn  angängig,  ein  Boudoir  nach  Frauenart  ein, 
schmücken  ihr  Wohn-  und  Schlafzimmer  mit  weiblichen  Zier- 
und  Toilettenstücken  und  finden  eine  grosse  Freude  daran, 
weibliche  Handarbeiten  anzufertigen.  Diese  Neigung 
ist  ebenso  wie  die  zu  weiblichen  Spielen,  namentlich  Puppen- 
snielen,  meist  ebenfalls  schon  im  frühen  Kindesalter  wahr- 
nehmbar. So  lernte  I als  Knabe  häkeln;  er  sieht  es  seiner 
Mutter  und  Schwester  ab  und  bringt  allerlei  hübsche  Häkel- 
arbeiten in  Wolle  und  Zwirn,  später  auch  Stickereien  mit 
Geschicklichkeit  zustande;  „manches  Produkt  meiner  fleissigen 
Nadel  ziert  unser  Heim,“  schreibt  er,  und  als  Junge  von 
13  Jahren  und  später  schenkt  er  zu  Geburtstagen  und  zu 
Weihnachten  seinen  Freundinnen  selbstverfertigte  Handar- 
beiten. Andere  unserer  Explorierten  können  nähen,  stricken, 
weben,  putzmachen,  einer  (IV)  nach  seinen  Handarbeiten  ge- 
fragt, gibt  an,  es  seien  soeben  „drei  Hemdpassen  mit  Achsel- 
stücken und  zwei  Paar  Beinkleidansätze  aus  feinem  Garn 
fertig  geworden.“ 

Neben  den  weiblichen  Handarbeiten  würd  auch  die  wirt- 
schaftliche Hausarbeit  nach  Frauenart  nicht  vernachlässigt. 
„Meine  ganzen  Nebenneigungen  sind  direkt  weiblich“  — be- 
merkt in  sehr  charakteristischer  Weise  der  im  Hauptberuf 


165 


als  Schriftsteller  tätige  III.  — „ich  habe  Lust  ^’i_-.llen  Ar- 
beiten, die  zur  Domäne  der  Frau  gehören  und  zwar  steht 
mir  diese  Arbeit  vollständig  zu  Gesicht;  meine  Frau  bestätigt 
es  mir  täglich  und  kommt  es  auch  in  unserem  Haushalt 
deutlich  zumi  Ausdruck,  indem  ich  mich  in  der  Küche 
und  Wirtschaft  von  meiner  Berufsmüdigkeit  erhole 
und  mich  ablenke.“ 

Es  ist  nach  allem  gewiss  begreiflich,  dass  diese  Personen 
am  liebsten  überhaupt  in  einem  weiblichen  Beruf  wirken 
möchten  und  wie  wir  sahen,  verwirklichen  manche  ja  auch 
diesen  Wunsch.  Da  würde  der  eine  gern  „Kammermädchen 
einer  feinen  Dame“  sein,  andere  Gouvernante,  Putzmacherin, 
Damenfriseurin,  Kindsmagd,  ja  sogar  — Amme.  Ein  Offizier 
aber  (Fall  IX)  „sehnt  sich  mit  ganzem  Herzen  danach,  Ko- 
kotte zu  sein“;  „der  Hauptinhalt  meiner  Sehnsucht  ist  es, 
vollständig  Frau  zu  sein;  ein  ausserordentlicher  Reiz  wäre 
es  für  mich,  dürfte  ich  mich  ganz  rasieren,  schminken,  als 
Frau  kleiden;  allerdings  recht  elegant,  dernier  cri,  doch 
nicht  criard,  Unterwäsche  fein  und  seidig,  schmale  Schuhe, 
viel  Stickerei,  kunstvolle  Hüte,  kurz  wie  eine  brillant  unter- 
haltene Kokotte“  und  nach  solcher  Erklärung  scheint  dieser 
Herr  kaum  zu  merken,  wie  naiv,  freilich  im  gewissen  Sinne 
auch  wie  echt  es  wirken  muss,  wenn  er  mit  der  Geste  der 
Ueberlegenheit  hinzufügt;  „von  Homosexualität  ist  keine  Spur 
vorhanden ; Urninge  und  effeminierte  ^länner 
verachte  ich  tief.“ 

Selbst  bis  zm-  Illusion  des  weiblichsten  aller  Berufe,  des 
Mutterberufs  versteigt  sich  die  kühne  Phantasie  dieser  selt- 
samen Männer.  Ein  eigenes  Kind  zu  empfangen,  zu  gebären, 
zu  stillen,  zu  hegen  und  zu  pflegen  erscheint  ihnen  als  In- 
begriff des  Glückes.  VII  geht  „heimlich  an  das  unver- 
schlossene Küchenspind,  nimmt  mit  dem  Teelöffel  etwas  Milch 
aus  dem  Topf  und  träufelt  sie  auf  seine  Brustwarzen,  um 
sich  die  Illusion  einer  stillenden  Mutter  vorzugaukeln.“  IX 
sagt:  „sehe  ich  eine  Mutter  ihr  Kind  säugen,  so  seufze  ich. 
hätte  ich  doch  auch  solche  Brüste  und  könnte  Milch  abgeben 
und  mit  wie  rührender  Innigkeit  und  Lebendigkeit  schildert 
XIII  die  glücklichen  Stunden,  in  denen  er  das  Kind  seiner 


166 


Wirtin  abwartet,  Jas  fliehe  kleine  Wiesen“  säubert,  an-  und 
auskleidet,  mit  ihm  auf  dem  Arm  hin-  und  hergeht. 

Mehr  aber  noch  wie  im  wachen  Tagtraum  gewinnt  im 
Schlaf  der  Gedanke  an  Mutterglück,  Empfängnis,  Schwanger- 
schaft und  Geburt,  Kindbett  und  Milchgebung  Gestalt  und 
Leben.  Träume  spielen  bekanntbo't'  bei  allen  sexuell  Zwie- 
spältigen eine  grosse  Rolle.  Der  Geschlechtssatte  schlummert 
meist  tief  und  traumlos;  nicht  so  der  sexuell  Unbefriedigte, 
sein  Schlaf  ist  unruhig.  Immerhin  erleben  diejenigen,  deren 
Sehnsüchte  an  den  harten  Lebenswirklichkeiten  des  Alltags 
scheitern  wenigstens  im  Land  ihrer  Träume  seelige  Zeiten  der 
Erfüllung.  „Eigentlich  glücklich  fühle  ich  mich  nur  im 
Traum",  schreibt  XIII  und  schildert  dann  seine  Traumerleb- 
nisse, wie  er  guter  Hoffnung  ist,  wie  die  ,. Mutterwehen“ 
kommen,  das  Kind  geboren  wird,  wie  beglückt  er  es  dem 
Vater  entgegenstreckt,  es  stillt  und  neben  sich  legt,  um  dann 
beim  Aufwachen  den  Platz  leer  zu  finden,  enttäuscht,  aber 
doch  zufrieden,  dass  ihm  die  holden  Traumgebilde  das  zarte 
Mysterium  in  so  greifbare  Nähe  gerückt  hatten. 

Gewiss  ist  in  diesen  Fällen  der  Kontrast  zwischen 
Traum  und  Wirklichkeit  ein  ganz  besonders  krasser.  Viel- 
fach bilden  sich  zwar  die  Transvestiten  vor  dem  Spiegel 
stehend  ein,  ihre  Formen  seien  weicher  und  weiblicher,  wie 
die  gewöhnlicher  Männer;  aber  ihre  meist  rauhe  Haut,  die 
behaarte  Brust,  der  starke  Bartwuchs,  der  schlanke,  oft 
sehnige  Körperbau,  die  straffen  Linien  und  Züge,  die  tiefe 
Stimme  zeigen,  dass  es  sich  um  eine  angenehme  Selbst- 
täuschung handelt,  die  übrigens  keine  tiefgehende  ist, 
auch  nicht  den  Charakter  einer  Wahnidee  trägt;  sie  wissen 
ganz  genau,  dass  ein  tiefer  Widerspruch  zwischen  ihrem 
Körper  und  ihrer  Seele  klafft.  Deshalb  ist  es  auch  nur  zu 
begreiflich,  dass  die  meisten  von  ihnen  wünschen,  als  Weib 
geboren  zu  sein  und  zw'ar  findet  sich  dieser  Wunsch  hier 
in  \iel  ausgesprochenerem.  Masse  wie  bei  den  Homosexuellen, 
während  es  mir  andererseits  scheinen  will,  as  ob  bei  diesen, 
namentlich  den  femininen  Urningen  die  rein  körper- 
lichen Stigmata  der  Weiblichkeit  relativ  häufiger  sind, 
als  bei  den  Transvestiten. 


167 


L'm  die  Geschlechtsmetamarphose  vollkommener  zu  ge- 
stalten, helfen  manche  dadurch  nach,  dass  sie  sich  methodisch 
in  Fistelstimme  üben,  ihre  Haut  glatt  rasieren,  ihr  Kopf- 
haar lang  tragen.  Die  meisten  bedienen  sich  allerdings  bei 
der  Verkleidung  weiblicher  Perücken,  doch  berichtet  beispiels- 
weise III:  „einer  Perücke  bedarf  ich  nicht;  ich  habe  sehr 
schweres,  massiges  und  gelocktes  Haar,  das  ich  nie  kurz 
schneiden  lasse,  sondern  stets  so  halte,  dass  ich  es  be- 
festigen und  darauf  eine  Flechtenfrisur  anbringen  kann.“ 

In  noch  geringerem  Grade  wie  die  sekundären  Geschlechts- 
charaktere zeigen  die  primären  — der  eigentliche  Genital- 
apparat— Abweichungen  von  der  Norm;  zwar  findet  sich  bei 
einigen  die  auch  unter  normalen  Verhältnissen  so  ungemein 
verbreitete  Phimose,  jedoch  nirgend  hermaphroditische  Spalt- 
bildungen, nicht  einmal  eine  hypospadaeische  Spur  davon. 
Von  den  16  transvestitischen  Männern  sind  9 verehelicht, 
7 Väter,  2 haben  sogar  zwei  mal  Liebesheiraten  geschlossen, 
auch  die  7 ledigen  ejakulieren  normal;  der  weibliche  Fall 
ist  ebenfalls  verheiratet,  menstruiert  regelrecht  und  hat  ge- 
boren. 

Allerdings  scheint  es,  als  ob  in  den  meisten  Fällen  die 
Reife  relativ  spät  eintritt,  vor  allem  der  Geschlechtstrieb 
verhältnismässig  spät  erwacht  und  mit  dem  Ge- 
schlechtsverwandlungstrieb verglichen 
überhaupt  nur  gering  ist;  so  übte  I.  den  ersten 
Koitus  mit  24  Jahren  aus  und  enthält  sich  dann  vier  Jahre 
jeden  Verkehrs,  II.  der  jetzt  mit  3.5  Jahren  geheiratet  hat, 
verkehrte  auch  erst  nach  dem  20.  Jahre,  III,  bei  dem  erst 
mit  20  Jahren  Stimmwechsel,  mit  25  Jahren  Bartwuchs 
eintrat,  hat  vor  Eingehung  der  Ehe  nie  mit  Frauen  Umgang 
gehabt  und  IV  kam,  wie  er  sagt,  in  sechs  Jahren  „garnicht 
der  Gedanke“  mit  seiner  Geliebten  sexuell  zu  verkehren. 
Auch  die  übrigen,  von  einigen  Ausnahmen  abgesehen,  kohabi- 
tieren  oft  Jahre  lang  nicht  und  bei  XV  verschwindet  die 
sexuelle  Libido  fast  völlig  hinter  der  immer  wieder  durch- 
brechenden Sehnsucht,  das  Leben  eines  Mannes  zu  führen. 

Meldet  sich  aber  der  Betätigungsdrang,  so  richtet  er  sich 
in  fast  allen  Fällen  entsprechend  der  körper- 


168 


liehen  Konstitution  sogleich  auf  eine  Per- 
son des  entgegengesetzten  Geschlechts. 
Den  Gedanken  an  Homosexualität  weisen  fast  alle  diese 
Personen  weit  von  sich,  vielfach  mit  deutlichen  Kimdgebungen 
contrainstinctiven  Abscheus.  Wir  hörten  schon  wie  IX  sagte: 
Urninge  und  Effeminierte  verachte  ich  tief  und  YIII 
schreibt:  obwohl  ich  seit  Jahren  viel  in  homosexuellen 

Kreisen  verkehre,  ekelt  mich  der  blosse  Gedanke  an 
gleichgeschlechtlichen  Verkehr  d i r e k t a n.  III  berichtet, 
dass  ihm  „die  Idee  der  Kompletierung  seines  idealen  Zu- 
standes durch  einen  ^lann  nie  gekommen  sei,“  XI  gibt  an: 
„trotz  meiner  Sehnsucht  nach  Weiberkleidern  war  nie  die 
Spur  einer  Neigung  zum  Manne  in  mir"  und  ähnlich  V; 
„der  Trieb  war  stets  nur  auf  den  coitus  cum  femina  ge- 
richtet, von  Homosexualität  ist  keine  Spur  vorhanden.“ 

Am  ehesten  könnte  man  noch  XV.  Frau  P.  für  bisexuell 
ansprechen,  denn  wenn  sich  auch  bei  einigen  der  anderen  ge- 
legentlich homosexuelle  Episoden  nachweisen  lassen,  so  tragen 
diese  doch  durchw'eg  einen  ..episodischen”,  accidentellen 
Charakter;  entweder  handelt  es  sich  (wie  bei  XIII)  um  ein 
ungewolltes  Intermezzo,  oder  um  einen  gewollten  Versuch, 
der  alsbald  wdeder  als  unbefriedigend  und  deprimierend  auf- 
gegeben w'ird.  Den  wesentlichen  Kernpunkt  dieser  Beziehungen 
bringt  sehr  deutlich  II  zum  Ausdruck,  wonn  er  bemerkt  „zu 
Männern  habe  ich  nie  Neigung  verspürt,  bloss  als  Dame 
verkleidet  habe  ich  gern  mit  ihnen  kokettiert,  weil  es  mir 
sehr  schmeichelte,  für  eineDame  gehalten 
zu  werden. 

Was  die  Betätigungsart  anlangt,  so  verdient 
hervorgehoben  zu  worden,  dass  fast  alle  unserer  Explorierten 
vorziehen,  in  actu  succumbentes  zu  sein.  Die  Frauen  selbst 
— sechs  der  Ehefrauen  lernte  ich  im  Laufe  der  Zeit  persön- 
lich kennen  — machen  einen  durchaus  weiblichen  Eindruck; 
zu  bewrmdern  ist,  wie  sie  sich  trotz  anfänglichen  Wider- 
strebens in  die  Sonderart  ihrer  Männer  schicken,  ihnen 
schliesslich  sogar  vielfach  entgegenkommen.'*) 


•)  Das  gleiche  gilt  vielfach  auch  von  den  übrigen  Verwandten,  vor 
allen  von  den  Müttern.  Als  Beispiel  möge  folgender  Brief  dienen,  den  eine 


169 


II.  erzählt:  „bevor  sie  noch  meine  Frau  wurde,  versprach 
sie  mir  freiwillig,  sich  meiner  Eigenart  in  der  Ehe  nicht  zu 
widersetzen,  sondern  sie  nach  Möglichkeit  zu  fördern;  sie 
hält  auch  ihr  Wort;  sind  wir  ganz  allein  in  unserer  Be- 
hausung, lässt  sie  mich  ihre  Kleider  anziehen  und  auch 
sonst  gibt  sie  mir  zum  Schlafengehen  täglich  Damenhemd, 
Nachtjacke  und  Ohrringe.“  XI  erzählt  sogar,  dass  ihm  nicht 
nur  seine  Frau  entgegenkommt,  „sondern  auch  seine 
Schwiegereltern  nichts  dagegen  haben,  dass  er  zu  Haus  be- 
ständig Weiberkleider  trägt,,  wofern  er  nur  ihre  Tochter  gut 
behandelt.“  Nicht  uninteressant  ist  auch  folgende  kleine  Epi- 
sode: als  XIV  mir  einmal  eine  Photographie  zeigte,  die 
ihn  in  eleganter  Damentoilette  neben  seinem  etwa  achtjährigen 
Töchterchen  darstellt  und  ich  ihm  die  Frage  vorlegte:  „was 
sagt  denn  die  Kleine  dazu“  erwiderte  der  in  Amerika  lebende 
Herr:  „ach,  die  sagt  nur,  you  are  papa-lady.“ 

Die  Transvestiten  selbst  betonen  ^■ielfach,  dass  sie  sich 
ihre  Frau  möglichst  männlich  wünschen  oder  auch, 
dass  sie  ihnen  männlich  „vorkommt“.  Einige  sagen  zwar, 
dass  ihnen  bei  den  von  ihnen  geliebten  Frauen  die  echt  weib- 

Mutter  ihrem  als  „Damendarsteller“"  wirkenden  Sohn  geschrieben  hat;  (vgl. 
den  Aufsatz:  „Der  Weibmann  auf  der  Bühne“  von  Dr.  med.  S.  im  Jahrbuch 
für  sexuelle  Zwischenstufen,  Bd.  ITI.  pag.  324)  .Komme  nur  recht  bald 
liebstes  Kind,  ich  kann  es  schon  kaum  mehr  erwarten,  bis  mein  Herzens- 
mäuschen da  ist  und  seiner  Mama  Gesellschaft  leistet.  Du  wirst  gleich  im 
Anfang  Arbeit  finden.  Ich  habe  nämlich  Frl.  B.  (die  Schneiderin)  bestellt, 
da  ich  zum  Frühjahr  manches  brauche  oder  ändern  lassen  will.  Du  wirst 
dabei  mit  Deinem  Geschmack  helfen.  Liebes  Kind,  vielleicht  hast  Du  von 
Deinen  Toiletten  auch  etwas  zum  .\usputzen  für  mich  übrig.  Dass  Gret- 
chen  (eine  Nichte  der  Mutter)  eines  von  Deinen  .Seidenkleidern  haben  soll, 
hat  sie  sehr  gefreut.  Vielleicht,  liebes  Kind,  hast  Du  auch  einige  Hemden 
und  Hosen  für  Gretchen,  die  Du  nicht  mehr  brauchst  und  die  ihr  jetzt  sehr 
zu  statten  kämen.  Mit  den  beiden  schönen  Unterröcken,  die  Du  ihr  voriges 
Jahr  geschenkt  hast,  macht  sie  heute  noch  Staat.  Dass  Du  mit  Deinem 
Spiele  so  gefällst  und  so  schönes  Geld  verdienst,  macht  mich  ordentlich 
stolz.  Freilich  möchte  ich  mein  Kind  lieber  immer  um  mich  haben.  Ich 
denke,  es  kommt  auch  noch  dahin.  Gretchen  lässt  Dich  fragen,  oh  Du  für 
gehäkelte  Spitzen  und  Nachtjacken  Verwendung  hast  und  ob  sie  Dir  mit 
einem  selbstgestrickten  Anstandsröckchen  aus  Zephyrwolle  eine  Freude  machen 
würde?  Zum  letzteren  kann  ich  Dir  nur  raten,  liebes  Kind,  ein  solcher 
Rock  ist  mollig  und  schmiegt  eich  warm  an.“ 


liehen  Eigenschaften  vor  allein  sjanpathisch  sind,  so  bezeichnet 
VI  als  für  ihn  besonders  anziehend:  die  melodische  Stimme 
des  Weibes,  ihre  weiche  Haut,  ihre  Parfüms  und  XI  teilt  in 
drastischer  Weise  mit:  „als  ich  mir  21  Jahre  alt  eine  Braut 
anschaffte,  hatte  ich  dieser  gegenüber  nur  das  Verlangen,  an 
ihrer  Seite  weiblich  gekleidet  gehen  zu  dürfen.  Oft  wünschte 
ich,  ich  möchte  wie  eine  Z w i 1 1 i n g s s c h w e s t e r 
von  ihr  gekleidet  gehen,  absolut  gleich  an  Farbe,  Schnitt 
usw.“  — Die  meisten  aber  heben  jedoch  hervor,  dass  sie 
sich  nicht  ein  völlig  gleichgeartetes  Wesen,  sondern  eine  Frau 
von  entgegengesetzten  Eigenschaften,  wie  sie  sie  selbst  be- 
sitzen wünschen,  vor  allen  Dingen  soll  die  Frau,  die  sie 
lieben,  ihnen-  körperlich  oder  wenigstens  geistig  überlegen 
sein.  Selbst  VIII,  anscheinend  der  männlichste  unter  unseren 
Fällen,  dem,  wie  er  sagt,  Zarathustras  Wort:  „gehst  du  zum 

AVeibe,  vergiss  die  Peitsche  nicht“  aus  der  Seele  gesprochen 
ist,  selbst  dieser  wird  von  einem  Weibtypus  angezogen,  der 
„körperlich  t o t a 1 W e i b . mit  blondem,  sehr  üppigem 
Haar,  blaugrauen  Augen,  breitem  Becken,  mittelschlank  und 
kräftig,  geistig  aber  stark  entwickelt  eine 
sogenannte  Intellektuelle“  sein  soll.  VII  geht 
in  Damenkleidern  zu  „energischen  Masseusen“  deren  Ge- 
werbe in  den  Grossstädten  ja  vielfach  zum  Deckmantel  für 
die  von  Masochisten  gesuchten  Praktiken  dient:  Am  de- 

tailliertesten schildert  uns  XIII  seine  Geschmacksrichtung: 
„Mein  Liebesideal  — schreibt  er  — waren  stets  starke 
männliche  Frauen,  solchen  gegenüber  will  ich  mich  als  Weib 
fühlen“;  er  hat  sogar  eine  Heiratsannonce  aufgegeben,  durch 
die  „ein  effeminierter  Mann  eine  männische  Frau“  sucht  und 
spricht  sich  an  anderer  Stelle  dahin  aus,  dass  er  vom 
Weibe  den  Angriff  erwartet;  doch  muss  es  ein  ener- 
gisches, starkes  Weib  sein,  fährt  er  fort,  die  mir  imponiert, 
geistig  und  körperlich,  auch  ein  ganz  klein  wenig  Schnurr- 
bart habe  ich  bei  ihr  gerne  usw.“ 

Ich  habe  übrigens  diese  A^orliebe  für  männlich  geartete 
Frauen  auch  vielfach  bei  Alännern  gefunden,  die  nicht  der 
Transvestiten-Gruppe  angehören,  auch  keineswegs  bisexuell, 
sondern  rein  heterosexuell  sind.  Nach  meiner  Erfahrung  deutet 


171 


die  Vorliebe  für  körperlich  sehr  robuste  Frauen,  Heroinen- 
t3rpen,  sowie  geistig  sehr  überlegene  auch  bedeutend  ältere 
Frauen  auf  einen  femininen  Einschlag  in  der  Psyche  des 
Mannes,  ebenso  wie  bei  Frauen  die  Inklination  für  körper- 
lich und  seelisch  zarte,  sensitive  oder  sehr  viel  jüngere  Männer 
zur  Annahme  einer  virilen  Beimischung  berechtigt.  Doch 
muss  bemerkt  werden,  dass  verallgemeinernde  Kon- 
struktionen und  Vorschriften,  wie  sie  sich  hier  und  da  finden, 
ein  so  und  so  gearteter  Mann  würde  am  besten  zu  einer  so 
und  so  beschaffenen  Frau  passen,  sehr  häufig  durch  d i e 
ganz  enorme  Differenziertheit  der  sexu- 
ellen Anziehungsgesetze  ad  absurdum  geführt 
werden. 

Unter  unseren  Transvestiten  hat  einer  einen  Roman  ge- 
schrieben, in  dem  er  die  Liebe  und  Ehe  eines  Weib- 
mannes und  Ma  n n w e i b e s bis  in  die  äussersten  Kon- 
sequenzen eingehend  in  charakteristischer  Weise  schildert. 

Es  verlohnt  sich  auf  den  Inhalt  dieses  Buches  über  dessen 
künstlerische  Qualität  hier  natürlich  kein  Urteil  abgegeben 
werden  soll,  näher  einzugehen,  weil  es  einen  tiefen  Einblick 
in  die  Gedankenwelt  dieser  rätselhaften  psychologisch  so 
überaus  interessanten  und  doch  bisher  so  wenig  ergründeten 
Menschen  gewährt.  Der  Verfasser  des  wenig  bekannten 
Buches  nennt  sich  Luz  ..Frau  m a n n“;  er  ist  der  dritte 
der  obigen  Fälle.  Sein  Werk  das  den  Titel  führt:  „Weiber- 
beute. Ein  merkwürdiger  Roman“,  Verlag  von  M.  W.  Schneider, 
Budapest,  1906,  dürfte  hinsichtlich  der  Originalität  des  Sujets 
in  der  belletristischen  Literatur  wohl  einzig  dastehen.  Für 
uns  ist  es  von  dem  wichtigen,  wenn  auch  nur  bedingt  rich- 
tigen Grundsatz,  welchen  W.  S t e k e 1 in  seiner  ausge- 
zeichneten Schrift  „Dichtung  und  Neurose“*;  aufstellt  und 
begründet:  „Jedes  Dichterwerk  ist  eine  Beichte“  von  Be- 

deutung. 

Wie  uns  III.  mitteilt,  bediente  er  sich  in  seiner  Erzählung 
der  Suggestion  nur  als  Hilfsmittel,  um  die  Eigenart  des 

•)  Dichtung  und  Neurose.  Bausteine  zur  Psychologie  des  Künstlers  und 
des  Kunstwerkes  von  Dr.  Wilhelm  S t e k e 1 , Spezialarzt  für  Psychotherapie 
in  Wien.  Wiesbaden,  Verlag  von  J.  F.  Bergmann,  1909. 


Stoffes  fremder  Gedankenwelt  „plausibler“  erscheinen  zu 
lassen. 

Wir  geben  einige  unser  Thema  hauptsächlich  beleuchten- 
de Stellen  wieder: 

Xana  Fransson  hat  als  ausgezeichnete  Reiterin,  „eigentlich  sollte  man 
sagen  als  ausgezeichneter  Reiter,  denn  sie  ritt  nicht  anders  als  in  Männer- 
kleidern  und  im  Männersattel“  in  einer  reichen  Industriestadt  viele  Verehrer 
und  Anbeter  gewonnen.  Unter  diesen  ist  als  der  .erlicbteste  ihr  willenlos 
ergeben  der  Kommissionsrat  Benno  Andreas.  ‘Seiner  ehelichen  Ver- 
bindung mit  Xana  widersetzt  sieh  heftig  sein  Sohn  Walter,  ein  zarter  fein- 
erapfindender  Jüngling  von  16  Jahren  mit  hübschem  ,, Japaneringesichtchen“. 
Er  hasst  die  Buhlerin,  die  seine  geliebte  von  ihm  „wie  eine  Heilige“  verehrte 
Mutter  verdrängt  und  in  den  Tod  getrieben  hat.  Andreas  will  Walter  nach 
Australien  schicken.  Aber  Xana  möchte  seine  Zukunft  anders  regeln;  sie  will 
an  ihm  ihre  starke  hypnotische  Kraft  erproben.  Nachdem  sie  Walter 
eingeschläfert  hat.  sagt  sie  zu  ihrem  Verlobten:  „Die  Ueberzeugung  ist  die 
Seele  des  Menschen,  sie  formt  sich  den  Leib.  Ich  werde  aus  diesem  Jungen 
die  Ueberzeugung  herausnehmen,  dass  er  ein  Mann  ist  und  ich  werde  ihm 
dafür  die  Ueberzeugung  beibringen,  dass  er  ein  Weib  ist.  Dann  ist  keine 
.Macht  der  W'elt  imstande,  ihn  vom  Gegenteil  zu  überzeugen.  Infolge  dieser 
Ueberzeugung  wird  er  weibliche  Triebe  und  weibliche  Leidenschaften  haben, 
er  wird  vom  Manne  nichts  mehr  wissen  und  in  jedem  Nerv  seines  Körpers 
das  weibliche  Geschlecht  fühlen  und  erkennen.  Er  wird  schliesslich  unbe 
wusst  Weib  sein,  also  das  Weib  mit  weiblicher  Stimmung.  Damit 
sein  männliches  Vorleben  und  seine  männliche  Denkweise  nicht  das 

neue  W’eib  in  ihm  stören,  wäll  ich  ihn  in  der  Schule  des  weiblichen  Ge- 
schlechts unterrichten.“  „Darf  ich  mir  die  Frage  erlauben,“  fällt  ihr  der 
Kommissionsrat  in  die  Rede,  „was  du  mit  der  Zukunft  des  Pseudomädchens 

beabsichtigst'?  Ich  kann  mir  nicht  denken  — — “ Nanas  Augen  flammen 

auf,  als  sie  sagt:  „Er  kommt  unter  meine  Herrschaft!  Er  soll  in  meinem 
Hause  die  Stellung  einer  Gesellschafterin  und  Ver- 
wandten einnehmen.  Auf  diese  Weise  wirst  du  ihn  los  und  ich  habe  die 

Aufsicht  und  Verantw'ortung  für  ihn.  Es  steht  gamichts  im  Wege,  ihn  auch 

nach  unserer  Verheiratung  im  Hause  zu  behalten,  es  wird  keinem  Menscherv 
einfallen,  hinter  der  eleganten  Dame,  die  ich  aus  ihm  machen  werde,  deinen 
Sohn  zu  vermuten!“  Nach  diesen  Worten  entnimmt  sic  einem  verschlossenen 
Korbe  die  einzelnen  Stücke  einer  Damentoilette,  legt  sie  der  Reihenfolge  nach 
wie  sie  gebraucht  zu  w-erden  pflegen  auf  den  Tisch  und  erteilt  dem  anfangs 
sehr  widerstrebenden  Knaben  mit  herrischer  Stimme  folgende  Suggestion. 
-Wenn  du  erwachst,  wärst  du  empfinden,  dass  du  ein  Mädchen  bist.  Du  wirst 
wie  ein  Mädchen  fühlen  und  nur  das  in  deiner  Nähe  suchen,  was  ein  Mädchen 
sucht  und  kennt,  du  wirst  dich  als  ein  Mädchen  erheben  und  alles  tun,  was 
ein  Mädchen  tut  und  du  wärst  alles  genau  durchdenken,  was  du  zu  tun  hast, 
genau  so,  wie  ein  Mädchen  es  zu  tun  und  zu  lassen  hat.  Du  wirst  über 
alles,  was  du  nicht  verstehst,  so  nachdenken,  wie  ein  Mädchen  über  dasselbe 


naohdenken  wird,  und  du  wirst  mich  fragen,  was  du  zu  tun  hast!  Du  wirst 
sanft  und  zart  sein,  in  allem  wie  ein  Mädchen,  aber  dti  wirst  mich  lieben, 
heiss  und  zärtlich  und  ohne  Nachdenken.  Du  wirst  mich  lieben,  wie  ein 
Mädchen  seinen  Geliebten  liebt!  Deine  Stimme  wird  leise  und  lispelnd  sein 
und  du  hast  immer  den  Trieb,  mit  einer  Mädchenstimme  zu  reden!  Du  bist 
das  Fräulein  Luise  Werder;  und  alles,  was  du  erlebst,  wirst  du  als  Fräulein 
Luise  Werder  erleben  und  durchdenken!“  Nana  Fransson  führt  ihn  darauf 
noch  schlummernd  in  sein  Mädchenzimmer,  bringt  ihn  zu  Bett,  befestigt  auf 
dem  Kopf  des  schlafenden  Jünglings  eine  langhaarige  Frauenperücke  und 
hilft  ihr  nach  dem  Erwachen  beim  Frisieren  und  Ankleiden,  indem  sie  ihr 
sagt,  sie  hätte  skh  gestern  abend  wegen  furchtbarer  Kopfschmerzen  sogleich 
zur  Ruhe  begeben,  um  erst  heute  ihr  Engagement  als  Gesellschafterin  der 
Madame  Andreas  anzutreten.  Mit  höchstem  Erstaunen  sieht  bald  darauf  der 
Kommissionsrat  wie  sein  Sohn  als  schlanke  Dame  hinter  Nana  einherschreitet, 
nicht  nur  die  vornehme  Haltung  des  Kopfes  und  des  ganzen  Körpers  nach- 
ahmend und  ebenso  leicht  schwebend  und  graziös  auftretend,  sondern  die 
Nachahmung  so  peinlich  genau  betreibend,  dass  er  ebenso  wie  jene  die 
Schleppe  rafft  und  mit  demselben  Blick  hinter  sich  sehend  an  den  Falten 
rüttelt,  um  den  prachtvollen  Spitzenunterrock  die  gehörige  Repräsentation  zu 
geben.  In  den  nächsten  sechs  Wochen  setzt  die  Abenteuerin  ihr  Erziehungs- 
werk fort.  „Pflegen  Sie  Ihre  Schönheit“  sagt  sie  zu  dem  ehemaligen  Walter, 
der  jetzigen  Luise,  „Eitelkeit  und  Putzsucht  sind  zwar  keine  schönen  Worte, 
aber  sie  sind  die  Unterlagen  der  weiblichen  Schönheit;  denken  Sie  stets  daran, 
dass  Sie  als  Dame  jeden  Augenblick  den  in  Putz  grossgezogenen  Frauen- 
blicken ausgesetzt  sind  und  sorgen  Sie,  dass  Sie  die  Kritik  aushalten  können 
und  kritisieren  Sie  wieder.“  Sie  geht  mit  ihr  in  einen  grossen  Modebazar. 
Luise  selbst  wählte  aus  den  fertigen  Roben  ein  hellblaues  Wollkostüm  mit 
schönem  Spitzenüberwurf  aus,  das  als  Hausrobe  dienen  sollte.  Dazu  kaufte 
sie  einen  karmoisinfarbigen  Morgenrock  mit  breiter  Damastschleife,  Unter- 
röcke, eine  Menge  Putz-  und  Toiletteeffekten,  eine  Ausstattung  in  Spitzen- 
unterwäsche, Häkel-,  Strick-  und  Näheinrichtung,  mehrere  Hüte  nach  der 
Mode  des  Tages,  Sonnenschirme  und  eine  solche  Masse  von  allerlei  kost- 
spieligem Tand,  dass  Nana  Fransson  schliesslich  Einhalt  gebieten  musste, 
sonst  würde  Luise  den  halben  Laden  ausgekauft  haben. 

Da  Nana  den  jugendfrischen  Sohn  Bennos  \iel  mehr  liebt,  als  den 
verliebten  griesgrämigen  Alten,  suggeriert  sie  ihm  wiederholt  folgendes.  „Sie 
werden  mich  als  ihren  Geliebten  lieben,  ohne  dass  Sie  cs  wiesen.  Diese  un- 
bewusste Liebe  wird  sich  immer  höher  entwickeln,  bis  Sie  mich  als  Ihren 
Mann  erkannt  haben  und  nicht  anders  können,  als  mich  lieben.  Dieses  alles 
wird  in  Ihnen  werden,  aber  Sie  wissen  nichts  davon,  bis  ich  es  Ihnen  sage. 
Sie  w'erden  Kinder  sehr  lieb  haben  und  mit  den  Jahren  wird  der  Wunsch  in 
Ihnen  wachsen,  selbst  Mutter  zu  werden.“  Es  heisst  dann  noch;  „Sie  hatte 
ihrem  Zögling  einen  etwas  schwärmerischen  Blick  und  eine  heitere,  froh- 
sinnige Gemütsart  suggeriert,  die  den  buntesten  Variationen  zugänglich  war. 
Ein  melodisches  Backfischlachen,  eine  eigene  Art  des  Schmollens,  des  Weinens, 
der  Lustbarkeit  und  Ausgelassenheit  bis  zu  Trauer  und  Schmerz,  die  ganze 


174 


Skala  der  Stimmungen,  die  nur  das  Weib  haben  kann,  hatte  die  Hypnoti- 
seurin in  seine  Seele  gezaubert,  alles  war  rocht  weiblich,  vom  Erröten  bis 
zum  Erblassen,  Erzittern  und  ängstlichen  Aufkreischen.“  Der  Autor  fügt 
hinzu:  „Wenn  der  Gedanke  annehmbar  gewesen  wäre,  dass  Luise  Werder 
tausend  Jahre  alt  werden  könnte,  hätte  man  wohl  hoffen  dürfen,  dass  der 
machtvolle  Wille  zum  weiblichen  Geschlecht  sogar  ihre 
männlichen  Organe  mit  der  Zeit  vollständig  zum  Absterben  gebracht  haben 
würde.“ 

Drei  Jahre  war  Nana  mit  dem  Kommissionsrat  verheiratet,  sie  hat  ihm 
einen  Sohn  namens  Otto  geboren;  da  stellt  sich  in  dem  alten  Rat  eine  immer 
grösser  werdende  Abneigung  gegen  das  „raubtierartige“  Wesen  seiner  Ge- 
mahlin ein  und  als  eines  Tages  ein  ihm  befreundeter  Rentier  Müller  um  die 
Hand  der  graziösen  Gesellschafterin  anhält,  v-ilangt  er  zornig,  dass  Nana 
nun  endlich  dem  Mummenschanz  mit  seinem  Sohn  und  Eiben  ein  Ende  be- 
reiten solle.  Kalt  und  überlegen  .weist  ihn  'iie  stolze  Gattin  zurück.  Da 
er  sich  aber  immer  wieder  gegen  sie  auflehnt,  versetzt  sie  ihn  schliesslich 
mit  grosser  Mühe  in  einen  hypnotischen  Schlaf  und  befiehlt  ihn  sich  in  aer 
Frühe  des  nächsten  Tages  im  Garten  seiner  Villa  zu  erschiessen.  „Am 
nächsten  Morgen  wurde  ganz  München  von  der  Kunde  über  den  Selbstmord 
des  Kommissionsrats  Andreas  erschüttert;“  man  nahm  an,  dass  der  gut- 
situierte und  glücklich  verheiratete  Manu  sich  in  einen  Anfall  von  Geistes- 
störung entleibt  habe,  munkelte  auch  wohl  von  der  tiefen  Sorge  des  Ver- 
storbenen um  seinen  verschollenen  Sohn,  der  vor  Jahren  nach  Australien 
durchgegangen  wäre.  Nana,  die  Herrin  eines  grossen  Vermögens  geworden 
war,  gibt  ihren  Sohn  Otto  in  Pension  und  geht  mit  ihrer  Gesellschafterin 
auf  Reisen.  Deren  innige  Liebe  zu  erringen  ivird  immer  mehr  der  Gegen- 
stand ihrer  Sehnsucht,  auf  deren  Erfüllung  sich  ihr  ganzes  Denken  konzen- 
triert. Lange  erwägt  sie,  ob  sie  nicht  Luise  Werder  wieder  zu  dem  machen 
soll,  aus  dem  sie  hervorgegangen,  zu  W’’alter  Andreas,  aber  sie  fürchtet,  die 
gehorsame  und  verschämte  Luise  könne  sich  in  einen  feindlichen,  rachsüchtigen 
Mann  verwandeln;  daher  beschliesst  sie,  um  die  Geliebte  dauernd  an 
sich  zu  fesseln,  selbst  Mann  zu  werden.  Sie  suggeriert  ihr,  f^Iadame 
Andreas  sei  gestorben;  dann  lässt  sie  sich  das  Haar  kurz  schneiden,  legt 
MännerkJeidung  an  und  gibt  sich  als  der  reiche  Mister  Miller  aus  und 
bald  ist  Luise  infolge  des  mächtigen  hypnotischen  Einflusses  vollständig  das 
empfangende  hingebende  Weib  des  Mannes  Miller.  Sie  ziehen  nach  London. 
„Der  neugebackene  Herr  Miller  sucht  hier  mit  Nachdruck  alles  aus  der  Welt 
zu  schaffen,  was  ihn  an  die  Zeit  seiner  Weiblichkeit  erinnert.  Vom  Feder- 
halter und  Briefpapier  bis  zum  Münchener  Dcckelkrug  wird  alles  männlich, 
selbst  die  lange  Pfeife  durfte  nicht  fehlen.  Sie  versucht  eine  Zeitlang  sogar 
den  Haarflaum  ihrer  Oberlippe  durch  Bartwuchsmittel  und  Rasieren  zu 
kräftigen,  wie  sie  früher  den  Flaum  aus  Walter  Andreas  Gesicht  entfernt 
hatte.  In  dem  Viertel  der  Riesenstadt,  wo  sie  ihre  Wohnung  genommen 
haben,  kam  Mr.  Miller  bald  in  das  Renomm4  eines  soliden  aufmerksamen 
Ehemannes.  Die  junge  hübsche  Frau  sah  man  nur  selten,  aber  wenn  man 
sie  sah,  erquickte  man  sich  allerseits  an  der  Eleganz  und  Sanftheit  der 


175 


schönen  Mistress.  Und  dem  Ehemann  musste  man  es  lassen,  ein  verlieb terer^ 
zärtlicherer  und  eifersüchtigerer  Vertreter  der  Spezies  Gatte  war  kaum  za 
denken.  Mister  Miller  sass  morgens  früh  im  Boudoir  seiner  Frau  und  sah 
in  seinem  türkischen  Schlafrock  und  seinen  Pantoffeln  ganz  respektabel  aus. 
Luise  bereitete  den  Tee  und  schwebte  wie  ein  heimfrohes  Weibchen  durch  das 
Zimmer,  kokett,  hübsch,  rotbackig  und  verliebt.  Wer  hätte  in  diesem 

neckischen,  halb  angekleideten  Persönchen  im  weissen  Unterrock,  in  weisser 
spitzenbesetzter  Jacke,  unter  der  das  hochschliessende  Korsett  und  der 
Spitzensaum  des  eleganten  Hemdes  hervorlugten,  einen  Angehörigen  des 
männlichen  Geschlechts  vermutet?  Wer  hätte  gedacht,  dass  dieses  schwere, 
üppige,  durch  eine  Spange  zusammengehaltene  Haar,  die  mit  massiven 
goldenen  Ringen  geschmückten  Ohren  und  das  echt  weibliche  Profil,  das 
weiche  und,  rundliche  Gesicht  und  die  wohllautende  Altstimme  einem  Manne 
gehörten?  Frau  Luise  besorgte  die  sämtlichen  häuslichen  Arbeiten  selbst, 
seit  Mister  Miller  ihr  eine  Leidenschaft  für  den  Haushalt  suggeriert  hatte, 
und  sie  war  in  jeder  Beziehung  eine  tadellose  Hausfrau.  Nach  dem  ersten 
Frühstück  zog  sie  sich  auf  eine  halbe  Stunde  zurück,  frisierte  das  schwere 
Haar,  zog  ein  Kattunkleid  an  und  schlüpfte  in  eine  Sackschürze.  Wenn  sie 
dann  mit  den  Putzwerkzeugen  durch  die  Appartements  trippelte,  überfleissig 
und  der  geschworene  Feind  jedes  Stäubchens,  dann  konnte  Mister  Miller  wieder 
nicht  anders  als  sagen;  „Du  bist  die  geborene  Frau.  Eine  wirkliche  Haus- 
frau bist  du!“  An  die  Früharbeit  schloss  sich  der  obligate  Morgenspazier- 
gang an  in  Begleitung  ihres  Mannes.  Zu  diesem  machten  beide  Gatten  sorg- 
fältige Toilette.  Die  winterliche  Temperatur  verlangte  eine  solide  Garderobe 
und  Frau  Luise  Miller  repräsentierte  in  ihren  mit  Vorliebe  getragenen 
schottischen  Farben  eine  elegante  Erscheinung.  „Die  schweren  Wollkleider 
warfen  volle  Falten  über  die  Glanzlackstiefel  und  die  mit  Grazie  getragene- 
Schleppe  Hess  den  kostbaren  Unterrock  zu  voller  Geltung  kommen.  Mister 
Miller  in  elegantem  Ulster  und  Zylinder  führte  seine  Gattin  in  eines  der 
Frühstücksrestaurants,  wo  man  das  zweite  Frühstück  nahm  und  wozu  Mister 
' Miller  Ale-  und  die  Mistress  Limonade  tranken.  Dann  kam  eine  kleine  Rund- 
reise entlang  den  Schaufenstern  der  Modebazare.  Das  hätte  Luise  unter 
keinen  Umständen  missen  mögen.  Sic  studierte  jeden  neuen  Stoff,  jede  Spitze, 
Schleife  oder  Blume,  übersah  mit  Kennerblick  die  neuen  Modelle  der  Roben- 
unterröcko  und  die  anderen  Toilettengegenständc  und  hatte  sogleich  die  Ge- 
heimnisse heraus,  womit  die  Effekte  erzielt  waren.  Bis  herab  auf  den  Haar- 
schmuck,  Wäsche,  Korsett,  Stiefel  und  Handschuhe  erstreckte  sich  ihr 
Interesse.“ 

Allmählich  verstärkte  sich  in  beiden  Ehegatten  der  Wunsch  ein  eigenes 
Kind  zu  besitzen.  Das  würde  ihr  Glück  vollständig  machen.  „Ich  dachte- 
schon  daran,  ein  fremdes  Kind  anzunehmen,“  sagte  eines  Tages  Mister  Miller. 
„Nein,“  erwiderte  sie,  „rede  nicht  davon,  ein  Kind,  das  ich  nicht  selbst  ge- 
boren habe,  könnte  mir  keine  rechte  Mutterliebe  abgewinnen.“  Und  nun 
kommt  die  Höhe  dieser  absonderlichen  Geschichte,  so  grotesk  und  phan- 
tastisch, dass  es  schon  verwandter  Seelenregungen  bedarf,  um  ihre  Dai^ 
Stellung  zu  wagen.  Mister  Miller,  der  sich  eines  Tages  guter  Hoffnung  fühlt,. 


suggeriert  seiner  Frau,  sie  werde  am  21.  Mai  ein  Kind  gebären.  „Vom 

eigentlichen  Geschlecht  des  Mannes  oder  des  Weibes  hatte  Luise  Miller  keine 
Ahnung,  sie  würde  durch  keine  Macht,  ausser  durch  die  Nanas,  zu  der  Er- 
kenntnis gebracht  worden  sein,  dass  sie  ein  Mann  und  dass  ihr  Mann  ein 
Weib  war.  Und  so  wusste  Frau  Luise  auch  von  der  .Mutterschaft  nichts 
anderes,  als  dass  sie  ^lütter  werden  würde.“  Trotzdem  war  ihr  ganzes 

Wesen  verändert,  ihre  Neigung  zur  Ausgelassenheit  wich  einer  Neigung  zum 
Ernst,  sogar  zur  Melancholie.  Oft  sah  sie  nach  dem  Kalender,  wo  sie  sich 

den  21.  Mai  rot  angestrichen  hatte  und  seufzte,  „wenn  ich  nur  erst  darüber 

wäre.“  Sie  hatte  alle  Hände  voll  Arbeit,  da  sie  die  Babyausstattung  selbst 
anfertigte.  Drei  Wochen  vor  dem  Zi.  Mai  reist  Mister  Miller,  der  sich  in 
letzter  Zeit  recht  unbeholfen  >ind  verdriesslich  fühlte  nach  Ungarn.  Er  trug 
dort  für  die  Zeit  seines  Aufenthalts  in  einer  Pension  wieder  die  Kleider 
seines  eigentlichen  Geschlechts  und  gebar  einen  Kna''.;n.  Am  21.  Mai  kehrte 
er  nach  WTen,  ihrem  jetzigen  Aufenthaltsort  zurück.  In  freudigster  Auf- 
regung fliegt  sie  ihm  an  den  Hals  und  sagt;  „Heute  wird  es  ja  sein.“  „Hast 
du  auch  alles  bereit,  Luise?  „Es  ist  alles  in  bester  Ordnung,“  erwiderte  sie. 
Nachts  suggeriert  er  ihr,  sie  habe  geboren  und  legt  sacht  das  Kind  neben 
sie.  Als  sie  erwmcht,  zeigt  sie  dem  Mann,  der  müde  an  ihrem  Bette  sitzt, 
mit  mütterlichem  Stolz  das  Kind,  das  sie  nachts  geboren  zu  haben  wähnt. 
„Ein  famoser  Junge!"  rief  der  Vater  impulsiv.  „Nein,  es  ist  ein  Mädchen!“ 
so  verbesserte  Frau  Luise  wichtig  und  liess  nicht  mit  Versuchen  nach,  bis 
das  Baby  die  Lutschflasche  nicht  mehr  fallen  liess.  Klister  Miller  aber  be- 
kam zum  erstenmal,  seit  er  sich  besinnen  konnte,  einen  roten  Kopf,  der 
weibliche  Verbrecher  war  bisher  noch  nicht  errötet  bei  seinem  kaltblütig  be- 
rechneten und  in  gleichem  Tempo  ausgeführten  Taten.  Da  die  Millers  über- 
haupt ein  abgeschlossenes  Leben  zu  führen  gewohnt  waren  und  die  fanatisch 
fleissige  junge  Frau  alles  selbst  tat,  bekam  kein  Mensch  die  kleine  Luise 
oder  Lulu  zu  sehen.  Niemand  ahnte,  dass  sie  ein  Knabe  war,  nicht  einmal 
seine  Mutter,  die  ja  eigentlich  sein  Vater  war. 

Viele,  viele  Jahre  floss  nun  das  Leben  dieser  verwechselten  Menschen 
in  ganz  geregelten  Bahnen  ruhig  dahin.  Miller  trieb  einen  wahren  Kultus 
mit  sdner  reizenden  Frau,  auf  die  er  sehr  stolz  war  und  die  er  über  alles 
liebte.  An  allen  Wänden  der  Villa  finden  wir  ihre  Portraits.  „Ueber  den 
Schreibtisch  des  Hausherrn  hing  ihr  Bild  in  Oel,  aus  Künstlerliand.  Sie  war 
in  grosser  Toilette  dargestellt,  in  himmelblauem  Prunkkostüm,  mit  kost- 
barer Spitzenmantille,  eine  breite  goldene  Kette  fiel  über  den  Knöchel  der 
Hand,  die  die  lange  Schleppe  trug.  Die  geraffte  Schleppe  liess  einen  weissen 
Unterrock  von  echten  Brüsseler  Spitzen  voll  zur  Geltung  kommen.  Die 
weissen  Paspols  auf  Rocksaiim,  Aermel  und  Gürtel  und  Hals  harmonierten 
mit  ihrem  flachsfarbenen  Haar,  das  schwer  und  wüchtig  bis  über  die  Ohren 
fiel  und  von  goldverzierten  Schildpattkäramen  gehalten  wurde.  Auf  diesem 
Bild  tnig  sie  ausnahmsweise  einen  Schäferhut  mit  Blumen,  ohne  Schleier. 
Die  lange  Taille  und  die  eigenartige  Form  der  Tournüre  gaben  der  Dame 
etwas  von  jener  graziösen  Schlankheit,  die  Mister  'Miller  veranlasste,  sie  mit 
■einer  Blumenfee  zu  vergleichen.  Dann  gab  es  Bilder  aus  der  Zeit,  wo  sie 


177 


Gesellschafterin  der  Madame  Andreas  war.  Einmal  in  duftigem  Ballkostiim 
mit  wallender  Schleppe  und  Schleife,  Rosen  im  Haar.  Das  andere  Mal  an 
ihrem  Arbeitstisch  in  weissem  Tüllkleid  mit  niedlicher  Zierschürze.  Es  gab 
auch  ein  Eheportrait,  worauf  sie  in  grauem  Reisekostüm,  überhaupt  ganz  in 
grau  dargestellt  war.  Sie  kam  sich  neben  dem  stattlichen  Mister  Miller 
ganz  unscheinbar  vor,  aber  diese  Rolle  gefiel  ihr  sehr  gut.  Die  Leidenschaft 
Millers  für  Situationsportraits  seiner  Frau  grenzte  ans  Fanatische.  Er  be- 
sass  von  ihr  Bilder  in  losem  Haar,  weissem  IJnterrock  und  Frisiermantel,  in 
w'eisspunktiertem  Waschkleid  und  weisser  Schürze  vor  dem  Plättbrett.  In 
heller  Sommertoilette  hinter  dem  Kinderwagen  im  Park  und  so  weiter  bis  in 
die  Dutzende.“  Sie  selbst  brachte  es  bald  überhaupt  nicht  mehr  fertig,  sich 
als  Frau  zu  denken,  sie  hatte  die  grösste  Abneigung  gegen  das  Frauengewand 
insofern  es  für  ihren  eigenen  Gebrauch  bestimmt  gewesen  wäre.  „Er  fühlte 
sich  vollkommen  als  Mann  und  Herr.  Das  Befehlen  und  Herrschen,  überhaupt 
das  Verkörpern  und  Demonstrieren  der  männlichen  Kraft  war  ihm  ange- 
messen und  stand  ihm  zu  Gesicht.  Er  fühlte  sich  der  kleinen,  gehorsamen, 
und  schmachtenden  Frau  Luise  in  jeder  Beziehung  überlegen.  Es  würde 
ihm  lächerlich  und  ekelhaft  vorgekommen  sein,  dass  dieses  gebrechliche  Ge- 
schöpf der  Mann  und  er  die  Frau  hätte  sein  sollen.  Er  trug  gern  schwere 
Anzugstoffe  und  den  Künstlermantel  nebst  Zylinderhut;  seine  Stiefel  hatten 
dicke  Sohlen.  Das  alles  schien  ihm  seine  männliche  Kraft  zu  bedingen,  er 
war  ja  auch  wirklich  stark  und  hob  seine  Frau  wie  eine  Puppe  hoch. 
Andererseits  hatte  er  eine  wirkliche  Leidenschaft,  in  Frau  Luise  alles  Schwache, 
Zierliche,  Weibliche  vereinigt  zu  sehen.  Es  war  ihm  eine  Wonne,  eine  Frau 
zu  haben  und  ihr  Mann  zu  sein,  und  diese  Wonne  wurde  noch  grösser,  wenn 
er  dachte,  dass  seine  Frau  eigentlich  doch  ein  Mann  war.  Sein  abnormer 
Organismus  war  ganz  verliebt  in  diesen  abnormen  Zustand.  Nana  hätte  nie 
den  Walter  Andreas  so  fanatisch  lieben  können,  wie  der  Mister  Miller  seine 
Frau  Luise  liebte.“ 

Zwanzig  Jahre  schon  befand  sich  Luise  ununterbrochen  in  diesem 
hypnotischen  Bann,  als  Mister  Miller  eines  Tages  bedenklich  erkrankte,  er 
hatte  ihr  auf  das  Bestimmteste  verboten,  einen  Arzt  zu  holen.  Entsetzt 

hörte  sie,  wie  er  ihr  in  seinen  wilden  Fieberphantasien  zurief:  „Du  bist 

nicht  die  Frau,  Luise,  sondern  der  Mann,  ich  bin  die  Frau,  du  bist  mein 
Stiefsohn  und  ich  bin  die  Frau  deines  Vaters,  du  bist  Walter  .Andreas,  deines 
Vaters  Erbe.  Mein  Sohn  Otto  ist  unberechtigt,  dein  Erbe  zu  behalten.  Ich 
bin  Nana  Fransson  und  Lulu  ist  imser  Sohn,  ich  habe  ihn  geboren  und  du 
bist  sein  Vater.“  Sie  hält  alles  für  die  tolle  Ausgeburt  eines  erkrankten 

Gehirns  und  hält  es  für  gänzlich  ausgeschlossen,  dass  auch  nur  ein  Körnchen 

Wahrheit  in  diesen  wirren  Reden  enthalten  sein  könne.“ 

Wir  wollen  hier  unseren  Bericht  abbrechen.  Ebenso  ge- 
schickt und  eigenartig  tvie  der  Verfasser  den  Knoten  geschürzt 
hat,  weiss  er  ihn  auch  zu  entwirren  und  zu  lösen.  Wir  können 
uns  aber  mit  der  Wiedergabe  dieser  für  uns  psychologisch  be- 
merkenswertesten Schilderungen  begnügen  und  verweisen  den 

Ulrachfeld  Die  Transvestiten.  12 


178 


Leser,  der  sich  für  die  weitere  Entwickelung  und  allmähliche 
Lö.‘^ung  der  seltsamen  Vorgänge  und  Konflikte  interessiert  auf 
das  Original,  in  welchem  uns  der  Verfasser  ein  so  anschau- 
liches Bild  seines  merkwürdigen  Lmpfindungslebens  gegeben  hat. 

Dass  dem  Verweichlichuiigstrieb  schon  als  solchem,  ohne 
dass  es  dabei  der  Vorstellung  oder  Anwesenheit  einer  zweiten 
Person  bedarf,  ein  erotischer  Charakter  innewohnt,  geht  unter 
anderem  daraus  hervor,  dass  die  Ausführung  der  Metamor- 
phose allein  deutlich  geschlechtliche  Lustf'mpfindungen 
auslöst,  abgesehen  davon,  dass  sie  wie  früher  bereits  erwähnt 
mit  dem  Gefühl  sexueller  Schamhaftigkeit  verknüpft  ist. 
Zwar  bemerken  einige,  namentlich  III  und  VIII,  sowie  auch 
XIII,  die  im  übrigen  ihren  Zustand  sehr  klar  beobachtet  und 
beurteilt  haben,  dass  der  Eeiz  der  Frauenkleidung  für  sie 
nichts  Erotisches  habe,  es  sei  nur  ein  z e i t - 
weises  Hervordrängen  ihres  weiblichen 
Charakters.  Es  scheint  dies  jedoch  nach  der  ganzen 
Art  der  Erscheinung  und  vor  allem  nach  dem.  was  von  den 
analoger  Fällen  nutgeteilt  wird,  eine  irrtümliche  Auffassung 
zu  sein.  So  hören  wir  von  einem  (II.),  dass  sich,  als  er 
mit  11  Jahren  zu  masturbieren  begann,  sogleich  „damit  die 
Vorstellung  vom  Verkleiden  verband,“  von  einem  andern  (I.), 
dass,  als  er  sich  selber  im  Traum  als  Dame  erblickte,  in  dem 
Moment,  als  er  sich  den  Schleier  umbinden  wollte,  die  Pollu- 
tion erfolgte.  Ein  Dritter  (IV.)  bekennt,  dass,  als  er  sich 
bald  nach  der  Konfirmation  heimlich  in  Abwesenheit  der 
Eltern  das  cremefarbene  Damenkleid  der  Mutter  anzog,  zum 
ersten  Mal  eine  Erection  eintrat,  wobei  er  „das  naive  Gefühl 
hatte,  es  sei  eine  Sünde.“  VII  berichtet,  dass  er,  wenn  er 
sich  verkleidete  und  dann  im  Zimmer  nach  Frauenart  den 
Rock  hochraffte  oft,  ohne  dass  er  sich  berührte,  ejakulierte. 
Auch  X gibt  an,  es  hätte  ihn  erotisch  befriedigt,  wenn  er 
sich  _in  der  Stille  angetan  mit  Korsett,  feinen  Unterröcken, 
entzückenden  Kleidern,  Hut,  Schleier,  Armbändern  und  Hals- 
ketten vor  dem  Spiegel  stehend  betrachtet  hätte“  und  XL, 
dass  .seine  Sinnlichkeit  sich  in  erster  Linie  auf  Befriedigung 
der  Kostümsehnsucht  gerichtet  sei,  dass  demgegenüber  alle 
andern  Wünsche  zurücktreten“.  „Wenn  ich  aber  irgend  welche 


179 


weiblichen  Kleidungsstücke  an  mir  hatte“  — fährt  er  fort  — 
trat  sofort  sexuelle  Erregung  ein  und  gleichzeitig  das  Ver- 
langen nach  einem  bestimmten  Typus  Weib.“  XII  erzählt, 
dass  ihn  die  Betrachtung  seines  „weibisch  entstellten  Spiegel- 
bildes“ sexuell  stark  errege  und  XIII  ergänzt  seine  früheren 
Angaben  dahin,  dass  er,  wenn  er  keine  Frauenkleider  an- 
hätte, nahezu  impotent  sei,  dass  er  dagegen,  wenn  er  eine 
neue  Damentoilette  anprobiere  und  fände,  dass  sie  gut  sitze, 
sofort  eine  Erektion  und  häufig  auch  eine  rasche  Ejakulation 
bekäme.  Bei  manchen  dieser  Schilderungen  ist  man  fast  ver- 
sucht, zu  denken,  dass  hier  eine  Spaltung  der  Persönlichkeit 
dergestalt  eintritt,  dass  der  männliche  Teil  in 
der  Psyche  dieser  Menschen  sich  anihrem 
weiblichen  Teil  sexuell  errege,  dass  sie 
sich  nicht  nur  zu  dem  Weibe  ausser  sich, 
sondern  mehr  noch  zu  dem  Weibe  in  sich 
hingezogen  fühlen.  Tatsächlich  dachte  ich  bei  den 
ersten,  die  sich  mir  vorstellten,  nachdem  ich  Homosexualität 
als  nicht  vorliegend  erkannt  hatte,  zunächst  an  Mono- 
sexualität. Spricht  doch  einer  (IX)  geradezu  davon,  dass  ihn 
„die  Sehnsucht,  sich  als  Frau  zu  fühlen  dazu  verleitet  habe, 
den  Koitus  an  sich  selbst  zu  vollziehen“.  Aehnliche  auto- 
cohabitatorische  Gedanken  und  Handlungen  sind  auch  bei 
VH  und  XII  nachw'eisbar  (vgl.  jedoch  pag.  201ff.). 

So  eigenartig  das  Triebleben  dieser  Personen  ist,  so 
wenig  scheint  ihre  Intelligenz  — ein  Satz,  der  ja  für  die 
sexuell  von  der  Norm  abweichenden  im  allgemeinen  gilt  — 
von  dem  Durchschnitt  derjenigen  Klasse  abzuweichen,  zu  der 
sie  nach  Abstammung,  Beruf  und  sozialer  Stellung  gehören. 
Ich  sage  „scheint  — denn  17  Fälle  sind  selbst  bei  gewissen- 
hafter Anamnese  und  Analyse  kein  ausreichendes  Material*), 

*)  Ich  bemerke,  dass  ich  ausser  den  hier  beschriebenen  noch  etwa  8 
sehr  analoge  Fälle  kennen  lernte,  von  denen  ich  bisher  keine  genauen 
Anamnesen  erlangen  konnte.  Ob  es  sich  bei  dem  erotischen  Verkleidungs- 
drang um  eine  seltene  Ausnahmeerscheinung  handelt,  oder  ob  er  öfter 
Yorkommt,  als  wir  zunächst  anzunehmen  geneigt  sind,  entzieht  sich  zurzeit 
noch  jeder  Beurteilung.  Auch  von  der  Homosexualität  glaubte  man  lange, 
es  sei  eine  Rarität,  bis  man  nach  und  nach  ihre  relative  Häufigkeit  er- 

12* 


180 


nur  darauf  ein  nach  jeder  Richtung  abschliessendes 
Urteil  gründen  zu  können.  Die  bisher  bekannten  Transvestiten 
sind  zumeist  geistig  regsame,  gewissenhafte  Leute  von  viel- 
seitigen Interessen  und  umfassender  Bildung.  Es  geht  dies 
auch  aus  ihren  Aufzeichnungen  hervor,  die  ich  zum  Teil  hier 
wörtlich  wiedergegeben  habe,  um  neben  der  Darstellung  ihres 
Affektlebens  auch  ein  Bild  ihrer  intellektuellen  Fähigkeiten 
zu  geben.  In  der  Schule  zeichneten  sich  fast  alle  durch  Streb- 
samkeit, Fleiss  und  besonders  leichte  Auffassungs- 
gabe aus  (was  von  manchen  Psychiatern  heutzutage  aller- 
dings auch  schon  als  leichtes  Stigma  degenerationis  angesehen 
wird.)  Gegenwärtig  befinden  sich  alle  in  geordneten  Verhält- 
nissen und  guten  Stellungen,  in  die  sich  manche  durch  grosse 
Energie  und  Tüchtigkeit  heraufgearbeitet  haben.  I,  II  und 
IV  sind  Kaufleute,  alle  in  der  zweiten  Hälfte  der  Dreissiger, 
III  zwischen  40  und  50  alt,  der  Verfasser  des  zitierten 
Romans  ist  neben  seinem  kaufmännischen  Beruf  als  befähigter 
Schriftsteller  tätig,  auch  XIV  — 33  Jahre  alt  — steht  im 
literarischen  Leben.  XIII  ist  Buchhändler  (47  Jahre),  V be- 
findet sich  im  Kunstgewerbe  an  leitender  Stellung,  VI  ist  ein 
geistvoller  Illustrator,  beide  in  den  Vierzigern,  VIII  ist  ein 
philosophisch  beanlagter  Mediziner,  XII  Jurist,  zur  Zeit  ver- 
mutlich Referendar,  beide  Mitte  der  zwanzig,  IX,  37  Jahre, 
war  Offizier,  guter  Reiter  und  wie  V ausgezeichneter  Schütze, 
hat  zwei  Feldzüge  mitgemacht,  in  denen  er  dekoriert  wnirde, 
X ist  Techniker,  40  Jahre  und  XI  Lehrer,  ca.  50  Jahre  alt, 
VII.  endlich  ein  vor  kurzem  pensionierter  Polizeibeamter  (im 
Anfang  der  40).  XV  jetzt  29  Jahre  hat  die  Plätterei  erlernt, 
war  aber  in  so  mannigfachen  Berufen  beschäftigt,  dass  sie  gut 
nach  Nordamerika  passen  würde,  wo  Bekannte,  die  sich  einige 
Zeit  nicht  gesehen  haben,  einander  zu  fragen  pflegen:  „in  w'hat 
business  are  you  n o w ?“,  „w'elchen  Beruf  haben  Sie  jetzt?“ 

kannte.  Zwecks  genaueren  Studiums  . der  Sexaalmetamorphose  ist  es  dem 
Verfasser  dieser  Arbeit  natürlich  sehr  erwünscht,  wenn  sich  ihm  oder  anderen 
Spezialforschern  weitere  Vertreter  dieser  Gattung  anvertrauen.  Fall  XIII 
hat  ganz  Recht,  wenn  er  sich  von  der  wissenschaftlichen  Erforschung  und 
der  Publizierung  dieser  Sonderetscheinung  auch  für  seine  Gefährten  mehr 
Verständnis  und  ein  besseres  Los  verspricht. 


181 


Auffallend  könnte  es  auf  den  ersten  Blick  erscheinen, 
dass  sich  unter  unserem  Fällen  keiner  befindet,  der  als  Damen- 
darsteller  auf  der  Bünne  wirkt.  Man  sollte  doch  annehmen, 
dass  es  für  diese  Menschen,  die  sich  im  weiblichen  Kostüm 
so  überaus  wohl  fühlen,  keinen  reizvolleren,  geeigneteren  Beruf 
geben  könne.  Vielleicht  ist  es  nur  ein  Zufall,  dass  sich  unter 
unseren  Transvestiten  kein  professioneller  „Damenkomiker“ 
findet,  vielleicht  ist  es  auch  dadurch  mitbedihgt,  dass  diese 
Personen  bewusst  oder  unbewusst  das  blosse  Anlegen  der 
Frauentracht  als  eine  erotische  Betätigung  empfinden  und 
daher  ursprünglich  eine  begreifliche  Scheu  und  Zurückhaltung 
hatten,  sich  darin  öffentlich  zur  Schau  zu  stellen.  Bei  den 
Homosexuellen,  wo  die  Verweiblichung  ein  mehr  sekundäres 
Symptom  ist,  oft  aus  dem  mehr  oder  weniger  deutlichen  Drange 
geboren,  Männern  zu  gefallen,  kommt  dieser  innere  Wider- 
streit weniger  in  Frage. 

Zweifellos  gibt  es  aber  auch  unter  den  Damendarstellern, 
die  übrigens  in  England,  Amerika  und  den  romanischen  Län- 
dern verbreiteter  und  beliebter  sind  wie  bei  uns,  eine  ganze 
Reihe  vollkommen  heterosexueller  Transvestiten  und 
der  von  Kräpelin  in  seinem  grossen  grundlegenden  Lehr- 
buch der  Psychiatrie  (pag.  784)  vorkommende  Satz:  „Moll 

behauptet,  dass  Damenkomiker  regelmässig  homosexuell  seien“ 
ist  in  dieser  Allgemeinheit  sicherlich  falsch.*)  Diese 
Meinung  gibt  allerdings  das  wieder,  was  man  gewöhnlich  auch 
im  Volk  über  diese  Spezialität  denkt.  Es  verlohnt  sich  hier 
an  das  kleine  Erlebnis  zu  erinnern,  das  XI  so  schlicht  und 
eindrucksvoll  berichtet.  Er  erzählt,  dass  er  in  der  Stadt  X 
eines  Tages  ein  Billet  für  ein  Variete-Theater  erhielt.  „Ich 
war  bereits  19)4  Jahr  alt“  — bemerkt  er  — „und  hatte  noch 
nie  eine  solche  Vorstellung  besucht,  wusste  auch  nichts  von 
Damendarstellern.  Durch  das  Gespräch  zweier  Herren,  die 
vor  mir  sassen.  wurde  ich  erst  darauf  aufmerksam,  dass  die 
Vortragende  Dame  männlichen  Geschlechts  sei.  Einer  der 
Herren  Hess  dabei  eine  Bemerkung  über  die  Neigungen  fallen, 

•)  Falls  sich  das  Kräpelinsche  Ci  tat  auf  das  Buch:  , Konträre  Sexual- 
empfindung''  stützen  sollte,  stimmt  es  übrigens  mit  dem  Original  nicht  voll- 
kommen überein. 


182 


die  derartige  Individuen  ihrem  eigenen  Geschlecht  gegenüber 
haben  sollten.  Dem  anderen  schien  das  nicht  recht  glaubhaft, 
aber  der  erste  versicherte,  er  wisse  es  ganz  genau, 
jedes  männliche  Individuum,  das  sich 
weiblich  kleide,  gehöre  zu  jener  Rasse 
von  Menschen.  Ich  ging  an  diesem  Abend  sehr  nieder- 
geschlagen nach  Hause  und  verbrachte  eine  schlaflose  Nacht. 
Noch  lange  klangen  mir  diese  Worte  im  Ohr.  Wie  kam  hier 
jemand  dazu,  über  seine  Mitmenschen  ohne  weiteres  den  Stab 
zu  brechen  und  etwas  zu  behaupten,  was  unmöglich  wahr  sein 
konnte.  Denn  ich  fühlte  doch  trotz  meiner 
Sehnsucht  nach  Weiberkleidern  nicht  die 
Spur  von  einerNeigung  zum  Manne  in  mir.“ 
Dass  das  irrtümliche  Urteil  über  die  Damendarsteller  — 
auch  für  die  Damenschneider  gilt  ähnliches  — revisionsbe- 
dürftig sei,  ging  schon  aus  der  kleinen  statistischen  Studie 
hervor,  die  „ein  Mediziner“  1901  im  III.  Jahrbuch  des  Jahr- 
buchs für  sexuelle  Zwischenstufen  unter  dem  Titel:  „Vom 
Weibmann  auf  der  Bühne“  veröffentlicht  hatte.  Der  unge- 
nannte Verfasser  hatte  an  14  Damenimitatoren  („Soubretten- 
parodisten“) Erhebungen  und  Untersuchungen  angestellt.  Von 
diesen  waren  8 verheiratet,  davon  5 in  kinderloser,  aber  an- 
scheinend glücklicher  Ehe,  von  den  ledigen  6 waren  2 voll- 
kommen normalsexuell  „begeisterte  Ver- 
ehrer des  wirklichen  weiblichen  Ge- 
schlechts“, 4 homosexuell,  darunter  3 passive  Pygisten. 
Unter  den  8 Verheirateten  sind  5 rein  heterosexuell,  3 homo- 
sexueller Nebenneigungen  stark  verdächtig.  Es  wären  dem- 
nach von  14  Damendarstellern  7 ausschliesslich  heterosexuell, 
7 ganz  oder  teilweise  homosexuell  veranlagt  oder  noch  prä- 
ziser ausgedrückt,  7,  also  genau  die  Hälfte, 
heterosexuell,  4 homosexuell,  3 bisexuell. 
Die  Vorliebe  für  weibliche  Kleidung  und  weibliches  Wesen  ist 
fast  allen  in  gleicher  Weise  eigen.  Acht  von  den  Herren, 
darunter  5 von  den  Verheirateten  bekennen,  dass  sie  auch 
innerhalb  ihrer  Wohnung  fast  nur  weibliche  Kleidung,  auch 
schon  seit  Jahren  während  der  Nacht  Damenhemden,  Nacht- 
jäckchen etc.  tragen.  Drei  von  den  Verheirateten  pflegen  auch 


183 


mit  ihren  Frauen  zu  jeder  Zeit  auf  offener  Strasse  in  Damen- 
kleidern spazieren  zu  gehen,  auch  längere  Reisen  im  Damen- 
c 0 u p e zu  machen,  wobei  sie  versichern,  dass  ihnen  daraus 
noch  niemals  Unannehmlichkeiten  erwachsen  seien.  Acht  haben 
beim  Militär  mit  der  Waffe  gedient,  drei  darunter  als  Ein- 
jährig-Freiwillige. Im  einzelnen  sind  die  Lebensschicksale 
dieser  Damenimitatoren  sehr  interessant.  So  tritt  einer,  ein 
Franzose  von  43  Jahren,  Vater  zwei  sehr  hübscher  Töchter 
gemeinsam  mit  der  jüngeren,  einem  17  jährigen  Mädchen  auf, 
der  Vater  als  überaus  graziöse  Pierette,  dieToch- 
t e r a 1 s P i e r r 0 t.  Er  ist  eine  stille,  sanftmütige  Natur, 
praktischer  Hausvater,  von  den  Seinen  geliebt  und  verehrt; 
„von  konträrer  Sexualempfindung  offenbar  keine  Spur“.  Ein 
anderer,  ebenfalls  verheiratet,  hat  ein  sehr  abenteuerliches 
Leben  hinter  sich,  das  in  \deler  Hinsicht  an  unseren  Fall  XIII 
erinnert.  Nach  dem  frühzeitigen  Tode  seiner  Eltern  der 
Schule  entlaufen,  geht  er  als  Schiffsjunge  nach  Amerika.  In 
New  York  wird  er  Musiker  und  tritt,  da  er  in  einem  Männer- 
orchester keine  Stellung  findet  als  Mädchen  verkleidet  i n 
eine  Damenkapelle  ein.  Mehrere  Jahre  reist  er  mit 
dieser  Kapelle  als  F 1 ö t e n s p i e 1 e r i n , ohne  dass  jemand 
sein  wahres  Geschlecht  ahnt.  Als  er  diesen  Posten  verlässt, 
hat  er  inzwischen  „soviel  Geschmack  an  der  weiblichen  Klei- 
dung gefunden“,  dass  er  sich  nicht  mehr  entschliessen  kann, 
sie  abzulegen.  Er  verdingt  sich  hintereinander  als  Stuben- 
mädchen, Sodawasser-Verkäuferin,  Kellnerin,  Büffetmamsell 
und  schliesst  sich  dann  einem  Cirkus  an,  wo  er  es  von  einer 
Statistin  rasch  bis  zur  Pannereiterin  bringt.  Ein 
Sturz  vom  Pferde,  bei  dem  er  sich  eine  Sehnenzerrung  zu- 
zieht, beendet  diesen  Abschnitt  seines  Lebens.  Er  produziert 
sich  dann  zunächst  im  Cirkus  weiterals  weiblicher  Musik-Clown 
und  vereinigt  sich  dann  mit  zwei  „wirklichen“  Damen  zu 
einem  Gesangsterzett,  bei  dem  er  die  zweite  Stimme  singt 
und  tritt  schliesslich  auf  der  Spezialitätenbühne  als  Damen- 
imitator auf.  Von  den  recht  charakteristischen  Briefen,  welche 
Ür.  med.  S.  auf  seine  Rundfrage  bei  den  Damendar steilem 
erhalten  hat,  seien  hier  zwei  wiedergegeben : 

„Wurde  schon  als  Junge,  schreibt  der  eine,  von  meiner 


184 


Mutter  gern  in  Mädchenkleider  gesteckt,  entdeckte  meine 
Stimme  und  mein  Talent,  als  ich  19  Jahre  alt  war,  Hess  mich 
ausbilden,  reiste  nach  Ableistung  meiner  lililitärpilicht  mit 
meiner  Mutter  und  meiner  Schwester,  die  darin  wetteifern, 
mich  stets  so  hübsch  als  möglich  herauszuputzen.  Wenn  icli 
mich  in  Damenkleidern  nicht  behaglich  fühlte,  würde  ich 
mich  nicht  darin  auf  der  Bühne  producieren.  Ich  habe  eine 
Vorliebe  für  echten  Schmuck,  namentlich  Brillanten,  und  für 
feine  Wäsche,  die  ich  nicht  elegant  genug  bekommen  kann. 
Bei  meinen  Toiletten  verlasse  ich  mich  meist  auf  den  Ge- 
schmack meiner  Mutter  und  Schwester.  In  Damengesellschaft 
befinde  ich  mich  am  wohlsten.  besuche  auch  zuweilen  als 
Dame  kostümiert  mit  den  Meinigen  Kaffeegesellschaften,  bin 
dort  sehr  beliebt  und  wird  meine  Fertigkeit  in  weiblichen 
Handarbeiten  (meine  Spezialität  darin  ist  point-lace)  sehr  be- 
wundert. Im  Hauswesen  mache  ich  mich,  wenn  ich  Zeit  habe, 
gern  nützlich.  Bettenmachen,  Abstäuben,  Wäschelegen, 
Plätten  gehört  zu  meinen  liebsten  Beschäftigungen.  Das  hält 
mich  nicht  ab,  mit  Vorliebe  starke  Zigarren  zu  rauchen  und 
auch  am  Kneiptisch  meinen  Mann  zu  stellen.  Aus  Süssig- 
keiten  mache  ich  mir  nichts.  In  meine  Photographien,  soweit 
sie  mich  als  Dame  darstellen,  bin  ich  verliebt,  Neigung  zu 
Damen  habe  ich  nur  vorübergehend  gespürt.  Etwaige  Huldi- 
gungen der  Herren  machen  auf  mich  keinen  Eindruck.  Nach 
dem  Alter  soll  man  „Damen“  eigentlich  nicht  fragen.  Indess, 
wenn  Sie  es  denn  durchaus  wissen  wollen:  Ich  bin  auf  dem 
besten  Wege,  30  zu  werden.  Aber,  bitte,  sorgen  Sie  dafür, 
dass  es  keiner  meiner  Agenten  erfährt.  Genehmigen  Sie  etc.“ 
Ein  zweiter  antwortete: 

„Wer  nie  das  Glück  an  sich  erfuhr. 

Den  Unterrock  zu  tragen. 

Hat  von  der  Sache  keine  Spur 
Und  soll  nicht  darnach  fragen. 

Ein  .Jeder  schaffe  sich  seine  Welt. 

Fragt  nicht,  ob’s  anderen  gefällt!“ 

Fast  alle  unsere  Transvestiten  stammen  aus  an- 
scheinend gesunden  Familien;  eine  nennens- 
wertere neuro-psychopathische  Belaistung  Hess  sich  nur  in 


185 


zwei  Fällen  nachweisen.  Das  schliesst  natürlich  nicht  aus,, 
dass  gleichwohl  bei  allen  eine  neurotische  Dispo- 
sition vielleicht  sogar  im.  Sinne  der  von  den  Autoren 
immer  weniger  prägnant  gefassten  degenerativeii 
Konstitution  vorhanden  sein  könnte.  Bei  XI  war 
der  Vater  Alkoholiker,  bei  VII  die  Eltern  blutsverwandt. 
Dieser  — der  Polizeibeamte  — ist  übrigens  der  einzige  unter 
unseren  Fällen,  bei  dem  der  erotische  Verwandlungstrieb  durch, 
die  Vergesellschaftung  mit  allerlei  höchst  merkwürdigen  asso- 
ciativen  Ideen  und  Handlungen  in  einer  Form  auftritt,  die 
den  Gedanken  nahelegt,  dass  sich  hier  eine  ernstere  Störung 
der  Geistestätigkeit  im  Zusammenhang  mit  dem  Verkleidungs- 
drang entwickelt  hat.  Ob  und  inwieweit  der  Verkleidungs- 
trieb an  und  für  sich  unter  den  Begriff  der  „Krank- 
heit“ fällt,  wollen  wir  im  nächsten  Kapitel  erörtern,  wo  wir 
in  das  eigentliche  Wesen  der  ganzen  Erscheinung  einzu- 
dringen uns  bemühen  wollen. 


II. 

Kritischer  Teil. 

(Differentialdiagnose) 

Motto;  Statt  kein  Gesetz  ohne  Ausnahme 
sollte  man  lieber  sagen  keine 
Ausnahme  ohne  Gesetz. 

Wie  ist  nun  wohl  der  eigenartige  Verkleidungstrieb  zu 
verstehen,  dessen  Symptomatologie  wir  im  vorstehenden 
kennen  lernten.  Handelt  es  sich  vielleicht  doch  nur  um  eine 
Abart  der  Homosexualität?  Liegt  eine  Erscheinung 
vor,  die  in  das  Gebiet  dessen  gehört,  was  Havelock  E 1 1 i s 
Auto-Erotismus  nennt.  Hermann  Rohleder  als 
Automonosexualismus  beschrieben  hat,  ein  dem 
von  Näcke  alsNarcissismus  bezeichneten  verwandtes 
Bild?  Haben  wir  es  mit  einer  besonderen  F orm  des  Maso- 
chismus zu  tun?  Fällt  der  Zustand  in  die  Rubrik  des 
Kleidungsfetischismus,  beruht  er  auf  einer  Wahn- 
idee, einer  „Verrückung“  der  Persönlichkeitsbeurteilung,  die 
wir  in  der  Psychiatrie  Paranoia  nennen  oder  aber  liegt 
hier  ein  selbständiger  Complex  vor,  der  sich  unter 
keinem  der  bisher  bekannten  Bilder  einordnen  lässt?  Das 
differentialdiagnostisch  zu  untersuchen,  soll  im  folgenden 
unsere  Aufgabe  sein. 

Da  ähnliche  Triebe  der  Verweiblichung  und  Vermänn- 
lichung, wie  wir  sie  hier  beobachteten,  früher  nur  bei  Kon- 
trärsexuellen beschrieben  waren,  war  man  zunächst  geneigt 
anzunehmen,  dass  auch  hier  Homosexualität,  vielleicht  eins 
selbstunbewusste  vorliege.  Die  genauere  Prüfung  ergab  je- 
doch. dass  das  nicht  zu  trifft,  denn  das  Hauptmerk- 
mal der  Homosexualität,  wovon  auch  ihr  Name  herrührt  {ofioq 
gleich),  die  Richtung  des  Geschlechtstriebes  auf  Personen  des 


188 


gleichen  Geschlechts  fehlt;  wir  sahen,  dass  in  den  meisten 
unserer  Fälle  keine  Spur  davon,  in  vielen  sogar  ein  heftiger 
Widerwille  dagegen  vorhanden- war,  der  dem  der  übrigen  He- 
terosexuellen wenig  nachgibt;  es  fanden  sich  zwar  bei  einigen 
homosexuelle  Episoden,  wie  sie  auch  sonst  bei  Heterosexu- 
ellen gleichfalls  nicht  selten  sind,  doch  so  vorübergehend  und 
oberflächlich,  dass  von  angeborener  echter  Homosexualität  — 
und  nur  die  angeborene  kann  als  e c h t e gelten  — hier  nicht 
die  Rede  sein  kann.  Selbst  wenn  man  bei  einigen  der 
Fälle  (wie  bei  XII  und  XV)  im  Zweifel  sein  könnte,  ob  nicht 
ein  Zwischen  beiden  Geschlechtern  schwankender,  also  bisexu- 
eller Trieb  vorhanden  wäre,  so  ist  doch  bei  der  Mehrzahl  die 
Triebrichtung  zum  entgegengesetzten  Geschlecht  so  scharf 
ausgesprochen,  dass  das  Vorkommen  von  Effemination  und 
Viraginität  bei  heterosexuellen  Personen  als  er- 
wiesen angesehen  werden  muss.  Effemination  und  Homo- 
sexualität treten  uns  jetzt  als  gesonderte  Erscheinungen 
entgegen,  die  zwar  oft,  aber  keineswegs  immer  vergesell- 
schaftet aultreten.  Man  muss  den  Satz;  nicht  alle  Ho- 
mosexuellen sind  effeminiert  dahin  erweitern 
und  nicht  alleEffeminierten  homosexu- 
ell. Es  stimmt  das  auch  gut  mit  dem  fünften  unserer  geno- 
genetischen  Gesetze*);  „jeder  Geschlechtscharakter  kann  für 
sich  abweichen,  doch  lässt  sich  eine  Relation  in  den  Ab- 
weichungen nachweisen,  welche  sich  in  derselben  Zeitperiode 
entwickeln“  überein.  Ob  sich  die  Effeminiertheit  relativ  öfter 
mit  Homosexualität  verbindet,  was  ich  vorläufig  noch  für 
wahrscheinlich  halte,  als  mit  der  Heterosexualität,  lässt  sich 
zur  Zeit  noch  nicht  beurteilen,  da  zahlenmässig  exakte  Unter- 
lagen fehlen. 

Nach  meinen  bisherigen  Erfahrungen  habe  ich  den  Ein- 
druck, als  ob  bei  50 — 60  % der  Homosexuellen  die  virilen 
Eigenschaften  prävalieren.  Auch  Bloch  ist  derselben 
Ansicht.**)  Er  schreibt;  „nach  meinen  Beobachtungen  scheint 

•)  cfr.  Hirschfeld:  Geschlechtsübergänge.  Thesen  über  die  Entwicklung 
der  Geschlechtsunterschiede,  pag.  18. 

•*)  cfr.  Sexualleben,  pag.  551. 


189 


mir  das  Zahlenverhältnis  zwischen  den  virilen  und  femininen 
Uraniern  ungefähr  das  gleiche  zu  sein/'  Unter  diesen  ca.  50% 
femininer  gearteten  Homosexuellen  ist  der  weibliche  Einschlag 
natürlich  auch  noch  nach  Art  und  Stärke  sehr  verschieden 
und  steigert  sich  wohl  kaum  bei  10  % unter  ihnen  zu  dem 
Drange  weibliche  Garderobe  anzulegen;  im  Gegenteil,  der 
grossen  Mehrzahl  der  Homosexuellen  nicht  nur  der  virileren 
ist  die  Verkleidung  direkt  unsympathisch.  Noch  geringer  ist 
die  Menge  derjenigen  homosexuellen  Männer,  die  vollkommen 
als  Frau,  der  urnischen  Frauen,  die  völlig  als  Mann  leben. 
Ist  dies  der  Fall,  dann  bietet,  rein  äusserlich  betrachtet, 
der  homosexuelle  und  heterosexuelle  Transvestitismus  ein 
nahezu  gleiches  Bild  dar,  nur  besteht  der  grosse  Unterschied, 
dass  der  Geschlechtstrieb  bei  den  einen  — näm- 
lich den  Transvestiten  — mehr  der  körperlichen 
Eigenart  entspricht,  bei  den  andern  — den  Homosexu- 
ellen — mehr  dem  seelischen  Komplex.  Wenn  der 
Geschlechtstrieb  in  solchen  Fällen  nun  aber  an  und  für  sich 
nicht  stark  ist  und  seine  Richtung  dauernd  eine  schwankende 

— was,  soweit  ich  sehe,  nur  selten  ist,  — so  kann  gelegent- 
lich die  Differentialdiagnose  schwierig  sein,  ob  in  einem  kon- 
kreten Fall  die  Effemination  mehr  als  eine  Begleiterscheinung 
der  Homosexualität  oder  die  homosexuelle  Anwandlung  mehr 
als  ein  sekundäres  Symptom  der  Effemination  anzusehen  ist. 

Da  vor  und  nach  Krafft-Ebing  und  vor  allem  von  ihm 
selbst  homosexuelle  Männer  und  Frauen,  bei  denen  — um 
mich  der  Worte  des  grossen  Wiener  Psychiaters  zu  bedienen 

— „auch  das  ganze  psychische  Sein  der  abnormen  Geschlechts- 
empfindung entsprechend  geartet  ist“,  zahlreich  beschrieben 
sind,  dürfte  es  genügen,  wenn  wir  hier  zum , Vergleich  mit 
unseren  Hauptfällen  I — XVII  je  ein  Beispiel  eigener  Be- 
obachtung analoger  Erscheinungen  bei  einem  homosexuellen 
Mann  und  einer  ebenso  veranlagten  Frau  anführen. 

Zu  den  Fällen,  die  in  den  letzten  Jahren  einiges  Auf- 
sehen erregten,  gehörte  der  tragische  Selbstmord  eines  etwa 
dreissigjährigen  Mannes  in  Breslau,  welcher  unter  der  Spitz- 
marke: „Ende  einer  männlichen  Braut“  im  Dezem- 
ber 1906  durch  die  Presse  ging.  Es  handelte  sich  um  einen 


Menschen,  der  in  Rio  de  Janeiro  als  Sohn  eines  deutschen 
Arztes  und  einer  Brasilianerin  geboren  war,  er  war  erblich 
erheblich  belastet,  seine  Mutter  starb  in  einer  Irrenanstalt, 
in  der  sich  sein  älterer  Bruder  auch  jetzt  noch  befindet.  Von 
Hause  aus  vermögend,  war  er  nach  Paris  gegangen,  wo  er 
alsbald  als  „Cointesse  de  Paradeda“  die  Rolle  einer  sehr  ele- 
ganten jungen  Dame  spielte.  Er  gründete  sich  einen  vor- 
nehmen Hausstand,  hielt  sich  Dienerschaft,  Equipage, 
sah  viele  Gäste  bei  sich,  ohne  dass  jemand  sein  wahres  Ge- 
schlecht ahnte.  Da  ereilte  ihn  sein  Schicksal,  indem  er  sich 
leidenschaftlich  in  einen  schlichten  deutschen  Lehrer  verliebte, 
der  sich  zur  Erlernung  der  französischen  Sprache  in  Paris 
aufhielt.  Dieser  von  der  gewinnenden,  geistsprühenden  Art, 
vielleicht  auch  von  dem  Reichtum  und  der  Liebe  der  Comtesse 
angezogen,  verlobte  sich  schliesslich  mit  ihr.  Als  er  am  23. 
Oktober  06  nach  seiner  Heimatstadt  zurückkehrte,  folgte  sie 
ihm.  Zeitweise  war  ihm  schon  vorher  vor  ihrer  stürmischen 
Zuneigung  etwas  „unheimlich“  geworden;  in  Breslau  aber 
verstärkten  seine  Freunde  und  Verwandten  diese  Empfindung 
in  ihm;  sie  erkundigten  sich  nach  dem  Vorleben  der  Braut 
und  erfuhren  schliesslich  von  ihrem  nach  Deutschland  zurück- 
gekehrten Stiefvater,  dass  er  zwar  einen  Stiefsohn  namens 
Alfred,  aber  keine  Stieftochter  Alma  besitze.  Inzwischen  nahm 
ihre  Leidenschaft  zu  dem  Lehrer  immer  heftigere  Formen  an, 
sie  liess  ihn  nicht  aus  den  Augen,  verfolgte  ihn  mit  grenzen- 
loser Eifersucht  und  drohte,  sie  würde  ihn  töten,  falls  er 
das  Verlöbnis  lösen  würde.  Als  er  sich  darauf  tatsächlich 
zurückzog,  versuchte  sie  mit  Gewalt  in  seine  Wohnung  ein- 
zudringen. Jetzt  legte  sich  die  Kriminalpolizei  ins 
Mittel.  Am  6.  Dezember  06,  begab  sich  ein  Kriminalkommissar 
in  ihre  Wohnung,  fand  aber  zunächst  keinen  Anlass  zum  Ein- 
schreiten vor.  Sie  war  sehr  erregt  und  verlangte  einen  Nerven- 
arzt, den  sie  bereits  früher  wegen  „Herzbeklemmungen“  con- 
sultiert  hatte.  Selbst  behindert,  schickte  dieser  einen  Assistenz- 
arzt, der  eine  genauere  Körperuntersuchung  vornehmen  wollte. 
Die  Patientin  weigerte  sich.  Als  am  folgenden  Tage  der 
Nervenarzt  persönlich  kam,  fand  er  sie  in  tiefster  A^erzweif- 
lun?,  weil  ihr  Bräutigam  sich  von  ihr  getrennt,  sie  verlassen 


191 


habe.  Als  der  Arzt  darauf  bestand,  eine  Untersuchung  vor- 
zimehmen,  bat  ihn  Paradeda  einen  Moment  zu  warten  und 
begab  sich  ins  Nebenzimmer,  aus  dem  sie  jedoch  in  knapp 
einer  halben  Minute  zurückkehrte,  um  mit  den  Worten:  ,,nun 
bitte  schön,  Herr  Doktor“  dem  Arzt  gegenüber  Platz  zu 
nehmen.  Unmittelbar  darauf  machte  sich  aber  schon  die  ent- 
setzliche Wirkung,  des  Giftes  bemerkbar,  welches  sie  im 
Nebenzimmer  genommen  hatte.  Sie  schrie  laut  auf  und  ver- 
fiel in  convulsivische  Zuckungen;  bereits  nach  einer  Minute 
war  der  Tod  eiiigetreten.  Der  Kriminalkommissar,  der  gerade 
mit  einem  Haftbefehl  eintrat,  fand  sie  als  Leiche  vor.  Der 
Tote  stellte  sich  als  männlichen  Geschlechts  heraus,  Brüste, 
Hüften  und  Perücke  waren  unecht.  Ein  Journalist,  der,  als 
der  sensationelle  Vorfall  bekannt  wurde,  in  der  "Wohnung  des 
Verstorbenen  erschien,  gibt  folgenden  anschaulichen  Bericht: 
„Es  scheint,  dass  diesem  Paradeda  von  der  Natur  Eigenheiten 
verliehen  waren,  die  ihn  direkt  dazu  prädestinierten,  eine  Rolle 
als  Weib  zu  spielen.  So  mass  seine  Taillenweite  nur  52  Zen- 
timeter, sein  zierlicher  Fuss  32  Zentimeter;  die  Damen  werden 
die  Bedeutung  dieser  Zahlen  einzuschätzen  wissen.  „Tante 
Didi“,  wie  er  von  dem  Töchterlein  der  Wirtin  angeredet 
wurde,  besass  in  jeder  Beziehung  einen  vornehmen  Geschmack, 
und  ein  Blick  in  das  Boudoir,  vor  allem  ab^r  in  den  mit  den 
allerkostbarsten  Toiletten  gefüllten  Schrank,  zeigen,  dass  es 
der  Pseudo-Komtesse  auch  nicht  an  Mitteln  gefehlt  hat,  den 
verwöhnten  Ansprüchen  zu  genügen.  Eine  helle,  leichte  Robe 
ist  vollständig  aus  irischer  Handstickerei  gefertigt;  ihr  WArt 
soll  über  3000  Francs  betragen.  Wir  sahen  ferner  eine  weiss- 
seidene Bluse  mit  handgearbeiteter,  feiner  Spachtelspitze,  ein 
zartes  Spitzentaschentuch,  das  in  seiner  Feinheit  als  ein 
kleines  Kunstwerk  der  Handstickerei  angesehen  werden  darf, 
weiterhin  einen  prächtigen  Fächer  mit  künstlerisch  ausgeführter 
Elfenbeinschnitzerei,  zartrosafarbene,  seidene  Jupons,  gleich- 
falls mit  kostbaren  Spitzen  besetzt,  und  viele  andere  Sachen, 
wie  sie  nur  eine  Dame  von  Distinktion  und  Geschmack  zu 
tragen  pflegt.  Von  gleicher  Eleganz  war  die  Fussbekleidung, 
die  in  goldfarbenen  Halbschuhen,  schwarzen  Lackschuhen  und 
seidenen  Pantoffeln  bestand.  Die  silbernen  Toilettengegenstän- 


192 


\ 

de,  wie  Haarbürsten  etc.,  tragen  unter  einer  Krone  das  Mono- 
gramm „A.  P.“  Auch  alle  Hilfsmittel  der  Kosmetik  waren 
auf  dem  Toilettentisch  zu  finden.  Sie  besass  neben  anderen 
gesellschaftlichen  Talenten  vor  allem  ein  hervorragendes  Er- 
zählertalent, und  wer  im  ersten  Moment  ihres  Anblicks  viel- 
leicht etwas  stutzig  wurde,  dem  schwand  sofort  jedes  Be- 
denken, wenn  sie  den  Mund  auftat  und  brasilianische  Ge- 
schichten oder  Episoden  aus  der  Pariser  Gesellschaft  erzählte. 
Man  konnte,  so  wird  uns  erzählt,  stundenlang  zuhören  und 
jeder  Besuch  schied  in  dem  Bewusstsein,  einen  genussreichen 
Abend  verlebt  zu  haben.  Sie  war  nicht  nur  in  weiblichen 
Handarbeiten,  in  der  Herstellung  künstlicher  Blumen,  im 
Garnieren  von  Damenhüten  usw.,  sehr  geschickt,  man  erfreut 
sich  nicht  nur  an  ihrem  verhältnismässig  guten  Klavierspiel, 
— auch  „ihre“  Kenntnisse  in  Küchenangelegenheiten  waren 
erstaunlich  und  die  Pensionswirtin  hat  manche  gute  Lehre 
aus  diesen  Kenntnissen  schöpfen  düi’fen.  Von  Interesse  für 
die  Charakteristik  des  Verstorbenen  dürfte  es  noch  sein,  dass 
auf  seinen  Wunsch  der  grün  tapezierte  Salon  seiner  Wohnung 
rosafarbene  Tapete  erhielt  und  die  gleichfalls  grünen  Plüsch- 
möbel mit  rosa  Satin  überzogen  werden  mussten,  weil  ihm 
diese  Farbentönung  sympathischer  war.“ 

Auch  das  weibliche  Seitenstück,  was  ich  zu  diesem  männ- 
lichen Paradigma  anführen  will,  hat  die  Oeffentlichkeit  inso- 
fern interessiert,  als  es  sich  um  die  erste  Frau  handelt,  die 
unseres  Wissens  in  Berlin  die  offizielle  Erlaubnis  erhalten 
hat  — nicht  nur  in  ihrer  Häuslichkeit  und  im  Geschäft,  son- 
dern auch  auf  der  Strasse  — Männerkleider  tragen  zu  dürfen. 
Im  Ausland,  besonders  in  Frankreich  ist  dies,  wie  wir  im 
nächsten  Kapitel  noch  näher  ausführen  werden,  bereits  öfter 
behördlich  gestattet  worden.  Das  Nähere  über  den  Fall  er- 
gibt sich  aus  dem  Gutachten,  das  von  dem  Kollegen  Karl 
Abraham  und  mir  verfasst  wurde,  um  ihr  Gesuch  zu 
unterstützen. 

Ärztiiches  Gutachten. 

Fräulein  Katharina  T.,  geb.  1885  zu  Berlin,  hat  in  einer 
Eingabe  das  Kgl.  Polizei -Präsidium  gebeten,  keinen  Einspruch 


193 


dagegen  zu  erheben,  dass  sie  in  männlicher  Kleidung  gehe 
und  sich  einen  männlichen  Vornamen  beilege. 

Fräulein  T.  hat  sich  uns  im  Anfang  des  Monats  Sep- 
tember zur  Untersuchung  gestellt.  Sie  wünscht  die  erwähnte 
Eingabe  durch  ein  ärztliches  Gutachten  zu  unterstützen.  \Yir 
haben  die  Petentin  in  körperlicher  und  geistiger  Hinsicht  ein- 
gehend untersucht  und  längere  Zeit  hindurch  beobachtet.  Auf 
Grund  unserer  so  gewonnenen  Kenntnisse  und  der  eigenen  An- 
gaben des  Frl.  T.  erstatten  wir  nachfolgend  ein  Gutachten 
über  ihren  körperlichen  und  geistigen  Zustand,  mit  besonderer 
Berücksichtigung  ihrer  geschlechtlichen  Eigenart. 

Frl.  T.  hat  uns  über  ihr  Vorleben  folgendes  berichtet. 
Sie  stammt  aus  gesunder  Familie  und  ist  (ausser  einem  Stief- 
bruder) einziges  Kind  ihrer  Eltern.  Sie  verlor’  ihren  Vater, 
als  sie  6 Jahre,  ihre  Mutter,  als  sie  11  Jahre  alt  war.  Sie 
wurde  vom  11.  Lebensjahre  an  von  einer  Tante  erzogen. 

Sie  will  sich,  soweit  ihre  Erinnerung  zurückreicht,  nie  als 
Mädchen  gefühlt  haben.  Wenn  sie  mit  andern  Kindern  „Vater 
und  Mutter“  spielte,  so  wollte  sie  immer  Vater  sein.  Sie 
spielte  am  liebsten  mit  Helm,  Säbel  und  Peitsche.  Zwischen 
dem  6.  und  11.  Lebensjahr  will  sie  mit  andern  Mädchen  gegen- 
seitige Masturbation  getrieben  haben.  Mit  8 Jahren  ver- 
liebte sie  sich  in  eine  Lehrerin,  fasste  auch  in  den  folgenden 
Jahren  der  Kindheit  wiederholt  eine  schwärmerische  Liebe  für 
andere  Mädchen.  Sie  ging  nie  mit  anderen  Mädchen  baden, 
w^eil  sie  sich  vor  ihnen  genierte,  auch  heute 
will  sie  sich  vor  weiblichen  Personen  mehr  als  vor  männlichen 
genieren.  Zu  weiblichen  Handarbeiten  hatte  sie  keine  Neigung. 
Mit  12  Jahren  begann  sie  zu  rauchen,  wodurch  sie  ihrer  Tante 
sehr  auffiel.  Diese  habe  auch  in  der  folgenden  Zeit  ihre  Ent- 
wicklung mit  Erstaunen  verfolgt. 

In  der  Pubertätszeit  empfand  sie  kein  Interesse  für 
Knaben,  Sie  pflegte  immer  nur  schwärmerische  Mädchenfreund- 
schaften. 

In  der  Schule  kam  sie  mittelmässig  vorwärts.  Als  sie 
mit  15  Jahren  die  Schule  verliess,  sollte  sie  Verkäuferin  wer- 
den. Diese  Tätigkeit  missfiel  ihr  sehr,  sie  hielt  an  verschie- 

Hirscbfeld,  Die  Tranaveatiten.  13 


194 


\ 


denen  Stellen  jeweils  nur  kurze  Zeit  aus.  Sie  wünschte  sich 
eine  männliche  Beschäftigung. 

Die  Periode  trat  im  Alter  von  15  Jahren  ein  und  wieder- 
holt sich  seitdem  in  normaler  Weise.  Erhebliche  Erkrankungen 
hat  Frl.  T.  nicht  durchgemacht. 

Mit  22 — 23  Jahren  will  sie  ein  Tiei'erwerdeu  der  Stimme 
bemerkt  haben. 

Solange  Frl.  T.  sich  in  Frauenkleidern  zeigte,  will  sie 
vielen  Unannehmlichkeiten  ausgesetzt  gewesen  sein.  Obgleich 
sie  damals  die  Haare  lang  trug,  hielt  man  sie  für 
einen  verkleideten  Mann.  Die  Strassenjugend  sei 
ihr  oft  nachgelaufen,  kurz  — ihr  Erscheinen  habe  stets  Auf- 
sehen erregt.  Unter  ihrer  unglücklichen  gesellschaftlichen 
Stellung  will  sie  sehr  gelitten  haben.  Zudem  fühlte  sie  sich 
in  Frauenkleidern  unbehaglich  und  hatte  den  intensiven 
Wunsch  nach  einer  Aenderung.  Im  März  d.  J.  hat  Frl.  T. 
ihre  weibliche  Kleidung  mit  männlicher  vertauscht  und  ihre 
Haare  kurz  schneiden  lassen.  Sie  fühlte  sich  sofort  weit  zu- 
friedener. Der  Wunsch,  zu  w^eiblicher  Kleidung  zurückzu- 
kehren. ist  ihr  nie  gekommen.  Sie  lebte  damals  in  Hamburg, 
die  dortige  Polizei  liess  sie  unbehelligt,  obgleich  man  von 
ihrem  Geschlecht  wusste.  Seither  haben  alle  die 
früheren  Unannehmlichkeiten  aufgehört. 
Frl.  T.  geht  umher,  ohne  irgend  welches 
Aufsehen  zu  machen.  Die  früheren  Neckereien 
bleiben  ihr  erspart  und  infolgedessen  hat  sich  ihre  Stimmung 
sehr  gehoben. 

Frl.  T.  fühlt  sich  vollkommen  als 

Mann,  besonders  im  Zusammensein  mit 

weiblichen  Personen.  ^länner  interessieren  sie  nicht. 
Besonders  fehlt  ihr  jede  geschlechtliche  Zuneigung  zu  Männern. 
Sie  hat  für  weibliche  Kleidung,  weiblichen  Schmuck  und  Putz 
kein  Interesse.  Dagegen  interessieren  die  Herrenmoden  sic 
lebhaft.  Sie  hat  eine  Liebhaberei  für  Cravatten  und  Spazier- 
stücke.  Sie  raucht  viel  und  zwar  hauptsächlich  Cigarren, 
daneben  Cigaretten  und  eine  kurze  Pfeife.  Sie  ist  mässig  im 
Alkoholgenuss,  besucht  aber  oft  ohne  Begleitung  Restaurants, 
Billard  ist  ihr  Lieblingsspiel. 


195 


Als  Frl.  T.  uns  in  männlicher  Kleidung  zum  ersten  Male 
aufsuchte,  hatten  wir  keineswegs  den  Eindruck,  dass  eine 
Frau  in  Männerkleidern  vor  uns  stehe,  sondern  den  Eindruck 
eines  jungen  Mannes  von  etwa  18 — 20  Jahren  mit  etwas  weib- 
lichen Gesichts  Zügen.  Ihr  Auftreten  ist  durchaus  männlich, 
durch  Haltung,  Geberden,  Bewegungen  etc.  erweckt  sie,  wie 
uns  bekannt  geworden  ist.  auch  bei  anderen  Aerzten  und  bei 
Laien  stets  den  Eindruck  eines  jungen  Mannes.  Frl.  T.  ist 
von  kleiner,  untersetzter  Natur.  Sie  kleidet  sich  nach  der 
Mode,  bietet  aber  in  ihrer  Kleidung  nichts  Auffälliges.  Sie 
bewegt  sich  in  Männerkleidern,  als  hätte  sie  nie  andere  ge- 
tragen. Beim  Ankleiden  und  Auskleiden  geht  sie  ganz  ge- 
schickt mit  diesen  um.  Auch  die  Unterkleidung  ist  durchaus 
männlich.  Ihre  Schuhe  sind  ziemlich  breit,  wie  man  sie  nur 
bei  Herren  sieht,  ebenso  ist  sie  mit  einer  Herrenuhr  versehen. 
Irgendwelchen  Schmuck  trägt  sie  nicht  an  sich.  Sie  besitzt 
ein  grosses  Herrentaschenmesser,  trägt  auch  sonst  nach  männ- 
licher Art  allerhand  in  den  Taschen.  Der  Gang  ist  fest  und 
erfolgt  in  verhältnismässig  grossen  Schritten.  Der  Hände- 
druck ist  männlich  kräftig. 

Das  Haar  ist  kurz  geschnitten  und  zurückgestrichen.  Ein 
Schnurrbart  fehlt.  Ein  ganz  leichter  Anflug  von  Backenbart  ist 
vorhanden.  Frl.  T.  gibt  an,  dass  sie  sich  hin  und  wieder 
rasieren  lasse.  Der  Teint  ist  hell,  die  Haut  des  Gesichte 
(wie  des  übrigen  Körpers)  ist  zart.  Das  Kinn  ist  rundlich, 
die  Gesichtsbildung  weder  ausgesprochen  männlich  noch  weib- 
lich. Die  Stimme  hält  bezüglich  der  Tiefe  zwischen  männ- 
lichem und  weiblichem  Typus  die  Mitte.  Die  Schultern 
sind  rundlich,  die  Hüften  breit.  Gesäss  und  Oberschenkel 
zeigen  typisch  weibliche  Formen  mit  starkem  Fett- 
ansatz. Die  Brüste  sind  stark  entwickelt,  hängend.  Die 
äusseren  Geschlechtsteile  sind  weiblich.  Die  Schambehaarung 
ist  ebenfalls  von  weiblichem  T3rpus. 

Bei  den  wiederholten  ausführlichen  L''nterredungen  zeigte 
Frl.  T.  gute  Auffassung  und  gutes  Gedächtnis.  Ueberhaupt 
Konnten  Anzeichen  einer  geistigen  Störung  oder  eines  Nerven- 
leidens nicht  wahrgenommen  werden. 


13' 


196 


Gutachten. 

Es  liegt  unseres  Erachtens  kein  Grund  vor,  den  Angaben 
der  Petentin  zu  misstrauen.  Sie  zeigen  nirgends  Widerspruch, 
sondern  geben  in  ihrer  Gesamtheit  ein  geschlossenes  typisches 
Bild.  Manche  Einzelheiten  lassen  sich  überhaupt  nicht  er- 
finden. Die  Angaben  stimmen  vollkommen  überein  mit  unsern 
eigenen  Beobachtungen.  Evt.  könnten  sie  durch  Aussagen 
anderer  Personen  erhärtet  werden. 

Frl.  T.  hat  einen  durchaus  weiblichen  Körperbau.  Es 
liegt  nicht  etwa  eine  Zwitterbildung  vor,  sondern  die  Ge- 
schlechtsorgane wie  auch  die  sekundären  Geschlechtsmerkmale 
sind  ausgesprochen  weiblich.  Die  Menstruation  ist  vorhanden. 
Nur  die  Formen  des  Gesichts  und  seine  leichte  Behaarung  so- 
wie die  Stimme  zeigen  eine  Annäherung  an  den 
männlichen  Typus. 

Im  schroffen  Gegensatz  zu  ihrer  kör- 
perlichen Organisation  steht  bei  Frl.  T. 
die  psychische. 

Von  früher  Kindheit  an  den  weiblichen  Spielen  und  Be- 
schäftigungen abhold  fühlte  sie  sich,  je  älter  sie  wurde,  um 
so  weniger  als  Weib.  Ihre  geschlechtliche  Nei- 
gung war  und  ist  nur  auf  weibliche  Per- 
sonen gerichtet,  denen  gegenüber  sie  sich  als  Mann 
fühlt.  Sie  hat  männliche  Interessen  und  Liebhabereien.  Nach 
ihren  ganzen  Allüren,  ihrem  gesellschaftlichen  Auftreten,  ihrer 
Haltung  und  ihren  Bewegungen  wird  niemand  vermuten,  dass 
er  in  ihr  ein  Weib  vor  sich  habe.  Verschiedenen  uns  bekann- 
ten Laien  ist  es  so  ergangen,  und  auch  wir  haben  uns  dem 
Eindruck,  einen  jungen  Mann  vor  uns  zu  haben,  nicht  ent- 
ziehen können. 

Frl.  T.  hat  sich  früher  in  weiblicher  Tracht 
sehr  unzufrieden  gefühlt,  da  sie  durch  diese  gehin- 
dert wurde,  ihrer  inneren  Veranlagung  entsprechend  zu  leben 
Sie  fiel  in  Frauenkleidern  dem  Publikum  auf  und  wurde  zum 
Gespött  der  Strassenjugend.  Sie  litt  unter  diesem  Zustande 
begreiflicherweise  schwer.  Seit  März  dieses  Jahres  kleidet  sie 
sich  als  Mann.  Störungen  haben  sich  daraus  nicht  ergeben, 


197 


sonst  würde  die  Hamburger  Polizei  gewiss  eingeschritten  sein. 
Im  Gegenteil  haben  die  Neckereien  und  Verhöhnungen,  denen 
Frl.  T.  früher  ausgesetzt  war,  völlig  aufgehört.  Während 
ihr  Aeusseres  früher  geeignet  war,  die  Aufmerksamkeit  auf 
sie  zu  lenken  und  in  gewissem  Grade  öffentliches  Aergernis 
zu  erregen,  ist  dergleichen  jetzt  nicht  mehr  der  Fall.  Infolge- 
dessen hat  sich  auch  ihr  Gemütszustand,  der  früher  sehr  de- 
primiert war,  gehoben.  Ihr  Wunsch,  diesen  Zustand  aufrecht 
zu  erhalten,  muss  jedem  billig  Denkenden  einleuchten.  Sie 
besitzt  jetzt  keine  Frauenkleider  mehr. 

Frl.  T.  besitzt  ein  kleines  Vermögen,  von  dem  sie  augen- 
blicklich lebt.  Sie  ist  aber  in  Zukunft  auf  eigenen  Erwerb 
angewiesen,  und  wünscht  sich  auch  selbst  eine  ihr  zusagende 
Tätigkeit.  Auch  in  dieser  Hinsicht  kann  man  ihre  Bestre- 
bungen unseres  Erachtens  nur  unterstützen.  Nun  wird  ihr 
aber,  ob  sie  in  einem  Bureau  oder  sonstwo  einen  Posten  sucht, 
überall  der  weibliche  Vorname  hinderlich  sein.  Ueberall  wird 
man  ihren  Namen  zu  wissen  verlangen.  Schwerlich  wird  je- 
mand einen  Angestellten  mit  weiblichem  Vornamen  engagieren, 
der  in  Männerkleidern  geht.  Und  wenn  sie  eine  Anstellung 
fände,  so  würden  die  alten  Neckereien  von  Seiten  ihrer  Mit- 
arbeiter nicht  ausbleiben.  Durch  Annahme  eines  männlichen 
Vornamens  würde  sie  diesen  Schwierigkeiten  entgehen.  Die 
Tolerierung  dieser  Namenswahl  seitens  der  Behörde  würde 
ihr  die  Existenz  ausserordentlich  erleichtern.  Frl.  T.  ist  un- 
bescholten. Zu  der  Annahme,  dass  sie  in  Zukunft  gegen  das 
Strafgesetz  verstossen  werde,  gibt  ihr  bisheriges  Verhalten 
keinen  Anlass.  Schon  daraus,  dass  sie  der  Polizeibehörde 
gegenüber  aus  ihrem  Geschlecht  kein  Hehl  macht,  vielmehr 
offen  und  ehrlich  auftritt,  dürfte  hervorgehen,  dass  sie  mit 
ihrem  Gesuch  keine  unlauteren  Zwecke  verfolgt.  Da  hin  und 
wieder  geisteskranke  Personen  aus  wahnhaften  Motiven  die 
Kleidung  des  andern  Geschlechtes  anlegen,  so  haben  wir  unser 
Augenmerk  auch  auf  das  etwaige  Vorhandensein  einer  Geistes- 
störung gerichtet.  Das  Ergebnis  der  Untersuchung  war  durch- 
aus jedoch  negativ.  Ebensowenig  konnten  vir  einen  intellek- 
tuellen Defekt  feststellen.  Für  Frl.  T.  ist  der  Erfolg  ihres 
Gesuches  geradezu  eine  Existenzfrage.  Ueber 


198 


(lies  kommt  noch  eine  wichtige  ärztliche  Erfahrung  in  Be- 
tracht. Sexuell  abnorme  Personen,  welchen  eine  Lebensweise 
aufgezwungen  wir(,l,  die  mit  ihrem  Wesen  in  Widerspruch 
steht,  verfallen  dadurch  nicht  selten  in  schwere  gemütliche 
Verstimmungen,  die  gelegentlich  sogar  zum  Selbstmord  führen. 
Da  Frl.  T.  früher  in  Frauenkleidung  die  deprimierendsten  Er- 
fahrungen hat  machen  müssen,  so  liegt  im  Falle  des  Ver- 
botes, männliche  Kleidung  zu  tragen,  die  Gefahr  einer  solchen 
Verstimmung  sehr  nahe. 

Wir  fassen  unser  Gutachten  wie  folgt  zusammen; 

Für  die  Petentin  ist  in  Anbetracht  ihrer  sexuellen  Ab- 
normität und  psychischen  Eigenart  die  männliche  Kleidung 
die  natürliche.  Die  Genehmigung  ihres  Gesuches  ist  für  sie 
eine  Existenzfrage.  Der  Zwang,  als  Weib  zu  leben,  kann  von 
sehr  nachteiliger  Wirkung  auf  ihren  Gemütszustand  sein.  Sie 
erregt  in  männlicher  Kleidung  kein  öffent- 
liches Aergernis,  während  ihre  weib- 
liche Kleidung  zu  Störungen  Anlass  gab 
Die  sehr  erschwerte  Existenz  der  Petentin  wird  ausserordent- 
lich erleichtert,  wenn  die  Polizeibehörde  die  Führung  eines 
männlichen  Vornamens  seitens  der  Petentin  toleriert.  Be- 
sonders würde  sie  vor  der  Lächerlichkeit  in  den  Augen  un- 
verständiger Personen  geschützt  sein. 

Vom  ärztlichen  Standpunkt  müssen  wir  das  Gesuch  des 
F rl.  T.  daher  für  begründet  erklären. 

Der  Erfolg  unseres  Gutachtens  war.  dass  sie  zunächst 
interimistisch  mündlich,  dann  auch  vom  Polizeipräsidenten  von 
Stubenrauch  schriftlich  die  Erlaubnis  erhielt,  in  Männer- 
kleidern weiter  gehen  zu  dürfen.  Die  Freude  des  jungen  Mädchens 
über  diese  Entscheidung  wurde  nur  dadurch  beeinträchtigt,  dass 
ihrem  weiteren  Wunsche,  auch  ihren  weiblichen  Vornamen  in 
einen  männlichen  umwandeln  zu  dürfen  aus  rechtlich-formalen 
Gründen  nicht  stattgegeben  werden  konnte. 

Bloch  hat  vorgeschlagen*)  zum  Unterschied  von  der 
echten  Homosexualität  als  „angeborenen,  originären  und  dau- 

•)  Sexualleben,  20.  Kapitel:  die  P.seudo-Homoeexualität. 


199 


ernden  Weseiisausfluss  der  Persönlichkeit“  die  sexnalmeta- 
morphotischen  Zustände  Heterosexueller  als  Pseudoho- 
m 0 s e X u a 1 i t ä t zu  bezeichnen.  Dieser  Ausdruck  scheint 
mir  für  homosexuelle  Anwandlungen  und  Handlungen  nicht 
homosexueller  Personen,  wie  sie  namentlich  auch  als  Puber- 
tätsphänomen auftreten,  recht  glücklich  gewählt.  Auch  die 
analoge  Bezeichnung  „Pseudoheterosexualität“  für  hetero- 
sexuelle Empfindungen  und  Aeusserungen  ab  origine  nicht 
heterosexueller  Personen  verdiente  acceptiert  zu  werden.  Etwaige 
homosexuelle  Akte  heterosexueller  Transvestiten  könnte  man 
von  diesem  Standpunkt  auch  als  p s e u d o homosexuelle  auf- 
fassen, dagegen  scheint  mir  für  die  vorliegende  Erscheinung  i n 
t 0 t 0 der  Blochsche  Ausdruck  nicht  entsprechend.  Denn  bei  den 
Personen,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  ist  ja  gerade  das 
Nicht  Vorhandensein  homosexueller  Neigungen  das 
wesentliche;  wir  können  doch  nicht  einen  Mann,  der  sagt, 
„der  blosse  Gedanke  an  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  ekelt 
mich  direkt  an“  oder  einen,  von  dem  wir  hören:  „Die  Idee 
der  Komplementierung  meines  Zustandes  durch  einen  Mann  ist 
mir  nie  gekommen“  als  pseudohomosexuell  be- 
zeichnen. 

Höchstens  könnte  man  hier  insofern  an  eine  Art  „Homo- 
sexualität in  zweiter  Potenz“  denken,  als  sich  diese  Weib- 
männer  wie  homosexuelle  Frauen  zu  Frauen 
hingezogen  fühlen.  Verschiedentlich  wird  von  ihnen  angegeben, 
dass  sie  die  Frau  als  ihre  „intimste  Freundin“  betrachten.  In 
meinem  „Wesen  der  Liebe“  (pag.  88)  habe  ich  bereits  ..nor- 
malsexuelle" mannliebende  Frauen  mit  starken  männlichen  Ein- 
schlägen, die  von  sich  selbst  sagten,  sie  kämen  sich  wiehomosexu- 
elle Männer  vor,  kurz  erwähnt.  Es  waren  solche,  die  sich  von 
femininen  Männern  irgend  welcher  Schattierung  stark  gefesselt 
fühlten.  Aehnlich  könnte  man  unsre  transvestitischen  w'eib- 
lichen  Männer  mit  lesbischen  Frauen  vergleichen,  doch  hat 
die  Konstruktion  etw'as  gekünsteltes  angesichts  der  ein- 
fachen Tatsache,  dass  diese  Personen  doch  ihren  körperlichen 
Verhältnissen  entsprechend  vollkommen  normale  Ehegatten 
und  Väter  sind. 

Da  es,  wie  oben  erwähnt,  bei  manchen  der  Transvestiten 


200 


den  Anschein  hat,  als  ob  sie  nicht  nur  das  Weib  ausser  sich, 
sondern  auch  in  sich  lieben  und  die  blosse  Verkleidung,  wie 
wir  sahen,  bei  einigen  genügt,  erotische  Empfindungen  aus- 
zulösen. käme  für  die  Erklärung  unserer  Fälle  auch  der 
„Auoomonosexualismus“*)  Rohleders  in  Frage.  Demgegenüber 
ist  zu  betonen,  dass  das,  was  Rohleder  als  tj'pisch  für  den 
Automonosexualismus  erachtet:  dass  nämlich  das  Individuum 
sich  selbst  in  seiner  Vorstellung,  im  Traum  und  Spiegelbild 
gerade  so  liebt,  wie  es  ist,  nicht  etwa  m 
andersgeschlechtlicher  Gestalt,  hier  nicht  zutrifft;  vor  allem 
steht  mit  seiner  Schilderung  im  Widerspruch,  dass  sich  diese 
Personen  nicht  mit  sich  selbst  begnügen,  sondern  dass  in 
allen  unseren  Fällen  ein  ausgesprochenes  Annäherungs- 
bedürfnis an  ein  zweites  Objekt  vorhanden 
ist,  dass  durch  die  Verkleidung  geradezu  noch  eine  Steigerung 
erfährt.  Was  also  Rohleder  als  Charakteristikum  des  Auto- 
monosexualismus bezeichnet;  „dass  der  Trieb  auf 
sich  selbst  einzig  und  allein  gerichtet 
i 6 t“,  „das  betreffende  Individuum  selbst  und  zwar  allein 
Ausgangspunkt  und  Endziel  des  sexuellen  Triebes  ist“  besteht 
hier  nicht. 

Gemeinsam  ist  beiden  Formen  eine  gewisse  psychische 
Spaltung  und  Lockerung  der  Persönlichkeit  und  wenn  der  eine 
der  beiden  Rohlederschen  Fälle  auf  die  Frage  des  Arztes,  ob 
es  ihm  denn  nicht  leid  tue,  dass  er  mit  keiner  anderen  Person 
geschlechtlichen  Umgang  habe,  antwortet  (in  wie  R.  sagt 
„geradezu  klassischer,  für  den  Zustand  charakteristischer 
Weise“):  „o,  durchaus  nicht,  ich  genüge  mir  voll- 
kommen ; unwillkürlich  kommt  mir  der  Gedanke,  mein 
Spiegelbild  sei  ein  zweites  lebendes  Ich,  dass 
ich  also  in  zwei  Personen  existiere.  Dieses  zweite  Ich,  das 
in  meiner  Phantasie,  obgleich  ich  schon  dagegen  angekämpft 
habe,  stets  als  lebend  mir  vorkommt,  ist  das  inbrünstig  von 
mir  geliebte  Wesen.  Dieses  Bildnis,  mein  eigenes  Ich  ist  es 

*)  Dr.  H.  Rohleder;  Geschlechtstrieb  und  Geschlechtsleben  des  Menschen. 
Fischers  mediz.  Buchhandlung.  1907.  Band  II.  Anhang.  LX.  Vorlesung, 
pag.  509  ff. 


201 


auch,  was  ich  im  Traum  im  Spiegel  gesehen  habe.“.  — so 
könnte  man  eine  ähnliche  Antwort  theoretisch  auch 
einmal  von  einem  Transvestiten  erwarten,  nur,  dass  in  praxi 
dies  noch  nicht  beobachtet  wurde  und  dass  von  dem,  was 
Eohleder  weiterhin  als  für  seine  Fälle  symptomatisch  anführt, 
einem  „ganz  krassen  Egoismus  und  Selbstdünkel,  Selbstüber- 
schätzung verbunden  mit  Herzlosigkeit  gegen  alles,  was  nicht 
die  eigene  Person  betrifft“,  hier  ganz  und  gar  nicht  die  Rede 
sein  kann. 

Noch  weniger  wie  mit  Rohleders  Automonosexualismus 
haben  unsere  Fälle  mit  dem  zu  tun,  was  H.  Ellis*)  Auto- 
erotismus  genannt  hat,  dem  „Phänomen  der  spontanen 
geschlechtlichen  Erregung  ohne  irgend  welche  Anregung 
direkt  oder  indirekt  seitens  einer  anderen  Person“.  (Latamendi 
in  Madrid  wählte  für  dieselbe  Erscheinung  das  Wort  „A  u t o- 
erastie“.)  Diese  Geschlechtserregungen  ohnePartner 
stehen  wiederum  in  gewisser  Verwandschaft  mit  dem,  was  Hufe- 
land in  seiner  Makrobiotik  „geistige  Onanie“,  Kaan 
nach  ihm  in  seiner  Psychopathia  sexualis  (1844)  „0  n a n i a 
p s y c h i c a“,  Gustav  Jäger  „monosexuelle  Mastur- 
bation“, Kurkiewicz  nicht  übel  „Ipsatio“  nannte,  alles 
Nüancen  jener  Triebrichtung,  die  ein  deutscher  Satyriker  mit 
dem  verbreiteten  recht  bezeichnenden  Wortspiel;  „Liebe  an 
und  für  sich“  glossiert  hat.  Auch  das  von  Näcke**)  und 
nach  ihm  von  Fere  als  Narcismus  (auch  der  Ausdruck 
Narcissismus  findet  sich)  beschriebene  „Verliebtsein  in  sich 
selbst“,  das  Märzbach***)  mit  Recht  als  „Egoismus  in  der 
Liebe  in  höchster  Potenz,  da  die  Einwirkungen  der  Reize 
einer  zweiten  Person  als  unnötig  in  Fortfall  kommen“  defi- 
niert hat,  gehören  in  dieselbe  alles  in  allem  wenig  scharf  um- 

*)  H.  Ellis:  Geschlechtstrieb  und  Schamgefühl.  Würzburg  1901, 
pag.  163 — 291. 

•*)  Psychiatrischen  en  neurologischen  Bladen  1S99  und  VIII.  Band 
des  Jahrbuchs  für  se.xuelle  Zwischenstufen  1906,  pag  603. 

***)  Die  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtssinns.  Wien, 
Holder,  1909. 


202 


grenzte,  im  einzelnen  nicht  klar  genug  präzisierte 
Gruppe,  deren  a u t o e r o t i s c h e r , sexualegoistischer  Ge- 
samtcharakter sie.  von  sonstigen  Symptomen  abgesehen,  sehr 
wesentlich  von  unseren  Verkleidungsfällen  unter- 
scheidet. 


Verkleidungstrieb  und  Fetischismus. 

Ist  somit  die  Frage  nach  dem  homosexuellen  sowie  monn- 
sexuellen Grundcharakter  dieser  Fälle  negativ  zu  beant- 
worten, so  haben  wir  nunmehr  die  Aufgabe,  zu  untersuchen, 
welche  .''teilung  dieser  eigenartigen  Abweichung  von  der  Norm 
innerhalb  der  heterosexuellen  Triebrich- 
tung eingeräumt  werden  muss.  Zwei  Gebiete  kommen  hier 
in  Frage:  Der  Fetischismus  und  der  Masochis- 
mus. Rein  äusserlich  betrachtet  erinnert  die  intensive 
Neigung  zur  Frauenkleidung  stark  an  den  Kleidungsfetischis- 
mus; die  Vertreter  beider  Richtungen  suchen  sich  im  Gegen- 
satz zu  der  grossen  Mehrzahl  ihnr  Geschlechtsgenossen  in  den 
Besitz  von  Kleidungsstücken  zu  setzen,  die  dem  Geschlecht 
eigentümlich  sind,  welchem  sie  körperlich  nicht  angehören; 
Fachleute,  mit  denen  ich  unsere  Fälle  besprochen  habe,  haben 
daher  zunächst  stets  eine  fetischistische  Basis  des  Ver- 
kleidungstriebes vermutet.  Die  Transvestiten  selbst,  die  be- 
greiflicherweise viel  über  ihren  seltsamen  Zustand  nachdenken 
und  zwar  naturgemäss  mehr  dabei  von  ihrem  inneren  Empfiu- 
dungsleben  ausgehend,  fühlen  sich  allerdings  von  dieser  Er- 
klärung ebensowenig  befriedigt,  wie  von  einer  Zurückführung 
ihres  Effeminationstriebes  auf  homosexuelle  Grundlagen.  Nament- 
lich diejenigen,  deren  Vorbildung  ihnen  ein  sachliches  Urteil 
ermöglichte,  empfanden  sich  als  Fetischisten  nicht  richtig 
rubriziert:  sie  meinten,  da.<s  ihr  Verweiblichungsdrang 

dann  eher  noch  als  eine  Art  Masochismus,  eine  Form  sexueller 
Erniedrigung  aufgefasst  weruen  könnte.  Ich  halte  beide  An- 
nahmen für  irrtümlich;  weder  der  Fetischismus  noch  der 
Masochismus  lösen  trotz  mannigfacher  Berührungspunkte  das 
Problem,  ebensowenig  wie  es  die  Homosexualität  und  der 
Automonosexualismus  konnte. 


203 


Von  den  Fetiächisten  unterscheiden  sich  die  Transvestiten 
im  wesentlichen  durch  folgendes:  „Das  sexuelle  Interesse  des 
Fetischisten  konzentriert  sich  — ich  zitiere  hier  Krafft-Ehing*) 
ausschliesslich  auf  einen  bestimmten  Körperteil  des  Weibes 
oder  auch  auf  bestimmte  Stücke  der  weib- 
lichen Kleidung.“  Der  starke  erotische  Reiz,  den  ein  Teil 
oder  die  stoffliche  Bedeckung  eines  solchen  vor  allen  anderen  aus- 
übt, wofür  ich  im  „Wesen  der  Liebe“**)  die  Ausdrücke  ;„T ei  1 - 
anziehung“  oder  partielle  Attraktion  vorgeschlagen  habe, 
ist  hier  eben  das  ausschlaggebende  Moment.  Eine  T e i 1 an- 
ziehung, die  sich  auf  das  ganze  Aeussere  eines  Weibes 
.,vom  Scheitel  bis  zur  Sohle"  erstreckt  ist  e i n W i d e r - 
Spruch  in  sich,  ein  Unding.  Ferner  sehen  wir  beim 
Fetischisten  auch  ganz  anders  wie  beim  Transvestiten,  dass 
er  das  Objekt  seiner  Neigung  in  erster  Linie  in  Verbindung 
mit  einer  zweiten  Person,  in  mehr  pathologischen  Fällen  auch 
von  dieser  losgelöst,  allein  für  sich  liebt,  (z.  B.  einen  abge- 
schnittenen Zopf,  ein  entwendetes  Taschentuch)  keineswegs 
aber  hauptsächlich  als  Teil  von  sich  selbst. 
Der  Fetischist  nimmt  den  Frauenschuh  oder  Unterrock  wohl 
auch  gelegentlich  zwecks  sexueller  Erregung  zu  sich  ins  Bett, 
legt  auch  wohl,  um  „das  geliebte  Wesen“  in  möglichst  enge 
Berührung  mit  sich  zu  bringen,  unter  seinem  Anzug  getragene 
Frauenwäsche  an  — und  zwar  viel  lieber  getragene,  während 
der  Transvestit  charakteristischerweise  der  neuen  den 
Vorzug  gibt  — im  allgemeinen  aber  bedient  sich  der  Fetischist 
keineswegs  im  gewöhnlichen  Leben  der  Kleidungsstücke  in  der 
von  ihm  geliebten  fetischistischen  Form,  im  Gegenteil  die 
Liebhaber  von  elegantem  Schuhwerk,  feinen  Lackstiefelletten 
tragen  oft  unförmige  Zug-  oder  gar  Schaftstiefel,  die  Fe- 
tischisten für  blondes  Frauenhaar  pressen  dieses  wohl  leiden- 
schaftlich an  sich,  denken  aber  garnicht  daran,  sich  eine 
Frauenperücke  aufzusetzen,  sowenig  wie  Brustfetischisten  sich 
die  Brüste  ausstopfen.  Kurz  es  fehlt  bei  den  Fetischisten  der 


*)  Psych.  sex.  pag.  108. 

•*)  Vergl.  Wesen  der  Liebe,  Kapitel  VI:  „Ueber  Teilanziehung“, 

pag.  134 — 284. 


204 


in  unseren  Fällen  so  ausgeprägte  Drang,  die  Gestalt  des  ge- 
liebten Gegenstandes  anzu  nehmen,  sich  mit  ihm 
zu  identifizieren,  quasi  in  sie  sich  zu  verwandeln. 

Es  erscheint  auch  hier  nicht  nötig,  zum  Vergleich  beider 
Anomaüeen  die  bereits  vorhandene  reiche  Kasuistik  über  Klei- 
dungsietischismus  durch  Wiedergabe  neuer  Beobachtungen  zu 
vermehren.  E i n Beispiel  dürfte  genügen,  den  krassen  Unter- 
schied zwischen  beiden  näher  zu  veranschaulichen:  Vor 

einiger  Zeit  wurde  ich  aufgefordert  in  der  Ehescheidungssache 
eines  in  Paris  lebenden  Ehepaares  ein  Gutachten  abzugeben. 
Ans  den  vorgelegten  Akten  und  Briefen  ergab  sich  mit  Sicher- 
heit, dass  der  Ehemann  an  hochgradigem  Taillen-Fetischismus 
litt.  Ich  gebe  hier  die  Hauptstellen  des  Gutachtens, 
aus  denen  das  nähere  ersichtlich  ist,  wieder. 

Ärztliches  Gutachten. 

Wertvoll  für  die  Entscheidung  der  Frage  ob  der  Ehemann 
R.  tatsächlich  an  einem  pathologischen  Fetischismus  leidet 
sind  in  erster  Linie  die  Briefe  des  französischen  Arztes  Dr.  P., 
der  den  Ehemann  R.  längere  Zeit  behandelt  und  beobachtet 
hat.  Aus  dem  ersten  Brief  vom  31.  Oktober  geht  hervor,  dass 
auch  der  andere  Spezialarzt,  der  den  Ehemann  R.  untersucht 
hat  Dr.  V.  die  Auffassung  seines  Kollegen  teilt.  Nach  den 
beiden  Briefen  des  Dr.  P.  vom  30.  und  31.  Oktober  1905  be- 
zeichnet dieser  Arzt  den  Herrn  R.  als  einen  Kranken  und 
zwar  nennr  er  seine  Krankheit  eine  „Obsession  mor- 
bide“, es  handelt  sich  dabei  nicht  um  eine  blosse  Neu- 
rasthenie. welche  wahrscheinlich  auch  vorhanden  gewesen  ist 
und  noch  vorhanden  sein  mag,  sondern  es  besteht  kein  Zwei- 
fel, dass  der  Arzt  die  mit  dem  Sexualakt  zusammen- 
hängende -Obsession“  des  R.  meint. 

Die  Bezeichnung  „Obsession  morbide“,  krankhafte  Zwangs- 
vorstellung ist  hier  für  den  krankhaften  Fetischismus  gewählt. 
Zwar  verbinden  die  deutschen  Spezialforscher  mit  diesem  Be- 
griffe im  allgemeinen  nicht  die  sexuellen  Anomalien,  aber  an 
und  für  sich  ist  auch  der  Fetischismus  eine  Art  Zwangsvor- 
stellung und  es  ist  besonders  hervorzuheben,  dass  in' Frank- 


205 


reich  die  Aerzte  oft  die  sexuelle  Anomalie  einfach  unter  die 
obsessions  morbides  rechnen.  Indem  daher  die  französischen 
Aerzte,  welche  den  R.  beobachtet  und  behandelt  haben,  eine 
eigentümliche  Sucht  nach  einer  schmalen  Taille  seiner  Frau 
als  Obsession  morbide  bezeiclinen,  sagen  sie,  dass  es  sich  nicht 
um  die  normale  Vorliebe  für  besondere  Eigenschaften,  sondern 
um  die  charakteristische  pathologische  Anomalie  des  Fetischis- 
mus handelt. 

Auch  der  mit  der  Familie  gut  bekannte  Dr.  W., 
welcher  einen  näheren  Einblick  in  die  Verhältnisse  der  Ehe- 
leute erhalten  hat,  nennt  dies  Begehren  des  R.  nach  einer 
schmalen  Taille  eine  „idee  fixe“,  eine  fixe  Idee,  eine  Zwangs- 
vorstellung. Aus  dem  Eingang  dieses  Briefes  wo  der  Arzt 
von  dem  sexuellen  Unvermögen  des  Herrn  R.  spricht,  darf  man 
auch  den  Schluss  ziehen,  dass  die  Impotenz  des  R.  in  Zu- 
sammenhang mit  seinem  Fetischismus  zu  bringen  ist,  d.  h. 
dass  er  eben  nur  potent  ist,  wenn  die  Taille  seiner  Frau 
möglichst  verengt,  möglichst  schmal  gemacht  wird. 

In  den  Briefen  der  Ehefrau  R.  wird  das  Verhalten  ihres 
Ehemannes  derart  geschildert,  dass  ihre  Mitteilungen  auf  einen 
charakteristischen  Fetischismus  pathologischer  Art  deuten. 
Darnach  behauptet  die  Ehefrau  R.,  dass  ihr  Mann  fortgesetzt 
verlangt  habe,  sie  solle  sich  möglichst  eng  schnüren,  dass  er 
sich  immer  wieder  um'ihr  Korsett,  ihre  Leibeszucht  bekümmert, 
und  beim  Verkehr  alles  Gewicht  auf  ihre  Taille  gelegt  habe. 

In  dem  Brief  an  ihn  vom  30.  April  1906  schreibt  sie 
einen  Satz,  der  mit  wenigen  Worten  die  sexuelle  Anomalie 
ihres  Mannes  treffend  schildert  und  mit  absoluter  Deutlichkeit 
zeigt,  dass  bei  R.  eine  sexuelle  Anomalie  vorhanden  ist. 
Sie  schreibt:  „So  lange  Du  impotent  sein  wirst  bei  einem 
Weib,  weil  sie  nicht  in  ein  Korsett  geschnürt  ist,  wirst  Du 
krank  sein.“ 

Diese  Aeusserung  in  dem  Munde  einer  Frau,  welche  wohl 
sicherlich  von  sexueller  Anomalie  wenig  weiss  und  keine  me- 
dizinischen Bücher  hierüber  studiert  hat,  trägt  den  Stempel 
der  Wahrheit  und  es  ist  undenkbar,  dass  sie  nicht  lediglich 
die  im  sexuellen  Verkehr  mit  ihrem  Manne  empfangenen  Ein- 
' drücke  wiedergibt. 


•206 


Dieses  I ni  p o t e n t s e i n ohne  das  Eiu- 
schnüren  der  Taille  zeigt  aber  deutlich,  dass  eben 
die  schmale  Taille  conditio  sine  qua  non  für  die  sexuelle  libido 
des  R.  ist,  also  dass  wirklicher  Fetischismus  vorliegt. 

Auch  die  Briefe  des  R.  selber  bestätigen  völlig  diese  An- 
nahme. 

Wie  so  mancher  sexuelle  Anomale  sucht  er  seine  Ano- 
malie durch  allerlei  ästhetische,  ja  sogar  hygienische  Motive 
zu  beschönigen  und  zu  erklären. 

An  und  für  sich  gibt  er  seine  Vorliebe,  seine  Passion  für 
die  schmale  Taille  zu,  im  Brief  vom  31.  Oktober  erkennt  er 
an,  dass  ihn  die  Fragen  der  Enge  der  Taille,  des  Korsetts  usw. 
beschäftigt  haben  und  er  ihnen  entsagen  wolle.  — Nur  findet 
er  seine  krankhafte  Sucht  natürlich. 

Im  Brief  vom  27.  Oktober  sagt  er  selber,  er  habe  seiner 
Frau  geraten  den  Leib  gut  zu  schnüren,  es  sei  dies  aber  eine 
gute  hygienische  Massregel. 

Im  Schreiben  vom  18.  November  scheint  er  seine  .Ano- 
malie selber  als  krankhaft  zu  empfinden. 

Im  Brief  vom  21.  April  gibt  er  seine  sexuelle  Impotenz 
zu  und  aus  dem  folgenden  Satz  „il  est  des  mets  qu’on  aime“ 
es  gibt  Speisen,  die  man  liebt,  gibt  er  zu  erkennen,  dass  seine 
Potenz  von  der  Art  der  Speisen,  die  er  liebt,  d.  h.  von  dem 
Vorhandensein  der  engen  Taille,  des  Schnürens  abhängig  ist 
In  dem  gleichen  Brief  will  er  seine  Frau  durch  Mitteilung  dei 
Ansichten  des  Dr.  U.  über  seinen  Fall  zu  überzeugen  suchen, 
dass  sie  ihm  in  seinem  Fetischismus  entgegenkomme,  indem 
er  ihr  beweisen  will,  dass  sowohl  nach  Dr.  ü.’s  Ansicht  als 
auch  nach  seinem  in  Wirklichkeit  nicht  abzuändernden,  in 
seiner  Natur  eingepflanzten  sexuellen  Trieb  eben  nur  der  sexu- 
elle Verkehr  in  der  von  ihm  gewünschten  — d.  h.  tatsächlich 
fetischistischen  krankhaften,  wenn  auch  von  R.  als  natürlich 
empfundenen  — Weise  möglich  ist.  Der  Brief  vom  7.  Mai 
zeigt  die  Angst  des  R.  seine  Frau  könne  noch  dicker  werdet\ 
und  am  Schlüsse  sagt  er  es  deutlich,  dass  seine  Krankheit 
darin  bestehe,  dass  es  ihm  unmöglich  ist,  seine  Frau  in  einem 
., physischen d.  h.  dickeren  Taillen-Zustand  zu  sehen,  der 
ihm  nicht  gefällt.  Dieses  Nichtgefallen  ist  aber  nicht  ein  ge- 


207 


wohnliches  ästhetisches  Nichtgefallen,  sondern  wie  auch  der 
Brief  vom  6.  Juni  besagt,  die  stärkere  Taille  hindert,  dass 
er  seine  Frau  (sexuell)  begehrenswert  findet.  Wie  schon  bei 
ihm  sich  beim  sexuellen  Verkehr  alles  auf  die  schmale  Taille 
konzentriert,  geht  aus  dem  gleichen  Brief  vom  6.  Juni  und 
dem  vom  11.  Juni  und  zwar  aus  der  Tatsache  hervor,  dass 
er  die  Bedingung  seiner  Frau  im  Brief  vom  1.  Juni  und  im 
Brief  vom  10.  Juni,  wonach  an  ein  weiteres  Zusammenleben 
nur  zu  denken  sei,  wenn  er  schriftlich  und  in  aller  Ehrlich- 
keit erkläre,  die  Taillenfrage  bei  dem  sexuellen  Verkehr  sei 
ihm  gleichgültig  geworden“  (Brief  der  Frau  vom  1.  Juni)  ein- 
fach für  ganz  unmöglich  erklärt. 

Endlich  gibt  er  auch  in  dem  Brief  vom  12.  April  an 
Dr.  U.  seine  fixe  „Idee“,  seinen  Fetischismus  zu  und  zweifelt 
an  der  Möglichkeit  von  ihm  lassen  zu  können.  Auch  die 
weniger  nichtigen  Briefe  der  sonstigen  Familienmitglieder 
zeigen,  dass  die  Familie  allmählich  zum  Bevuisstsein  kam, 
dass  bei  R.  ein  mit  der  festen  Taille  der  Ehefrau  R.  zu- 
sammenhängende sexuelle  Anomalie  besteht. 

Die  sexuelle  Anomalie,  mit  der  R.  behaftet  ist,  kommt 
dem  R.  selber  nicht  als  etwas  krankhaftes  — wenigstens  nicht 
in  allen  Briefen  zum  Bewusstsein.  Es  ist  wahrscheinlich,  das 
noch  andere  krankhafte  Symptome  insbesondere  neurasthe- 
nischer  Art  bei  R.  vorhanden  sind,  wenn  auch  die  sexuelle 
Anomalie  das  wenigstens  nach  aussen  hin  allein  oder  doch  das 
am  deutlichsten  sich  bemerkbar  machende  krankhafte  Svunpfom 
darstellt. 

Auf  keinen  Fall  darf  man  aber  die  sexuelle  Anomalie 
leugnen  aus  dem  Grunde,  weil  R.  im  übrigen  intelligent,  viel- 
leicht sogar  in  manchen  Beziehungen  sehr  begabt  ist  oder 
weil  von  eigentlicher  Geisteskrankheit  bei  ihm  keine  Rede  sein, 
kann.  Denn  tatsächlich  haben  die  sexuellen  Anomalien  mit 
Psychosen  im  gewöhnlichen  Sinn  des  Wortes  nichts  zu  tun, 
sie  führen  so  gut  wie  nie  zu  wirklichen  Geisteskrankheiten,  sie 
finden  sich  auch  oft  sogar  bei  geistig  hoch  begabten  Leuten, 
trotzdem  bilden  Anomalien  wie  der  in  Rede  stehende  Fetischis- 
mus eine  krankhafte  Erscheinung. 

Für  diese  Anomalie  an  und  für  sich  ist  R.  auch  nicht 


208 


verantwortlich  zu  machen.  Es  handelt  sich  nicht  um  eine 
Marotte,  um  eine  Sucht  nach  neuen  Reizen,  um  eine  Eigen- 
tümlichkeit, die  er  nach  seinem  Willen  ablegen  könnte,  viel- 
mehr um  einen  seiner  Natur  eingepflanzten  eigenartigen  Trieb. 
Dabei  ist  es  auch  gleichgültig,  wie  man  sich  die  Entstehung 
dieses  Triebes  denkt,  ob  man  ihn  für  angeboren  hält  oder  in- 
folge zwingender  Association  in  der  Jugend  entstanden.  Jeden- 
falls hat  sich  dieser  Fetischismus  bei  R.  eingepflanzt  und  dies 
sicherlich  schon  lange.  Eine  derartige  willkürliche 
und  infolge  von  Exzessen  entstandene  Anomalie 
wird  überhaupt  in  Forscherkreisen,  nachdem  jetzt  ein  ausge- 
dehntes Gebiet  durchstudiert  und  geprüft  ist,  kaum  noch  für 
möglich  gehalten.  Aus  dem  Wesen  und  der  Dauer  der  Nei- 
gung des  R.  folgt  auch,  dass  die  Heilbarkeit  so  gut  wie  aus- 
geschlossen ist. 

Dass  R.  durch  die  Behandlung  bei  den  Aerzten  Dr.  P. 
und  V.  nicht  geheilt  werden  würde,  war  zu  erwarten.  Das 
Gegenteil  wäre  nur  zu  verwundern  gewesen.  Brom,  Bäder 
und  dergl.  können  den  Geschlechtstrieb  im  allgemeinen 
herabsetzen,  können  den  R.  dazu  bringen,  weniger  häufig 
mit  seiner  Frau  verkehren  zu  wollen.  Auf  die  psychische 
Notwendigkeit  für  R.,  dass  beim  sexuellen  Verkehr  die  Be- 
dingung der  engen  Taille  vorhanden  sein  muss,  kann  diese 
Art  der  Behandlung  keinen  Einfluss  haben. 

Wenn  er  auch  ohne  diese  Voraussetzung,  sei  es  durch  die 
blosse  A’orstellung  einer  Frau  mit  einer  engen  Taille 
— eine  Vorstellung,  die  aber  durch  eine  damit  in  Wider- 
spruch stehende  Realität  leiclit  ihrer  erregenden 
Kraft  beraubt  wird  — sei  es  durch  manuelle  Manipulationen 
zur  Erektion  und  Ejakulation  fähig  werden  sollte,  so  würde 
dies  doch  niemals  eine  ihm  adäquate  Befriedigung  darstellcn 
und  auf  die  Dauer  würde  er  sich  kaum  hiermit  begnügen.  Er 
muss  eben  seinen  Fetisch  bei  dem  sexuellen  Verkehr  haben. 
Dass  einer  Frau  ein  Verkehr  in  der  geforderten  Weise  nicht 
zuzumuten  ist,  bedarf  keiner  Ausführung. 

Was  die  Verantwortung  des  R.  für  seine  sexuelle  Ano- 
malie anbelangt,  so  ist  das  Bestehen  der  Anomalie  von  deren 
Betätigung  zu  unterscheiden. 


209 


Für  das  Bestehen  der  Anomalie  kann  R.  nicht  verant- 
wortlich gemacht  werden.  Es  handelt  sich  nicht  um  eine  von 
seinem  Willen  abhängige  Eigentümlichkeit,  sondern  um  eine 
eingepflanzte  gegen  Willen  und  Vernunft  sich  geltend  machen- 
de Einpfindungsweise.  Dabei  ist  es  gleichgültig,  wie  man  sich 
die  Entstehung  dieses  Triebes  denkt,  ob  man  ihn  für  an-  oder 
eingeboren  hält  oder  der  Meinung  ist,  er  sei  infolge  zwingender 
Association  in  der  Kindheit  oder  Pubertät  entstanden.  Jeden- 
falls muss  der  Gedanke  einer  willkürlichen,  infolge  von  Ex- 
zessen entstandenen  Anomalie  abgelehnt  werden. 

Demnach  ist  für  mich  kein  Zweifel,  dass  die  Anomalie 
des  R.  nicht  etwa  erst  seit  seiner  Verheiratung  entstanden 
ist,  sondern  schon  vorher  und  sicherlich  schon  längst  seiner 
Natur  eingepflanzt  gewesen  ist.  An  einer  Stelle  der 
Korrespondenz  findet  sich  auch  direkt  eine  Andeutung,  dass 
R.  schon  längst  in  der  sexuell  anomalen  Weise  empfunden 
haben  muss,  es  wdrd  dort  von  dem  seit  seiner  Jugend  vor- 
handenen Ideal  von  ästhetischen,  schmalen  Frauen  gesprochen, 
ein  Ideal,  das  aber  bei  R.  sich  eben  nicht  begnügte  ein  Ideal 
zu  sein,  wie  man  ihm  bei  vielen  ästhetisch  empfindenden 
Männern  begegnet,  sondern  — wie  der  Verkehr  mit  seiner 
Frau  gezeigt  hat  — ein  in  sexuellen  Fetischismus  ausge- 
artetes Ideal  .darstellt.  Für  therapeutische  Erfolge  ist  bei  R. 
schon  aus  dem  Grunde  w'enig  Hoffnung  vorhanden,  weil  aus 
seinen  Briefen  hervorgeht,  dass  er  die  Bedingung  seiner  Frau 
„seine  Korsett-  und  Taillenideen“  aufzugeben,  glattweg  zu- 
rückweist, also  sich  psychisch  einer  Gegensuggestion  gegen- 
über schon  in  einem  ungünstigen  Renitenzzustand  befindet. 

Was  nun  das  Weitere,  die  Verantwortung  des  R.  für  die 
aus  seiner  Anomalie  fliessenden  sexuellen  Handlungen  angeht, 
so  macht  das  Vorhandensein  eines  anomalen  Triebes  den  davon 
Betroffenen  nicht  ohne  weiteres  unverantwortlich  für  die  Betäti- 
gung des  Triebes.  Es  lässt  sich  vielmehr  sehr  wohl  behaupten, 
dass  R.  versuchen  kann,  den  Verkehr  mit  seiner  Frau  durch 
ev.  blosse  Vorstellung  einer  Frau  mit  enger  Taille  zu  er- 
möglichen, ohne  seine  Frau  mit  Schnüren,  Korsettragen, 
Quälen  und  Drängen  zu  belästigen.  Man  kann  auch  ihn  viel- 
leicht insofern  verantwortlich  machen,  als  er  überhaupt  anstatt 

Hirachfeld,  Die  Transvestiten.  14 


210 


seiner  Frau  einen  (lualvollen  sexuellen  Verkehr  aufzudrängen, 
lieber  auf  solchen  ganz  verzichten  sollte. 

Da  R.  aber  nur  bei  möglichster  Einschnürung  der  Taille 
seiner  Frau  eine  wirkliche,  sexuelle  Befriedigung  empfindet, 
und  er  ohne  diese  Vorbedingung  entweder  überhaupt  nicht 
potent  wird  oder  nur  einen  als  onanieartigen  Akt  empfun- 
denen Verkehr  vornehmen  kann,  ist  sein  Widerstand  seine 
„Idee“  zu  lassen,  erklärlich.  Nur  kann  selbstverständlich  einer 
Frau  nicht  zugemutet  werden,  unter  dieser  Anomalie  zu  leiden 
und  einen  sexuellen  Verkehr  mit  ihrem  Mann  unter  den  für 
sie  peinlichen  und  peinigenden  Umständen  zu  dulden.  Dass 
der  Fetischismus  und  insbesondere  die  konkrete  Anomalie,  mit 
der  R.  behaftet  ist,  das  Fehlen  einer  persönlichen  Eigenschaft, 
nämlich  der  sexuellen  Normalität  und  der  Fähigkeit,  nor- 
malen sexuellen  Umgang  zu  pflegen,  darstellt,  bedarf  kaum 
der  Hervorhebung.  Dass  die  Frau,  wenn  sie 
diesen  Fehler  gekannt  hätte,  dadurch 
von  der  Eingehung  der  Ehe  abgehalten 
worden  wäre,  daran  wird  man  nicht  zwei- 
feln können,  ebensowenig  daran,  dass  das  Nichtein- 
gehen der  Ehe  des  R.  in  diesem  Falle  aus  der  Würdigung  des 
Wesens  der  Ehe  hervorgegangen  wäre. 

Hierbei  ist  zu  berücksichtigen,  dass  es  nicht  einmal 
darauf  ankommt,  ob  R.  lediglich  beim  Coitus  seine  Frau 
etwa  schnürt  oder  mit  seinen  Taillcnideen  quält;  sondern  das.s 
schon  das  fortgesetzte  Drängen,  ihre  Taille  zu  verengern,  das 
Anraten  und  Eingeben  von  Mitteln  zur  Verhinderung  der  Zu- 
nahme der  Taille  usw.  zum  Zweck  dem  Ehemann  überhaupt 
den  Koitus  möglich  zu  machen,  eine  derartige  Belästigung 
der  Frau  darstellen,  dass  schon  ein  derartiges  Verhalten  im 
gewöhnlichen  häuslichen  Leben,  — hervorgegangen  aus  sexu- 
ellem Fetischismus  — Fehler  sind,  welche  die  Frau,  wenn 
sie  sie  gekannt  hätte,  mit  Recht  an  der  Eingehung  der  Ehe 
gehindert  haben  würden.  Auch  in  der  Literatur  über 
diese  Frage  wird  sexuelle  Anomalie  als  Anfechtungs- 
g r u n d anerkannt,  so  ausdrücklich  von  H o c h e sowie  von 
Numa  Praetorius  in  dem  Jahrbuch  für  sexuelle 
Zwischenstufen. 


211 


Schliesslich  ist  auch  die  Frage  zu  bejahen,  ob  die  Ehe- 
frau erst  allmählich  und  erst  nach  ärztlicher  Behandlung 
ihres  Mannes  seine  Anomalie  als  solche  erkennen  konnte. 

Eine  Frau,  die  wie  die  Klägerin,  in  sexueller  Hinsicht 
vollständig  unwissend  ist,  konnte  unmöglich  das  Perverse, 
Krankhafte  solcher  Triebe  aus  sich  selbst  erkennen,  um  so 
mehr,  als  am  Anfang,  da  ihre  Taille  noch  eng  war,  die  For- 
derungen, welche  ihr  Mann  stellte,  nicht  übermässig  waren. 
Sie  war  hierzu  erst  imstande,  als  trotz  der  Behandlung  bei 
Dr.  P.  in  Paris,  bei  dem  Besuch  des  Beklagten  im  Januar 
und  April  1906  bei  ihren  Eltern  es  sich  herausstellte,  dass 
das  alte  Uebel  immer  noch  vorhanden  war. 

Ich  fasse  daher  mein  Gutachten  wie  folgt  zusammen: 

I.  Auf  Grund  der  mir  mitgeteilten  Schriftstücke  bin  ich 
der  Ueberzeugung,  dass  Herr  R.  mit  einem  dauernden,  unheil- 
baren oder  schwer  heilbaren  sexuellen  Fehler  behaftet  ist,  dessen 
Vorhandensein  das  Wesen  der  Ehe  in  der  Weise  beeinträchtigt, 
dass  man  einem  Ehegatten  nicht  zumuten  kann,  die  Ehe  weiter 
fortzusetzen,  wenn  er  das  Vorhandensein  dieser  Perversität 
als  solche  erkennt. 

II.  Aus  den  Schriftstücken  und  aus  der  Natur  der  Krank- 
heit ist  zu  schliessen,  dass  der  Fehler  seit  Eingehung  der 
Ehe  vorhanden  war. 

III.  Die  Ehegattin  war  entsprechend  ihrer  Erkenntnis- 
fähigkeit und  der  eigenartigen  Natur  der  Krankheit  nicht 
imstande,  ihren  Irrtum  binnen  6 Monaten  nach  Eingehung  der 
Ehe  zu  entdecken.  Es  konnte  dies  vielmehr  erst  ganz  all- 
mählich und  zwar  erst  nach  jahrelangem  Zusammenleben  er- 
folgen. 


Gemeinsam  ist  dem  Kleidungsfetischismus  und  Verklei- 
dungstrieb, dass  in  beiden  Fällen,  wenn  auch  wiederum  in 
sehr  verschiedener  Weise  die  Kleidungsstücke  als  die  Aus- 
drucksform eines  seelischen  Zustandes,  als  „Spiegel  des  geisti- 
gen Wesens“,*)  als  „Messapparat  für  das  Besondere  und  Eigene 

•)  Bloch,  Sexualleben,  pag.  153. 


14 


212 


in  einem  Menschen“,*)  als  „eine  ideale  Nacktheit“**)  anzuseheu 
sind.  Im  „Wesen  der  Liebe“  (pag.  153)  habe  ich  auseinander- 
gesetzt, dass  ich  mit  Krafft-Ebing  und  Einet  nicht  darin  über- 
einstimmen kann,  dass  die  Vorliebe  für  einen  bestimmten  Fe- 
tisch auf  ein  zufälliges  Jugenderlebnis,  ein  accidentelles  Er- 
eignis („choc  fortuit“)  zurückzuführen  sei,  dass  ich  vielmehr 
annehme,  dass  sie  auf  Ideenverbindungen  beruht,  die  von  der 
psychosexuellen  Eigenart  des  Fetischisten  abhäugen, 
seine  endogene  Besonderheit  in  ein  concentriertes  Symbol  pro- 
jizieren. So  ist  auch  die  Entstehung  des  eben  beschriebenen 
Korsettfetischismus  nicht  auf  dem  Boden  jeder  beliebigen 
Psyche  denkbar,  sondern  hat  einen  bestimmten  Sexual- 
typus zur  Voraussetzung,  der  erstens  heterosexuell,  zweitens 
sadistisch  und  drittens  so  veranlagt  ist,  dass  verwickelte 
ihm  eigentümliche  Gedankenverknüpfungen  (deren  Möglich- 
keiten zu  erörtern  hier  zu  weit  führen  würde)  die  besondere 
Empfänglichkeit  gerade  für  den  Reiz  der  engen  Taille  her- 
vorgerufen haben.  Diese  associativen  Vorgänge  im  Geistes- 
leben, die  oft  sehr  verwickelten  Zusammenhänge  der  Vor- 
stellungen aufzufinden,  stösst  nicht  selten  auf  recht  erheb- 
liche Schwierigkeiten. 

Das  gilt  auch  für  den  besonderen  Fall,  dem  ich  mich 
jetzt  zuwende,  vor  allem  auch,  um  zu  zeigen,  dass  zwischen 
fetischistischen  und  transvestitischen  Neigungen  die  Diffo- 
rentialdiagnose  nicht  immer  so  einfach  ist.  Ich  stütze  mich 
dabei  auf  die  „Briefe  Richard  Wagners  an  eine 
Putzmacherin“,  veröffentlicht  von  Daniel  Spitzer,***) 
ein  Buch,  welches  bei  seinem  Erscheinen  das  grösste  Aufsehen 
machte.  So  wenig  wne  der  1877,  sechs  Jahre  vor  Wagners 
Tode  erfolgte  Abdruck  dieser  Briefe  in  der  Wiener  Neuen 
Freien  Presse  (die  aus  den  Jahren  1864 — 68  stammenden  Ori- 
ginalien befinden  sich  jetzt  im  Besitze  der  „Gesellschaft  der 

•)  L u k i a n 0 s;  „Erotik  und  Kleidung“  in  der  Fackel  von  Karl  Kraus. 
Wien,  Nr.  198,  pag.  12. 

**)  Hermann  Bahr;  Zur  Reform  der  Tracht.  Dokumente  der  Frauen. 
1902.  Bd.  VI.  Nr.  23.  pag.  665. 

•**)  Die  letzte  unverkürzte  Ausgabe  erschien  1906  in  Wien  im  Verlage 
von  Carl  Konegen  (E.  Stülpnagel). 


213 


Musikfreunde“  in  Wien)  zu  billigen  war,  so  wenig  vor  allem 
die  Absicht  Spitzers  Anerkennung  verdient,  der,  wie  er  selbst 
sagt,  mit  der  Publikation  dieser  Briefe  „dem  Publikum  eine 
Posse  bieten“,  ihr  einen  deutschen  Mann  zeigen  wollte,  „mit 
dem  sich  auch  die  putzsüchtigste  Pariserin  nicht  zu  messen 
vermag“,  so  sehr  scheint  es  mir  an  der  Zeit,  diese  bemerkens- 
werten Dokumente  fachmännisch  einer  sine  ira  vorgenommenen 
psychologischen  Würdigung  zu  unterziehen.  Es  ist  ein 
grosser  Unterschied  ob  ein  erbitterter  Antiwagnerianer  diese 
Briefe  mit  hämischen  Glossen  versieht,  um  die  angeb- 
liche „mehr  als  weibische  Putzsucht“  des  Schreibers  „zu 
geissein“  oder  ob  sie  unter  die  wissenschaftliche  Lupe  ge- 
nommen dazu  dienen,  die  Seelenkunde  zu  bereichern  und  die 
Schlüsse  zu  berichtigen,  die  Spötter  und  Nichtwisser  aus  ihnen 
fälschlich  gezogen  haben.  Unrichtig  ist  es,  aus  der  Korrespon- 
denz mit  der  Modistin  ein  homosexuielles  Empfinden  Wagners 
zu  folgern,  das  unseres  Erachtens  auch  Hanns  Fuchs  in  seinem 
interessanten  Buch  „Richard  Wagner  und  die  Homosexu- 
alität“*) (in  dem  übrigens  auf  diese  Briefe  nicht  näher  Bezug 
genommen  ist)  nicht  erwiesen  hat. 

Noch  viel  unrichtiger  aber  ist  es,  wie  es  ungeschickte  An- 
hänger Wagners  noch  heute  tun,  den  Inhalt  dieser  Briefe  als 
psychologisch  belanglos  durch  ein  äusseres  Hautleiden  er- 
klären zu  wollen,  an  dem  der  Meister  gelitten  haben  soll.  Die 
ganze  detaillierte  Art  der  Bestellungen,  ihre  Fülle,  der  W^ert, 
welcher  auf  die  Farbenzusammenstellungen  gelegt  wird,  die  ge- 
naue Beschreibung,  wie  die  Gewänder  anzufertigen  sind,  wieder- 
legen diese  Angabe,  ganz  abgesehen  davon,  dass  der  Atlas  an 
den  meisten  Stellen  garnicht  die  Haut  berührte  und  nach  Mit- 
teilung von  Hautspezialisten  auf  eine  etwaige  Hautkrankheit 
eher  nachteilig  gewirkt  haben  würde.  Auch  die  Auffassung, 
die  sich  in  einer  Stelle  in  F e d o r W e h l’s  Tagebüchern 
(„Zeit  und  Menschen“,  Altona  1889  Bd.  I S.  31)  findet,  trifft 
nicht  das  Richtige.  Dieser  Passus  lautet;  „Am  2.  Juni  1865. 
Herbert  König  berichtete  uns  gestern  von  dem  Sybaritismus 
Richard  Wagners  und  behauptete  unter  anderem:  er  sei  mit 

•)  Mit  dem  Untertitel:  „unter  besonderer  Berücksichtigung  der  sexuellen 
Anomalien  seiner  Gestalten“  erschienen  bei  H.  Barsdorf  in  Berlin  1903. 


2U 


) I 


wohlriechenden  Kissen  ausgepolstert.  Es  ist  kein 
Zweifel,  dass  tiefiiiu  erliche  psycholo- 
gische M 0 m e n t e die  seltsame  Neigung  Wagners  bestimm- 
ten. Wie  intensiv  diese  Neigung  war,  zeigen  die  von  Wagners 
eigener  Hand  aufgesetzten  Rechnungen,  die  fast  noch  auf- 
schlussreicher sind,  wie  die  Briefe  selbst,  aus  denen  hervor- 
geht, dass  das  Bestellte  zu  eigenem  Gebrauch  diente.  So 
lautet  eine  Rechnung; 


Rechnung : 


Gelber  Atlas, 
Lila  „ 
Carmoisin  Atlas 
Blau  „ 

Grün 

Hellrot  „ 

Chamoix  „ 

Hellgrau  „ 


8 Ellen 
27  „ 

20  „ 
30  „ 

8 . 

8 „ 

8 „ 

8 . 


Stiefel: 


1 Paar  weiss 

1 „ rosa 

1 „ blau 

1 „ gelb 

1 r grau 

1 „ grün 


in  Rosen- 
bouquet 


ä 7 fl. 
.7^  „ 
. 7 „ 
7 „ 
„ 7 „ 

r* 

r>  ^ yy 
r " r 

„ 7 „ 


Rosa 

32 

. 7 „ 

Weiss  „ 

32 

. 7 „ 

Dunkleres  Grün 

20 

„ 5 „ = fl 

Weiss 

50 

„ 4 „ = 200  _ 

Grau 

50 

„ 3 „ =•  150  „ 

Rosa  (aus  Baumwolle) 

100 

„ 3 „ = 300  „ 

Blau  (aus  Baumwolle) 

60 

„ 3 „ = 180  „ 

Blau  (licht) 

30 

Blaue  Bettdecke  und  weiss  gefüttert. 

Rosen-Guirlanden 

60 

4 „ = 240  „ 

Peone-Rosen  zu  drei  Körben 

60  .. 

1 weisse  Atlas  und  Stickerei. 

3 Paar  Einsätze  ä 25  bis  30  fl. 

Breites  weisses  mit  Guirlande. 

20 

20  „ = 120 


215 


] ff  ^ l Decke  ä 200  fl.  = 400  fl. 

i blciiiG  j 

Spitzenhemd  100  Ellen  ,,  4 = 400  ., 

Blondenspitzen  100  „ „ 1 

50  Ellen  breite  1 fl.  10  kr. 

Band:  rosa  ä 18.  10  Stück.  Blau,  hellgrün.  \ 9n  • -lo 
gelb,  dunkel  und  hell.  10  Stück.  j 

3010  fl. 


Stickerei:  2 kleine  runde  Kissen 
2 grössere  Kissen 


in  Rosenbouquets,  reich. 


Wir  sehen  aus  dieser  Rechnung,  die  Spitzer  mit  den  sar- 
kastischen Worten  begleitet:  ..Dreitausendundzehn  Gulden!, 
das  scheint  vielleicht  manchem  viel  für  die  Rechnung  eines 
deutschen  Mannes  bei  einer  Putzmacherin“,  dass  Wagner 
ausser  den  kostbaren  Atlasgewändern  in  allen  Farben  auch 
ein  Spitzenhemd  für  400  Gulden  gebrauchte,  ferner  farbige 
Atiasstiefel,  sowie  reich  gemusterte  Kissen,  Körbe,  Decken 
aus  gleichem  Stoff.  Die  Beschaffenheit  der  Gewänder  zeigt 
unter  anderen  der  sechste  Brief,  in  dem  es  heisst; 


Liebes  Fräulein  Bertha! 

Geben  Sie  mir  doch  genau  an,  wie  viel  Geld  ich  Ihnen 
zu  schicken  haben  würde,  wenn  Sie  mir  dagegen  einen  Haus- 
rock nach  der  beiliegenden  Angabe  lieferten.  Die  Farbe  würde 
Rosa  sein,  nach  einem  der  beiliegenden  Muster,  welche  ich 
mit  1 und  2 bezeichnet  habe,  damit  Sie  mir  die  Preise  von 
beiden  berechnen,  von  denen  ich  vermute,  dass  sie  verschieden 
sein  dürften.  Der  von  Nr.  2 ist  etwas  steif  und  im  Rücken 
gering  — vermutlich  österreichisches  Fabrikat  — doch  ist 
mir  die  Farbe  angenehm.  Also  — genaue  Berechnung. 

Von  dem  Blau  wähle  ich  nach  dem  beiliegend  zurückge- 
sandten Muster,  welches  hoffentlich  nicht  zu  teuer  ist.  Ich 
brauche  18  Ellen.  Wenn  Sie  nicht  mit  dem  zu  den*  neuen 
Auslagen  bestimmten  Gelde  ausreichen,  so  schicke  ich  hier 
noch  25  Taler,  welche  Sie  mir  gefälligst  verrechnen.  Schicken 
Sie  mir  mit  dem  blauen  Atlas  jedenfalls  noch  für  10  fl.  von 


den  vergessenen  ganz  schmalen  Blonden  zu  Hemdengarnituren, 
Sie  wissen,  etwa  ein  Zoll  breit. 

Frau  V.  Biilow  erwartet  ihre  Ret;hnung  für  die  Mappe, 
welche  sie  sogleich  berichtigen  wird. 

Also  — wie  viel  würde  mich  der  beiliegend  bezeichnete 
Hausrock  kosten? 

Besten  Gruss,  Ihr  ergebener 

Rieh.  Wagner. 

Luzern.  1.  Februar  1867.“ 

In  einer  Nachschrift  findet  sich  dann  mit  Zeichnung  fol- 
gende Beschreibung: 

„Rosa-Atlas.  Mit  Eiderdaunen  gefüttert  und  in  C a r r e s 
abgenäht,  wie  die  graue  und  rote  Decke,  welche  ich  von 
Ihnen  habe;  gerade  diese  Stärke,  leicht,  nicht  schwer;  versteht 
sich  Ober-  und  Unterstoff  zusammen  abgenäht.  IMit  leichtem 
weissen  Atlas  gefüttert.  Die  untere  Rockweite  auf  sechs 
Bahnen  Breite,  also  sehr  weit.  Dazu  extra  angesetzt,  nicht 
auf  das  Gesteppte  angenäht!  — eine  geschoppte  Rüsche  vom 
gleichen  Stoff,  ringsum;  von  der  Taille  an  soll  die  Rüsche 
nach  unten  zu  in  einen  immer  breiter  werdenden  geschoppten 
Einsatz  (oder  Besatz)  ausgehen,  welchen  das  Vorderteil  ab- 
schliesst 

Sehen  Sie  genau  hierfür  die  Zeichnung  an:  unten  soll 
dieser  Aufsatz  oder  Schopp,  welcher  besonders  reich  und 
schön  gearbeitet  sein  muss,  auf  beiden  Seiten  sich  bis  zu  einer 
halben  Elle  Breite  ausdehnen  und  dann  eben  aufsteigend  bis 
zur  Taille  sich  in  die  gewöhnliche  Breite  der  rings  ein- 
fassenden geschoppten  Rüsche  verlieren.  Zur  Seite  des 
Schoppens  drei  bis  vier  schöne  Maschen  vom  Stoff.  Die 
Aermel,  wie  Sie  mir  dieselben  zuletzt  in  Genf  gemacht  haben, 
mit  geschoppter  Einfassung  — reich;  vorne  eine  Masche  und 
eine  breitere,  reiche,  inwendig  unten  am  herabhängenden  Teil. 
Dazu  eine  breite  Schärpe  von  fünf  Ellen  die  volle  Breite  des 
Stoffes,  nur  in  der  Mitte  etwas  schmäler.  Die  Achseln 
schmäler,  damit  die  Aermel  nicht  herabziehen:  Sie  wissen. 


•217 


Also  unten  sechs  Bahnen  Weite  (gesteppt)  und  zu  jeder  Seite 
noch  eine  halbe  Elle  weiter  Schopp  vorne.  Somit  unten 
sechs  Bahnen  und  eine  Elle  breit.“ 

Spitzer  fügt  diesem  Briefe  folgende  Erläuterung  bei,  die 
von  der  satyrischen  Form  abgesehen,  iuancherlei  Beachtens- 
wertes enthält; 

„Der  sechste  Brief  ist  das  wertvollste  Stück  der  ganzen 
Sammlung,  ja,  er  ist  ein  Unikum,  indem  er  zwei  Federzeich- 
nungen von  des  Meisters  Hand  enthält,  nämlich  die  Zeichnung 
des  mit  Eiderdaunen  gefütterten  Schlafrockes  aus  Rosa-Atlas,, 
ein  Prachtstück,  in  dem  jede  Hofdame  Furore  machen  würde, 
sowie  die  kleinere  Zeichnung  der  fünf  Ellen  langen  Schärpe,  von 
der  wir  nur  besorgen,  dass  ihr  Träger,  der  kUiner  Statur  ist, 
über  sie  beim  Gehen  häufig  stolpern  werde.  Die  Zeichnung 
des  Schlafrockes  verrät  eine  ausserordentliche  Bildung  nach 
den  besten  Mustern  der  Mode- Journale.  Die  „abgenähten 
Carres“  sind  mit  sanften  Strichen  ausgeführt  und  verraten 
eine  grosse  Zartheit  der  Empfindung.  Die  „geschoppten 
Rüschen  und  Maschen“  zeigen  uns  eine  breite  Federführung 
und  eine  energische  Hand.  Der  „geschoppte  Einsatz“  vorne 
ist  phantastisch  ausgeführt  — in  Callots  Manier.  Und 
welches  Leben  ist  in  dem  Ganzen;  die  Liebe  des  Meisters  zu 
ihm  hat  ihn  belebt,  wie  die  Pygmalions  die  Statue.  Ja.  dieser 
Schlafrock  hat  eine  Seele;  in  diesen  abgesteppten  Carres  pul- 
sieren die . Eiderdaunen;  diese  Rüschen  sind  nicht  geschoppt, 
es  schwellt  sie  die  Empfindung;  diese  Maschen  atmen.  Es 
liegt  ein  zielbewusstes  Streben  in  diesem  Schlafrocke,  es  ist, 
als  ob  er  nach  vorwärts  stürmte  und  eine  Stimme  in  ihm 
triumphierend  riefe:  „Ich  bin  kein  gewöhnlicher  Schlafrock; 
unter  mir  wogt  nicht  der  verwerfliche  Busen  einer  jüdischen 
Bankiersfrau;  in  mir  schlägt  das  Herz  eines  grossen  Refor- 
mators der  deutschen  Kunst;  mich  trägt  Wagner.  Wohl 
weiss  ich,  dass  ich  bald  sterben  muss  und  vielleicht  einem 
geblümten  weissen  Atlas-Schlafrock  Platz  machen  werde;  aber 
was  liegt  daran,  besser  acht  Tage  von  dem  grossen  ernsten 
Manne,  der  mich  ergründet  hat  und  versteht,  als  durch  lange 
Jahre  von  einem  „im  üppigsten  Schosse  des  Luxus  dahin- 
lächelnden Rossini“  getragen  zu  werden,  diesem  „wollüstigen 


/ 


- 218  - 


Sohne  Italiens’“,  ..dessen  lüstern  schweifendes  Auge  meine 
Reize  kalt  lassen".  Wenn  die  Wagnerianer  den  Meister  als 
Musiker  über  alle  Musiker  vor  ihm  und  nach  ihm  und  als 
Dichter  neben  Sophokles  gestellt  haben,  so  werden  sie,  nach- 
dem er  dieses  Bild  geschaffen,  ihn  als  Schlafrock-Rafael  in 
die  Reihe  der  grössten  Maler  stellen.“ 

Wie  der  Herausgeber  der  Briefe  über  sie  dachte,  zeigt  er 
in  dem  Motto,  das  er  ihnen  voransetzte,  den  Worten  aus 
dem  ersten  Aufzug  der  Walküre:  „W  ie  gleicht  er  dem 
Weibe";  er  wiederholt  sie  am  Ende  seiner  Ausführungen 
mit  der  Bemerkung: 

„Ich  glaube,  der  Leser  wird,  nachdem  er  diese  Briefe  ge- 
lesen, das  Motto  gerechtfertigt  finden,  das  ich  denselben  mit- 
gegeben habe:  „Wie  gleicht  er  dem  Weibe!“  Hunding,  der 
Mann  Siglindens,  ruft  dies  in  der  Walküre,  nachdem  er  die 
Züge  seines  Gastes  Siegmund  gemessen,  und  fährt  fort:  „Der 
gleissende  Wurm  glänzt  auch  ihm  aus  dem  Auge.“  Wenn 
man  diese  an  eine  Modistin  gerichteten  Briefe  liest,  wenn  man 
sieht,  wie  in  denselben  ausschliesslich  und  mit  dem  lebhaftesten 
Interesse  vom  Putz  gesprochen  wird,  und  wenn  man  von  den 
grossen  Summen  erfährt,  die  für  gleissenden  Atlas  verschwen- 
det werden,  man  müsste  glauben,  läse  man  nicht  die  Unter- 
schrift eines  Mannes,  es  seien  die  Briefe  eines  Weibes.“ 

Auch  wir  sind  der  Meinung,  dass  die  eigenartige  Lieb- 
haberei Wagners  zur  Annahme  eines  femininen  Ein- 
schlags in  seiner  Psyche  berechtigt,  der  aber  keineswegs 
Spott  und  Hohn  verdient,  im  Gegenteil  für  den  nicht  an  der 
Oberfläche  haftenden  Psychologen  die  ungemein  reiche  und 
feine  Kompliziertheit  seines  Seelenlebens  bekundet,  dessen  ein- 
gehendes Studium  für  einen  modernen  Psychoanalytiker  eine 
ebenso  schwierige  wie  dankenswerte  Aufgabe  bilden  würde. 
Dass  diese  Feminität  nicht  mit  Homosexualität  iden- 
tisch ist.  wie  Hans  Fuchs  anzunehmen  scheint,  wenn  er 
sagt:*)  „Dass  Nietzsche  die  geistige  Homosexualität  des  alten 
Wagner  klar  erkannt  hat,  zeigt  sein  Wort:  „denn  Wagner 


) loco  citato  pag.  271. 


war  in  alten  Tagen  durchaus  feminini  generis",  dies  beweisen 
evident  unsere  hier  monographisch  erörterten  Fälle,  unter 
denen  namentlich  der  111.  mancherlei  Züge  aufweist,  die 
Wagners  bisher  so  rätselhaft  scheinende  Neigung  verständ- 
licher zu  machen  geeignet  sind,  so.  wenn  dieser  ebenfalls 
künstlerisch  schaffende  Mann  wörtlich  schreibt:  ..Hundertmal 
habe  ich  bestätigt  gefunden,  dass  mich  mein  heller  Morgen- 
rock besonders  zur  Abfassung  wissenschaftlicher  Arbeiten  dis- 
poniert, dass  ein  anderer  blauer  Morgenrock  äusserst  stark 
auf  den  Stil  wirkt,  dass  ein  Strassenkostüm  mit  weisser  Zier- 
schürze also  gewisserinassen  eine  Kabinettsrobe  mich  ohne 
weiteres  und  aus  der  drückendsten  Müdigkeit  und  Unlust  her- 
aus zu  einer  künstlerischen  Arbeitsfähigkeit  treibt,  die  ich 
in  sonst  gar  keinem  Zustand  kenne.“ 

Bei  manchen  Personen  ist  die  Abhängigkeit  ihrer  geisti- 
gen Schaffensmöglichkeit  von  der  Beschaffenheit  ihrer  Klei- 
dung ganz  besonders  gross,  namentlich  hört  man  dies  häufig 
von  Künstlern  und  Gelehrten.  Eine  kleine  Anekdote,  die,  als 
sie  seiner  Zeit  veröffentlicht  wurde,  viel  belacht  wurde,  hat 
neben  ihrer  komischen  auch  ihre  psychologisch  interessante 
Seite.  „Als  der  badische  Staatsrat  Nebenius  eines  Tags  zum 
Grossherzog  Leopold  gerufen  ward,  um  eine  eilige  Depesche 
sofort  zu  verfassen,  sagte  er:  „Ja,  königliche  Hoheit,  das 
geht  nicht  so  geschwind,  da  muss  ich  erst  meine  Pfeife  haben.“ 
„Nun,  Pfeifen  können  sie  genug  haben,“  entgegnete  der  Gross- 
herzog. „Ja,  aber  ich  muss  auch  ein  Paar  Babuschen  haben“. 
Auch  diese  wurden  herbeigeschafft.  „Ja.  aber  ich  muss  auch 
einen  Schlafrock  haben."  Das  war  dem  Grossherzog  doch  zu 
arg  und  er  rief:  „Gottsdonnerwetter,  so  gehen  Sie  nach 

Hause.“*)  Uebrigens  soll  auch  Beethoven  nur  im 
Schlafrock  haben  komponieren  können  und  von  Haydn  wird 
berichtet,  dass  er  es  nur  vermochte,  wenn  er  „seine  feinste 
Toilette“  angelegt  hatte. 

Von  irgendwelchen  masochistischen  Unterströmungen  findet 
sich  in  den  Angaben,  welche  so  beredt  die  durch  das  Kleid 


*)  vgl.  Dr.  R.  Schulze:  Modenarrheiten.  Berlin  1868.  p.  235. 


•220 


bewirkte  Aktivitätssteigerung  schildern,  nicht  das  geringste. 
Diese  Feststellung  ist  wichtig  für  die  Beziehungen  zwischen 
Verkleidungs  trieb  und  Masochismus,  denen 
wir  jetzt  unsere  Aufmerksamkeit  zuwenden  wollen. 


Verkleidungstrieb  und  Masochismus. 

Masochismus  ist  Lust  am  Leide,  gleichwohl  ob  es 
mehr  ein  Erleiden  körperlicher  Schmerzen  oder  ein  Erdulden  see- 
lischer Qualen,  mehr  eine  leibliche  oder  geistige  Gebunden- 
h e i t ist.  Das  Wesentliche  des  Masochismus  ist  die 
lustbetonte  Abhängigkeit,  wie  das  des  Sadismus  die  sexuelle 
Beherrschung,  das  Unwesentliche  die  ganz  ausserordentlich 
vielgestaltige  Art  und  Weise,  in  der  das  Leiden-Wollen  und 
Leiden-Lassen-WoUen,  die  Sklaverei  undTyrannei 
der  Liebe  symbolistisch  zum  Ausdruck  gelangt. 

Wie  bei  allen  sexuellen  Anomalien  zeigen  sich  auch  beim 
Masochismus  bereits  im  frühen  Kindesalter  leise  Andeutungen 
des  späteren  Triebcharakters;  auch  unter  unseren  Fällen  be- 
finden sich  einige,  bei  denen  deutliche  masochistische  Züge 
lange  vor  der  Pubertät  nachw^eisbar  sind;  so  erfahren  wir  von 
I _das3  der  Vortrag  der  Passionsgeschichte  in  der  Schule  bei 
ihm  Erektionen  bewirkte,  die  sich  zuweilen  wiederholten,  wenn 
von  Strafen  oder  Misshandlungen  gesprochen  wurde“.  Ein  an- 
derer (VII)  erzählt:  „ich  empfand  eine  sinnliche  Befriedigung, 
w'enn  ich  mich  als  kleiner  Knabe  platt  auf  die  Erde  legte  und 
wenn  meine  Mutter  dann  ihren  Schuh  auszog,  mit  dem  Fuss 
sanft  über  meinen  Rücken  strich  und  tretende  Bewegungen 
machte.  Ich  nannte  das  Paddetre'^en  und  bat  im  Alter  von 
5 — 6 Jahren  meine  Mutter  fast  täglich  darum.“  XII  schwärzte 
sich  als  Kind  das  Gesicht  heimlich  mit  gebranntem  Kork  und 
masturbierte  dabei;  er  schämte  und  sträubte  sich  aber  sehr, 
an  dem  Kinderspiel  „Schw^arzer  Peter“  teilzunehmen,  bei 
welchem  dem  Verlierer  mit  geschw'ärztem  Kork  ein  Bart  an- 
gemalt wird.  Er  fügt  sehr  bezeichnend  hinzu:  „ich  teile  dies 
mit,  weil  gerade  das.  worüber  ich  mich  schämte,  in  meiner 
Phantasie  heiss  begehrt  wurde.“  Später  stellte  er  sich,  um 


221 


sich  sexuell  zu  erregen,  vor,  dass  .,geliebte  Frauen  ihn  in 
einen  kohlschwarzen  Neger  oder  in  einen  weissbemalten  bunt- 
ausstaffierten  Clown  verwandelten.“ 

Auch  bei  unseren  erwachsenen  Transvestiten  findet  sich 
mancherlei,  was  einen  masochistischen  Eindruck  macht;  so 
wird  von  einigen  das  Einstecken  der  Ohrringe,  das  enge  Ein- 
schnüren in  das  Korsett  als  besonders  wohltuend  erwähnt, 
auch  der  Wunsch  einiger,  möglichst  dienende'  Stellungen  als 
Kammermädchen,  Hausmagd  einzunehmen,  die  Vorliebe  für 
recht  „energische“  männliche  Frauen,  Aeusserungen  wie  die 
von  XIII:  „vom  Weibe  erwarte  ich  den  Angriff“  namentlich 
der  fast  durchgängige  Trieb  in  actu  succumbentes  zu  sein, 
deuten  auf  geschlechtlichen  Passivismus;  hauptsächlich  aber 
wird  von  einigen  die  Weiberrolle  selbst  als  etwas  sexuell 
her  ab  würdigendes  empfunden.  Am  stärksten  gibt  diese  Auf- 
fassung unser  Fall  XII  wieder:  „Gibt  es  eine  grössere  De- 
mütigung“ — meint  er,  — „als  wenn  der  körperlich  starke 
Mann  gezwungen  wird,  die  Gestalt  des  Weibes  anzunehmen“. 
Er  setzt  dann  auseinander,  dass  für  den  echten  Mann  die 
Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  nur  eine  „zu  seinem  Wohl- 
befinden nötige  Körperübung“  sei,  für  seinen  „grosszügigen 
schaffenden  Geist“  seien  die  Frauen  „nur  Vergnügungsobjekte“. 
„Was  ist  nun  aber  wohl  erniedrigender,  als  wenn  ein  solcher 
Mann  in  die  kleinen  Grenzen  des  Frauengeistes  gebannt  wird, 
gezwungen  wird,  das  zu  sein,  was  ihm  die  Frau  sein 
sollte,  ein  Werkzeug  zur  Befriedigung  von  Geschlechtstrieb 
und  Laune“.  Viel  demütigender,  als  „brutaler  Uebergewalt“ 
zu  erliegen,  sei  für  einen  ernstlich  widerstrebenden  Masochisten, 
wenn  er  dauernd  in  eine  für  ihn  schmachvolle  oder  lächerliche 
Eolle  hineingezwungen  wird,  in  der  er  zwar  äusserlich  schein- 
bare Bewegungsfreiheit  besitzt,  während  ihm  dennoch  jeden 
Augenblick  ins  Bewusstsein  gerufen  wird,  dass  alles,  worauf  der 
Mann  sonst  stolz  ist,  seine  männlichen  Fähigkeiten,  seine 
Stärke,  sein  Ernst,  seine  Ueberlegenheit  über  das  weibliche 
Geschlecht  gleichsam  lahm  gelegt  sind.  „Nicht  grobe  über- 
mächtige Gewalt,  sondern  der  eigene  Schwächezustand,  in 
den  ihn  das  Weib  klug  versetzt  hat,  wird  ihm  zum  Hinder- 
nis.“ Bei  solchen  Gedankengängen  ist  es  nicht  verwunderlich, 


22’2  

wenn  vsich  der  Wunsch  Weib  zu  sein  schliesslich  trotz  hetero- 
sexueller Veranlagung  zu  der  temporaren  Vorstellung  steigert, 
von  einem  „Hünen“  vergewaltigt  zu  werden.  In  höchster 
Ekstase  ruft  M.  in  seinem  Tagtraum  aus:  „Tausend  Dank,  ge- 
liebter Mann,  Dir  will  ich  g e h ö r e n für  immer.  Töte 
mich,  aber  lass  mich  Dein  Weib  sein.“ 
Wir  haben  hier  den  verhältnismässig  seltenen  Fall  vor  uns, 
dass  der  homosexuelle  Drang  eines  Menschen  auf  dem  Umwege 
der  Effeminations-  und  Hörigkeitsidee  einer  maso- 
chistischen Wurzel  entwächst. 

In  noch  höherem  Grade,  wie  unser  Fall  XII  scheint  der 
Verfasser  eines  englischen  Werkes  effeminierter  Masochist  oder 
masochistischer  Effeminierter  zu  sein,  das  ein  Seitenstück  zu 
der  oben  referierten  Bekenntnisschrift:  „Weiberbeute“  darstellt. 
Es  handelt  sich  um  das  Buch  „Gynaecocracy,  a narrative  of 
the  adventures  and  psychological  experiences  of  Julian  Ro- 
binson (afterwords  Viscount  Ladywood)  under  petticoat-rule, 
written  by  himself“. 

Die  uns  vorliegende  Ausgabe  umfasst  3 Bände  und  ist 
datiert  „Paris  and  Rotterdam  1893".*)  Ob  sie  das  frühste 
Original  ist  oder  ein  späterer  Nachdruck,  ist  schwer  zu  sagen. 
Jedenfalls  darf  man  die  Entstehung  des  Werkes  in  die  acht- 
ziger Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  verlegen.  Der  anonyme 
Autor  hat  sich  bisher  nicht  ermitteln  lassen;  sein  wahrer 
Name  kann  uns  auch  gleichgültig  sein;  soviel  aber  ist  klar, 
dass  er  ein  ^lann  von  erlesener  Bildung  und  bedeutender 
schriftstellerischer,  wenn  nicht  künstlerischer  Begabung  war, 
und  dass  er  den  höheren  Gesellschaftskreisen  Englands  ange- 
hörte, möglicherweise  noch  angehört.  Sein  anonymes  WXrk 
ist  freilich  stellenweise  ein  ziemlich  freies  Eroticum,  aber  so 

•)  Nacliträglich  sehe  ich,  dass  neuerdings  auch  eine  deutsche  Ueber- 
setzung  obigen  Werkes  angezeigt  wird  unter  dem  Titel; 

„Weiberherrschaft',  die  seelischen  und  körperlichen  Erlebnisse  des  Julian 
Robin.son,  nachmaligen  Viscount  Ladywood.  Von  ihm  selbst  niedergeschrieben 
zu  einer  Zeit,  wo  er  unter  dem  Pantoffel  stand.  Erste  und  vollständige 
Uebertragung  nach  der  englischen  Originalausgabe  von  Erich  von  Berini-Bell. 
Mit  sechs  farbigen  Zeichnungen  von  Carl  Maria  Diez.  Einmalige  AuQage  in 
500  Exemplaren  zu  Preisen  von  50  und  100  Mk.“ 


223 


hervorragend  an  psychologischer  Beobaclitung,  dass  es  unter 
den  englischen  Eroticis  fast  einzig  dasteht  und  auch  in  der 
Weltliteratur  dieser  Art  von  - Selbstbekenntnissen 
neben  den  Werken  Rousseau's,  Retifs,  de  Sades  einen  erst- 
reihigen  Platz  einnimint.  Wir  geben  aus  seinem  reichen  In- 
halt einige  für  unser  Thema  besonders  beachtenswerte  Stellen 
wieder: 

„Julian,  ein  junger  Mann  „in  den  Flegeljahren“,  hat  sich 
dem  Dienstmädchen  gegenüber  „eine  erste  Ungezogenheit“  her- 
ausgenommen. „Seine  Instinkte  sind  erwacht“.  Er  soll  des- 
halb aus  dem  vornehmen  väterlichen  Hause  getan  werden  und 
in  reguläre  Schulzucht  kommen.  Ein  Onkel  von  ihm  hat  drei 
minderjährigen  Töchtern  einen  schönen  Landsitz  hinterlassen, 
auf  dem  dieselben  unter  Leitung  einer  „Mademoiselle“,  unter- 
stützt von  entsprechendem  Dienstpersonal,  erzogen  werden.  In 
diese  Umgebung  von  lauter  Frauen  wird  Julian  versetzt  und 
vom  ersten  Augenblick  an  nicht  als  „Mann“,  sondern  mehr 
„als  Bagatelle  und  nichtssagende  Puppe“  behandelt.  Das 
widerspenstige  Bürschchen  kriegt  gehörige  Ohrfeigen,  wobei 
ihn  das  kräftige  Dienstmädchen  Elise  festhalten  muss.  Hier- 
bei wird  ihm  die  erste  Aufklärung  von  der  weiblichen  Ueber- 
gewalt  über  die  Sinne  zu  teil:  „Ich  wurde  dessen  gewahr,  was 
Zola  das  mächtige  weibliche  Parfüm  nennt  — odore  di  femina“. 
„Zu  seiner  weiteren  Zähmung“  wird  er  nun 
unter  dem  schadenfrohen  Gelächter  der  Zuschauerinnen  in 
die  Ecke  gestellt,  mit  einem  Unterrock  um  den  Kopf, 
als  Symbol  seiner  zukünftigen  Lebensdominante,  und  danach 
überhaupt  ganz  und  gar  in  ein  weibliches- 
Kostüm  getan.  Das  Heer  seiner  widerstreitenden  Ge- 
fühle beschreibt  er  unter  anderm:  „Eine  Art  mesmerischen 

Einflusses  war  anscheinend  aus  jenem  durch  und  durch  weib- 
lichen Kleidungsstück  in  mich  gefahren,  aus  jenem  Unterrock, 
der  zuerst  mit  Madeinoiselles  Leib  in  so  engem  Kontakt  und 
dann  so  lange  über  meinem  Kopf  und  vor  meinem  Gesicht  ge- 
wesen war,  während  ich,  der  in  Ungnade  Gefallene,  im  Win- 
kel stand!  Er  hatte  mir  jedenfalls  meine  Stärke,  meine  ganze 
Widerstandskraft,  meine  Selbstachtung  genommen  und  mich 
vor  mir  selbst  verächtlich  gemacht  — kurz,. 


mich  völlig  entmannt.  Ich  fühlte  meine  Mannes- 
kraft deutlich  in  der  Zeit  schwinden,  als 
ich  mit  dem  roten  Unterrock  dastand,  der  mir  über  Augen. 
Nase  und  Mund  bis  über  die  Schultern  herabhing  und  mich 
an  nichts  anderes  denken  liess,  als  dass  es  eines  Weibes  Hock 
sei,  den  ich  trage,  und  dass  etwas  so  spezifisch  Weibliches 
mir,  ob  ich  wollte  oder  nicht,  aufgezwungen  wurde.  Ich 
musste  nach  und  nach  der  Flut  weiblichen  Einflusses  w'eichen, 
die  da  über  mich  hereinbrach;  musste  Stück  für  Stück  der 
Macht  des  Weibes  nachgeben.“  . . . „Der  Leser  möge  jedoch 
nicht  glauben,  dass  ich  mit  einem  Male  unterjocht  wurde.  Es 
gab  mehr  als  einen  Rückfall.  Mein  Mannestum  war  in  an- 
dauernder Empörung  begriffen  und  es  bedurfte  vieler  harter 
Lehren,  um  es  völlig  zu  töten.  Ich  aber  muss  bekennen,  dass 
meine  Abscheu  mit  der  Zeit  nachliess;  meine  Wutausbrüche 
wurden  seltener,  und  schliesslich  wnirde  ich  ein  elender  Pan- 
toffelheld.“ . . . „Mademoiselle  half  mir  dann  beim  An- 
legen des  Kostüms.  Wie  sonderbar  mich  das  alles  berührte! 
Entehrt  fühlte  ich  mich  jedoch,  als  ich  hörte,  dass  ich  über 
allen  Kleidungsstücken  noch  eins  von  Mademoiselles  Spitzen- 
höschen tragen  müsse,  dessen  Schnürbänder  um  meinen  Hals 
zugezogen  wurden,  während  meine  Arme  durch  die  Beinlöcher 
durchschlüpfen  mussten,  und  ich  somit  die  Hosen  als  Aermel 
trug.  Mit  Strumpfbändern  waren  sie  an  den  Handgelenken 
umspannt.  In  diesem  Aufzug  sollte  ich  in  Gegenwart  der 
Mädchen  am  Essen  teilnehmen,  zum  Zeichen  meiner  Un- 
terwerfung und  der  Unschädlichmachung  meines  !Mannes- 
tums.  Nicht  genug  daran,  dass  ich  die  Unterröcke  ertragen 
musste!  Die  Beinkleider  taten  das  ihrige,  um  meine  Ernie- 
drigung zu  vervollständigen.  Immerhin  zogen  die  Ungew^ohnt- 
heit  und  Unbequemlichkeit  der  Kleidung  meine  Aufmerksam- 
keit ein  wenig  von  der  grossen  Demütigung  ab,  die  ich  durch- 
machte, wozu  auch  die  Anstrengung  beitrug,  die  ich  auf- 
bringen  musste,  um  mich  überhaupt  richtig  zu  bewegen.  Denn 
das  Gehen  in  Mädchenschuhen  mit  hohen  Absätzen  war  keine 
Kleinigkeit;  die  \ielen  Knöpfe  drückten  mich,  die  Schuhe 
waren  so  klein,  dass  die  Füsse  in  sie  hineingezwängt  werden 
mussten,  und  die  Absätze  kamen  mir  wie  Berge;  vor.  Ich 


225 


errötete  wie  ein  Mädchen,  als  ich  bedachte,  dass  sich  mein 
Körper  in  Frauengewänder  schmiege,  und  dass  meine  Arme 
in  Damenbeinkleidern  steckten.  Wahrhaft  mädchenhafte 
Empfindungen  aber  wurden  in  mir  ausgelöst,  durch  das  zarte, 
zierliche,  spitzenbesetzte,  für  den  Bedarfsfall  unverwendbare 
Taschentuch,  das  ich  in  der  Hand  hielt,  und  ich  machte  mir 
tatsächlich  Gedanken  darüber,  ob  ich  nicht  wirklich  ein  Mäd- 
chen sei,  als  ich  ins  Speisezimmer  geschoben  und  den  Cousinen 
als  Fräulein  Julia  vorgestellt  wurde.“  . . . „Ich  war 
mir  eines  subtilen,  undefinierbaren  Einflusses  bewusst,  aber 
seine  Ursache  war  mir  noch  ein  Geheimnis,  seine  Macht  ein 
Rätsel.  Ich  wusste  nicht,  warum  ich  erectionem  permagnam 
et  effluxionem  liquoris  viscosi  bekam.  Bei  alle  dem  an  die 
Fortpflanzung  der  Menschheit  zu  denken,  fiel  mir  nicht  im 
geringsten  ein.  Das  schien  mir  einer  jener  trockenen  und  ge- 
lehrten Gegenstände  zu  sein,  wie  sie  in  den  Einleitungen  zu 
Geographiebüchern  bei  der  Erklärung  der  Jahreszeiten,  der 
Umdrehung  der  Erde  usw.  abgetan  werden.“ 

Julia  erfährt  nun  durch  Mademoiselle  weitere  praktische 
Aufklärungen  über  die  ars  amandi.  Dann  wird  in  die  Er- 
zählung eine  Art  Mannweib  eingeführt,  „Lord  Alfred 
Ridlington“.  Bei  Gelegenheit  eines  Balles  vürd  er  ihr  als 
„Fräulein  Julia“  vorgestellt.  „Lord  Alfred  führte  mich  zu 
Tisch.  Er  bediente  mich  in  der  aufmerksamsten  Weise,  wie 
es  sich  für  einen  Kavalier  seiner  Dame  gegenüber  schickt.  Ich 
wiederum  bemühte  mich,  so  gut  ich  es  konnte,  einer  jungen 
Dame  gleich  zu  sein.  Ich  nahm  darauf  Bedacht,  ihn  nicht 
zu  sehr  zu  ermutigen,  gab  mich  in  Miene  und  Gebärde,  wie 
ein  Mädchen,  mit  ihrem  hübschen  Wählerischtun,  den  ko- 
ketten Eigensinnigkeiten  und  Launen.“  . . . „Er  war  ein  nett 
aussehender  junger  Mann,  blond,  stämmig,  mit  vuinderschönem 
Munde,  Zähnen,  Ohren  und  Händen;  über  seinem  Brustkorb 
war  eine  ungewöhnlich  grosse,  schneeweisse  Hemdbrust  ge- 
spannt, in  der  drei  strahlende  Brillantknöpfe  steckten.  Es 
fiel  mir  auf,  wie  weiss  und  ungewöhnlich  wohlgeformt  sein 
Hals  war,  und  eine  gewisse  Sanftmut,  ich  möchte  fast  sagen, 
Weiblichkeit  in  der  Art  sich  zu  geben,  drängte  mir  die  Frage 
- auf,  ob  auch  er  derselben  Zucht  unterworfen  gewesen  sein 

Hirschfeld,  Die  Transvestiten.  15 


•226 


moclite,  die  ich  durchmachte.  Es  stimmte  mich  traurig,  wenn 
ich  daran  dachte,  wie  bitter  enttäuscht  er  wäre,  w'enn  er  je 
erführe,  dass  ich  ein  Mann  sei.“ 

Fräulein  Julia  gerät  schliesslich  mit  dem  vermeintlichen  Lord 
iu  eine  Situation,  in  der  dieser  „ihre“  Mannheit  entdecken 
muss.  Aber  der  Lord  tut  so  wenig  verwunderlich,  dass  bei 
Julia  gerechte  Zweifel  über  sein  Geschlecht  aufsteigen.  „Trotz- 
dem er  mich  erkannte,  glänzten  seine  Augen,  seine  Lippen 
waren  auf  meine  gepresst,  und  er  schien  von  einer  starken 
leidenschaftlichen  Erregung  befallen  zu  sein,  die  meiner  ähnelte, 
war  er  wirklich  ein  Mann?“ 

Die  Erzählung  steigt  nun  weiterhin  zu  ihrem  dramati- 
schen Höhepunkt  an.  Julia  und  Maud,  die  eine  seiner  Cou- 
sinen, beide  naiv  und  „absolut  unwissend“,  „vergessen  sich“ 
coitum  perficientes.  Die  Szene  mit  der  schliesslichen  Ueber- 
raschung  des  Paars  durch  Mademoiselle  ist  sehr  bewegt  und 
gehört  zu  den  besten  des  Buchs.  Das  Resuine,  das  der  Autor 
aus  diesem  Erlebnis  zieht,  ist  merkwürdig  genug.  Er  fühlt 
sich  (wenn  er  es  auch  re  vera  in  actu  nicht  w'ar)  dennoch 
als  den  passiven  Succubus.  Er  schreibt:  „Als  Her- 
kules infolge  des  Mordes  an  Iphitus  schwer  erkrankte  und 
vom  Orakel  erfuhr,  dass  er  nicht  eher  gesunden  könne,  bis 
er  nicht  auf  die  Dauer  von  drei  Jahren  um  Lohn  gedient 
habe,  verkaufte  ihn.  Hermes  an  Omphale  — die  ihn  zum 
Vater  mehrerer  Kinder  machte!  Ja,  daran  erinnere  ich  mich 
sehr  gut.  Zweifellos  wird  der  Leser  bemerkt  haben,  dass  die 
Abenteuer,  oder  vielmehr  dieses  eine  Abenteuer  des  Herkules 
einen  tiefen  Eindruck  auf  mich  machte  und  grosses  Interesse 
in  mir  wachrief.  Ich  war  immer  der  Ansicht,  dass  Herkules 
durch  seine  Strafe  ausserordentlich  beglückt 
worden  sei,  und  man  mag  die  Stärke  dieser  Meinung  aus  der 
eigentlich  nebensächlichen  Feststellung  erkennen,  dass  Herku- 
les durch  Omphale  Vater  von  sieben  Kindern  wurde!  Glück- 
licher Mann!  Wir  kennen  den  Kopf  der  Omphale;  welch  ko- 
ketten kleinen  Kopf  und  wie  eine  pikante  Nase  sie  hatte. 
Und  dann:  dieser  entschlossene  und  dennoch  wollustatmende 
Mund,  diese  grossen  Augen,  aus  denen  ein  strahlendes  Leuchten 
kam  — , Augen,  die  feucht  erglänzten  und  aussahen,  wie 


227 


blasse  Wasserlilien  auf  durchsichtig  klarem  Teich,  wenn  ihre 
Besitzerin  aus  der  Fassung  gebracht  oder  geärgert  wurde, 
oder  wenn  Herkules  ihr  weh  tat,  worauf  sie  ihm  dann  wegen 
ungeschickten  Benehmens  im  Arbeitszimmer  Schläge  verab- 
folgte. “ 

„Wie  verächtlich  mag  zuerst  ihr  vorwurfsvoller  Blick, 
wie  rasch  der  Uebergang  von  nachgiebiger  Laune  zu  feuriger, 
rachesprühender  Glut  gewesen  sein!  Gleich  waren  ihre  lydi- 
schen  Mädchen  zur  Hand,  um  Herkules  denSchnür- 
leib  anzulegen  undunmässig  festzuziehn. 
Dann  schleppten  sie  ihn  ins  Ankleidezimmer  der  Königin,  wo 
er  zweifellos,  gefesselt  auf  dem  Rücken  liegend  — denn 
sonst  wäre  er  unzähmbar  gewesen  — dem  reizenden  Weibe 
die  Strafe  für  sein  schlechtes  Benehmen  zahlen  musste;  jenem 
Weibe,  das  durch  göttliche  Bestimmung  ebenso  sehr  wie  durch 
ihre  Reize  seine  unumschränkte  Herrin  war.“ 

„Es  ist  bemerkenswert,  wie  diese  Geschichte,  durch  ein 
scheinbar  allgeuieines  Einverständnis  der  Männer,  in  Ver- 
gessenheit geraten  ist.  Es  gibt  nur  wenige  bildliche  Dar- 
stellungen dieser  Periode  ira  Leben  des  Herkules,  wenn  es  über- 
haupt welche  gibt.  Statuen,  die  eine  Darstellung  der  Venus 
bringen,  wie  sie  Cupido  schlägt,  sind  im  Ueberfluss  vorhan- 
den. Auch  die  Darstellung  des  Circe  kennt  man,  wo  diese 
nackt  in  einem  Sessel  liegt  und  den  einen  Fuss  auf  den  Kopf 
des  knieenden,  bewaffneten  Ulysses  gestellt  hat.  Wo  aber 
findet  man  — mit  Ausnahme  der  borghesischen  Statue  — 
einen  Herkules,  wie  er  von  Omphale  geschlagen  wird,  oder 
Herkules  in  F r a u e n k 1 e i d e r n?“ 

„Omphale  herrschte,  wie  Mademoiselle,  durch  die  Ver- 
einigung von  Gewalt  und  Liebe.  Ich  bin  zu  dem  Schluss  ge- 
kommen, dass  alle  Männer  von  Frauen  beherrscht  werden. 
Warum  verschweigt  man  das?  Es  verliehe  mir  einigen  Trost, 
wenn  dem  nicht  so  wäre.  Ich  weiss  von  vielen  meiner  Leidens- 
genossen, und  das  ermutigt  mich  beim  Niederschreiben  dieser 
Erlebnisse.  Aber  ich  kann  keine  offenen  S3rmpathien  erringen. 
Wenn  man  einen  Klub  von  Pantoffelhelden  gründen  wollte, 
fände  sich  sicherlich  nur  ein  einziges  Mitglied,  und  das  wäre 
i c h.  Und  ich  bezweifle  noch  sehr,  ob  ich  den  Mut  hätte, 

15* 


228 


beizutreten,  wenn  nicht  s i e mich  dazu  zwänge.  Es  ist  aller- 
dings nur  zu  wahrscheinlich,  dass  sie  es  täte.“ 

, Sieben  Kinder!  Glücklicher  ilann!  Ja,  zweifellos  muss 
Herkules  durch  Gewalt  oder  durch  Liebe  und  Ehrfurcht  nieder- 
gehalten worden  sein  und  Omphale  in  der  Umkehrung 
des  normalen  Vorgangs  tarn  diu  incubuisse,  bis 
er  völlig  erschöpft  war;  erschöpft,  wie  jener  andere  Mann, 
von  dem  Brantome  erzählt,  wie  er  sein  Weib  aufge- 
weckt habe.  Man  kennt  die  Geschichte.  Femina  marito  in- 
cubuit  atque  semel,  bis,  ter,  quater  copulam  iniit,  sodass  er 
ohnmächtig  zusammenbrach.  Du  wirst  mich  nicht  mehr  aus 
dem  Schlaf  stören,  sagt  sie  dann,  ich  habe  dir  eine  anständige 
Lektion  erteilt!“ 

Julian  soll  nun  zur  Strafe  für  seinen  Frevel  an  der  Cou- 
sine nach  London  gebracht  und  dort  kastriert  werden, 
um  auch  äusserlich  dem  Weibe  mehr  ähnlich  zu  sein.  Diese 
Drohung  macht  ihn  sehr  bestürzt;  in  Wirklichkeit  wird  ihm 
indessen  bloss  seine  Phimose  operiert,  „natürlich  von  einer 
Aerztin“.  Zuvor  aber  muss  er  noch  verschiedene  Stadien 
der  „Disziplin“  durchlaufen,  deren  Resume  hier  nicht  weiter 
interessiert.  Dagegen  seien  noch  verschiedene  theoretische  Aus- 
lassungen angeführt: 

„Worin  liegt  der  Reiz  und  der  verborgene  Einfluss  des 
Weibes?  In  der  Kleidung?  Tatsächlich  üben  die  Unterröcke, 
die  Hosen,  das  Mieder  und  die  langen  Strümpfe  einen  mäch- 
tigen und  geheimnisvollen  Zauber  aus.  Maud,  als  sie  nackt 
war,  beherrschte  mich  nicht  so  sehr,  wie  bekleidet.  Und  als 
ich  splitternackt  vor  Beatrice  gelegen  hatte,  während  sie  be- 
kleidet war,  Hess  mich  eben  das  den  Unterschied  so  tief 
empfinden;  wäre  auch  sie  nackt  gewesen,  so  hätte  ich  mich 
nicht  so  sehr  geschämt.  Es  gibt  nichts  ärgeres  für  einen 
jungen  Mann,  als  in  Gegenwart  bekleideter  Damen  nackt  zu 
sein.  Woher  kommt  aber  dieser  subtile  Einfluss  der  Kleidung? 
Wenn  das  Weib  seine  Kleider  zu  gunsten  eines  sogen,  ver- 
nünftigen oder  reformierten  Kostüms  aufgibt,  so  büsst  es 
gleichzeitig  viel  von  seiner  Herrschaft  über  den  Mann  ein. 
Macauly  sagt  in  seiner  Geschichte  Englands:  „Das  Gift,  das 
gewisse  Schriftsteller  verabreichten,  war  so  stark,  dass  es  in 


229 


kurzer  Zeit  zu  Uebelk eiten  führte.  Keiner  von  ihnen  hatte 
Verständnis  dafür,  wie  gefährlich  es  sei,  Darstellungen  uner- 
laubten Vergnügens  mit  allem  zu  verknüpfen,  was  lieblich 
und  veredelnd  ist.  Keiner  von  ihnen  war  sich  dessen  bewusst, 
dass  sogar  die  Libido  eines  gewissen  Dekorums  bedürfe,  dass 
Kleidung  verführerischer  sein  mag,  als 
Nacktheit,  und  dass  die  Phantasie  viel  mehr  durch 
zarte  Andeutungen  bewegt  werden  könne,  die  sie  dazu  bringen, 
aus  sich  herauszugehn,  als  durch  rohe  Beschreibungen,  die 
sie  untätig  in  sich  aufnimmt.“  „Wenn  das  Weib  ein  Bild 
unerlaubten  Vergnügens  ist,  so  versteht  ee  zumindest  völlig 
die  Kunst,  seine  liebliche  Person  mit  lockenden  und  adelnden 
Kleidungsstücken  zu  umgeben,  die  mit  Rüschen,  Aufschlägen 
und  Spitzen  geputzt  sind  und  die  erlesene  Schönheit  seines 
Körpers  halb  enthüllen,  um  so  die  Phantasie  durch  das,  was 
verborgen  wird,  um  so  mehr  zu  reizen.  Hätte  ich  zur  Zeit 
der  Liebeshöfe  gelebt,  so  hätte  ich  die  Frage  aufgeworfen,  ob 
Jener  Liebhaber  glücklicher  sei,  der  seine  Herrin  nackt  oder 
Jener,  der  sie  en  grande  tenue  gesehen  habe.  Und  ich  hätte 
von  Jedem  Mitglied  des  Tribunals  ein  schriftliches,  genau  be- 
gründetes Urteil  verlangt.“ 

In  London  wird  Julian  in  ein  Modemagazin  geführt,  wo 
ihm  die  verschiedensten  Kostümröcke  angemessen  werden.  Bei 
dieser  Gelegenheit  fallen  die  markantesten  Expektorationen 
über  ein  Kleidungsstück,  das  in  der  englischen  Erotik  eine 
grosse  Rolle  spielt,  über  das  Korsett.  „Schnürleiber“,  lässt  der 
Autor  eine  Verkäuferin  sagen,  „sind  nicht  so  radikal  wie  der 
Rohrstock,  aber  immerhin  wirksam  genug.  Oder  bereiten  sie 
Ihnen  vielleicht  Schmerzen?  Es  liegen  keine  abgerissene  Knos- 
pen und  Holzsplitter  auf  dem  Boden  umher;  der  Schnürleib 
macht  nicht  solchen  Lärm,  wie  der  pfeifende  Stock,  und  dann 
ist  er  schliesslich  ein  Teil  der  weiblichen  Kleidung,  nicht 
wahr?  Ich  glaube,  wenn  Sie  einmal  heiraten,  werden  Sie 
ordentlich  unter  dem  Pantoffel  stehn.  Es  ist  das  beste  für 
den  Mann.  Und  Ihre  Frau  wird  schon  dafür  sorgen,  dass  Sic 
die  Schnürleiber  fürchten!  Wissen  Sie,  Gnädige,  wandte  sie 
sich  an  Mademoiselle,  viele  Damen  bringen  ihre  Männer  oder  Lieb- 
haber hier  her,  um  sie  unter  die  Herrschaft  der  Stahlschienen 


230 


zu  bekommen.  Erst  neulich  brachte  eine  junge  Dame  ihren 
Bräutigam  her  und  erklärte,  dass  sie  ihn  nur  unter  der  Be- 
dingung heiraten  werde,  dass  er  eins  unserer  engsten  Mieder 
anlege  und  Danienbeinkleider  trage,  um  ihm  zu  beweisen,  dass 
er  nicht  länger  sein  eigener  Herr  sei,  sondern  einer  Ilernn  zu 
gehorchen  habe  und  deren  Eigentum  darstelle.“  Bei  der 
Aerztin,  die  bei  ihm  die  Circumcision  vornimmt,  werden  ihm 
auch  die  Ohrläppchen  durchbohrt,  da  er  goldene  Ohrringe 
tragen  soll. 

Trotzdem  sich  nun  Julian  in  ausgedehntem  Masse  sexuell 
als  Mann  betätigt,  führt  er  in  Kleidung,  Gewohnheiten  und 
Beschäftigungen  ganz  das  Dasein  eines  Mädchens.  Sein 
Entzücken  über  „Dessous“  und  alles  andre  wächst  in  dem  Masse, 
wie  er  diese  Dinge  selber  trägt.  Der  vermeintliche  Lord  tritt 
wieder  in  die  Erscheinung.  Julian  benimmt  sich  ganz  mäd- 
chenhaft verschämt:  „Ich  gedachte  der  Tage“,  schreibt  er, 

„wo  ich  ein  roher,  ungeschliffener  Bursche  war  und  staunte 
selbst  über  die  überraschend  vollkommene  Wandlung,  die  ich 
durchgemacht  hatte.  Mein  früheres  Benehmen  flösste  mir  Ent- 
setzen ein.  Ich  schämte  mich  und  errötete.  Die  Vergangen- 
heit wmr  doch  wirklich  beschämend  für  jemand,  der  sein 
ganzes  Leben  in  Röcken  hätte  stecken 
sollen.  Die  Zucht,  die  ich  durchmachte,  war  so  lückenlos, 
dass  ich  noch  heute,  wo  ich  doch  alles  w^eiss  und  mir  auch 
im  Klaren  darüber  bin,  wie  man  mich  täuschte,  den  starken 
Eindruck  nicht  los  w’erden  kann,  der  ungeschwächt  seine  wun- 
derbar zähmende  Wirkung  auf  mich  ausübt.“ 

Mademoiselle  sucht  ihm  einzureden,  er  sei  eigentlich  ein 
Hermaphrodit,  und  schliesslich  behandelt  sie  ihn  ganz  ernst- 
haft als  ihresgleichen.  Ich  warf  Mademoiselle  einen  dank- 
baren Blick  dafür  zu.  Die  Betonung  der  Gleich- 
heit des  Geschlechts  brachte  in  mir  eine  Flut  von 
angenehmen  Empfindungen  hervor.  Ich  war  verwirrt  und 
konnte  mich  dem  wunderbaren  Einfluss  nicht  entziehen,  den 
die  Aeusserung  auf  mich  ausübte,  dass  unter  meinen  ^Mädchen- 
kleidern  ein  wirkliches  Mädchen  stecke.“  Es  war  aber  nur 
eine  kurze  Freude  und  bald  schämt  er  sich  wieder  seiner 
virilen  Körperlichkeit:  „Ich  fühlte  nur  zu  sehr  den  Mangel 


231 


eines  anatomischen  Gebildes,  das  zur  Empfängnis  notwendig 
ist.  Der  Lord  hatte  mir  Empfindungen  vermittelt,  die,  wie 
ich  \vusste,  zu  keinem  Ergebnis  führten."  Alle  diese  Vor- 
stellungen führen  im  Roman  schliesslich  dazu,  dass  der 
Lord,  das  verkleidete  Mannweib,  die  Julia, 
den  verkleideten  Weib  mann,  cum  apparatu  pä- 
diziert. 

Der  Roman  schildert  weiterhin  noch  "sdelfach  variierte 
Abenteuer  unter  den  immer  gleichen  Auspizien  und  zum 
Schluss  die  Ehe  des  Verfassers,  die  natürlich  auch  keinen 
andern  Verlauf  nimmt.  Das  Schlusswort  lautet;  „Die  Frau 
macht  den  Mann.  Erstens  macht  sie  ihn  wirklich,  denn  sie 
empfängt  das  Kind  und  bringt  es  zur  Welt;  zweitens  macht 
sie  ihn  durch  ihre  Zucht,  durch  die  Einwirkung  ihres  gesun- 
den Menschenverstandes  und  dadurch,  dass  sie  ihn  unter  dem 
Pantoffel  hält.  Wäre  ich  sonst  geworden,  was  ich  bin,  wenn 
ich  nicht  so  streng  unter  der  Herrschaft  des  Weibes  gestanden 
hätte?  Auf  die  Gefahr  hin,  dass  man  mich  be- 
mitleide und  bedaure,  muss  ich  gestehn, 
dass  ich  meineFesseln  undmeineTyrannin 
liebe.  Sie  hat  meine  geistige  und  körperliche  Entwicklung 
gefördert.  Und  es  gibt  doch  viele  und  grosse  physische  Ent- 
schädigungen. Es  liegt  eine  w'underbare  Lust  darin,  sich 
einem  Weibe  beugen  zu  müssen,  und  es  bereitet 
einen  viel  grössern  Genuss,  seine  Befehle  auszuführen,  als  auf 
eigene  Faust  zu  handeln.  Wenn  ich  durch  irgend  etwas  daran 
erinnert  werde,  dass  ich  meiner  Herrin  Wäsche  am  Leibe 
trage,  so  geht  es  mir  durch  Mark  und  Bein.  Und  was  die 
Führung  meiner  Geschäfte  anbelangt,  so  besorgt  meine  Frau 
das  besser  als  ich.  Dennoch  habe  ich  das  unbestimmte  Ge- 
fühl, dass  der  Mann  nicht  nur  für  das  Weib  da  sei. 
Diese  Welt  ist  des  Weibes,  und  sie  gehört  ihm 
ganz.  Sein  ist  die  Herrschaft,  betrachte  man  es  wie  man  wolle. 
Ich  glaube  daiier,  dass  es  noch  eine  andere  Welt  geben  muss, 
wo  der  Mann  die  Hauptrolle  spielt.  Doch  — auch  dort  geht 
es  wahrscheinlich  nicht  ohne  die  Frau,  ohne  ihren  Einfluss 
und  das  grosse  Mysterium  ihres  Geschlechtes  ab.  Sollte  es 
so  zu  verstehn  sein,  dass  geschrieben  steht,  in  ein  gewisses 


232 


Königreich  werden  die  Weichlinge  nicht  kommen?  Wer  ist 
übrigens  ein  Weichling?  Verweichligung  kann  doch  nicht  die 
Folge  einer  gesunden  Zucht  sein?“ 

Trotzdem  in  dieser  Geschichte  des  Engländers  wie  in 
Fall  XII  Verkleidungstrieb  und  Masochismus  fast  identisch  er- 
scheinen, halte  ich  beide  doch  sowohl  hier  als  überhaupt  für 
gesonderte  Erscheinungen  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 
Zunächst  findet  man  keineswegs  bei  allen  Transvestiten  maso- 
chistische Züge,  stärker  ausgeprägte  sogar  nur  bei  verhält- 
nismässig wenigen,  ja  bei  einigen  findet  sich  das  gerade 
Gegenteil  davon,  so  bei  YI,  dem  „die  Mädchen  weglaufen, 
weil  er  sie  zu  sehr  tyrannisiert“  und  bei  VIII,  der  nur  bei 
stuprumartigem  Verkehr  mit  „erzwungenem  basium  linguorum“' 
zur  Befriedigung  gelangt.  Vor  allem  ist  zu  berücksichtigen, 
dass,  wie  Krafft-Ebing  dies  in  seinem  vortrefflichen  „Versuch 
einer  Erklärung  des  Masochismus“  überzeugend  klargelegt  hat,, 
dieser  an  und  für  sich  eine  Ausartung  spezifisch  weib- 
licher Eigenschaften  darstellt,  während  „der  Sadismus  als 
eine  pathologische  Steigerung  des  männlichen  Ge- 
schlechtscharakters in  seinem  psychischen  Bei- 
werk“ anzusehen  ist.  Bei  unseren  Transvestiten  lassen  sich 
fast  alle  Züge,  die  zunächst  als  masochistische  imponieren, 
zwanglos  auf  den  Effeminationswunsch  zurückführen,  so  die 
Neigung  in  actu  zu  succumbieren,  die  Sehnsucht  ein  ener- 
gisches Weib  zu  besitzen  und  von  ihm  den  Angriff  zu  er- 
fahren, letzten  Endes  auch  die  Lust  an  zunächst  unbequemen 
und  schmerzhaften  Attributen  der  Weiblichkeit,  wie  am 
Durchstechen  der  Ohrläppchen,  am  Tragen  eines  eng  ge- 
schnürten Korsetts,  an  Schuhen,  „in  die  die  Füsse  hinein- 
gezwängt  werden  müssen  und  deren  Absätze  einem  wie 
Berge  verkommen“.  Es  w'ird  hier  eben  das  körperliche 
Unbehagen  durch  das  seelische  Behagen  weibliches  zu 
erfüllen  und  zu  empfinden  überkompensiert. 

Gibt  es  unter  den  Transvestiten  nur  "wenig  algophile 
(schmerzliebende),  so  findet  sich  auf  der  ander  en  Seite  unter 
der,  wie  es  scheint,  recht  ausgedehnten  Gemeinde  maso- 
chistischer Männer  nur  höchst  selten  einer,  bei  dem  der  Trieb 
sich  als  Weib  zu  kleiden,  vorhanden  ist.  Gewerbsmässige 


233 


Berliner  „Maitressen".  — das  Wort  hier  in  seiner  Ableitung, 
von  „Maitre“  im  Sinne  von  Herrin  gebraucht  — die- 
über  eine  grosse  masochistische  Klientel  verfügen,  teilten  mir 
auf  Befragen  mit,  dass  unter  ihren  Kunden  solche,  die  eine- 
Weiberrolle  spielen  wollen,  verhältnismässig  selten  Vor- 
kommen; ich  konnte  nur  von  zweien  erfahren,  die  ehe  sie 
ihre  „domina“  aufsuchen,  einen  Karton  mit  Damengarderobe 
vorausschicken,  am  sich  vor  der  Züchtigung  als  Frau  zu 
kleiden.  Dies  dürften  wohl  Fälle  sein,  die,  wie  unser  Polizist 
(VIII.),  der  ja  auch  Masseusen  frequentiert,  zu  den  wirk- 
lichen Transvestiten  gehören,  die  nebenbei  masochistische 
Neigungen  haben.  Eine  Vergesellschaftung  von  Transvesti- 
tismus mit  Masochismus  scheint  auch  bei  dem  zu  seiner  Zeit 
als  höchst  eigenartiges  Original  sehr  bekannten  Eng- 
länder George  Augustus  Selwyn*)  (1719 — 1792)  Vorge- 

legen zu  haben.  Sehr  geschätzt  wegen  seiner  grossen  Kennt- 
nisse, seinem  feinen  Humor  und  künstlerischem  Geschmack, 
der  fast  40  Jahre  in  London  tonangebend  war,  dabei  „sanft  und 
gutherzig  wie  ein  Kind“,  verfolgte  er  „mit  schmerzlich  rätsel- 
hafter Wonne“  alle  Einzelheiten  begangener  Mordtaten  und 
hatte  eine  wahre  Leidenschaft,  zumeist  als 
Frau  verkleidet,  Hinrichtungen  beizu- 

wohnen. Sein  Freund  Horace  Walpole,  der  bekannte 
Dichter,  erzählt  zahlreiche  Anekdoten  über  diese  seltsamen 
Gelüste.  Als  er  1756  eigens  wieder  von  London  nach  Paris 
geeilt  war,  um  der  Hinrichtung  Damiles  beizuwohnen,  der 
wegen  seines  Attentats  auf  Ludwig  XV.  in  niartervollster 
Weise  getötet  werden  sollte,  drängte  er  sich,  dieses  Mal  aus- 
nahmsweise als  Herr  gekleidet,  so  nahe  durch  die  Menge 
an  das  Schafott,  dass  man  ihn  fragte;  „Sind  Sie  der  Scharf- 
richter?“, worauf  ihm  die  bezeichnende  Antwort  entfuhr; 
„Non,  non,  monsieur,  je  n'ai  pas  cet  honneur,  je  ne  suis 
q’u  n amateur.“ 


*)  Vgl.  über  SelTvyn  Jesae:  George  Selwyn  and  bis  contemporains  etc. 
London  1882;  Roscoe  u.  Gergue:  George  Selwyn,  bis  letters  and  bis  life, 
London  1899.  Ferner  Iwan  Blocb;  Geschlechtsleben  in  England.  Berlin  1903. 
Bd.  II.  p.  170  u.  Bd.  III.  p.  74. 


234  — 


Etwas  häufiger  ist  es,  dass  Masochisten  einzelne  weib- 
liche Kleidungsstücke  verwenden,  sich  eine  Schürze  verbinden 
oder  einen  Unterrock  überziehen  lassen,  am  verbreitetsten  ist 
der  Gebrauch  von  Korsetts  und  Gürtein,  die  aber  offenbar 
mehr  die  Aufgabe  von  Marterwerkzeugen  haben,  als  dass  sic 
weibliche  Symbole  versinnbildlichen.  Auch  in  der  Fachlite- 
ratur über  Masochismus  finde  ich  keine  den  unsrigen  analoge 
Fälle.  Märzbach,*)  der  dieser  Erscheinung  ein  ausgezeichnetes 
Kapitel  gewidmet  hat,  führt  unter  den  metamorphotischen 
Formen  des  Masochismus  nur  an,  dass  Personen  wie  Diener, 
Schüler,  Kinder,  Sklaven,  Tiere  (z.  B.  wie  Hunde)  behandelt 
zu  werden  wünschen,  nicht  aber  als  Weiber,  geschweige  denn, 
dass  sie  wirklich  in  weiblicher  Gestalt  auftreten.  Meine  an 
fängliche  Vermutung,  dass  Märzbachs  Fall  „Elisabeth“ 
(pag.  129 — 131)  möglicherweise  transvestitisch  sei,  bestätigte 
sich  nicht,  insofern  nähere  Erkundigungen  bei  seiner  „Ge- 
bieterin“ ergaben,  dass  .er  sich  nur  ein  weibliches  Pseudonym 
beilegte  und  keineswegs  Frauenkleider,  sondern  nur  Korsett 
und  Gürtel  trug;  von  seinen  Briefen  will  ich  gleichwohl  den 
kürzeren  hier  wiedergeben,  weil  er  die  Verschiedenheit 
zwischen  beiden  Anomalien  noch  w'eiter  kennzeichnet.  Seine 
Zeilen  lauten:  „Sehr  geehrte  und  allerstrengste  Herrin,  grau- 
same Gebieterin!  Hiermit  melde  ich  mich,  wie  Sie  mir  be- 
fohlen haben,  und  bitte  Sie,  die  mir  zugedachte  Behandlung 
an  mir  zu  vollziehen.  Ich  sehe  ein,  wie  schwer  ich  mich 
gegen  Sie.  meine  gütige  Herrin,  durch  meinen  Ungehorsam 
vergangen  habe,  und  dass  ich  es  nur  dadurch  gutmachen 
kann,  dass  ich  mich  der  von  Ihnen  über  mich  verhängten 
grausamsten  Marterung  unterziehen  werde.  Für  jeden  Geissel- 
schlag  will  ich  Ihnen,  wenn  ich  in  der  Pracht  meiner  Gürtel 
vor  Ihnen  stehen  werde,  dankbar  sein,  jeder  Geisselschlag 
wird  für  mich  eine  glückliche  Stunde  in  meinem  Leben  be- 
deuten, und  ich  bitte  Sie  nur,  wenn  die  Folterung  zu  Ihrer 
Zufriedenheit  ausfallen  wird,  mir  Ihre  Verzeihvmg  dadurch  zu 
gewähren,  dass  Sie  die  Klarierung  sofort  noch  einmal  an  mir 
vollziehen.  Ihre  treuergebene  Dienerin  und  Sklavin  Elisabeth.“ 

*)  loc.  cit.  pag.  116  ff. 


235 


Nach  allem  können  wir  den  Masochismus  nur  als  ge- 
legentliche Begleiterscheinung,  keineswegs  als  ursäch- 
liches Motiv  des  Verkleidungstriebes  ansehen  und  ebensowenig 
diesen  als  Erscheinungsform  des  Masochismus.  Wie  unter  den 
Frauen  selbst,  gibt  es  auch  unter  denen,  die  es  sein  möchten, 
masochistische  und  sadistische,  solche,  die  von  beiden  etwas 
und  solche,  die  von  beiden  nichts  besitzen.  Alles  dies  bezieht 
sich  mutatis  mutandis  auch  auf  Frauen,  die  als  Männer  auf- 
treten,  auch  hier  fällt  Viraginität  und  Sadismus  keineswegs 
zusammen. 


Geschlechtsverkleidungstrieb  und  Ge- 
schlechtsverwahdlungswahn. 

So  sehr  sich  die  transvesti tischen  Männer  in  ihrer  Ver- 
kleidung als  Frauen,  die  Frauen  als  Männer  fühlen,  so 
bleiben  sie  sich  doch  stets  bewusst,  dass  sie  es  in  Wirk- 
lichkeit nicht  sind.  Wohl  bilden  sich  manche  von  ihnen 
ein  — wenn  je,  so  ist  hier  der  Wunsch  der  Vater  des  Ge- 
dankens — dass  ihre  Haut  zarter,  ihre  Formen  runder,  ihre 
Bewegungen  graziöser  seien,  wie  die  gewöhnlicher  Männer, 
aber  sie  wissen  ganz  genau  und  sind  oft  deprimiert  darüber, 
dass  sie  körperlich  nicht  dem  von  ihnen  geliebten  und  be- 
gehrten Geschlecht  angehören.  Würden  sie  sich,  ob  verkleidet 
oder  nicht,  tatsächlich  für  Frauen  halten,  wie  sich  ein  von 
Grössenwahn  befallener  für  einen  Messias  oder  Milliardär  oder 
auch  „für  Kaiser  und  Papst  in  einer  Person“  hält,  dann 
wären  es  wahnhafte  Vorstellungen  und  der 
Zustand  müsste  als  Geisteskrankheit,  als  Verrücktsein,  als 
Paranoia  angesprochen  werden.  Solche  Fälle  von  Geschlechts- 
verwandlungs  wahn  — Metamorphosis  sexualis  p a r a n o i c a 
— kommen  auch  vor,  wenngleich  im  Verhältnis  zu  anderen 
Wahnideen  selten.  Krafft-Ebing  hat  fünf  gesehen,  von  denen 
er  zwei  beschrieben  hat,  ausserdem  publiziert  er  einen  in  der 
Anstalt  Illenau  beobachteten;  ausser  diesen  sind  je  einer  von 
Arndt  und  Serioux,  zwei  von  Esquirol  veröffentlicht;  ich 
selbst  kenne  zwei  hierher  gehörige  Personen,  einen  körperlich 


236 


völlig  normal  gebauten  Mann,  der  mich  aufsucate,  damit  ich 
ihm  bestätige,  dass  er  vagina  und  mammae  habe,  einen 
anderen,  von  dem  ich  sehr  eingehende  Aufzeichnungen  habe, 
die  ich  aber  zur  Zeit  leider  nicht  publizieren  kann. 

Um  geschlechtlichen  Verwandlungswahn  scheint  es  sich 
auch  in  folgenaem  Falle  zu  handeln,  den  der  bekannte  Afrika- 
reisende Dr.  Stuhlmann  mir  mitzuteilen  die  Güte  hatte. 

„Im  Juli  1905  lief  in  A.  oft  ein  Mann  umher,  der 
stets  Frauenkleider  trug.  Nähere  Erkundigungen  ergaben, 
dass  er  Mwatsche  a seme  („lass  das  reden“)  sich  nannte  und 
aus  U.  stammte.  Er  ist  klein  aus  seinem  Heimatsland  nach 
P.  gekommen,  lebte  dann  in  K.  und  teils  in  M.  In  P.  hat 
er  sich  verheiratet  und  zwei  Kinder  gezeugt.  In  K.  sei  er 
verzaubert  worden.  Er  sei  damals  an  schwerem  Durchfall  er- 
krankt und  hatte  einen  Monat  gelegen;  nach  einem  Viertel- 
jahre hätte  sich  die  Krankheit  wiederholt  und  von  da 
ab  fühle  er  sich  als  Weib.  Seit  der  Zeit  a..  habe 
er  gar  keine  Erektionen  mehr  gehabt,  müsse  sich  aber  wie 
eine  Frau  kleiden,  und  könne  nur  weibliche  Arbeit  machen. 
Er  behauptet,  seitdem  nie  Geschlechtsverkehr  weder  mit 
Frauen  noch  mit  Männern  gehabt  zu  haben,  auch  gar  kein 
Bedürfnis  danach  zu  empfinden.“ 

Ein  originärer  Verkleidungstrieb  ist  bei  diesen  meist  erb- 
lich stark  belasteten  Patienten  selten;  das  typische  ist,  dass 
sie  ihre  Genitalien  weiblich  umgewandelt  fühlen,  es  kommt 
ihnen  vor.  als  wüchsen  ihnen  weibliche  Brüste,  als  hätten 
sie  lange  Zöpfe,  als  sei  ihre  in  Wirklichkeit  männliche  Klei- 
dung weiblich.  Meist  wird  ihnen  dies  von  Stimmen  be- 
stätigt, so  hörte  einer  sagen:  „er  sei  eine  Hure“,  ein  anderer 
wollte  auf  der  Strasse  die  Aeusserung  gehört  haben;  „seht 
doch  das  Mensch,  die  alte  Duttel“.  sie  träumen  auch  davon, 
dass  an  ihnen,  wie  an  einem  Weibe  der  Koitus  vollzogen 
wird,  einer  berichtet,  es  sei  ihm  .,dabei  die  Natur  gekommen.“ 
Ganz  besonders  interessant  ist  der  in  Illenau  beobachtete 
Patient,  ein  Pianist,  der  1865  im  Alter  von  23  Jahren  dort 
aufgenommen  wurde.  Anfangs  an  typischem  Verfolgungswahn 
leidend,  traten  später  mehr  und  mehr  erotische  Ideen  in  den 
Vordergrund,  er  hört  fortwährend  unzüchtige  Reden,  sieht 


237 


allenthalben  Prostitution  treiben,  dabei  masturbiert  er  ex- 
zessiv; „er  sei  vergiftet  durch  Geilgift,  das  auf  den  Ge- 
schlechtstrieb wirke;  „er  wolle  eine  Onanistin  heiraten.“ 
daneben  bestehen  Grössenwahnideen,  er  besitze  eine  wunder- 
bare Augengedankenausstrahlung,  die  20  Millionen  wert  sei, 
seine  Kompositionen  seien  500  000  Frcs.  wert.  Im  August 
1872,  nachdem  er  also  bereits  7 .Jahre  in  der  Irrenanstalt 
ist,  verlangt  er  in  die  Frauenabteilung  untergebracht  zu 
werden,  er  sei  ein  Weib,  dann  will  er  in  die  Entbindungs- 
anstalt, da  er  schwanger  sei. 

„Vom  Dezember  1872  ab  ändert  sich  sein  Persönlichkeits- 
bewusstsein endgültig  in  ein  weibliches. 

Er  sei  von  jeher  ein  Weib,  aber  vom  1. — 5.  Lebens- 
jahre habe  ihn  ein  französischer  Quäkerkünstler  mit  männ- 
lichen Genitalien  versehen  und  ihm  durch  Einreiben  und  Zu- 
richten des  Thorax  das  spätere  Hervorkommen  der  Brüste 
verhindert. 

Er  verlangt  nun  energisch  Unterbringung  in  der  Frauen- 
abteilung,  Schutz  vor  Männern,  die  ihn  prostituieren  wollen 
und  Damenkleidung.  Eventuell  wäre  er  auch  erbötig,  in 
einem  Spielwarengeschäft  sich  mit  Stepp-  und  Ausschneide- 
arbeit oder  in  einem  Putzgeschäft  mit  weiblicher  Arbeit  zu  be- 
schäftigen. Vom  Zeitpunkt  der  Transformatio  sexus  an  be- 
ginnt für  Patient  eine  neue  Zeitrechnung.  Seine  eigene 
frühere  Persönlichkeit  fasst  er  in  der  Erinnerung  als  seinen 
Vetter  auf. 

Er  spricht  von  sich  vorläufig  in  der  dritten  Person,  er- 
klärt sich  für  Gräfin  V.,  die  liebste  Freundin  der  Kaiserin 
Eugenie,  verlangt  Parfüms,  Korsetts  usw.  Hält  die  anderen 
Männer  der  Abteilung  für  Frauenzimmer,  versucht  sich  einen 
Zopf  zu  flechten,  verlangt  ein  orientalisches  Enthaarungs- 
mittel, damit  man  nicht  mehr  an  seiner  Damennatur  zweifle. 

Er  sei  von  der  Hebamme  untersucht  und  als  Dame  be- 
funden worden.  Von  dem  Wahn,  Gräfin  V.  zu  sein,  ist  er 
nicht  mehr  abzubringen.  Als  er  keine  Damenkleider  und 
Stöckelschuhe  bekommt,  verbringt  er  fast  die  ganze  Zeit 
im  Bett  und  geriert  sich  als  vornehme  leidende  Dame,  tut 
zimperlich,  verschämt;  er  flechtet  sich  das  Haar  so  gut  wie 


■238 


möglich  in  Zöpfen,  zupft  sich  den  Bart  aus  und  verfertigt 
sich  Brüste  aus  Semmeln.  1874  stirbt  er  an  Tuberkulose.“ 
Trotzdem  der  geschlechtliche  Verkleidungs  trieb  und  der 
Geschlechtsverwandlungs  wahn  sich  in  ausgeprägten  Fällen 
sehr  verschieden  darstellen  und  wohl  kaum  miteinander  ver- 
wechselt werden  können,  sind  auch  hier  wiederum  wie  bei 
allen  bisher  zum  Vergleich  herangezogenen  Anomalieen  Grenz- 
und  Uebergangsformen  vorhanden,  bei  denen  die  Sicherstellung 
der  Differentialdiagnose  gewisse  Schwierigkeiten  bietet.  Eine 
hierhergehörige  höchst  interessante  Autobiographie  wurde 
Krafft-Ebing  im  Jahre  1890  von  einem  ungarischen  Arzte 
übersandt.  Er  hat  sie  in  einer  der  späteren  Auflagen  seiner 
Psychopathia  sexualis  unter  dem  Titel;  Uebergangs- 
stufe  zur  Metamorphosis  sexualis  para- 
n 0 i c a“  publiziert.  Dieser  Fall,  den  Krafft-Ebing  selbst  als 
eine  „für  die  Wissenschaft  höchst  wertvolle  Auto- 
biographie“ bezeichnet,  ist,  soweit  ich  sehe,  in  der  Fachlite- 
ratur der  einzige,  ausführlicher  beschriebene,  der  zu  den 
unsrigen  eine  weitgehende  Verwandtschaft  aufweist.  Aus  diesem 
Grunde  und  weil  er  von  einem  Arzte  herrührend,  nicht  nur 
durch  seine  Analogieen,  sondern  auch  durch  seine  Reflexionen 
wichtige  psychologische  Einblicke  in  das  Seelenleben  der 
anderen  Transvestiten  gewährt,  scheint  mir  die  Wiedergabe 
dieser  Lebensbeschreibung  trotz  ihrer  Ausführlichkeit  (man 
könnte  auch  sagen,  wegen  ihrer  Ausführlichkeit)  an  dieser 
Stelle  geboten,  wo  sie  ihrer  Isoliertheit  entheben  durch  den 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  Fällen  erst  zur  vollen 
Geltung  kommt.  Patient  schreibt: 

„1844  in  Ungarn  geboren,  war  irh  lange  .Tahre  das  einzige  Kind  meiner 
Eltern,  da  die  meisten  anderen  Geschwister  an  Lebensschwäche  starben;  erst 
spät  kam  noch  ein  Bruder  nach,  welcher  das  Leben  behielt. 

Ich  stamme  aus  einer  Familie,  in  welcher  Nerven-  und  psychische  Leiden 
vielfach  vorgekommen  sind.  Als  kleines  Kind  soll  ich  sehr  hübsch  gew’esen 
sein,  mit  blonden  Locken  und  durchsichtiger  Haut;  sehr  folgsam, 
still,  bescheiden,  soda^s  man  mich  in  jede  DamengeseUschaft  mit- 
nahm, ohne  dass  ich  geniert  hätte. 

Bei  sehr  reger  Phantasie,  meiner  Feindin  das  ganze  Leben  hindurch, 
entwickelten  sich  meine  Talente  schnell.  Mit  4 Jahren  konnte  ich  lesen  und 
schreiben,  mein  Gedächtnis  reicht  bis  ins  3.  Jahr  zurück;  ich  spielte  mit 


239 


allem,  was  mir  unter  die  Hände  fiel,  mit  Blekoldaten  oder  Steinen  oder 
Händern  aus  einem  Kinderladen;  nur  einen  Apparat  zum  Holzmachen,  den 
man  mir  schenkte,  mochte  ich  nicht.  Am  liebsten  v/ar  ich  zu  Hause  bei 
meiner  Mutter,  diemein  Alles  war.  Freunde  hatte  ich  zwei  bis  drei, 
mit  denen  ich  gutmütig  verkehrte,  aber  grade  so  gerne  mit  ihren  Schwestern, 
welche  mich  auch  stets  wie  ein  Mädchen  behandelten,  was  mich  anfangs  nicht 
genierte. 

Ich  muss  auf  dem  Wege  gewesen  sein,  ganz  wie  ein  Mäd- 
chen zu  werden,  ich  weiss  wenigstens  noch  gut,  wie  es  stets  hiess: 
„das  schickt  sich  für  einen  Buben  nicht.“  Darauf  bemühte  ich  mich,  den  Buben 
zu  spielen,  machte  alles  meinen  Kameraden  nach  und  suchte  sie  an 
Wildheit  zu  übertreffen,  was  auch  gelang:  es  war  mir  kein  Baum  und  kein 
Gebäude  zu  hoch,  um  es  nicht  zu  besteigen.  An  den  Soldaten  hatte  ich 
grosse  Frejjde,  den  Mädchen  wich  ich  mehr  aus,  da  ich  mit  ihren  Sachen 
doch  nicht  spielen  sollte,  und  es  mich  auch  stets  wurmte,  dass  sie  mich  so 
ganz  wie  ihresgleichen  behandelten. 

In  Gesellschaft  Erwachsener  war  ich  aber  stets  gleich  bescheiden  und 
gleich  gerne  gesehen.  Phantastische  Träume  von  wilden  Tieren,  die  mich 
einmal  aus  dem  Bette  trieben,  ohne  dass  ich  erwacht  wäre,  peinigten  mich 
häufig.  Ich  wurde  stets  zwar  einfach,  aber  höchst  zierlich  gekleidet  und  be- 
kam dadurch  eine  Neigung  zu  schönen  Kleidern;  eigentümlich  scheint  es 
mir,  dass  ich  schon  von  der  Schulzeit  an  Hinneigung  zu  Frauen- 
handschuhen hatte,  die  ich  heimlich  anzog,  so  oft  ich  konnte;  so  er- 
eiferte ich  mich,  als  meine  Mutter  einmal  ein  Paar  solcher  verschenkt  hatte, 
ganz  energisch  dagegen  und  teilte  meiner  Mutter  auf  Befragen  mit;  ich  hätte 
sie  lieber  selber  gerne  gehabt;  ich  wurde  tüchtig  ausgclacht  und  hütete  mich 
von  da  an  sehr,  meine  Vorliebe  für  weibliche  Sachen  zu  zeigen. 
Und  doch  war  meine  Freude  daran  so  gross.  Besonders  hatte  ich  an  Masken- 
kleidern meine  Freude,  d.  h.  nur  an  weiblichen;  sah  ich  solche,  so 
beneidete  ich  die  Besitzerin;  am  liebsten  sah  ich  zwei  als  weisse 
Damen,  allerdings  wunderschön  verkleidete  junge 
Herren  mit  sehr  schönen  Mädchenmasken  vor  den  Gesichtern,  und  doch 
hätte  ich  mich  um  keinen  Preis  vor  anderen  als  Mädchen  gezeigt,  so  sehr 
fürchtete  ich  mich  vor  dem  Spotte.  In  der  Schule  zeigte  ich  den  grössten 
Fleiss,  war  stets  vorne  an;  meine  Eltern  lehrten  mich  von  Kindheit  an,  dass 
zuerst  die  Pflicht  komme,  und  gaben  mir  auch  stets  hiervon  das  Beispiel; 
auch  war  mir  der  Besuch  der  Schule  ein  Vergnügen,  denn  die  Lehrer  waren 
mild  und  die  älteren  Schüler  plagten  die  jüngeren  nicht.  Nun  verliesscn 
wir  meine  erste  Heimat,  da  der  Vater  gezwungen  war,  seinem  Beruf  zuliebe 
sich  auf  ein  Jahr  von  der  Familie  zu  trennen;  wir  zogen  nach  Deutschland. 
Hier  herrschte  ein  strenger  bis  roher  Ton,  teils  unter  den  Lehrern,  teils 
unter  den  Schülern,  und  ich  wurde  wegen  meiner  Mädchenhaftig- 
keit verspottet. 

Meine  Mitschüler  gingen  so  weit,  dass  sie  einem  Mädchen,  welches 
genau  meine  Züge  hatte,  meinen  Namen  gaben  und  mir  den  ihrigen,  sodass 
ich  das  Mädchen,  mit  dem  ich  mich,  als  sie  verheiratet  war,  später  be- 


240 


freundete,  hasste.  Meine  Mutter  fuhr  fort,  mich  zierlich  zu  kleiden,  und  dies 
war  mir  zuwider,  da  es  mir  stets  Spott  eintrug,  sodass  ich  froh  war,  als 
ich  endlich  ganz  richtige  Hosen  und  ganz  richtige  Männerröcke  bekam.  Doch 
kam  mit  diesen  eine  neue  Plage;  sie  genierten  mich  an  den  Genitalien,  be- 
sonders wenn  das  Tuch  etwas  rauh  war,  und  die  Reriihrung  des  Schneiders 
beim  Anmessen  war  mir  durch  ihren  Kitzel,  der  mich  zusammenschaudern 
machte,  ganz  unerträglich,  besonders  an  den  Genitalien;  nun  sollte  ich 
turnen,  und  da  konnte  ich  einfach  alles  nicht  machen  oder  nur  schlecht,  was 
Mädchen  nicht  auch  leicht  machen  können;  beim  Baden  plagte  mich  das 
Schamgefühl  des  Entblössens,  ich  tat  es  aber  sehr  gerne;  ich  hatte  bis 
zum  12.  Jahre  eine  grosse  Schwäche  im  Kreuze.  Schwimmen  lernte  ich  spät, 
nachher  aber  gut,  sodass  ich  grosse  Touren  machte.  Mit  13  Jahren  hatte  ich 
Pubes,  war  etwa  6 Fuss  gross,  aber  im  Gesicht  ein  Weibsbild,  dies  bis  zu 
IS  Jahren,  wo  der  Bart  stark  kam  und  ich  vor  der  Weiberähnlich- 
keit Ruhe  hatte.  Eine  mit  12  Jahren  erworbene,  erst  mit  20  Jahren 
geheilte  Inguinalhernie  genierte  mich  sehr,  besonders  beim  Turnen;  es  kam 
hinzu  vom  12.  Jahre  an  bei  langem  Sitzen  und  besonders  bei  Nachtarbeit, 
die  häufig  lang  war,  ein  Jucken,  Brennen,  Zittern  von  dem  Penis  an  bis 
über  das  Kreuz  hinaus,  welches  sitzen  und  stehen  erschwerte  und  sich  durch 
Erkältung  steigerte;  ich  ahnte  aber  im  Entferntesten  nicht,  dass  dies  mit 
den  Genitalien  Zusammenhang  haben  könnte.  Da  keiner  meiner  Freunde 
daran  litt,  so  kam  es  mir  ganz  fremd  vor,  und  brauchte  ich  die  äusserste 
Geduld,  es  zu  ertragen,  um  so  mehr,  als  überhaupt  der  Unterleib  mich  oft 
genierte. 

In  sexualibus  war  ich  noch  ganz  unwissend,  hatte  aber  jetzt,  so  mit 
12—13  Jahren,  das  sichere  Gefühl,  lieber  ein  Frauenzimmer  sein 
zu  wollen.  Ihre  Gestalt  gefiel  mir  besser,  ihr  ruhiges  Auftreten,  ihr 
Anstand,  aber  besonders  ihre  Kleider  gefielen  mir  sehr,  ich 
hütete  mich  aber  wohl,  es  merken  zu  lassen,  doch  weiss  ich  gewiss,  dass  ich 
das  Castrationsmesser  nicht  gescheut  hätte,  um  meinen  Zweck  zu  erreichen. 
Hätte  ich  sagen  sollen,  warum  ich  lieber  in  Fraucnkleidern  stäke,  so  hätte 
ich  bloss  sagen  können;  es  zieht  mich  eben  mit  Gewalt  hinein;  vielleicht 
kam  ich  mir  auch  wegen  meiner  selten  weichen  Haut  eher  wie  ein  Mädchen 
vor;  diese  war  nämlich,  besonders  im  Gesicht  und  an  den  Händen,  sehr 
empfindlich.  Bei  den  Mädchen  war  ich  gerne  gesehen;  obgleich  ich  lieber 
stets  unter  ihnen  gewesen  wäre,  so  verhöhnte  ich  sie,  wo  ich  konnte,  denn 
ich  musste  übertreiben,  um  nicht  selbst  weiblich  zu  erscheinen, 
und  beneidete  sie  im  Herzen  doch  beständig;  besonders  war  mein  Neid  gross, 
wenn  eine  Freundin  lange  Kleider  bekam,  in  Handschuhen  und  Schleier  ging. 
Als  ich  mit  15  Jahren  eine  Reise  machte,  schlug  mir  eine  junge  Dame,  bei 
der  ich  wohnte,  vor,  mich  als  Dame  zu  maskieren  und  mit  ihr  auszugehen; 
ich  ging  aber,  da  sie  nicht  allein  war,  nicht  darauf  ein,  so  gerne  ich  es 
getan  hätte.  Eine  ganz  geputzte  Dame  erschien  mir  wie 
eine  Göttin,  berührte  mich  ihre  Glacehand,  so  war  ich  glücklich  und 
neidisch,  hätte  eben  zu  gerne  an  ihrer  Stelle  in  den  schönen  Sachen  und  der 
zierlichen  Gestalt  gesteckt.  Nichtsdestoweniger  studierte  ich  sehr  fleissig, 


241 


machte  Realschule  und  Gymnasium  in  9 Jahren  durch,  legte  eine  gute  Matu- 
ritätsprüfung ab.  Ich  erinnere  mich,  mit  15  Jaliren  das  erste  Mal  zu  einem 
Freunde  den  Wunsch  geäussert  zu  liaben,  ein  Mädchen  zu  sein;  auf  seine 
Frage  nach  dem  Grunde,  konnte  ich  keine  Antwort  geben.  Im  17.  Jahre 
war  ich  in  lockere  Gesellschaft  gekommen,  ich  trank  viel  Bier,  rauchte  und 
suchte  mit  Kellnerinnen  zu  scherzen;  diese  verkehrten  gerne  mit  mir.  aber 
man  behandelte  mich  stets,  als  ob  ich  auch  Röcke  trüge.  Die  Tanzstunde 
konnte  ich  nicht  besuchen,  es  trieb  mich  hinaus;  hätte  ich  als  Maske  hin- 
gehen können,  dann  wäre  es  anders  gewesen.  Meine  Freunde  liebte  ich  zärt- 
lich, nur  einen  hasste  ich,  der  mich  zur  Onanie  verleitet  hatte.  Pfui  über 
jenen  Tag,  der  mir  für  mein  Leben  lang  gesehadet  hat;  ich  trieb  sie  ziem- 
lich stark,  kam  mir  aber  dabei  \^de  ein  doppelter  Mensch  vor;  ioh  kann 
das  Gefühl  nicht  beschreiben;  ich  glaube,  es  war  männlich,  aber  mit  weib- 
lichem gemischt.  An  ein  Mädchen  konnte  ich  nicht  ankommen,  ich  fürchtete 
dieselben,  und  doch  waren  sie  mir  nicht  fremd;  sie  imponierten  mir  aber  doch 
mehr  als  meinesgleichen,  ich  beneidete  sie,  ich  hätte  auf  alle  Freuden  ver- 
zichtet, wenn  ich  hätte  zu  Hause  ein  Mädchen  sein  dürfen,  und  wenn  ich 
vollends  so  hätte  ausgehen  dürfen;  eine  Krinoline,  ein  knapper 
Handschuh  war  eben  mein  Ideal. 

Ich  empfand  bei  jedem  Damenanzuge,  den  ich  sah,  wde  ich  mich  darin 
fühlen  v/ürde,  nämlich  als  Dame;  eine  Sehnsucht  nach  Männern 
hatteichnicht. 

Ich  erinnere  mich  zwar,  mit  ziemlicher  Zärtlichkeit  an  einem  bild- 
schönen Freunde  mit  Mädchengesicht  und  dunklen  Locken  gehangen  zu 
haben,  glaube  aber  nur  den  Wunsch  gehabt  zu  haben,  dass  wir  beide 
.Mädchen  sein  möchten. 

Auf  der  Hochschule  gelangte  ich  endlich  einmal  zum  Koitus;  hoc  modo 
eensi,  me  libentius  sub  puella  concubuisse  ot  penem  meura  cum  cunno 
m u t a t u m maluisse.  Das  Mädchen  musste  auch  zu  seinem  Erstaunen  mich 
wie  ein  Mädchen  behandeln,  auf  was  sie  gerne  einging  (sie  war  noch  ziem- 
lich unerfahren  und  verspottete  mich  deshalb  nicht). 

Als  Student  war  ich  zur  Zeit  wild,  fühlte  aber  stets,  dass  ich  diese 
Wildheit  nur  mehr  als  Maske  vornahm;  ich  trank,  schlug  mich,  konnte  aber 
wieder  nicht  Tanzunterricht  nehmen,  weil  ich  mich  zu  verraten 
fürchtete.  Meine  Freundschaften  waren  innig,  aber  ohne  Neben- 
gedanken; am  meisten  freute  es  mich,  wenn  ein  Freund  eich  als  Dame 
maskierte,  oder  wenn  icli  die  Toiletten  der  Damen  auf  einem  Balle  mustern 
konnte;  ich  hatte  alles  Verständnis  dafür  und  fing  allmählich  an  zu  fühlen 
wie  ein  Frauenzimmer. 

Wegen  unglücklicher  Verhältnisse  machte  ich  zwei  Selbstmordversuche; 
ohne  Grund  schlief  ich  einmal  14  Tage  nicht,  hatte  viel  Hallucinationen 
(Gesicht  und  Gehör  zugleich),  verkehrte  mit  Verstorbenen  und  Lebenden  zu- 
gleich, was  mir  bis  heute  geblieben  ist. 

Auch  eine  Freundin  hatte  ich,  die  meine  Liebhaberei  kannte,  meine 
Handschuhe  anzog,  aber  mich  eben  auch  nur  als  Mädchen  gelten  liess.  So 
verstand  ich  die  Weiber  besser,  als  ein  anderer  Mann,  und  wie  sie  das  her- 

H i r 3 c h l e 1 d , Die  Transvestiten.  16 


242 


aus  halten,  bO  wurde  ich  eben  wieder  more  feminarum  behandelt,  als  hätte 
man  eine  Freundin  getroffen.  Ich  konnte  es  im  Ganzen  auch  nicht  aus- 
stehen, wenn  gezotet  wurde,  und  tat  es  eigentlich  auch  nur  Bramarbasierens 
halber,  wenn  es  geschah.  Den  anfänglichen  Ekel  gegen  Gestank  und  Blut 
legte  ich  bald  ab  bis  zum  Gegenteile,  einzelne  Gegenstände  jedoch  konnte 
ich  nie  sehen  ohne  Ekel.  Nur  das  eine  fehlte  mir  stets,  dass  ich  über  mich 
stets  im  Unklaren  war;  ich  wusste,  dass  ich  weibliche  Neigungen  habe,  glaubte 
ich  doch  ein  Mann  zu  sein,  doch  zweifle  ich,  ob  ich  ausser  den  Koitusver- 
suchen, die  mir  nie  Vergnügen  machten  (was  ich  der  Onanie  zuschricb),  je 
einmal  ein  Weib  bewunderte  ohne  den  Wunsch,  dasselbe  zu  sein, 
oder  mich  zu  fragen,  ob  ich  es  sein  möchte  oder  in  seinem  Putze  auftreten 
möchte.  In  der  Geburtshilfe,  welche  zu  lernen  mir  sehr  schwer  wurde  (ich 
schämte  mich  für  die  aufliegenden  Mädchen  und  hatte  Mitleid  mit  ihnen), 
habe  ich  bis  zum  heutigen  Tage  ein  Gefühl  des  Schreckens  zu  überwinden; 
ja,  es  kam  mir  schon  vor,  dass  ich  die  Traktionen  mitzufühlen  ver- 
meinte. An  mehreren  Stellen  mit  Erfolg  als  Arzt  verwendet,  machte  ich 
einen  Feldzug  mit  als  freiwilliger  Arzt.  Das  Reiten,  welches  mir  schon  als 
Student  peinlich  war,  weil  die  Genitalien  dabei  mehr  weibliche  Gefühle  ver- 
mittelten, fiel  mir  schwer  (nach  Frauenart  wäre  es  leichter 
gegangen!. 

Immer  noch  glaubte  ich,  ein  Mann  mit  undeutlichen  Gefühlen  zu  sein, 
und  immer,  wenn  ich  mit  Damen  zusammenkam,  wurde  ich  bald  eben  wieder 
als  uniformierte  Dame  behandelt  (wäre,  als  ich  das  erste  Mal  die  Uniform 
trug,  viel  lieber  in  ein  Damenkostüm  mit  Schleier  geschlüpft; 
es  war  mir  ein  störendes  Gefühl,  wenn  man  auf  den  stattlichen  Uniformierten 
schaute).  In  der  Privatpraxis  hatte  ich  in  allen  drei  Hauptbranchen  Glück, 
dann  machte  ich  nochmals  einen  Feldzug  mit;  in  diesem  kam  mir  meine 
Natur  zugute,  da  ich  glaube,  dass  seit  dem  ersten  Esel  auf  der  Welt  kein 
Grautier  so  viel  Geduld  an  den  Tag  zu  legen  hatte,  als  ich.  Dekorationen 
blieben  nicht  aus,  doch  Hessen  sie  mich  kalt. 

So  schlug  ich  mich  durch  das  Leben,  so  gut  es  ging,  nie  zufrieden 
mit  mir,  voller  Weltschmerz,  zwischen  Sentimentalität  oder  Wildheit,  die 
zwar  meist  affektiert  war,  schwankend. 

Ganz  eigentümlich  ging  es  mir  als  Heiratskandidat.  Am  liebsten  hätte 
ich  garnicht  geheiratet,  aber  Fandlienveihältnisse  und  Praxis  zwangen  mich 
dazu.  Ich  heiratete  eine  energische,  liebenswürdige 
Dame  aus  einer  Familie,  wo  Weiberherrschaft  blühte. 
Ich  war  in  sie  verliebt,  so  gut  es  unser  einer  sein  kann,  d.  h.,  was  er 

liebt,  liebt  er  mit  ganzem  Herzen  und  geht  in  ihm  auf,  wenn  er  auch  nicht 

so  stürmisch  erscheint,  wie  ein  ganzer  und  echter  Mann:  er  liebt  seine 
Braut  mit  aller  weiblichen  Tiefe,  fast  wie  einen  Bräu- 
tigam, nur  gestand  ich  mir  diese  Seite  nicht  ein,  weil  ich  immer  noch 
glaubte,  nur  ein  verstimmter  Mann  zu  sein,  der  durch  die  Ehe  wohl  ganz  zu 

sich  selber  kommen  und  sich  finden  werde.  Aber  schon  in  der  Hochzeitsnacht 

fühlte  ich,  dass  ich  nur  als  männlich  gestaltetes  Weib  fungierte;  sub  femina 
locum  meum  esse  mihi  visum  est.  Wir  lebten  im  Ganzen  zufrieden  und 


243 


glücklich,  blieben  ein  paar  Jahre  kinderlos.  Nach  einer  schweren  Schwanger» 
Schaft,  während  welcher  ich  in  Feindesland  zu  Tode  lag,  kam  auf  eine 
schwere  Geburt  der  erste  Knabe,  dem  eine  melancholische  Natur  bis  heute 
noch  anhängt;  dann  ein  zweiter,  welcher  ganz  ruhig  ist,  ein  dritter  voller 
Streiche,  ein  vierter,  ein  fünfter;  allein  sämtliche  haben  schon  Anlage  zur 
Neurasthenie.  Da  ich  mich  nie  an  meinem  Platze  fühlte,  so  ging  ich  viel  in 
lustige  Gesellschaft,  arbeitete  aber  immer,  was  des  Menschen  Kraft  vermochte, 
studierte,  operierte,  experimentierte  mit  vielen  Arzneimitteln  und  Kur- 
methoden, auch  stets  an  mir  selber.  In  der  Ehe  überliess  ich  meiner  Frau 
das  Regiment  im  Hause,  da  sie  das  Haushalten  sehr  gut  versteht.  Meine 
Pflichten  als  Ehemann  verrichtete  ich  so  gut,  als  es  ging,  aber  ohne  Be- 
friedigung für  mich;  vom  ersten  Koitus  bis  heute  ist  mir  die  männliche 
Stellung  dabei  zuwider  und  zu  schwer  gewesen.  Ich  hätte  viel 
lieber  die  andere  Rolle  gehabt.  Musste  ich  meine  Frau 
entbinden,  so  brach  es  mir  beinahe  das  Herz,  da  ich  ihre  Schmerzen  zu 
würdigen  wusste.  So  lebten  wir  lange  zusammen,  bis  schwere  Gichterkran- 
kung mich  in  verschiedene  Bäder  trieb  und  mich  neurasthenisch  machte.  Zu- 
gleich wurde  ich  so  anämisch,  dass  ich  alle  paar  Monate  eine  Zeitlang 
Eisen  nehmen  musste,  andernfalls  war  ich  wie  chlorotisch  oder  hysterisch  oder 
beides  zusammen.  Stenocardie  plagte  mich  oft,  dann  kamen  halbseitige  Krämpfe 
im  Kinn,  Nase,  Hals,  Kehlkopf,  Hemikranie,  Zwerchfell-  und  Brustmuskelkrampf; 
etwa  3 Jahre  lang  dauerndes  Gefühl,  als  wenn  die  Prostata  vergrössert 
wäre , ein  Expulsionsgefühl , wie  wenn  ich  etwas  gebären 
sollte,  Schmerzen  in  der  Hüfte,  perennierendes  Kreuzweh  u.  dergl. ; doch 
wehrte  ich  mich  mit  der  Wut  der  Verzweiflung  gegen  diese  mir  weibisch  oder 
weiblich  imponierenden  Beschwerden,  bis  vor  3 Jahren  ein  ganz  heftiger  An- 
fall von  Arthritis  mich  vollständig  brach. 

Noch  ehe  dieser  furchtbare  Gichtanfall  eintrat,  habe  ich  in  der  Ver- 
zweiflung, um  die  Gicht  zu  tilgen,  heisse  Bäder,  der  Körperwärme  so  nahe 
als  möglich,  genommen.  Da  geschah  es  einmal,  dass  ich  mich  plötzlich  ver- 
ändert und  dem  Tode  nahe  fühlte;  ich  sprang  mit  der  letzten  Kraft  aus  der 
Therme  heraus,  hatte  mich  aber  ganz  als  iVeib  mit  Libido  gefühlt.  Fernei 
zur  Zeit,  als  das  Extr.  cannabis  ind.  aufkam  und  sogar  gepriesen  wurde, 
nahm  ich  aus  Angst  vor  meinem  drohenden  Gichtanfalle  (und  von  Gleich- 
gültigkeit gegen  das  Leben  gepeinigt)  etwa  die  3 — 4fach  gebräuchliche  Dosis 
von  Extr.  cannabis  ind.  und  machte  eine  Haschischvergiftung 
auf  Leben  und  Sterben  durch.  Lachkrampf,  Gefühl  von  unerhörter  Körper- 
kraft und  Schnelligkeit,  eigenartiges  Gefühl  in  Gehirn  und  Augen,  Milliarden 
von  Funken,  vom  Gehirne  aus  die  Haut  durchzuckend,  stellten  sich  ein,  doch 
konnte  ich  mich  noch  zum  Sprechen  zwingen;  allein  auf  einmal  sah 
ich  mich  von  den  Zehen  bis  zur  Brust  als  Weib,  fühlte, 
wie  früher  in  der  Therme,  dass  die  Genitalien  eingestülpt  wurden,  das 
Becken  sich  erweiterte,  die  Brüste  herausschossen,  eine  unsägliche  Wollust 
sich  meiner  bemächtigte.  Da  schloss  ich  die  Augen,  sodass  ich  wenigstens 
das  Gesicht  nicht  verändert  sah.  Mein  Arzt  hatte  dabä  das  Aussehen,  als 
hätte  er  eine  Riesenkartoffel  statt  des  Kopfes,  meine  Frau  hatte  den  VoU- 

16* 


244 


mond  auf  diun  Rumpfe.  Und  dennoch  war  ich  stark  genup;,  als  beide  das 

Zimmer  auf  kurze  Zeit  verlicssen,  in  mein  Notizlmcli  meinen  kurzen  letzten 

Willen  einzutragen. 

Aber  wer  beschreibt  meinen  Schrecken,  als  ich  am  anderen  Morgen,  mich 
vollständig  zum  Weibe  verwandelt  fühlend,  erwachte  und  beim  Gehen  und 
Stehen  eine  Vulva  und  Mammae  fühlte. 

Als  ich  endlich  aus  dem  Rette  mich  erhob,  fühlte  ich,  dass  mit  mir 

eine  ganze  Umwälzung  vorgegangen  sei.  Schon  während  der  Krankheit 

sagte  ein  Besuch:  ,für  einen  Mann  ist  er  zu  geduldig",  und  machte  mir  einen 
blühenden  Blumenstock  zum  Geschenk,  was  mich  befremdete,  aber  doch  freute. 
Von  nun  an  war  ich  geduldig,  wollte  nichts  mehr  im  Sturme  tun,  wurde 
zäh  wie  eine  Katze,  dabei  aber  mild,  versöhnlich,  niclit  mehr  nachträglicli, 
kurz  wie  ein  Weib  dem  Gemüt  nach.  Während  der  letzten 
Krankheit  hatte  ich  viele,  Gesichts-  und  Gehörliallucinationcn,  sprach  mit 
den  Toten  usw.,  sah  und  hörte  Spiritus  familiäres,  fühlte  mich  als  eine 
doppelte  Person,  doch  merkte  ich  auf  dem  Krankenlager  selber  noch  nicht, 
dass  der  Mann  in  mir  erloschen  war.  Meine  Gemütsveränderung  war  ein 
Glück,  da  mich  ein  Schlag  traf,  der  mich  bei  meiner  früheren  Stimmung  auf 
den  Tod  getroffen  hätte,  den  ich  aber  jetzt  mit  Ergebung  hinnahm,  sodass 
ich  mich  selbst  nicht  mehr  erkannte.  Da  ich  die  Erscheinungen  der  Neu- 
rasthenie noch  oft  mit  Gicht  verwechselte,  so  gebrauchte  ich  noch  viele 
Bäder,  bis  ein  Hautjucken  mit  der  Empfindung  der  Krätze  durch  eine  Therme 
so  zunahm  statt  abznnehmen,  dass  ich  alle  äusserliche  Therapie  aufgab 
wurde  immer  anämischer  durch  die  Bäder)  und  mich  abhärtete,  so  gut  es 
ging.  Aber  das  weibliche  Zw'angsgefühl  blieb  und 
wurde  so  stark,  dass  ich  nur  die  Maske  des  Mannes 
trage,  sonst  aber  mich  in  jeder  Beziehung  als  voll- 
kommenes Weib  nach  allen  Teilen  fühle  und  von  der  alten 
Zeit  zurzeit  die  Erinnerung  verloren  habe. 

Was  die  Gicht  noch  etwa  übrig  gelassen  hatte,  ruinierte  die  Influenza 
vollends. 

Status  praesens:  Ich  bin  gross,  Haarboden  gelichtet,  Bart 

wird  grau,  meine  Haltung  fängt  an,  gebückt  zu  werden:  habe  seit  der  In- 
fluenza etwa  ein  Viertel  der  rohen  Kraft  verloren.  Gesicht  sieht  infolge 
eines  Klappenfehlers  etwas  gerötet  aus;  Vollbart;  chronische  Conjunctivitis; 
mehr  muskulös  als  fett;  linker  Fuss  scheint  varicose  Venen  zu  bekommen, 
schläft  öfters  ein,  ist  noch  nicht  sichtbar  verdickt,  aber  scheint  es  zu  werden. 

Die  Mammillargegend  hebt  sich  trotz  Kleinlicit  deutlich  ab.  Der  Bauch 
hat  die  Form  eines  weiblichen  Bauches.  Füsse  nach  Frauenart  gestellt, 
Waden  usw.  wie  diese;  mit  den  Armen  ist  es  gerade  so  und  mit  den  Händen. 
Kann  Frauenstrümpfe  und  Handschuhe  7/.j  bis  tragen;  ebenso  trage  icli 
ohne  Beschwerde  ein  Korsett.  Gewicht  wechselt  zwischen  168  bis  164  Pfund. 
Urin  ohne  Eiweiss,  ohne  Zucker,  enthält  über  die  Norm  Harnsäure;  enthält 
er  aber  nicht  viel  Harnsäure,  so  ist  er  hell,  fast  wasserhell  nach  jeder  Auf- 
regung irgend  einer  Art.  Stuhl  meist  regelmässig,  ist  er  es  aber  nicht,  so 
kommen  alle  weiblichen  Beschwerden  der  Obstipation.  Schlaf  schlecht,  oft 


245 


viele  Wochen  lang  nur  2 — 3 Stunden  dauernd.  Appetit  ziemlich  gut,  doch 
im  ganzen  erträgt  der  Magen  nicht  mehr  als  der  einer  starken  Frau 
und  reagiert  gegen  scharfe  Speisen  sofort  durch  Hautausschlag  und  Brennen 
in  der  Harnröhre.  Haut  ist  weiss,  im  ganzen  fühlt  sie  sich  sehr  glatt  an; 
unerträgliches  Jucken  in  derselben  seit  2 Jahren,  hat  in  den  letzten  Wochen 
abgenommen,  zeigt  sich  nur  noch  mehr  in  der  Kniekehle  und  am  Sciotum. 

Neigung  zu  Schweiss;  Ausdünstung  früher  so  gut  wie  nicht  vorhanden, 
macht  jetzt  alle  hässlichen  Nuancen  der  weiblichen  Ausdünstung, 
besonders  am  Unterleibe  durch,  sodass  ich  mich  noch  reinlicher  halten  muss 
als  eine  Frau.  (Parfümiere  das  Taschentuch,  benütze  parfümierte  Seifen  und 
Bau  de  Cologne.) 

Allgemeingefühl : Ich  fühle  mich  als  Frauenzimmer  in 
Mannesgestalt  ; wenn  ich  auch  manchmal  noch  die  Form  des  Mannes 
fühle,  so  fühlt  das  betreffende  Glied  dennoch  weiblich,  so  z.  B.  der  Penis  als 
Clitoris;  die  Urethra  als  Urethra  und  Scheideneingang,  ich  fühle  sie  stets 
etwas  nass,  auch  wenn  sie  noch  so  trocken  ist;  das  Scrotum  als  Labia 
majora;  kurz,  ich  fühle  eben  stets  eine  Vulva,  und  was  das  zu  bedeuten  hat, 
weiss  nur,  wer  selber  so  fühlt  oder  gefühlt  hat.  Aber  die  ganze  Haut  am 
ganzen  Körper  fühlt  weiblich,  nimmt  alle  Eindrücke,  seien  es  solche  des 
Tastens,  dei  Wärme  oder  feindselige,  als  Weib  auf  und  habe  ich  die  Emp- 
findungen eines  solchen;  mit  blossen  Händen  kann  ich  nicht  gehen,  da  Hitze 
und  Kälte  mich  gleich  sehr  peinigen:  wenn  die  Zeit,  wo  es  uns  Herren  ge- 
stattet ist,  den  Sonnenschirm  zu  tragen,  vorüber  ist,  so  habe  ich  grosse 
Pein  in  meiner  Gesichtshaut  zu  leiden,  bis  wieder  der  Sonnenschirm  gebraucht 
werden  darf.  Erwache  ich  morgens,  so  dämmert  es  in  mir  einige  Augen- 
blicke, es  ist,  als  ob  ich  mich  selber  suche,  dann  erwacht  das  Zwangsgefühl, 
Weib  zu  sein.  Ich  fühle  das  Gefühl  der  Vulva  (resp.  dass  eine  solche  da  ist), 
und  begrüsse  den  Tag  mit  einem  stillen  oder  lauten  Seufzer,  denn  ich  habe 
schon  wieder  Angst  vor  dem  jetzt  kommenden  Theaterspielen  den  ganzen 
Tag.  Es  ist  keine  Kleinigkeit,  sich  als  Weib  zu  fühlen 
und  als  Mann  handeln  zu  müssen.  Alles  musste  ich  wie  neu 
lernen;  die  Messer,  die  Apparate,  alles  fühlte  sich  seit  drei  Jahren  ganz 
anders  an,  und  bei  dem  geänderten  Muskelgefühl  musste  ich  alles  wie  neu 
erlernen.  Es  ist  auch  gelungen,  nur  die  Führung  der  Säge  und'  des  Knochen- 
meisseis macht  mir  noch  zu  schaffen;  es  ist  beinahe,  als  ob  die  rohe  Kraft 
nicht  ganz  ausreichte.  Dagegen  habe  ich  mehr  Gefühl  bei  der  Arbeit  mit 
dem  scharfen  Löffel  in  den  Weichteilen;  widerwärtig  ist  es,  dass  ich  bei 
Untersuchung  von  Damen  oft  ihre  Gefühle  mitiühle,  was  dieselben  oft 
befremdet.  Am  allerwiderwärtigsten  fühle  ich  eine  Kindsbewegung  mit;  eine 
Zeitlang,  mehrere  Monate,  quälte  mich  das  Gedankenlesen  bei  beiden  Ge- 
schlechtern, gegen  welches  ich  jetzt  noch  anzukämpfen  habe;  bei  Weibern 
ertrage  ich  es  noch  eher,  bei  Männern  ist  es  mir  zuwider.  Vor  3 Jahren  habe 
ich  noch  nicht  bewusst  die  Welt  mit  Weiberaugen  angesehen;  es  kam 
diese  Aenderung  im  Eapport  des  Opticus  zum  Gehirn  unter  heftigem  Kopf- 
weh fast  plötzlich.  Ich  war  bei  einer  geschlechtlich  verkehrt  fühlenden  Dame, 
da  sah  ich  sie  plötzlich  so  verändert,  als  ich  mich 


246 


jetzt  fühle,  nämlich  sic  als". Mann  und  fühlte  mich  als 
Weib  ihr  gegenüber,  dass  ich  mit  schlecht  verhohlenem  Aerger  sie 
verlioss;  dieselbe  war  damals  sich  noch  nicht  klar  geworden  über  ihren 
Zustand. 

Seitdem  machen  alle  Sinne  ihre  Wahrnehmung  in  weiblicher  Form  und 
ebenso  ihren  Rapport.  Dem  Cerehralsystem  schloss  sich  fast  unmittelbar  das 
vegetative  an,  sodass  alle  Beschwerden  sich  in  weiblicher  Weise  äusserten; 
die  Empfindlichkeit  aller  Nerven,  besonders  die  des  Acnsticus,  Olfactorius 
oder  Trigeminus  steigerten  sich  zur  Nervosität;  klappt  nur  ein  Fenster,  so 
fahre  ich  zusammen,  d.  h.  innerlich  — der  Mann  darf  ja  nicht;  ist  eine  Speise 
nicht  absolut  frisch,  so  habe  ich  Kadavergeruch  in  der  Nase.  Dem 

Trigeminus  hätte  ich  nie  zugetraut,  dass  so.  launenhaft  die  Schmerzen  von 
einem  Ast  auf  den  andern  überspringen,  von  einem  Zahne  ins  Auge. 

Doch  ertrage  ich  seit  meiner  Aenderung  Zahnweh  und  Migräne  leichter, 
habe  auch  weniger  Angstgefühl  bei  Stenocardie.  Eine  eigentümliche  Be- 

obachtung scheint  es  mir,  dass  ich  mich  als  ein  ängstliches  schwächeres 
Wesen  fühle,  bei  drohenden  Gefahren  aber  viel  mehr  Kaltblütigkeit  und 
Ruhe  besitze,  ebenso  bei  schweren  Operationen.  Der  Magen  rächt  den 
leisesten  (gegen  die  Diät  einer  Frau)  begangenen  Fehler  unnachsichtlich  in 
Weiberart,  sei  es  durch  Ructus  oder  sonstige  Beschwerden,  besonders  einen 
Alkoholmissbrauch  ;derKater  des  sich  Weib  fühlenden  Mannes 
ist  viel  infamer,  als  der  kolossalste  akademische 
Katzenjammer;  es  kommt  mir  beinahe  vor,  als  ob  man  als  Weib 
fühlend,  ganz  unter  der  Herrschaft  des  vegetativen  Systems  stehe. 

So  klein  meine  Brustwarzen  sind,  so  wollen  sie  Platz  und  fühle  ich 
sie  als  Mammae,  wie  zwar  auch  schon  in  Pubertätsjahren  die  Warzen 
schwollen  und  schmerzten;  deshalb  geniert  mich  jedes  weisse  Hemd,  die 
Weste,  der  Rock.  Vom  Becken  habe  ich  das  Gefühl,  als  ob  es  ein  weib- 
liches sei,  dito  von  After  und  Nates;  störend  waremir  im  Beginn  das  Weib- 
lichkeitsgefühl des  Bauches,  welcher  in  keine  Hosen  will  und  stets  das  Ge- 
fühl der  Weiblichkeit  hervorbringt  oder  besitzt.  Auch  habe  ich  das  Zwangs- 
gefühl einer  Taille.  Es  ist  mir,^  wie  wenn  ich,  einer  eigenen  Haut  beraubt, 
in  eine  Weiberhaut  gesteckt  wäre,  die  sich  alles  genau  anpasst,  aber  alles 
genau  fühlt,  wie  wenn  sie  ein  Weib  umgäbe,  und  dessen  Gefülüe  durch  den 
ganzen  eingeschloesenen  Manneskörper  strömen  Hesse  und  die  männlichen 
exmittiert  hätte.  Die  Hoden  sind,  wenn  auch  nicht  atrophisch  oder  degene- 
riert, doch  keine  Hoden  mehr  und  machen  mir  oft  Sclimerzen,  mit  dem  Ein- 
drücke, als  ob  sie  in  den  Bauch  hincingehörten  und  festsitzen  sollten;  die  Be- 
weglichkeit derselben  peinigt  mich  oft. 

Alle  4 W'oehen,  zur  Vollmondszeit,  habeichSTage 
lang  alle  lilolimina  wie  eine  Frau,  körperlich  und 
geistig,  nur  dass  ich  nicht  blute,  während  ich  das  Ge- 
fühl von  Abgang  von  Flüssigkeit,  ein  Gefühl  von  Geschwollen- 
sein der  Genitalien  und  des  Unterleibes  (innen)  habe;  eine  sehr  ange- 
nehme Zeit,  besonders  wenn  nachher  und  später  ein  paar  Tage  in  der 
Zwischenzeit  das  physiologische  Gefühl  der  Bbgattungsbedürftigkeit  kommt 


247 


mit  seiner  ganzen,  das  Weib  durchdringenden  Kraft;  der  ganze  Körper  ist 
dann  von  diesem  Gefühle  voll,  ■wie  ein  eingetauchtes  Zuckerstück  voll  Wasser 
gesogen  ist  oder  so  voll  wie  ein  nasser  Schwamm;  da  heisst  es:  zuerst  liebe- 
bedürftiges Weib,  dann  erst  Mensch,  und  zwar  ist  das  Bedürfnis,  wie  mir 
scheint,  mehr  ein  Sehnen  nach  Empfängnis  als  nach  Koitus.  Der  immense 
Naturtrieb  oder  die  weibliche  Geilheit  lässt  aber  das  Schamgefühl  zurück- 
treten. sodass  indirekt  der  Koitus  gewünscht  wird.  Männlich  habe  ich  den 
Koitus  höchstens  dreimal  im  I-eben  gefühlt,  wenn  es  überhaupt  so  war, 
gleichgültig  in  allen  sonstigen  Fällen;  in  den  letzten  3 Jahren  aber  fühleich 
ihn  deutlich  passiv  als  Frauenzimmer,  sogar  manchmal  mit  weiblichem  Eja- 
culationsgefühl ; stets  fühle  ich  mich  begattet  und  ermüdet  wie  ein  Weib, 
oft  auch  unwohl  darauf,  wie  es  einem  Manne  niemals  zu  Mute  ist.  Einige 
Male  verursachte  der  Koitus  mir  einen  so  grossen  Genuss,  dass  ich  denselben 
mit  nichts  vergleichen  kann;  es  ist  einfach  das  wonnigste,  gewaltigste  Gefühl 
auf  Erden,  um  welches  alles  geopfert  werden  kann;  in  diesem  Augenblicke 
ist  das  Weib  bloss  Vulva,  welche  die  ganze  Person  verschlungen  hat. 

Das  Gefühl  Weib  zu  sein,  habe  ich  seit  3 Jahren 
keinen  Augenblick  verloren,  es  ist  mir  dieses  jetzt  durch  die 
Gewöhnung  nicht  mehr  so  peinlich,  obgleich  ich  mich  seitdem  minderwertig 
fühle,  denn  sich  Weib  zu  fühlen  ohne  Genussverlangen,  ist  auch  für  einen 
Mann  zum  aushalten;  aber  wenn  Bedürfnisse  kommen!  Dann  hört  die  Ge- 
mütlichkeit aut:  das  Brennen,  die  Wärme,  das  Turgorgefühl  der  Genitalien 
(bei  nicht  erigiertem  Penis,  die  Genitalien  fallen  wie  aus  der  Rolle).  Ein 
bei  starkem  Andrange  auf  tretendes  Gefühl  von  Ansaugen  in  der  Vagina  und 
Vulva  ist  geradezu  schrecklich,  eine  Höllonpein  der  Wollust,  aber  kaum  aus- 
zuhalten. Bin  ich  dann  in  der  Lage,  einen  Koitus  auszuführen,  so  ist  es 
besser ; aber  er  bewirkt  wegen  mangelnder  Empfängnis  keine  vollständige  Be- 
friedigung, das  Gefühl  der  Sterilität  stellt  sich  ein  mit  seinem  ganzen  be- 
schämenden Drucke,  nebst  dem  Gefühle  der  passiven  Begattung,  des  verletzten 
Schamgefühles;  man  kommt  sich  fast  wie  eine  Lustdime  vor.  Der  Verstand 
hilft  nichts  dagegen,  das  Zwangsgefühl  der  Weiblichkeit  be- 
herrscht und  bezwingt  alles.  Wie  schwer  man  in  solchen 
Zeiten  beruflich  arbeitet,  ist  leicht  zu  ermessen;  doch  dazu  kann  man  sich 
zwingen.  Freilich  ist  es  beinahe  nicht  möglich,  zu  sitzen,  zu  gehen,  zu 
liegen,  wenigstens  kann  man  von  diesen  drei  Zuständen  keinen  lange  aus- 
halten, dazu  die  stete  Berührung  der  Hosen  usw..  ist  unausstehlich. 

Die  Ehe  macht  dann,  ausser  dem  Moment  des  Koitus,  wo  der  Mann 
sich  begattet  fühlen  muss,  noch  den  Eindruck  des  Zusammen- 
lebens zweier  Weiber,  von  denen  eines  sich  nur  als  Mann  mas- 
kiert betrachtet.  Bleiben  diese  periodischen  Molimina  einmal  aus.  so  kommen 
die  Gefühle  der  Gravidität  oder  der  sexuellen  Uebersättigung,  die  der  Mann 
sonst  nicht  kennt,  die  aber  den  ganzen  Menschen  geradeso  in  Beschlag 
nehmen  wie  das  Weiblichkeitsgefühl,  nur  dass  sie  spezifisch  widerwärtig  sind, 
sodass  man  gerne  die  regelmässigen  Molimina  wieder  sich  gefallen  lässt.  Wenn 
erotische  Träume  oder  Vorstellungen  kommen,  so  sieht  man  sich  in  der 
Form,  welche  man  als  Weib  hätte,  und  sieht  erigierte  Glieder,  die  sich 


248 


prasentioron ; es  wäre,  da  auch  der  After  weiblich  fühlt,  garnicht  schwer,  zum 
Kinäden  zu  werden,  nur  das  positive  religiöse  Verbot  hindert  daran,  alle 
anderen  Rücksichten  würden  hinfällig  werden. 

Da  solche  Zustände  wohl  jedem  widerwärtig  sein  werden,  so  ist  eine 
Sehnsucht  vorhanden,  geschlechtslos  zu  sein  oder  sich  machen  zu  dürfen. 
Wenn  ich  ledig  wäre,  so  hätte  ich  längst  Hoden  und  Scrotum  samt  Penis 
den  Abschied  gegeben. 

Was  hilft  das  höchste  weibliche  Genussgefühl, 
wenn  man  doch  nicht  konzipiert?  Was  nützen  die  Regungen 
weiblicher  Liebe,  wenn  man  zur  Befriedigung  wieder  eine  Frau  hat?  wenn 
auch  die  Begattung  sie  uns  als  Mann  empfinden  lässt.  Wie  entsetzlich  be- 
schämend ist  die  weibliche  Ausdünstung!  Wie  erniedrigt  den  Mann  das  Ge- 
fühl der  Freude  an  Kleidern  und  Schmuck!  Er  möchte  selbst  in  der  um- 
gewandelten Form,  selbst  wenn  er  des  männlichen  Geschlcchtsgef übles  sich 
nicht  mehr  erinnern  kann,  eben  doch  nicht  als  Weib  fühlen  müssen;  er  weiss 
noch  ganz  gut,  dass  er  früher  nicht  stets  geschlechtlich  fühlte,  dass  er  auch 
ein  blosser  Mensch  war,  unbeeinflusst  vom  Geschlecht!  Jetzt  auf  einmal 
soll  er  stets  seine  bisherige  Individualität  nur  als  Maske  empfinden,  stets 
sich  als  Weib  fühlen,  eine  Abwechslung  nur  haben,  wenn  er  alle  4 Wochen  seine 
periodischen  Beschwerden  und  zwischenhinein  seine  weibliche  nicht  zu  be- 
friedigende Geilheitszeit  hat?  Wenn  er  erwachen  darf,  ohne  sofort  sich  als 
Weib  fühlen  zu  müssen?  Zuletzt  sehnt  er  sich  nach  einem  Augenblick,  wo 
er  seine  Maske  lüften  könnte,  der  Augenblick  kommt  nicht!  Erleichterung  des 
Elendes  kann  er  nur  finden,  wenn  er  ein  .Stück  Weiblichkeit,  Schmuck,  ein 
Unterkleid  usw.  anziehen  kann,  denn  als  Weib  darf  er  ja  doch  nicht  gehen; 
alle  seine  Berufspflichten  mit  dem  Gefühle  einer  als  Herr  kostümierten  Schau- 
spielerin erfüllen  zu  müssen  und  kein  Ende  abzusehen,  ist  keine  Kleinigkeit. 
Die  Religion  allein  schützt  vor  grobem  Lapsus,  hindert  aber  das  Peinliche  nicht, 
wenn  die  Versuchung  an  das  weiblich  fühlende  Individuum  so  herantritt  wie 
an  ein  wirkliches  Weib  und  so  gefühlt  und  durchgemacht  werden  muss! 
Wenn  ein  angesehener  Mann,  der  im  Publikum  ein  seltenes  Vertrauen  ge- 
niesst  und  eine  Autorität  besitzt,  sich  mit  seiner  wenn  auch  imaginären 
Vulva  herumschlagen  muss;  wenn  man  vom  schweren  Tagewerk  herkommt 
und  ist  genötigt,  die  Toilette  der  nächstbesten  Dame  zu  mustern,  mit 
Weiberaugen  zu  kritisieren,  aus  ihrem  Gesichte  ihre  Gedanken  abzulesen, 
wenn  ein  Mode  Journal  (das  hatte  ich  schon  als  Kindl 
das  gleiche  Interesse  einflösst,  wie  ein  wissenschaft- 
liches Werk?  Wenn  man  seinen  Zusland  vor  seiner  Gattin,  deren 
Gedanken  man,  sobald  man  sich  Weib  fühlt,  abliest  vom  Gesichte,  verbergen 
muss,  während  ihr  doch  klar  wird,  dass  man  sich  an  Leib  und  Seele  geändert 
hat?  Die  Qualen,  welche  die  zu  überwindende  weibliche  Weichlichkeit  verur- 
sacht! Es  gelingt  zwar  manchmal,  wenn  man  im  Urlaub 
allein  ist,  einige  Zeit  mehr  als  Frau  zu  leben,  z.  B. 
weibliche  Kleider  usw.,  besonders  bei  der  Nacht  zu  tragen,  die  Handschuhe 
fast  stets  anzubehalten,  einen  Schleier  oder  eine  Maske  im  Zimmer  vorzu- 
nehmen, dass  man  dann  vor  der  übermässigen  Libido  Ruhe  hat,  aber  die  ein- 


249 


mal  eincedruriKene  Weiblichkeit  verlangt  gebieterisch,  dass  sie  anerkannt 
werde ; sie  begnügt  sich  oft  mit  einer  bescheidenen 
Konzession,  des  Umnehmens  eines  Armreifs  hinter  der  Manschette,  z.  B., 
aber  eine  Konzession  in  irgend  einer  Art  verlangt  sie  gebieterisch.  Das 
einzige  Glück  ist  nur  das,  dass  man  sich  ohne  Scham  weiblich  kostümiert 
sehen  kann,  ja,  dass  man,  wenn  das  Gesicht  verschleiert  oder  maskiert  ist, 
sich  lieber  so  sieht  und  sich  natürlich  vorkommt;  man  hat  dann,  wie  jede- 
andere  Modegans,  den  Geschmack  der  laufenden  Mode,  so  sehr  wird  und  ist 
man  umgewandelt!  Bis  man  sich  an  den  Gedanken  gewöhnt  hat,  selbständig 
nur  als  Weib  zu  fühlen  und  die  frühere  Denkweise  gewissermassen  nur  aus- 
der  Erinnerung  zum  Vergleiche  herzuholen,  und  dann  als  Mann  sich  zu 
äussern,  dazu  gehört  lange  Zeit  und  unsägliche  üeberwindung. 

Trotzdem  wird  es  noch  Vorkommen,  dass  man  sich  auf  einer  weiblichen 
Gefühlsäusserung  ertappt,  sei  es  in  sexualibus,  dass  man  sagt:  man  fühlt 
so  und  so,  was  aber  ein  Nichtweib  nicht  wissen  kann,  oder  dass  man  zu- 
fällig verrät,  dass  einem  die  w'eibliche  Kleidung  gang  und  gäbe  ist.  Vor  Frauen 
allein  macht  dies  nichts  aus.  da  sich  eine  Frau  in  erster  Linie  geschmeichelt 
führt,  wenn  man  von  ihren  Sachen  etwas  versteht,  nur  darf  es  nicht  vor  der 
eigenen  Frau  passieren!  Wie  erschrak  ich  einmal,  als  meine  Frau  ihrer 
Freundin  sagte,  dass  ich  für  Damenartikel  einen  sehr  feinen  Geschmack  be- 
sitze! Wie  war  eine  hochmütige  Modedame  überrascht,  als  ich  ihr,  die  im 
Begriffe  war,  ihr  Töchtercheu  ganz  falsch  zu  erziehen,  alle  weiblichen  Ge- 
fühle schriftlich  und  mündlich  darlegte  (ich  log  ihr  zwar  vor,  ich  hätte  mein 
Wissen  aus  Briefen  geschöpft);  aber  ebenso  gross  ist  ihr  Zutrauen  jetzt, 
und  das  Kind,  auf  dem  Wege  verrückt  zu  werden,  ist  vernünftig  geblieben 
und  ist  fröhlich.  Es  hatte  nämlich  alle  Regungen  der  Weiblichkeit  als 
Sünden  gebeichtet,  jetzt  weiss  es,  was  es  als  Mädchen  ertragen  und  durch 
Willen  und  Religion  beherrschen  muss,  und  fühlt  sich  als  Mensch.  Die 
beiden  Damen  würden  herzlich  lachen,  wenn  sie  wüssten,  dass  ich  nur  aus- 
eigener,  trauriger  Erfahrung  geschöpft  habe.  Beifügen  muss  ich  noch,  dass 
ich  seither  ein  viel  feineres  Temperaturgefühl  habe,  dazu  aber  noch  ein  mir 
vorher  unbekanntes  Gefühl  für  die  Elastizität  der  Haut,  für  Spannung  der 
Gedärme  bei  Patienten,  dass  aber  bei  Operationen  und  Sektionen  feindliche 
Flüssigkeiten  meine  (unverletzte)  Haut  leichter  durchdringen.  Jede  Sektion 
macht  mir  Schmerzen,  jede  Elntersuchung  einer  Dime  oder  einer  Frau  mit 
Fluor,  Krebsgeruch  und  dergl.  berührt  mich  geradezu  peinlich.  Ueberhaupt 
stehe  ich  jetzt  stark  unter  dem  Einflüsse  von  Antipathie  und  Sympathie, 
vom  Farbensinne  an  bis  zur  Beurteilung  einer  ganzen  Person.  Frauen  sehen 
einander  die  sexuelle  derzeitige  Stimmung  gewöhiüich  an,  deshalb  trägt  eine 
Dame  den  Sclüeier,  wenn  sie  ihn  auch  nicht  stets  vornimmt  und  parfümiert 
sich  gewöhnlich,  wenn  es  auch  nur  Taschentuch  oder  Handschuhe  sind,  denn 
ihre  Geruchsempfindung  ihrem  Geschlecht  gegenüber  ist  enorm;  überhaupt 
wirken  Gerüche  auf  einen  weiblichen  Organismus  ganz  unglaublich  ein;  so 
zum  Beispiel  benihigt  mich  Veilchen  und  Rose,  andere  Gerüche  ekeln  mich 
an,  mit  Ylang  könnte  ich  es  vor  geschlechtlicher  Erregtheit  nicht  aushalten- 
Berührung  einer  Frau  erscheint  mir  homogen,  Koitus  mit  meiner 


250 


Frau  erscheint  mir  dadurch  möglich,  dass  sie  etwas 
männlicher  ist,  eine  feste  Haut  besitzt  und  doch  ist 
es  mehr  ein  Amor  lesbicus. 

Zudem  fühle  ich  mich  stets  passiv.  Wenn  ich  oft  nachts  vor  Auf- 
regung nicht  schlafen  kann,  geht  cs  endlich,  si  femora  mea  distensa  habeo, 
sicut  mulier  cum  viro  concumbens,  oder  auf  eine  Seite  mich  lege,  nur  darf 
dann  kein  Arm  oder  kein  Bettstück  die  Mamma  berühren,  sonst  ist  es  mit 
dem  Schlafe  wieder  aus;  auch  der  Rauch  will  nicht  gedrückt  sein.  In 
Frauen  hemd  und  Bettjacke  schlafe  ich  am  besten, 
und  dann  noch  mit  Handschuhen,  denn  es  friert  mich  leicht  an 
den  Händen:  in  weiblichen  Unterhosen  und  Unterröcken  behagt  es  mir  auch, 
weil  sie  die  Genitalien  nicht  berühren.  Am  liebsten  waren  mir  Frauenkleider  zur 
K r i n 0 1 i n e n z e i t.  F r a u e n k 1 e i d e r genieren  den  weiblich 
fühlenden  Menschen  nicht,  da  er  sie,  wie  jedes. Weib, 
als  zu  seiner  Person  gehörend  fühlt,  nicht  als  fremde 
Gegenstände. 

Mein  liebster  Verkehr  ist  eine  an  Neurasthenie  leidende  Dame,  welche 
seit  dem  letzten  Wochenbette  männlich  fühlt,  sich  aber,  seit  ich  ihr  (fiese 
Gefühle  gedeutet  habe,  so  gut  als  möglich  darein  schickt,  coitu  abstinet, 
was  ich  als  Mann  eben  nicht  tun  darf;  diese  hilft  mir  durch  ihr  Beispiel 
meinen  Zustand  tragen.  Sie  hat  die  Frauengefühle  noch  klarer  in  Erinnerung 
und  hat  mir  schon  manchen  guten  Rat  gegeben.  Wäre  sie  ein  Mann  und  ich 
ein  junges  Mädchen,  diese  würde  ich  zu  erwerben  suchen,  von  dieser  würde 
ich  mir  des  Weibes  Schicksal  gefallen  lassen.  Aber  ihre  jetzige  Photographie 
ist  ganz  anders  als  die  früheren;  sie  ist  ein  höchst  elegant  kostümierter 
Herr  trotz  Blusen  usw.  und  Frisur;  sie  spricht  aber  auch  kurz  und  bündig 
und  hat  an  allem,  was  mir  Spass  macht,  keine  Freude  mehr;  sie  hat  eine 
Art  von  Weltschmerz,  trägt  aber  ihr  Schicksal  mit  Ergebung  und  Würde, 
findet  ihren  Trost  nur  in  Religion  und  Pflichterfüllung,  geht  zur  Zeit  der 
Menses  fast  zugrunde;  sie  liebt  Frauengescllschaft  und  Frauengespräche  nicht 
mehr,  ebenso  keine  Süssigkeiten. 

Ein  Jugendfreund  fühlt  seit  erster  Zeit  des  Lebens  nur  als  Mädchen, 
hat  aber  Zuneigung  zum  männlichen  Geschlechte:  seine  Schwester  hatte  es 
umgekehrt,  und  als  der  Uterus  doch  sein  Recht  verlangte  und  sie  sich  als 
liebendes  Weib  sah,  trotz  ihrer  .Männlichkeit,  machte  sie  es  kurz  und  ent- 
leibte sich  durch  Ertränken. 

Was  ich  als  Hauptveränderungen  an  mir  seit  der  vollständigen  Efte- 
minatio  beobachtet,  ist:  1.  das  stete  Gefühl,  Weib  zu  sein  vom  Scheitel  bis 
zur  Zehe,  2.  das  stete  Gefühl,  weibliche  Genitalien  zu  besitzen,  3.  die 
Periodizität  der  vierwöchentlichon  Molimina.  4.  regelmässig  eintretende  weib- 
liche Begehrlichkeit,  aber  ohne  Lust  zu  einem  bestimmten  Mann,  5.  beim 
Koitus  weibliches  passives  Gefühl,  6.  nachher  das  Gefühl  der  futuierten 
Partei,  7.  bei  Bildern  von  Koitus  das  weibliche  Gefühl,  8.  beim  Anblick  von 
Frauenzimmern  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  und  das  weibliche  Inter- 
esse daran,  9.  beim  Anblick  von  Herren  das  weibliche  Interesse  daran, 
10.  beim  Anblick  von  Kindern  dasselbe,  11.  das  veränderte  Gemüt,  die  viel 


251 


grössere  Geduld,  12.  die  endlich  gelungene  Ergebung  in  mein  Schicksal,  was 
ich  zwar  nur  der  positiven  Religion  verdanke,  sonst  liätte  ich  mich  hingst 
entleibt.“ 

Aus  dem  Begleitbrief  des  Patienten,  in  dem  er  Krafft- 
Ebing  für  seine  Schriften  dankt,  nach  deren  Lektüre  er,  der 
„seine  Standespflichten  als  Arzt,  Bürger,  Vater  und  Ehe- 
mann erfüllt,  sich  doch  wieder  zu  den  Menschen  rechnen 
kann“,  sei  noch  folgender  Passus  erwähnt: 

„Endlich  wollte  ich  auch  Euer  Wohlgeboren  das  Resultat 
meiner  Erinnerung  und  meines  Nachdenkens  deshalb  vorlegen, 
um  zu  beweisen,  dass  man  auch  mit  weiblichem  Fühlen  und 
Denken  Arzt  sein  kann;  ich  halte  es  für  ein  grosses  Unrecht, 
dem  Weibe  die  Medizin  zu  verschliessen ; ein  Weib  kommt 
manchem  Uebel  durch  das  Gefühl  auf  die  Spur,  wo  der  Mann 
trotz  der  Diagnostik  im  Finstern  tappt.  Jedenfalls  bei  Frauen- 
und  Kinderkrankheiten.  Wenn  ich  es  machen  könnte,  so 
müsste  Jeder  Arzt  ein  Vierteljahr  lang  die  W^eiblichkeit 
durchmachen,  er  hätte  dann  mehr  Verständnis  und  mehr 
Achtung  für  die  Seite  der  Menschheit,  won  welcher  er  ab- 
stammt, und  wüsste  dann  die  Seelengrösse  der  Frauen  zu 
schätzen,  andererseits  auch  die  Härte  ihres  Schicksals.“ 

Gemeinsam  mit  unseren  Hauptfällen  ist  diesem  Fall 
die  schon  sehr  früh  auftretende  ausserordentliche  Vorliebe  für 
Av eibliche  Kleidungsstücke,  vom  12.  Jahre  ab  der  W^imsch 
„lieber  ein  Frauenzimmer  sein  zu  wollen“,  der  immer  stärker 
werdende  Trieb,  als  solches  zu  leben,  der  auch  einige  Male 
in  die  Tat  umgesetzt  wird;  dabei  ausgesprochene  Hetero- 
sexualität; nur  als  Jüngling  verliebt  er  sich  einmal  in  einen 
„bildschönen  Freund  mit  Mädchengesicht“,  hat  aber  schon  da 
den  charakteristischen  Wunsch,  sie  möchten  beide  Mädchen 
sein.  Als  er  sich  mit  seiner  späteren  Frau,  „einer  energischen 
Dame  aus  einer  Familie,  wo  Weiberherrschaft  blüht“  ver- 
lobt, hängt  er  an  seiner  Braut  „mit  aller  weiblichen  Tiefe, 
wie  an  einem  Bräutigam.“  Aus  ihrer  im  ganzen  glücklichen 
Ehe,  die  ihm  aber  wie  das  Zusammenleben  zweier  Weiber 
vorkommt,  gehen  fünf  Knaben  hervor. 

Abweichend  von  unseren  Fällen  ist,  dass  er  sich  schliess- 
lich auch  körperlich  als  Weib  fühl  t.  Die  ersten  Anzeichen 


252 


davon  traten  bei  dem  schwer  neurasthenischen  Patienten  im 
Anschluss  an  eine  ernste  Tlaschisclivergiftung  auf.  Seitdem 
fühlt  er  sich  alle  4 Wochen  5 Tage  unwohl“,  auch  in  der 
Zwischenzeit  hat  er  weibliche  Sensationen,  so  berührt  das 
Oberhemde  die  geschwollenen  Brustwarzen  schmerzhaft;  Becken 
und  Taille  empfindet  er  weiblich,  ebenso  den  Bauch,  „welcher 
keine  Hose  will.“  Die  Beweglichkeit  der  Hoden  stört  ihn, 
da  sie  doch  eigentlich  in  den- Bauch  gehören  und  festsitzen 
sollten  usw. 

Trotz  dieser  schon  wahnhaft  gefärbten  Ge- 
danken rubriziert  Krafft-Ebing  den  Fall  nicht  unter  Para- 
noia, w'eil  „sein  Ich  imstande  ist,  die  Herrschaft  gegenüber 
diesen  seelisch-körperlichen  krankhaften  Vorgängen'  zu  be- 
haupten,“ betrachtet  ihn  vielmehr  als  „ein  denkwür- 
diges Beispiel  von  Zwangsempfindungen 
und  Zw'angs  Vorstellungen  auf  der  Basis 
neurotischer  Belastung“. 


Verkleidungstrieb  und  Zwangsvorstellung. 

Fassen  wir  noch  einmal,  ehe  wir  nun  unsere  Fälle  rubri- 
zieren, das  bisher  gefundene  ganz  kurz  zusammen,  so  sahen 
wir,  dass  die  Transvestiten  sich  von  den  Monosexu- 
ellen dadurch  unterscheiden,  dass  sie  über  sich  selbst  hin- 
aus zu  einer  zweiten  Person  sich  hingezogen  fühlen,  von 
der  Homosexuellen  dadurch,  dass  diese  Person  dem 
anderen  Geschlecht  angehört,  von  den  Fetischisten 
dadurch,  dass  sie  die  Kleidung  nicht  so  sehr  an  der  zweiten 
Person  oder  isoliert  wie  an  sich  selbst  lieben,  um 
sich  durch  sie  möglichst  das  Aussehen  des  anderen  Ge- 
schlechts zu  geben,  von  den  Masochisten  dadurch, 
dass  ihre  passivistischen  Gedanken  und  Wünsche  zumeist 
nicht  stärker  sind,  wie  es  ihre  Weiberrolle  erfordert, 
von  den  Paranoikern  endlich  dadurch,  dass  sie  genau 
wissen,  dass  sie  dem  anderen  Geschlecht  nicht  ange- 
hören, so  sehr  sie  sich  auch  das  Ansehen  dieses  Geschlechts 
zu  geben  wmnschen. 


253 


Am  nächsten  steht  der  Verkleidungstrieb  der  grossen 
Gruppe  von  Erscheinungen,  welche  in  der  modernen  Psy- 
chiatrie als  Zwangszustände  beschrieben  sind.  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  dem  seltsamen  Drang  wo- 
möglich bis  in  die  kleinsten  Kleinigkeiten  die  Gestalt  des 
anderen  Geschlechts  anzunehmen  ein  ähnlich  obsedieren- 
d e r Charakter  innewohnt,  wie  etwa  dem  pathologischen 
Wandertrieb  (Dromomanie),  der  Sammelwut,  Spielwut,  Kauf- 
sucht, der  Dipsomanie,  Pyromanie,  Kleptomanie  und  ähn- 
lichen abgesehen  von  der  Art  des  Impulses  untereinander 
im  übrigen  sehr  verschiedenen  Erscheinungen.  Es  handelt  sich 
im-  Sinne  der  bekannten  Formulierung  Westphals*)  um  ein 
psychisches  Element,  das  sich  bei  intakter  Intelligenz  und 
Einsicht  in  den  Vordergrund  des  Bewusstseins  drängt,  sich 
trotz  Gegenstrebens  nicht  aus  dem  Geist  des  Individuums 
verscheuchen  lässt,  und  den  normalen  Ablauf  der  Vorstellungen 
durchkreuzt.  Lassen  wir  zunächst  einmal  die  Frage  offen, 
ob  und  inwieweit  die  V o r n a h m e der  Handlung,  in  unserem 
Fall  die  der  Verkleidung,  zwangsweise  bedingt  ist,  (die 
Stärke  des  Triebes  und  die  Stärke  des  Willens  sind  vor  allem 
dabei  in  Betracht  zu  ziehen),  so  geht  ihr  doch  jedenfalls 
ein  Zwangstrieb,  eine  Zwangs  sucht  voraus,  die  der  nor- 
malen Verdrängbarkeit  durch  Willenseinflüsse  ermangelt  und 
ihrerseits  in  Zwangsempfindungen  und  Zwangsvorstellungen 
basiert.  Auch  die  von  den  französischen  Autoren,  in  erster  Reihe 
von  Magnan**)  auf  gestellten  Kriterien  der  den  Zwangs- 
zuständen analogen  „Obsessions“,  zunächst  „Impulsion“,  der 
als  Zwang  empfundene  Trieb,  dann  „Irresistibilite“,  die  ver- 
hältnismässige Unwiderstehlichkeit,  die  aber  dabei  doch  vor- 
handene: „Lucidite“-Einsicht,  ferner  die  „Angoisse  concom- 

mitante“,  ein  von  dem  Zwang  hervorgerufener  Druck,  eine 
gewisse  Unruhe  und  Angst,  endlich  die  ..satisfaction  conse- 
cutive“,  das  Gefühl  der  Erleichterung  und  Beruhigung  nach 

*)  Weslphal:  Ueber  Zwangsvorstellungen.  Berliner  klinische  Wochen- 
schrift 1877.  Nr.  46,  nach  einem  in  der  Berliner  medizinisch-psychologischen 
Gesellschaft  gehaltenen  Vorträge. 

**)  Magnan:  Ps\-chiatrische  Vorlesungen  1884—87,  deutsch  von  Möbius. 
Leipzig  1892. 


254 


„vollbraciiter  Tat“,  der  ^Befriedigung“  des  Triebes,  alle  diese 
Symptome  treffen  auf  den  Transvestitismus  zu. 

Nun  bin  ich  zwar  mit  Warda*)  der  Meinung,  dass 
der  Ausdruck  psychische  Zwangszustände  — und  für  das 
französische  „obsessions“  gilt  das  in  noch  weit  höherem  Masse 
— allmählich  zu  einem  „hindernden  Schlagwort“  geworden  ist; 
einmal  werden  allzu  verschiedenartige  Krankheitsbilder  darunter 
gefasst,  oft  solche,  die  sich  sehr  schwer  von  dem  abgrenzen 
lassen,  was  wir  als  Begleiterscheinungen  der  Hypochondrie, 
Hysterie,  der  Neurosen,  der  ^lelancholie,  des  degenerativen 
Irreseins,  der  sexuellen  und  anderen  Anomalien  kennen,  vor 
allem  ist  die  Bezeichnung**)  „Zwangserscheinung“  eine  viel 

*)  Warda:  Ueber  Zwangsvorstellungspsychosen.  Monatsschrift  für 

Psychiatrie  und  Neurologie.  Bd.  12,  Heft  1,  1902. 

•^*)  Der  Ausdruck:  Zwangsvorstellung  wurde  zuerst  von 

Krafft-Ebing  in  der  kleinen  Schrift  vom  J.  1867  gebraucht,  die  den 
Titel  führt:  Beiträge  zur  Erkennung  und  wichtigen  forensischen  Beurteilung 
krankhafter  Gemütszustände  für  Aerzte,  Kichter  und- Verteidiger.“  Erlangen 
bei  Enke.  Eine  genauere  Di;finition  dessen,  was  er  darunter  verstanden  wissen 
möchte,  gibt  er  1883  in  der  Arbeit:  „Ueber  Zwangsvorstellungen“  (er- 
schienen in  den  Mitteilungen  des  Vereins  der  Aerzte  in  Steiermark.  1.— 4. 
Heft,  pag.  59)  mit  folgenden  Worten:  „Eine  formale  Störung  des  Vorstellungs- 
ablauts, charakterisiert  dadurch,  da.ss  irgend  eine  konkrete,  vielfach  inhaltlich 
garnicht  widersinnige  Vorstellung  mit  krankhafter  Intensität  und  Dauer  im 
Bewusstsein  fixiert  bleibt,  wobei  sich  aber  der  Betreffende  im  Gegensatz  zur 
Wahnidee  des  Krankhaften  des  Vorgangs,  speziell  auch  in  Bezug  auf  den 
Inhalt  der  Vorstellung  bewusst  ist.“  Es  wäre  m.  Er.  besser  gewesen,  wenn 
anstatt  des  Zwangsmässigen  mehr  das  Absonderliche,  Fremdartige,  Bizarre 
im  „Inhalt  der  Vorstellung“  einer  Bezeichnung  zugrunde  gelegt  worden  wäre. 
Das  Zutreffende,  aber  auch  das  Unzureichende  des  „Zwangsbegriffs“  er- 
hellt aus  der  grossen  Fülle  der  Ausdrücke,  die  sich  an  Krafft-Ebings  Wort 
angeschlossen  haben.  So  finden  wir  in  der  Zwangs-Literatur  ausser  den 
oben  gebrauchten  u.  a.  folgende  Namen  für  einzelne  „Zwangsphänomene“, 
„Zwangssymptome“  und  „Zwangseigenschaften“  aus  dem  „Zwangsgebiet“; 
Zwangsdenken,  Zwangshandlungen,  Zwangsstimmungen,  Zwangsaffekte,  Zw’angs- 
gefühle,  Zwangsimpulse  (Pleonasmus),  Zwangsbewegungen,  Zwangsbewegungs- 
vorstellungen.  Zwangsassoziationen,  Zwangshemmungen,  Zwangsunter- 
lassungen, Zwangseinflüsse,  Zwangsnrsachen,  Zw’angstendenzen,  Zwangser- 
innerungen, Zwangsangst,  Zwangsskrupel,  Zw'angshalluzinationen,  Zwangs- 
befürchtungen, Zwangsbeachtungen,  Zwangszweifel,  Zwangsakte  usw,,  auch 
Zwangsneurose,  Zwangspsychoncurose  u.  s,  f. 


255 


zu  allgemeine,  nachdem  wir  mehr  und  mehr  kennen  gelernt 
haben,  dass  doch  auch  innerhalb  der  Breite  der  Gesundheit 
die  Freiheit  und  Ungezwungenheit  unserer  Empfindungen, 
Vorstellungen  und  Handlungen  grossen  Beschränkungen  unter- 
liegt. Das  gilt  ganz  besonders  auch  von  der  „Zwangsliebe‘% 
gegen  deren  Aufstellung  sich  bereits  L.  Löwenfeld  in  seinem 
ausgezeichneten  Werk:  „Die  psychischen  Zwangserscheinungen“ 
(bei  Bergmann,  Wiesbaden  1904)  wandte.  Laurent  hatte  in 
seiner  „l’amour  morbide“  ausgeführt,  dass  eine  Liebesleiden- 
schaft  „welche  weder  Mass  noch  Zügel  kennt  und  den 
Menschen  zum  Narren  mache“  als  „une  veritable  Obsession“  zu 
erachten  sei,  die  gleich  anderen  Zwangserscheinungen  zu  den 
Syndromen  der  psychopathischen  Entartung  (degenerescence) 
zähle;  er  sagt  wohl  mit  Bezug  auf  Magnans  Definition  wört- 
lich: „Ne  s’accompagne-t-il  pas  de  cette  irresistibilite  carac- 
teristique  et  en  quelque  Sorte  fatale,  de  cette  angoisse 
concommitante  et  penible,  de  cette  conscience  complete  de  l’etat 
et  enfin  de  cette  satisfaction  consecutive  ä l’acte  accompli,  en 
un  mot  de  tous  les  symptömes  caracteristiques 
de  Fob  Session“.  Demgegenüber  bemerkt  nun  Löwenfeld 
ganz  mit  Recht  , dass  auch  in  der  normalen  oder  phy- 
siologischen Liebe  etwas  von  einem  Zwangszustande  stecke, 
dass  die  Kriterien  der  Obsession  für  sie  in  gewissem  Masse 
ebenso  zutreffen,  wie  für  die  krankhafte  Liebe,  dass  jeden- 
falls die  Grenze  zwischen  pathologischer  und  physiologischer 
Liebe  vom  Standtpunkt  des  Zwangsmässigen  nie  scharf  gezogea 
werden  könne.  Er  zitiert  jenen  berühmten  Vers,  welcher 
das  Ungewollte  der  Liebe  so  deutlich  zur  Darstellung  bringt^ 
den  Vers: 

Ich  liebe  Dich,  weil  ich  Dich  lieben  muss, 

Ich  liebe  Dich,  weil  ich  nicht  anders  kann, 

Ich  liebe  Dich  durch  einen  Schicksalsschluss, 

Ich  liebe  Dich  durch  einen  Zauberbann. 

Wenn  dann  aber  Löwenfeld  selbst  fortfährt,  dass  wir  nur 
dann  die  von  Laurent  gemeinten  Zustände  mit  Sicherheit 
als  pathologische  ansprechen  können,  wenn  erstens  ein  ausser- 
gewöhnliches  Missverhältnis  zwischen  der  Grösse  der  Neigung 


25G 


und  der  Qualität  des  auslösenden  Objekts  besteht,  zweitens 
der  Affekt  durch  irgendwelche  veriiunftgemässe  Vorstellung 
gänzlich  und  andauernd  unbeoinflussbar  ist,  drittens  das 
geistige  Lehen  vollständig  durch  den  Affekt  beherrscht  wird 
und  viertens  „unter  Uinstätiden  auch  Krankheitseinsichf  vor- 
handen ist,  so  scheint  mir  dies  mit  dem.  was  der  Autor 
selbst  kurz  vorher  auseinanderlegt  in  einem  gewissen  "Wider- 
spruch zu  stehen.  Denn  alle  diese  Postulate  finden  sich  doch 
in  heftigen  Liebesleidenschaften  sowohl  bei  Männern  als  auch 
ganz  besonders  bei  Frauen  ausserordentlich  häufig,  ohne  dass 
wir  deshalb  ihre  Neigung  unter  Berücksichtigung  der  so  un- 
endlichen Mannigfaltigkeit  des  normalen  Liebeslebens  in  jeg- 
licher Hinsicht  für  pathologisch  erklären  brauchen.  Wie  oft 
kommt  es  nicht  vor,  dass  ein  Liebender  selbst  einsieht, 
dass  das  Objekt  weder  seiner  Persönlichkeit  noch  seiner  starken 
Liebe  wert  ist,  — man  erinnere  sich  des  alten  Sprich w'orts: 
„Liebe  macht  blind“  — alle  Vernunftgründe  nützen  nichts 
(erstes  und  zweites  Postulat);  sein  ganzes  geistiges  Leben 
ist  von  seiner  Leidenschaft  beherrscht  und  erfüllt  und  er 
sagt  sich  selbst,  dass  dieser  quälenden  Sehnsucht  und  Eifer- 
sucht ein  krankheitsartiger  Charakter  eigen  ist  (drittes  und 
viertes  Postulat)  — das  alles  liegt  doch  nun  einmal  im 
Wesen  einer  starken  Liebe  an  und  für  sich  und  invol- 
viert noch  nicht  den  Begriff  des  Pathologischen. 

Viele  Autoren  betrachten  als  die  Voraussetzung  einer 
gesunden  „natürlichen  physiologischen“  Liebe,  dass  sie  „im 
Dienst  der  Fortpflanzung  und  Arterhaltung“  steht.  Diese 
Anschauung  beruht  auf  der  so  oft  irrtümlichen  Gleichsetzung 
von  Folge  und  Zweck.  Inwieweit  hier  ein  Trugschluss 
vorliegt,  habe  ich  in  meinem  Buch  „Der  urnische  ^Mensch“*) 
eingehend  erörtert.  Es  ist  keineswegs  erwiesen,  dass  die  Liebe 
nur  ein  Mittel  zum  Zweck  ist,  es  ist  ebenso  wohl  denkbar, 
dass  Liebe  Selbstzweck  ist,  indem  sie  zunächst  der  Selbst - 
erhaltung  dadurch  dient,  dass  sie  die  Menschen  an  das  Leben 
fesselt,  welches  ohne  die  bewusste  und  unbewusste  erotische  An- 
ziehung wesentlich  an  Wert  verlieren,  weil  inhaltsloser, 

*)  loco  dtato  pag.  150—158. 


257 


schaler  und  gleichgültiger  sein  würde.  Ist  aber  die  Liebe 
namentlich  auch  in  iliren  leichteren  Stadien  ein  so  be- 
deutsames Lebenselement  an  und  für  sich,  dann  sind  wir  be- 
rechtigt, die  Grenzen  der  krankhaften  Liebe  enger  und  der 
sexuellen  Varietäten  wesentlich  weiter  zu  ziehen,  als  dies 
gewöhnlich  geschieht.  Wäre  andererseits  die  Fortpflanzungs- 
möglichkeit  der  Hauptfaktor,  dann  wmrden  beispielsweise  die 
hier  geschilderten  Fälle,  deren  Liebesieben  doch  so  viel  ab- 
sonderliches und  zwangsmässiges  aufweist,  als  physiologisch 
zu  erachten  sein,  da  die  Betreffenden  sich  ja,  wie  wir  sahen, 
zum  anderen  Geschlecht  hingezogen  fühlen  und  zumeist 
völlig  zeugungsfähig  sind.  Man  sollte  bei  der  Entscheidung 
dessen,  was  im  Geschlechtsleben  als  pathologisch,  was  als 
sexuelle  Varietät  zu  gelten  hat,  nicht  sowohl  den  inneren 
Zwang,  noch  die  Voraussetzung  der  Arterhaltung  noch  auch 
die  verhältnismässige  Seltenheit  und  Seltsamkeit  der  Erscheinung, 
als  vielmehr  vor  allem  die  Verletzung  der  Geschlechtsreife  und 
Geschlechtsfreiheit  als  der  w'esent  liebsten  Vorbedin- 
gungen gesunder  Sexualität  in  Betracht  ziehen. 

Keineswegs  dürfen  wdr  uns  aber  bei  der  Betrachtung 
einer  sexuellen  Anomalie,  gleichviel  ob  sie  pathologisch  ist 
oder  nicht,  mit  der  höchst  einfachen  Feststellung  begnügen, 
sie  gehöre  zu  den  Zw'angserscheinungen  oder  „in  das  Gebiet 
des  impulsiven  Irreseins“,  sondern  wir  müssen  vor  allen 
Dingen  ihren  Entstehungsmechanismus,  ihre 
Wurzeln  aufzufinden  suchen,  uns  bemühen,  die  unterbe- 
wussten psychischen  Elemente  zu  ermitteln,  auf  denen  sie 
beruht;  was  determinierte,  wms  fixierte  den  eigenartigen  Trieb? 
durch  welche  Associationsreihen  ging  er  hindurch,  bevor  er 
uns  manifest  vor  Augen  trat?  Auf  die  Notwendigkeit  solcher 
Fragestellung  hingewiesen  zu  haben,  ist  das  noch  lange  nicht 
genug  gewürdigte  und  beachtete  Verdienst  Freuds. 


Die  Kleidung  als  Ausdrucksform 
seelischer  Zustände. 

Die  äussere  Erscheinung,  wmlche  wir  in  unseren  Fällen 
nach  innen  zurückzuverfolgen  haben,  ist  die  Verkleidung  einer 

H i r s c h f 0 1 d , Die  Transvestiten.  17 


männlichen  in  eine  weibliche,  einer  weiblichen  in  eine  männ- 
liche Person.  Hier  tritt  uns  sogleich  ein  gewichtiges  Moment 
entgegen,  das  diese  Anomalie  von  vielen  anderen  auf  sexuellem 
Gebiet  unterscheidet.  Der  abweichende  Trieb  erstreckt  sich 
nicht  sowohl  auf  eine  besondere  Beschaffenheit  des  Partners, 
das  Sexualobjekt,  als  vielmehr  auf  das  Sexualsubjekt,  ein  in 
bestimmter  Weise  gewünschtes  Aussehen  der  eigenen  Persön- 
lichkeit. Und  zwar  soll  diese  nicht  nur  in  dem  sichtbaren 
Oberkleid,  sondern  auch  im  Untergewand,  sowie  in  allem 
sonstigen  Zubehör  des  Anzugs,  einschliesslich  der  Haartracht, 
dem  anderen  Geschlecht  gleichen  und  sich  womöglich  auch 
der  Gebrauchsgegenstände  und  Lebensgewohnheiten  bedienen, 
wie  sie  diesem  zukömmlich  sind. 

Bereits  im  Beginn  des  anahTischen  Teils  dieser  Arbeit 
(Seite  159)  wies  ich  unter  Berufung  auf  Thomas  Carlyle, 
Robert  Sommer  und  Fritz  Rumpf  kurz  darauf  hin,  dass  wir 
hier  nicht  die  Kleider  als  ein  zufälliges,  launenhaftes  Etwms, 
als  leblose  Gewebe  anzusehen  haben,  sondern  als  sinnfällige 
beabsichtigte  Zeichen  eines  inneren  Strebens.  Das  ist  das 
Kleid  nicht  etwa  nur  in  diesen  besonderen  Fällen,  sondern 
ganz  im  allgemeinen  in  ungleich  höherem  Masse  als  gewöhn- 
lich geglaubt  ward.  Mit  Recht  bezeichnet  Rumpf*)  die  Tracht 
als  „ein  Merkmal  und  einen  zuverlässigen  Ausdruck  irgend- 
welcher Entwicklungsvorgänge,  die  auf  anderem  Wege  viel- 
leicht schwer  oder  garnicht  zu  verfolgen  sind“  und  am  Ende 
seines  geistvollen  Werkes:  „Naturgeschichte  der  Kleidung“  ruft 
Emanuel  Hermann**)  nicht  minder  treffend  aus:  „Die  Klei- 
dung ist  die  unbewusste  Sprache  der  Geister  und  drückt  sich 
umso  deutlicher  aus,  je  mehr  der  Mund  zum  Schweigen  ver- 
urteilt ist.“  Vorher  hat  er  an  vielen  Beispielen  gezeigt,  wie 
sich  „die  Persönlichkeit  mit  ihrer  origi- 
nalen Denk-und  Gefühlsweise,  ihrem  Charakter 
imd  ihrer  Lebensrichtung“  in  ihrer  Kleidung  widerspiegelt. 
Auch  Friedrich  Kleinwächter  vertritt  in  dem  schönen  Auf- 
satz: „zur  Philosophie  der  Mode“,  der  1880  in  Franz  von 

•)  loco  cit.  pag.  319. 

••)  Wien  1S78  bei  R.  v.  Waldheim,  S.  368  u.  314. 


259 


Holtzendorffs  „Deutschen  Zeit-  und  Streitfragen“*)  erschien, 
die  gleiche  Aiiffassung.  Er  sagt:  „Das  Kleid  soll 

irgend  etwas  andeuten  und  diese  seine  symbo- 
lische Deutung  wiirzelt  so  tief,  dass  sie  so  paradox 
es  klingen  mag  — zur  Erscheinung  gelangt,  ehe  der  Mensch 
überhaupt  noch  daran  denkt,  Kleider  zu  tragen.  Die  Zeich- 
nung, die  der  Wilde  mittels  der  Tätowierung  auf  seiner 
eigenen  Haut  ausführt,  ist  nichts  weiter  als  ein  Ausfluss 
dieses  dem  Menschen  innewohnenden  Triebes  zu  symbolisieren.“ 
Ich  könnte  noch  manchen  ähnlichen  Ausspruch  anführen,  denn 
seit  Carlyle  1831  darüber  klagte,  dass  „bisher  kaum  etwas 
von  grundlegender  Bedeutung  sei  es  vom  Standpunkt  des 
Philosophen  oder  von  dem  des  Geschichtsschreibers  über  die 
Kleider  geschrieben  sei“  ist  von  dieser  Seite  manche  wert- 
volle Abhandlung  über  den  Gegenstand  veröffentlicht;  wie 
übrigens  im  Deutschen  auch  schon  vorher  einige  vorzügliche 
Werke,  die  der  englische  Autor  offenbar  nicht  kannte,  exi- 
stierten, so  namentlich  das  mehrbändige  Werk  von  Robert 
von  S p a 1 a r t**)  aus  dem  Jahre  1796  und  die  noch  frühere 
fleissige  Arbeit  K 1 e 1 1 e n s.***)  Vom  psychologisch-natur- 
wissenschaftlichen Gesichtspunkte  liegt  abgesehen  von  der 
mehrfach  erwähnten  auch  mehr  deskriptiven  Arbeit  Rumpfs 
(1905)  nichts  vor,  was  dem  grossen  weitschichtigen  Problem 
der  menschlichen  Bekleidung  auch  nur  halbwegs  gerecht 
würde.  Und  wie  unendlich  viel  Hesse  sich  über  die  Psy- 
chologie der  Kleidung  in  individueller  und  histo- 
rischer Hinsicht,  namentlich  unter  Berücksichtigung  der  mo- 
dernen Psychoanalyse  sagen.  Wie  viel  Stimmungen  drücken 

*)  Flugschriften  zur  Kenntnis  der  Gegenwart.  Heft  129.  Jahrgang  IX. 
Berlin  S.W.  bei  Habel. 

••)  R.  V.  Spalart;  Versuch  über  das  Kostüm  der  vorzüglichsten  Völker 
des  Altertums,  des  Mittelalters  und  der  neueren  Zeiten,  nach  den  be- 
währtesten Schriftstellern  bearbeitet,  auf  eigene  Kosten  herausgegeben  von 
Ignatz  Albrecht.  Wien,  in  der  Joseph  Ederischen  Buchhandlung  1796  u.  ff. 
Jahre. 

***)  Dr.  Georg  Ernst  Kletten:  Versuch  einer  Geschichte  des  Verschöne- 
rungstriebcs  im  weiblichen  Geschlechte  usw.  Gotha  bei  Carl  Wilhelm 
Ettinger  1792. 


17' 


■26ü 


allein  die  Farben  der  Stolle  aus,  vom  hellen  Feiertagskleid, 
dem  festlichen  weiss  und  freudigen  rot  bis  zum  bescheidenen 
blau  und  ernsten  trauervollen  schwarz. ' Balzac  behauptet 
sogar,  dass  sich  Temperament  und  Charakter  der  Frau  zum 
grossen  Teil  aus  der  Farbe  ihrer  Kleider  lesen  Hesse,  er 
meint,  dass  beispielsweise  eigensinnige  Frauen  unbewusst 
grüne  Farben  wählten,  wirklich  schöne  blau  bevorzugten, 
zur  Melancholie  neigende  für  grau  und  Frauen,  die  einmal 
schön  waren,  aber  fühlten,  dass  sie  es  nicht  mehr  sind,  für 
lila  eine  Vorliebe  hätten.  Der  nackte  Mensch  verrät  uns  fast 
nichts  von  seiner  Gesinnung,  seiner  Würde  und  Bildung; 
aber  sein  Kleid  spricht:  ich  bin  ein  Fürst  oder  ein  Bettler, 
ein  Richter  oder  Sträfling,  ein  Priester  oder  Jägersmann.  Da 
gibt  es  Stammestrachten  und  Standestrachten,  Uniformen, 
Berufstrachten  und  Parteitrachten  und  unendlich  viel 

mehr,  deren  Erwähnung  im  einzelnen  uns  hier  viel  zu  weit 
führen  würde.  „Welchen  rührenden  erhebenden  Anblick“, 

sagt  Hermann  in  dem  Abschnitt  seines  Buches,  den  er 
„Physiognomik  der  Klt'iduug'  überschreibt,  „gewährt  uns 
durch  sein  blankes  Festkleid  das  alte  Mütterchen,  wenn  es 
Sonntags  in  aller  Gottesfrühe  zur  Kirche  humpelt;  schaut 
da  nicht  aus  allem  Bänderschmuck,  aus  den  schlicht  ge- 
legten Fältlein  der  echte  Gottesfrieden  selber  heraus?  Und  erst 
die  Weihe  des  Konfirmanden-Kleides  und  die  wunderbare 
Zauberkraft  des  Brautkleides,  das  die  ganze  Lebensge- 
schichte der  Jungfrau  und  Frau  mit  aller  Sinnigkeit  und 
allem  Opfermute  klar  aussprieht  und  dann  die  Trauerfarben, 
die  Flöre  und  dichten  Schleier,  wie  wiederholen  sie  alles 
Weh  der  Herzen,  denen  die  Pracht  der  Welt  plötzlich  farb- 
los, d.  h.  schwarz  erscheint,  weil  der  geliebte  Verstorbene 
nicht  mehr  mitempfindet.“ 

Es  hat  freilich  den  Anschein,  als  ob  heutzutage  die  Klei- 
dung verglichen  mit  früheren  Zeiten  an  Indmdualität,  Mannig- 
faltigkeit und  Ausdruckstiefe  verloren  hat,  namentlich  beim 
männlichen  Geschlecht.  Gibt  sich  nicht  aber  auch  gerade 
darin  vüeder  der  demokratisch-nivellierende  Geist  unserer 
Zeiten  kund?  Nicht  nur  das  Gewand  als  ganzes,  auch  die 
einzelnen  Teile  sind  Sj’mbole  des  Innenlebens.  Was  können 


261 


wir  nicht  allein  durch  den  Hut  erfahren,  seine  Form,  seine 
Garnierung  und  die  Art  ihn  zu  tragen:  ,,Gibt  es  wohl  eine 
Nüance  des  männlichen  Charakters“,  sagt  Hermann,  ..vorn 
Trunkenbold  bis  zum  idealen  Schwärmer,  vom  Prahler  bis 
zum  Geizhals,  vom  noblen  Lebemann  bis  zum  demütigen 
Mucker,  welche  nicht  dm’ch  den  Hut  ausgedrückt  werden 
könnte.“  Auch  die  übrigen  Kleidungsstücke  führen  für  den 
aufmerksamen  Beobachter  eine  kaum  minder  beredte  Sprache. 
In  einem  seiner  vortrefflichen  Aufsätze*)  über  „Kostüm  und 
Mode"  hat  Jacob  von  Falke  sich  mit  der  Geschichte  des  männ- 
lichen Hutes  beschäftigt  und  was  er  hier  an  Hand  dieses  einen 
Kleidungsstückes  über  die  natürlich  unterbewussten  Zusammen- 
hänge zwischen  weltbewegenden  Geistesströmungen  und  der 
jeweils  herrschenden  Mode  ausführt,  ist  für  das  psychologische 
Verständnis  der  Tracht  im  allgemeinen  so  überaus  vielsagend, 
dass  ich  einen  Teil  seiner  interessanten  Darstellung  hier  wört- 
lich wiedergeben  will;  er  sagt: 

..Manche  Leser  erinnern  sich  vielleicht  auf  der  Wiener 
Weltausstellung  in  der  sogenannten  additionellen  Ausstellung 
eine  grössere  Anzahl  von  Herrenhüten  gesehen  zu  haben, 
welche  die  Modeformen  des  Hutes  wahrend  der  letzten  zwei- 
hundert Jahre  repräsentieren.  Gewiss  gab  es  darunter  selt- 
same Formen,  so  absonderlich,  dass  man  nicht  w'usste,  ob 
man  mehr  staunen  sollte  über  die  groteske  Unschönheit  der- 
selben oder  über  die  Querheit  der  Köpfe,  welche  sie  trugen, 
eine  nach,  der  anderen.  Und  doch  haben  sie  in  ihrem  Ver- 
laufe eine  höchst  rationelle,  oder  wie  der  wissenschaftliche 
Terminus  lautet,  pragmatische  Geschichte. 

„Beginnen  wir  mit  der  Zeit  des  dreissigjährigen  Krieges. 
Damals  herrschte  der  Filzhut,  ein  altes  Erbstück  schon  von 
wer  weiss  wie  langen  Zeiten,  aber  dazumal  neu  und  charak- 
teristisch in  seiner  Erscheinung.  Die  ceremoniösen  Spanier, 
welche  vor  dieser  Periode  die  Herrn  in  der  Mode  waren,  hatten 
ihren  feinen,  seidenen  Hut  sehr  steif  und  mit  sehr  kleinem 
Ramie  geformt  und  ihn  so  der  Generation  des  beginnenden 
dreissigjährigen  Krieges  überliefert.  Nun  kam  die  wilde  Be- 

*)  Erschienen  in  dem  Buch:  „Zur  Kultur  und  Kunst“,  Wien  1878. 


wegung,  der  Drang  nach  Freiheit  oder  vielmehr  Zwanglosig- 
keit, die  verwilderten  Sitten  des  Krieges;  an  Stelle  des  Staats- 
mannes. des  Hofmanncs,  des  Bürgers  wurde  der  Soldat  allein 
der  rechte  Mann,  und  der  Soldat,  wie  das  Kriegsglück  hin- 
und  herschwankte,  wurde  Abenteuerer,  Raufbold  und  Re- 
nommist, und  wie  im  Charakter,  so  auch  im  Aeusseren,  eine 
abenteuerliche  Erscheinung.  Nichts  grotesker  daher  als  die 
Gestalt  des  Filzhutes,  wie  ihn  der  Soldat  sich  zurichtete  und 
wie  er  ihn  der  übrigen  Welt  auidrängte.  In  seiner  Auf- 
lehnung gegen  allen  Zwang  und  beengende  Sitte  machte  er 
den  Filzhut  weich,  nachgiebig  und  formlos  und,  das  Groteske 
und  Fantastische  suchend,  dehnte  er  die  kleine  Krempe  von 
Fingerbreite  bis  zum  Regendach  aus  und  liess  von  oben  herab 
die  bunten  Federn  ellenlang  den  Rücken  hinabhängen.  In 
dieser  Form  musste  der  Hut  sich  allen  Ständen,  allen  Lagen 
dos  Lebens  gerecht  erweisen  und  wurde  darnach  zugerichtet. 
Der  Glücksritter,  so  lange  Fortuna  ihm  günstig  war,  trug 
die  Krempe  über  der  Stirn  hoch  auf,  der  Bürger,  der  sich  noch 
schätzte  und  hielt  in  den  bösen  Zeiten,  trug  sie  simpel  ge- 
rade und  horizontal,  wer  aber  am  Laufe  der  Dinge  ver- 
zweifelte und  pessimistisch  in  das  Leben  schaute,  wie  auch 
der  flüchtige  Soldat,  der  vom  Unglück  verfolgte  Abenteuerer, 
der  liess  sie  ringsum  schlaff  herunterhängen,  um  das  morose 
Gesicht  zu  bedecken.  So  diente  der  Hut  in  dieser  fesselloseu 
Zeit  der  individuellen  Willkür  und  w'ar  doch  ein  genau  ent- 
sprechendes Sjunbol  des  allgemeinen  Charakters.“ 

„Aber  schon  gegen  das  Ende  des  Krieges  rührte  sich  ein 
neuer  Geist  und  übte  seinen  Einfluss  auf  den  Hut.  Während 
in  Deutschland  die  Kriegsfurie  tobte,  begann  in  Frankreich 
die  Geschichte  des  Salons  und  der  Salonsitten,  zu  der  alsbald 
mit  Ludwig  XIV.  das  erneuerte  Hof-Ceremoniell,  Etiquette 
und  versteifte  Umgangsformen  traten.  Was  sollten  sie  mit 
dem  schlaffen,  formlosen,  wilden  Hute  der  Kriegsabenteuerer'^ 
Allerdings  hatten  auch  die  französischen  Herren  ihn  ange- 
nommen, eine  Mode,  die  diesmal  deutschen  Ursprungs  war. 
aber  sie  mussten  ihn  notgedrungen  verfeinern.  So  verliert  der 
Hut  schon  um  das  Jahr  1640,  also  noch  während  des  Krieges, 
von  seinem  renonamistischen  Ansehen,  und  Kopf  und  Rand 


•263 


ziehen  sich  bescheidener  zusainmen  und  versteifen  sich.  Die 
aufgestülpte  Krempe  bleibt,  aber  aus  der  einen  werden  bald 
zwei  und  sodann  drei  und  diesen  dreiseitigen  Rand  umzieht 
statt  der  langen  herabhängenden  Feder  ein  zierliches  Gefieder. 
So  ist  jener  dreiseitige  Hut  entstanden,  der  Hut  Ludwigs  XIV. 
und  seiner  Zeit,  eine  ganz  bestimmte  Form,  die  jedes  indi- 
viduelle Belieben  ausschloss,  wie  es  dem  Absolutismus  jener 
Zeit  entsprach.“ 

„Aber  es  gab  andere  Einflüsse,  die  ihn  alsbald  wieder 
veränderten.  Es  war  die  Periode  der  riesigen  Allongeperücke, 
des  wahrsten  Ausdrucks  dieser  hohlen  Zeit,  die  das  Pompöse, 
den  Schwulst  und  Bombast  liebte  und  das  selbstzufriedene  Ge- 
sicht in  die  Lockenfülle  einrahmte,  wie  den  Gedanken  in  die 
geschraubte  Phrase  und  die  künstlerische  Idee  in  die  ver- 
schnörkelten Ornamente.  Die  Perücke  war  selbst  eine  Kopf- 
bedeckung, schwer  und  heiss  genug;  eine  andere  war  über- 
flüssig, und  so  wurde  der  Hut,  der  die  wohlgeordneten  Locken 
nur  schädigen  konnte,  zu  einem  Spielzeug  der  Hand,  so  klein 
an  Gestalt,  dass  er  auf  dem  Kopfe  nicht  mehr  sitzen  konnte. 
Seine  Aufgabe  war  nicht  mehr  den  Kopf  zu  schützen  und  zu 
decken,  sondern  die  ceremoniösen  Bewegungen  und  Schwen- 
kungen der  Hand  und  des  Arms  zu  begleiten.  Da  er  aber, 
beständig  in  der  Hand,  einigermassen  lästig  wurde,  so  klappte 
man  ihn  im  Laufe  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zweiseitig 
zusammen,  um  ihn  bequemer  unter  dem  Arme  tragen  zu 
können,  für  welchen  Platz  er  wohl  eigentlich  nicht  bestimmt 
war.  In  dieser  Gestalt  diente  er  der  vornehmen  und  gebil- 
deten Gesellschaft  bis  gegen  die  Zeit  der  französischen  Re- 
volution und  duldete  nur  ausserhalb  des  Salons  oder  beim 
Militär,  das  sich  uniformierte,  noch  Spielformen  neben  sich.“ 

„Da  erstand  ihm  aber  von  ganz  unerwarteter  Seite  her 
ein  Gegner,  der  ihn  nach  kurzem  Kampfe  mit  Hilfe  der  Re- 
volution selbst  aus  dem  Felde  schlug.  Der  grosse  schlaffe  Hut 
des  dreissigjährigen  Krieges  war  wie  in  Deutschland  so  auch 
in  England  getragen,  das  zu  jener  Zeit  in  den  Wirren  und 
Kriegen  seiner  grossen  Revolutionsperiode  stand.  Die  Kava- 
liere, die  Partei  der  Königlichen,  trugen  ihn  freier  und  aben- 
teuerlicher wie  die  Glücksritter  des  deutschen  Krieges;  die 


264 


Gegner  aber,  die  Independenten,  die  Republikaner,  die  Puri- 
taner, zwar  ähnlich,  aber  einfach,  ungefiodort  mit  geradem 
Rande.  In  dieser  (Gestalt  brachten  ihn  die  Puritaner  und  die 
Quäcker  nach  Amerika  hinüber,  wo  er  sidi  bei  diesen  religi- 
ösen Sekten  und  politischen  Parteien,  nur  mit  langsamer  Ver- 
steifung. erhielt,  während  England  nach  der  Restauration 
unter  Karl  II.  völlig  der  modischen  Kopftracht  folgte  und 
zu  dem  dreiseitigen  und  zweiseitigen  Hute  überging.  Der 
Puritaner-  und  Quäckerhut,  bis  dahin  unbeachtet,  kam  aber 
plötzlich  mit  dem  amerikanischen  Befreiungskriege  in  Mode. 
Die  Sympathien,  welche  dieser  Kampf  in  den  immer  zahlreicher 
werdenden  liberalen  Kreisen  Europas  fand,  gingen  auch  auf 
den  amerikanischen  Hut  über,  und  so  kam  unser  Cylinder  — 
denn  in  diese  Gestalt  hatte  sich  der  Quäckerhut  ausgewachsen 
— als  Symbol  der  liberalen  Ideen,  des  politischen,  literarischen 
und  sozialen  Liberalismus  nach  Europa.“ 

.,Xatürlich  stiess  der  Cylinder  auf  AViderstand,  so  gut 
wie  die  Revolution  und  ihre  Ideen  selber.  Bei  der  Eröffnung 
der  französischen  Nationalversammlung  1789  trug  ihn  als 
politisches  Zeichen  der  sogenannte  dritte  Stand  und  mit  dem 
dritten  Stande  gelangte  er  in  Frankreich  zum  schnellen  Siege; 
freilich  erschien  er  bei  den  Stutzern  der  Revolution  oft,  wie 
einst  der  Hut  der  Glücksritter  des  dreissigjährigen  Krieges, 
in  gar  grotesker  und  verwilderter  Gestalt,  sehr  ungleich  un- 
serem zivilisierten  und  polierten  seidenen  Hute,  und  doch  sind 
sie  beide  eines  und  dasselbe,  nur  durch  den  Geist  der  Zeiten 
geschieden.  In  Deutschland  war  er  Anfangs  das  Entsetzen 
aller  eleganten  und  konservativen  Kreise.  Der  Kurfürst  von 
Hessen  Hess  jeden,  der  mit  dem  Cylinder  getroffen  wurde,  die 
Strasse  kehren  und  der  Kaiser  von  Russland  Hess  ihn  über 
die  Grenze  schaffen.*)  Allein  trotz  dieser  politischen  Verfol- 

*)  In  der  .Times'^  vom  16.  Januar  1797  ist  zu  le.scn,  wie  es  dem- 
jenigen ging,  der  es  wagte,  zuerst  mit  einem  Zylinder  auf  dem  Kopf  die 
Strassen  von  London  zu  betreten.  „John  Heiherington,  Schnittwirenhändler, 
wurde  gestern  wegen  groben  Unfugs  und  Erregung  eines  Strassenauüauis  dem 
Lord-Mayor  vorgeführt  und  musste  eine  Kaution  von  500  Pfund  Sterling 
stellen.  Es  wurde  nachgewdesen,  dass  Herr  Hotherington,  ein  angesehener 
Mann  aus  guter  Familie,  auf  öffentlicher  Strasse  erschien,  mit  einem  so- 


265 


gung  breitete  er  sich  aus  und  stieg  immer  höher  in  der  Gunst, 
bis  er  gegen  die  Zeit  der  Restauration  hin  seinen  politischen 
Kampf  ausgekämpft  hatte.  Der  zweiseitige  Hut  erschien  nur 
noch  im  Salon  und  in  kurzer  Zeit  gehörte  er  allein  noch  der 
Uniform,  welcher  er  ja  heute  noch  geblieben  ist.  Der  Cylin- 
der  nahm  auch  vom  Salon  Besitz,  wie  er  einzig  auf  der 
Strasse  getragen  wurde.  “ 

„Die  Alleinherrschaft  des  Cylinders  war  nur  von  kurzer 
Dauer.  So  wie  er  selber  konservativ  geworden  war,  so  er- 
eilte ihn  das  gleiche  Schicksal  welches  er  dem  zweiseitigen  be- 
reitet hatte.  Mit  dem  Kampfe  des  modernen  Liberalismus 
und  Constitutionalismus  gegen  den  Absolutismus  der  Restau- 
ration erstand  ihm  ein  neuer,  erst  politischer  und  dann  so- 
zialer Gegner,  in  dem  Carbonarihut,  der,  von  weichem  Filz, 
bald  grau,  bald  braun  oder  schwarz,  unter  dem  Einflüsse  der 
Mode  mannigfache  Spielformen  annahm,  stets  aber  seiner  Rolle 
treu  blieb.  Auch  er  wurde  anfangs  von  der  eleganten  Welt 
mit  verächtlichen  und  argwöhnischen  Blicken  angesehen,  und 
noch  in  den  fünfziger  Jahren  wurden  seine  Träger  mancher 
Orten  mit  Arrest  bestraft.  Heute  hat  er  diese  Staatsgefähr- 
lichkeit abgestreift  und  dem  Cylinder  einen  grossen  Teil  seines 
Gebietes  abgerungen,  nur  den  Salon  muss  er  ihm  noch  lassen, 
vielleicht  auch  nur  noch  für  kurze  Zeit.“ 

„Aus  dieser  Geschichte  des  männlichen  Hutes,  die  nur  ein 
Beispiel  für  die  übrige  Kleidung  sein  sollte,  erkennt  man 
wenigstens,  wie  sehr  das,  was  auf  dem  Gebiete  der  Trachten 
sich  ereignet,  unter  dem  Einfluss  der  Weltbegebenheiten  steht 
und  dem  Strome  der  Zeiten  zu  folgen  hat.  Notwendig 
schrumpft  dabei  die  Laune,  der  Einfall  oder  die  Erfindung 
des  Einzelnen  zur  Unbedeutenheit  zusammen,  und  was  wie 
Willkür  oder  wie  freier  Wille  erscheint,  das  steht  unter  höhe- 
genannten Seidenhut  auf  dem  Kopie,  der  dem  Gericht  vorlag.  Es  ist  ein 
hohes  Gebäude  von  glänzendem  Aussehen,  wohl  dazu  angetan,  ängstlichen 
Personen  Schrecken  einzujagen.  Tatsächlich  ist  auch  von  den  Beamten  der 
Krone  testgestellt  worden,  dass  mehrere  Frauen  in  Ohnmacht  fielen,  Kinder 
laut  aufschrien,  und  der  Sohn  des  Ledcrhändlers  Thomas  von  der  drängen- 
den Menge,  die  sich  ob  des  merkwürdigen  Schauspiels  angesammelt  hatte,  zu 
Boden  geworfen  wurde  und  den  rechten  Arm  brach.“  M.  H. 


26G 


rom  Gesetze  und  ist  der  Zwang  äusserer  Umstände  und  Be- 
gebenheiten." 

Wenn  heute  noch  \ielfach  namentlich  in  den  Lehrbüchern 
der  Hygiene  behauptet  wird,  dass  Schutzbedürfnis  und  Scham- 
gefühl die  eigentlichen  Wurzeln  der  Kleidung  sind,  so  ist  es 
nach  dem  gegenwärtigen  Stand  ethnographischer  Forschung 
höchst  fraglich,  ob  nicht  ganz  andere  Wurzeln  hier  viel  wirk- 
samer sind.  Hätte  die  Kleidung  nur  den  Zweck,  den  Körper 
vor  den  Unbilden  der  Witterung  zu  schützen,  so  ist  nicht 
einzusehen,  w'eshalb  man  sich  ihrer  auch  dort  bedient,  wo  die 
Wärme  der  Luft  keineswegs  eine  Verstärkung  der  Hautdecke 
erfordert.  Umgekehrt  aber  haben  Reisende  die  Einwmhner  kalter 
Himmelsstriche  vielfach  fast  unbekleidet  angetroffen,  so  an  der 
raagelhaenischen  Meerenge.  Es  w'ürden  auch,  um  den  Körper 
zu  erwärmen,  viel  einfachere  Hülfsmittel  der  Umwickelung 
genügen,  als  sie  tatsächlich  überall  im  Gebrauch  sind. 

Das  müsste  auch  der  Fall  sein,  w'enn  die  S c h a m der  ur- 
sprüngliche Grund  der  Bekleidung  wäre.  Wir  glauben,  dass 
der  berühmte  Ethnologe  Karl  von  den  Steinen  vollkommen 
treffend  urteilt,  wenn  er  auf  Grund  seiner  eingehenden  Be- 
obachtungen unter  den  Naturvölkern  Zentralasiens  sagt:  „Ich 
vermag  nicht  zu  glauben,  dass  ein  Schamgefühl,  das  den  un- 
bekleideten Indianern  entschieden  fehlt,  bei  anderen  Menschen 
ein  primäres  Gefühl  sein  könne.“  Es  ist  auch  noch  sehr 
zweifelhaft,  ob  der  nackte,  der  bekleidete  oder  halbverhüllte 
Körper  _schamverletzender“,  will  sagen;  sexuell  erregender 
wirkt.  Warum  sollen  ein  unbedecktes  Gesicht,  blosse  Hände, 
ein  „ausgeschnittener“  Hals  unanstössiger  sein,  wie  nackte 
Beine  oder  andere  entblösste  Körperpartien?  Um  hier  unter 
vielen  nur  ein  Beispiel  für  die  unendlich  verschiedenartige  Auf- 
fassung über  Sitte  und  Sittlichkeit  zu  geben,  erinnere  ich  an 
ein  nicht  seltenes  Vorkommnis  in  orientalischen  Ländern.  Dort 
verhüllt  bekanntlich  die  Frau  vor  allen  Dingen  ihr  An- 
gesicht durch  einen  dichten  Schleier,  der  nur  für  die  Augen 
einen  schmalen  Spalt  offen  lässt.  Nur  ganz  ausnahmsweise 
arbeitet  sie  mit  freiem  Gesicht,  wenn  sie  glaubt,  sich  darauf 
verlassen  zu  können,  dass  kein  Mann  sie  erblicken  wird.  Ge- 
schieht dies  aber  nun  zufällig  doch,  dann  hält  sich  die  Ueber- 


•267 


raschte  in  schamhafter  Verwirrtheit  schleunigst  das  fallende 
Hemd  ihres  Leibes  vor  das  Angesicht;  das  Gefühl,  dass  da- 
durch nun  wieder  Teile  sichtbar  werden,  deren  Anblick  bei 
uns  ganz  besonders  „die  Scham  und  Sittlichkeit  verletzt“,  ist 
ihr  gänzlich  fremd.  B.  Stein  berichtet  (Geschlechtsleben  m 
der  Türkei,  p.  16'2):  „In  den  lebhaftesten  Strassen  Konstan- 
tinopels sah  ich  tiefverschleierto  Frauen  stehen  bleiben,  um 
sich  ungeniert  die  Röcke  zu  heben  und  sich  in  der  Scham- 
gegend zu  kratzen.“  Noch  viele  ähnliche  Erfahrungstatsachen 
Hessen  sich  anführen,  die  zeigen,  wie  der  Begriff  der  Scham, 
die  in  der  Hauptsache  ein  gesellschaftlicher  Factor  ist,  nach 
Ort  und  Zeit  wechselt.  Bei  allen  Völkern  aber,  selbst  bei  den 
Ureinwohnern  der  Urwälder,  wo  von  Scham  und  Schutz  keine 
Rede  sein  kann,  sehen  wir  die  Neigung  den  Körper  zu 
schmücken  imd  zu  zieren,  den  Trieb,  seine  natür- 
lichen Reize  künstlich  zu  verstärken.  Ob  sich  die  Primitiven 
Muschelschalen  oder  die  Zivilisierten  ein  kostbares  Perlenhals- 
band umhängen,  ob  jene  rohe  Metallstücke  um  Finger,  Arme 
und  Beine  legen  oder  wir  goldene  Ringe  und  silberne  Arm- 
spangen, ob  sich  ein  Volk  Stifte,  Ringe  und  Knöpfe  durch  die 
durchbohrte  Nase  zieht,  ein  anderes  durch  durchlöcherte  Ohren, 
ob  die  Wilden  sich  Vogelfedern  direkt  ins  Haar  stecken  oder  die 
Modernen  noch  ein  bearbeitetes  Stück  Stroh  oder  Filz  da- 
zwischen legen,  ob  jene  sich  einen  grösseren  Teil  der  Körper- 
oberfläche färben  und  bemalen,  wir  nur  Gesicht  und  Haare 
schminken,  ob  die  bunten  Farbstoffe  der  Haut  unmittelbar 
aufgesetzt  oder  in  bunten  Tüchern  oder  zu  Kleidern  verar- 
beitet umgebunden  werden,  ob  asiatische  Völker  sich  nur  die 
Füsse  verkleinern  und  zusammenzwängen  oder  europäische  mit 
Hülfe  fischbeingesteifter  Korsetts  viel  wichtigere  und  edlere 
Teile  einschnüren  und  verengern,  selbst  die  Narbenverzierungen 
der  Südaustralier,  und  die  „Renommierschmisse“  deutscher 
Studenten,  kommen  rein  psychologisch  ge- 
nommen auf  dasselbe  heraus.  Es  zeigt  sich, 
dass  wir  heute  noch  wie  in  uralten  Zeiten  alle  möglichen 
Gegenstände  aus  den  drei  Naturreichen  — von  den  Pflanzen 
Blumen,  Blätter  und  Fasern,  die  Felle  der  Tiere  mit  Haut  und 
Haar,  Metalle  und  Edelsteine  — gebrauchen,  um  uns  so  mehr 


(jlaiiz  und  Ansehen  zu  vovloihoii;  es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
dass  auf  diesen  überall  verbreiteten  Hang,  den  Kürper  hüb- 
scher und  reizvoller  zu  gestalten,  sowohl  das  Kleid  an  und 
für  sich  (das  Wort  Kleid  im  weitesten  Siüne  gefasst)  zurück- 
zuführen ist.  als  auch  der  Wunsch,  die  Tracht  immer  eigen- 
artiger. neuartiger,  wirkungsvoller  erscheinen  zu  lassen  — 
die  Müde.  Diese  — wie  es  neuerdings  vorgeschlagen  ist*) 
— durch  eine  auf  Zweckmassigkeit  sich  gründende  aesthetische 
Form  ersetzen  zu  wollen,  heisst  ihre  Gesetze  ebenso  ver- 
kennen. wie  diejenigen  sich  über  den  natürlichen  Fluss  leben- 
diger Ausdrucksentwicklung  täuschen,  die  von  einer  Welt- 
sprache träumen. 

Dass  der  physiologische  Putztrieb,  dessen  heftigere  Grade 
man  wohl  auch  als  Putzsucht  bezeichnet,  beim  weiblichen  Ge- 
schlecht im  allgemeinen  stärker  auftritt,  wie  beim  männlichen, 
zeigt,  dass  dieses  in  höherem  Masse,  als  man  gewöhnlich  an- 
nimmt. trotz  anscheinenden  Züwartens  der  werbende  Teil 
ist.  Im  übrigen  ist  die  Eigenart  der  weiblichen  Tracht  nicht 
etwa  nur  durch  den  stärkeren  Verschönerungs-  und  Verände- 
rungsdrang bedingt,  verbunden  mit  dem  unbewussten  Streben, 
die  reizvolle  Gegensätzlichkeit  der  Geschlechter  zu  erhöhen, 
sondern  natürlich  auch  durch  anderweitige  psychologische  und 
vor  allem  morphologische  Unterschiede  beider  Geschlechter. 

Ob  aber  die  Eltern  gut  daran  tun,  schon  lange  vor  dem 
Erscheinen  der  sekundären  Geschlechtscharaktere  diese  Eigen- 
art bei  den  Kindern  zu  markieren,  erscheint  mir  sehr  fraglich. 
Es  geschah  dies  keineswegs  immer  und  überall.  Im  alten 
Hellas  beispielsweise  trug  die  Jugend  beiderlei  Geschlechts  bis 
zum  Feste  der  Mannbarkeit  dieselbe  Tracht.  Auch  bei  den 
Römern  hatten  die  Kinder  eine  eigene  Kinderkleidung,  die  sie 
von  den  Frauen  und  Männern  schied.  Erst  im  15.  oder  16. 
Jahr  legten  die  Jünglinge  die  Kindertracht  ab  und  bekamen 
feierlich  das  männliche  Gewand  — die  toga  virilis  — ange- 
legt. Propertius**)  sagt:  ante  deos  libera  sumpta  toga  est” 

*)  Vgl.  Aufsatz  von  Dr.  L.  Zeitlin : ,Das  Ende  der  Mode*  in  ..Zukunft'^ 
vom  9.  10.  09. 

••)  Sext.  Aur.  Propertius.  LTV.  Eleg.  1.  v.  13. 


2G9 


und  Seneca*)  schreibt  an  Lucilius:  „tenes  uticiue  memoria. 

Quantum  senseris  gaudium.  cum  praetcxta  po- 
sita,  sumsisti  virilem  togam  et  in  forum  deductus  es;  majus 
exspecta,  cum  puerilem  deposueris  et  te  in  viros  philosophia 
transscripseris.“  Auch  Valerius  Maximus**)  schildert,  wie  er- 
hebend es  war,  wenn  die  römischen  Jünglinge  auf  dem  Kapitol 
vor  den  Göttern  die  männliche  Kleidung  erhielten  und  in  ihr 
auf  dem  Markte  dem  Volke  vorgestellt  wurden.  Bei  uns  kenn- 
zeichnet sich  der  nach  der  Geburt  wichtigste  Zeitpunkt  des 
Lebens  in  der  Kleidung  nur  dadurch,  dass  zum  Zeichen,  dass 
sie  nun  „erwachsen“  sind,  die-  Knaben  „lange  Hosen“,  die 
Mädchen  „die  ersten  langen  Kleider“  bekommen.  Die  unter- 
schiedliche Geschlechtstracht  legt  man  ihnen  schon  viel  früher, 
oft  bereits  im  dritten  Lebensjahre  an.  Vor  einiger  Zeit  ging 
eine  Geschichte  aus  Kindermund  durch  die  Zeitungen,  die  An- 
lass hätte  geben  können,  über  dieses  Problem  nachzudenken. 
Ein  Landpfarrer  tadelte  einen  etwa  fünfjährigen  Jungen,  als 
er  ihn  auf  einem  Spaziergange  in  einem  Bache  mit  kleinen 
Mädchen  badend  fand.  Und  was  erwiderte  der  treuherzige 
Kleine:  „ich  habe  es  ja  nicht  gewusst,  Herr  Pfarrer,  dass  es 
Mädchen  sind,  sie  hatten  ja  keine  Kleider  an.“ 
Der  tiefe  Sinn  dieser  Anekdote  findet  seine  Bestätigung  in 
einem  merkwürdigen  Buche,  das  sich  ausschliesslich  mit  der 
Frage  der  nach  Geschlechtern  getrennten  Kinderkleidung  be- 
fasst, ein  altes  Buch  vom  Jahre  1791,  merkwürdig  durch  seinen 
Inhalt  — es  führt  den  Titel:  „wie  der  Geschlechtstrieb  der 
Menschen  in  Ordnung  zu  bringen  und  die  Menschen  besser 
und  glücklicher  zu  machen  sind“  — noch  merkwürdiger,  durch 
den  gfössen  Eifer,  mit  dem  sein  Verfa.sser,  der  „gräflich 
Schaumburg-Lippische  Hofrat  und  Leibarzt“  Dr.  Bernhard 
Christian  Faust  seine  Ideen  verficht.  Er  fordert,  dass  die 
hervorragendsten  seiner  Zeitgenossen,  von  denen  er  unter  an- 
deren die  Herren  von  Goethe,  v.  Dalberg,  Herder,  Hufeland. 
Schiller,  Wieland  namentlich  anführt,  zu  einer  Untersuchungs- 
kommission zusammentreten  sollen,  um  seine  Gedanken  und 

*)  Senecae  epistolae  IV.  in  Lucilium. 

**)  Val.  Max.  L.  5 cap.  4 titul.  4. 


270 


Vorschläge  zu  prüfen.  Diese  gipfeln  in  dein  Entwurf  einer  aus- 
führlichen „L  a n d e s 0 r d n u n g für  eine  künftige  ein- 
förmige Kleidung  der  Kinder,  die  Deutschlands 
grosse,  gute  und  weise  Füi-sten  als  Väter  ihrer  Völker 
mit  dem  Anfang  des  neuen  Jahrhunderts  im  Jahre  1800  als 
Tipsetz  für  ihre  lieben  treuen  Untertanen  am  Altar  der  Mensch- 
heit niederlegen  sollen.“  Aus  den  interessanten  Motiven,  die 
der  gelehrte  und  wohlmeinende  Verfasser  seinem  Gesetzent- 
wurfbeifügt, verdienen  einige  Stellen  dem  Staube  der  Vergessen- 
heit entrissen  zu  werden: 

.,Da  in  protestantischen  Ländern  die  gute  Ordnung  ist, 
dass  die  Knaben  im  14.  Jahre,  die  Mädchen  früher,  meisten- 
teils im  13.  Jahre,  zum  heiligen  Abendmahl  gehen,  und  in 
die  Gemeinschaft  der  Christen  aufgenommen  werden:  so  ist 
wohl  sehr  schicklich  und  gut,  dass  man  diese  grosse  feierliche 
Handlung  zum  Zeitpunkt  annenme,  wo  die  Kinderkleidung 
sich  endet  und  eine  neue  Kleidung  (sollte  es  auch  vor  der 
Hand  wider  Vermuten  die  bis  jetzt  gewöhnliche  sein)  anfängt. 

Bis  dahin  sollen  die  Kinder,  sowohl  männlichen  als  weib- 
lichen Geschlechts  ohne  den  geringsten  Unterschied  vollkommen 
gleich  gekleidet  sein. 

Rousseau  sagt:  „Nous  naissons,  pour  ainsi  dire,  en  deux 
fois:  Tune  pour  exister  et  l’autre  pour  le  sexe.  Jusqu’  ä 
Tage  nubile  les  enfans  des  deux  sexes  n’ont  rien  d’apparent, 
qui  les  distingue;  meme  figure,  meme  teint,  meme  voix,  tout 
est  egal;  les  filles  sont  des  enfans,  les  gargons  sont  des 
enfans:  le  meme  nom  suffit  ä des  etres  si  semblables.“*)  — 
Warum  gibt  man  nun  auch  den  Knaben  und  Mädchen,  die 
Kinder  und  in  allem  sich  so  gleich  und  eigentlich  noch  ohne 

•)  Emile  T.  II.  pag.  96,  der  Zweibrücker  Ausgabe  von  Rousscaus 
sämtlichen  Werken.  — In  Cramers  Uebersetzung  lautet  es:  „Wir  werden 

so  zu  sagen  zweimal  geboren,  einmal  zum  Dasein  und  einmal  zum  Leben; 
das  eine  Mal  für  die  Gattung,  das  andere  Mal  für  das  Geschlecht.  Bis  zu 
dem  mannbaren  Älter  haben  die  Kinder  nichts,  was  sie  scheinbar  unter- 
scheidet; sie  haben  einerlei  Gesicht,  einerlei  Farbe,  einerlei  Stimme.  Alles 
ist  gleich.  Die  Mädchen  sind  Kinder,  die  Knaben  sind  Kinder,  einerlei  Name 
reicht  für  so  gleiche  Wesen  zu.“  — „Emil“  übersetat  von  Gramer,  herausge- 
geben  von  Campe  2.  T.  S.  216. 


Geschlecht  sind,  nicht  auch  einerlei  Kleidung?  Weil  Vorurteil 
bis  jetzt  in  der  Kindheit  des  Menschengeschlechts,  das  ge- 
wöhnliche Loos  der  Menschen  ist;  weil  die  Menschen  die  Na- 
tur, in  der  Alles  recht  ist,  nicht  respektieren,  sondern  sie 
immer  bessern  und  hofmeistern  wollen;  und  da  kamen  sie 
denn  auf  die  Meinung,  die  Kinder,  trotz  der  Natur,  nach  dem 
Geschlechte,  wo  aber  wirklich  noch  kein  Geschlecht  ist,  in 
Knaben  und  Mädchen  durch  eine  auffallend  verschiedene  Klei- 
dung zu  unterscheiden  und  von  einander  abzuteilen.  Der  ehr- 
würdige Charakter  der  Kinder  ist  Unschuld,  Arglosigkeit, 
Einfalt  imd  Unwissenheit;  Geschlecht  und  Geschlechtsempfin- 
dungen liegen  tot  in  den  Kindern,  und  noch  viel  weniger 
wissen  sie  von  einem  Unterschied  der  Geschlechter;  warum 
macht  man  nun,  durch  eine  ganz  wesentlich  verschiedene 
Kleidung  der  Knaben  und  Mädchen,  die  Kinder  aufmerksam 
auf  den  Unterschied  der  Geschlechter;  macht  sie  nicht  allein 
aufmerksam  darauf,  sondern  teilt  ihnen  auch  wirklich  einen 
mehr  oder  weniger  dunklen  Begriff  davon  mit,  und  raubt  ihnen 
dadurch  ihre  göttliche  Unschuld  und  heilige  Unwissenheit,  die 
Frieden  und  Glück  über  ihre  Kindheit  verbreiteten,  und  macht 
sie  arg  und  böse.  — Keine  Gründe,  weder  wahre  noch  schein- 
bare, lassen  sich  dafür  anführen;  und  sicher  und  gewiss  liegt 
in  der  ganz  verschiedenen  Kleidertracht  der  Kinder  nach  den 
Geschlechtern,  eine  der  grössten  Hauptursachen  des  Verder- 
bens der  Menschheit.  Denn,  diese  Bemerkung  ist  wahr,  1.  hat 
der  Älensch  von  innen,  durch  die  Natur,  Geschlecht  und  Ge- 
schlechtsempfindungen, so  tut  es  nichts,  wenn  er  nicht  den 
Unterschied  der  Geschlechter  kennt;*)  und  von  Natur  und 
durch  sich  selbst  kennt  er  keinen  Geschlechtsunterschied.  — 
2.  Haben  bei  dem  Kinde  Geschlecht  und  Geschlcchts- 
empfindungen  sich  noch  nicht  entwickelt:  es  lernt  aber  den 
Unterschied  der  Geschlechter  kennen;  so  werden  dadurch  Gc- 


*)  Man  kann  dann  von  diesen  Kindern  sagen,  was  Rousseau  von 
seinem  Emil  sagt:  ,Comme  un  somnambule  errant  durant  son  sommeil, 
marehe  cn  dormant  sur  le  bord  d’un  precipice  dans  lequel  il  tomberoit,  s’il 
dtoit  eveille  (tout  ä coup)  ainsi  mon  Emile,  dans  le  sommeil  de  l’igno 
rance  wbappe  ä des  perils,  qu’il  n’apperqoit.“  T.  III.  p.  124. 


•schlecht  und  Gogchlechtsempfindungeu  bei  ihm  erweckt,  es 
reift  früh,  verdirbt,  und  fällt  auf  Selbstbefleckung.'' 

..Viele  worden  mit  einem  Scheine  von  Weisheit  besorgen, 
dass,  wenn  man  nicht  die  kleinen  Menschen,  die  in  der  Zu- 
kunft männlichen  und  weiblichen  Geschlechts  sein  werden, 
schon  in  der  frühen  Kindheit  nach  ihren  künftigen  Geschlech- 
tern vorsichtigerweise  von  einander  abteilc,  wenn  sich  ihr 
Geschlecht  entwickelt,  nicht  genug  Männer  und  Frauen  sein 
würden.  Diese  scheinheilige  Sorge  greift  in  Gottes  w'eise  Vor- 
sicht ein  und  ist  töricht.  Vielmehr;  indem  man  die  kleinen 
Menschen  von  einander  teilt  und  abstösst,  wird  die  schuldlose 
Kindheit  und  die  friedliche  Republik  der  kleinen  Menschen  zer- 
rüttet; Unschuld,  Scherz  und  Spiel,  unter  dem  heiligen  Schilde 
der  Kindheit,  gehen  verloren;  die  kleinen  guten  Menschen,  die 
in  der  Kindheit,  am  Morgen  des  Lebens,  durch  Unschuld. 
Spiel  und  Liebe  natürlich  an  einander  gezogen,  mit  einander 
sich  abschleifen,  ähnlich  und  gleichgestimmt  w^erden,  sich  ver- 
stehen, vertragen  und  lieben  lernen,  und  den  Grund  zu  Ver- 
träglichkeit und  Eintracht,  zu  Freundschaft  und  Liebe  für 
ihr  männliches  Alter  und  den  Abend  ihres  Lebens  legen 
sollten,  werden  feindselig  von  einander  getrennt,  Zwietracht 
und  Hass  wird  zwischen  die  Kinder  gelegt;  der  Knabe  schliesst 
sich  an  den  Mann,  das  Mädchen  an  die  Frau;  und  diese, 
die  künftig  das  Menschengeschlecht  regieren,  werden  ganz 
Meinung,  Nerven  und  Phantasie.  — Es  fehlen  mir  Worte,  und 
ich  bin  zu  ungeübt  in  Entwicklung  und  wirklicher  Darstellung 
meiner  Gefühle  und  Gedanken,  sonst  wollte  ich  sonnenklar 
zeigen,  dass  die  Abteilung  der  kleinen  IMenschen  nach  ihren 
künftigen  Geschlechtern  die  Kindheit  zerrütte  und  die  Mensch- 
heit verderbe.  — Indem  man  die  Menschen  in  ihrem  kindlichen 
Alter  zu  Männern  und  zu  Frauen  macht,  sind  sie  im  männ- 
lichen Alter  weder  Männer  noch  Frauen,  sondern  unselige 
Mittelgeschöpfe  zwischen  Mann  und  Kind,  verdorben  in  der 
Kindheit  an  Körper  und  Seele.  Nimmer,  nimmer  werden  die 
Menschen  Menschen  v/erden,  wenn  sie  in  der  schuldlosen  Kind- 
heit nicht  Kinder  waren!“ 

Für  besonders  verhängnisvoll  erachtet  Dr.  Faust  die 
Hosen  der  Knaben.  Unter  vielen  Gründen,  die  er  gegen  sie 


geltend  macht,  weist  er  nicht  unzutreffend  darauf  hin,  dass 
man  vielfach  sieht,  wie  den  Jungen,  wenn  sie  harnen  wollen, 
das  kleine  Membrum,  weil  sie  es  selbst  noch  nicht  richtig  be- 
werkstelligen können,  von  „Kindern,  Alägden  und  Knechten" 
aus  den  Hosen  gezerrt  wird,  wodurch  sie  sich  gewöhnen,  die 
Teile  zu  berühren  und  leicht  zu  onanistischen  l\Ianipulationen 
veranlasst  werden.  Vor  allen  Dingen  aber  meint  unser  Autor, 
dass  durch  die  Ilosentracht  das  Sperma  allzu  frühzeitig,  oft 
schon  im  12.  statt  im  16.  Jahre  reife  und  zwar  dadurch,  dass 
die  testes,  anstatt  „dem  wohltätigen  Einfluss  der  Luft  aus- 
gesetzt, frei,  kühl  und  ungedrückt  zu  sein,  im  warmen 
Dunstboden  der  Hosen  wie  in  einem  Treibhause  8 bis  10  Jahre 
lang  täglich  viele  Stunden  gewärmt  und  gebrütet,  gedrückt 
und  gereizt  würden'“.  Infolgedessen  „höre  das  Kind,  ehe  sein 
Körper  und  seine  Seele  reif  sei,  viel  zu  früh  auf,  Kind  zu  sein.“ 
Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  den  Ansichten  von 
B.  Ch.  Faust,  mögen  sie  im  einzelnen,  beispielsweise  auch  im 
letzterwähnten  Punkte  übertrieben  sein,  ein  gesunder  Kern 
innewohnt,  dass  seiner  Forderung  nach  einer  geschlechtlich  in- 
differenzierten Kindertracht  eine  gewisse  Berechtigung  nicht 
abzusprechen  ist.  Nur  darf  man  nicht  glauben,  dass  nicht 
ganz  unabhängig  von  ihrer  Kleidung  bei  vielen  Kindern  schon 
lange  vor  der  Pubertät  ein  männliches  oder  weibliches  Seelen- 
leben freilich  ohne  sexuellen  Hintergrund  mehr  oder  weniger 
deutlich  zu  Tage  tritt.  Nicht  immer  findet  sich  — und  das 
ist  ein  für  die  Erziehung  und  Zukunft  des  betreffenden  In- 
dividuums bedeutsames  Moment  — die  knabenhafte  Psyche 
bei  männlichen,  die  mädchenhafte  bei  weiblichen  Kindern.  Oft 
ist  es  gerade  umgekehrt.  Auch  unsere  obige  Casuistik  belegt 
diese  Erfahrung  nach  verschiedenen  Richtungen.  Wenn  wir 
— um  das  uns  hier  nächstliegende  Beispiel  anzuführen  — 
von  Kindern  hörten,  deren  naiver  Instinkt  sich  auflehnte 
und  sträubte,  als  man  ihnen  die  ersten  Hosen  anziehen  wollte, 
so  kann  es  nach  allen  unseren  Darlegungen  keinem  Zweifel 
mehr  unterliegen,  dass  sich  hier  bereits  feminine  Regungen 
manifestierten,  die  der  virilen  Kleidung  spontan  widerstrebten, 
weil  sie  sie  als  etwas  ihrer  individuellen  Psyche  nicht  ent- 
sprechendes, fremdartiges,  refraetäres  fühlten.  Wir  sahen,  wie 

H i r s c h I e 1 d , Die  Transvestiten.  18 


in  allen  unseren  Fällen  diese  Antipathie  gegen  das  männliche 
Gekleidetsein  und  als  Revers  davon  die  Sympathie  für  die 
weibliche  Umkleidung  der  eigenen  Persönlichkeit  zur  Zeit  der 
Geschlechtsreife  ungemein  zunahm  und  sich  dann  immer  ent- 
schiedener in  Handlungen  umzusetzen  strebte.  Vergegen- 
wärtigen wir  uns  noch  einmal  den  ganzen  Komplex  der  trans- 
vestltischen  Neigungen  und  erwägen  dann,  inwieweit  wir 
das  Wesen  der  Kleidung  als  Symbol,  als  unbewusste  Pro- 
jektion der  Seele  erkannten,  so  dürfte  es  klar  sein,  dass  in 
der  Psyche  dieser  Männer  ein  weiblicher  Einschlag  — und  bei 
den  weiblichen  Pendants  ein  männlicher  — vorhanden  ist,  der 
nach  äusserer  Projektion  drängt.  Diese  alterosexuelle  Quote 
muss  recht  beträchtlich  sein,  da  sie,  wie  wir  erfuhren,  sehr 
erhebliche  Widerstände  und  Hemmungen,  unter  denen  der  Kon- 
trast zwischen  Körper  und  Seele  nicht  der  geringste  ist,  zu 
überwinden  sucht  und  überwindet.  In  wie  ausgesprochenem 
Masse  hier  wirklich  eine  Lockerung  und  Spaltung  der  von 
Hause  aus  bisexuellen  Persönlichkeit  vorliegt,  bringt  besonders 
anschaulich  unser  Fall  III  zum  Ausdruck,  wenn  er  von  dem 
„Herumflüchten  des  weiblichen  Elements  in  seinem  Ich“  spricht. 
Er  bezeichnet  „die  Sucht  nach  dem  Frauengewand,  vielmehr 
nach  dem  absoluten  Aeusseren  der  Frau  als  das  Hineinw'ollen 
seines  weiblichen  Teils  in  entsprechende  Formen“  und  fährt 
dann  fort:  „wenn  ich  dann  alles  vom  Manne  von  mir  werfe 
und  das  w'eibliche  Aeussere  anziehe,  kann  ich  fast  physisch 
wahrnehmen,  wie  das  Falsche.  Gewalttätige  aus  mir  heraus- 
flüchtet und  sich  wie  ein  Nebel  verteilt.“  In  diesen  Sätzen 
spiegelt  sich,  wenn  auch  nicht  in  wissenschaftlicher  Ausdrucks- 
weise, so  doch  sehr  deutlich  und  durchaus  zutreffend  das 
Wesen  der  Erscheinung  als  ein  Freiwerden  der  für  gewöhnlich 
im  Mann  gebundenen  Feminität.  Wir  haben  es  hier  mit  einer 
besonderen  Form  der  seelischen  Doppelgeschlechtlichkeit, 
mit  einem  Phänomen  zu  tun,  das  einen  selbständigen  Typus  dar- 
steilt  in  der  Reihe  der  sowohl  aetiologisch  als  charakterolo- 
gisch  verwandten  Vermischungen  männlicher  und  weiblicher 
Eigenschaften,  wie  wir  sie  unter  dem  zusammenfassenden  Namen 
der  sexuellen  Zwischenstufen  auf  morphologischem  und  psy- 
chologischem Gebiet  bereits  vielfach  kennen  gelernt  haben.  Da 


diese  Z wischenstuf entheorie'".  deren  Aufstellung  und  Durch- 
arbeitung ich  für  eine  wertvolle  Errungenschaft  der 
modernen  Biologie  und  Seelenkunde  halte,  noch  vielfach 
grossem  Unverständnis  und  irrtümlicher  Auffassung  begegnet, 
sei  es  mir  gestattet,  sie  an  dieser  Stelle  noch  einmal  möglichst 
klar  auseinanderzulegen. 


Die  Zwischenstufentheorie. 

Zunächst  ist  zu  betonen,  dass  es  sich  bei  der  Lehre 
von  den  sexuellen  Zwischenstufen  zunächst 
garnicht  um  eine  Theorie,  sondern  nur  um  ein  Ein- 
teilungsprinzip handelt. 

Wir  verstehen  unter  sexuellen  Zwischen- 
stufen männlich  geartete  Frauen  und  weiblich  geartete 
Männer  in  allen  möglichen  Abstufungen  oder  mit  anderen 
Worten:  Männer  mit  weiblichen  und  Frauen 
mit  männlichen  Einschlägen. 

Wenn  also  eine  Frau  einen  Vollbart  oder  ein  Mann  eine 
milchgebende  weibliche  Brustdrüse  hat,  so  registrieren 
wir  solche  Personen,  die  so  offenkundige  Zeichen  des  anderen 
Geschlechts  aufweisen,  unter  die  sexuellen  Mischformen  oder 
Zwischenstufen.  Aber  nicht  nur  so  krasse  Fälle  begreifen  wir 
darunter,  sondern  auch  alle  sonstigen  und  ihre  Zahl  ist  nicht 
gering,  die  in  körperlicher  oder  geistiger  Hinsicht  zwischen 
einem  vollkommen  männlichen  Mann  und  einer  i n 
jeder  Beziehung  weiblichen  Frau  stehen. 

Die  Voraussetzung  dieses  Einteilungsprinzips  ist  dem- 
nach eine  genaue  Erklärung  dessen,  was  männlich  und  weib- 
lich ist,  und  hierin  liegt  die  Hauptschwierigkeit  und  Strittig- 
keit,  zumal  es  neben  rein  männlichen  und  weiblichen  Eigen- 
schaften auch  solche  gibt,  die  weder  männlich  noch  weib- 
lich oder  richtiger  ausgedrückt,  sowohl  männlich  als 
weiblich  sind.  Dass  diese  letzteren  aber  keine  völlige  Gleich- 
heit der  Geschlechter  bedingen,  steht  ausser  aller  Frage; 
die  Geschlechter  mögen  gleichwertig  und  gleichberechtigt  sein, 

18* 


27(5 


gleichartig  eiiul  sic  zwoit'ellos  nicht.  Was  aber  ist 
weiblich,  was  männlich? 

\Veil)lich  ist  zunächst  tlie  weibliche  Keimzelle,  das  Ei, 
sodann  die  Drüse,  in  welcher  das  Ei  bereitet  wird,  der  Eicr- 
stock,  ferner  die  sich  anschliessenden  Wege  und  Werkzeuge, 
in  denen  die  Eizelle  aufbewahrt,  befruchtet  und  bebrütet  oder 
durch  die  es,  falls  keine  Verbindung  mit  einer  männlichen 
Keimzelle  stattgefunden  hat,  periodisch  wieder  ausgeschieden 
wird;  diese  Behälter  sind:  Tube,  Uterus,  Vagina  und  Vulva 
(Eileiter,  Gebärmutter,  Scheide  und  Scham)  mit  allem  Zubehör. 
Dem  Bau  und  der  Aufgabe  dieser  Gebilde  entsprechend  ist 
das  weibliche  Becken,  in  dem  diese  Organe  grösstenteils  ge- 
lagert sind,  vom  männlichen  Becken  etwas  abweichend  in 
Grösse  und  Form.  Dadurch  ist  die  Hüftgegend  stärker  und  die 
Stellung  der  vom  Becken  abgehenden  Beine  ein  wenig  anders 
wie  beim  Manne.  Alle  diese  Organe  befinden  sich  ungefähr 
bis  zum  14.  Lebensjahr,  dem  Zeitpunkt  der  Reife  des  Eis, 
in  einem  gewissen  Ruhezustand.  In  diesem  Alter  aber  treten 
zwei  weitere  weibliche  Eigentümlichkeiten  a\if,  die  mit  der 
von  nun  ab  möglichen  Ernährung  der  Frucht  in  engstem  Zu- 
sammenhänge stehen;  die  Menstruation  — durch  die  zugleich 
mit  dem  unbefruchteten  Ei  ein  fürsorglich  bereitetes  Schleim- 
hautnest abgestossen  wird  — sowie  das  "Wachstum  der  Brust- 
drüse. Diese  bewirkt,  dass  jetzt  auch  der  Oberkörper  der 
Frau  viel  voller  wird,  sodass  die  ganze  Figur  dm'ch  die 
grössere  Fülle  des  oberen  und  unteren  Rumpfabschnittes,  die 
durch  die  schmalere  „Taille“  voneinander  getrennt  sind,  ein 
von  der  Mannesgestalt  erheblich  abweichendes  Aussehen  er- 
hält. 

Die  stärkeren  Hervorwölbungen  gehen  in  sanften  Linien 
in  die  benachbarten  Körperpartieen  über;  diese  Abrundung 
geschieht  durch  reichlichere  Ablagerung  von  Fettgewebe.  Die 
sich  darüber  spannende  Haut  ist  zarter,  feiner  und 
glatter  als  die  männliche.  Auch  ihr  Anhangsgebilde,  vor 
allem  die  Haare,  sind  dünner  und  weicher,  nur  ist  das 
Kopfhaar  wesentlich  länger,  während  die  Körperbehaarung 
nur  schwach  ist  und  die  pubes  eine  charakteristische  dem  mons 
veneris  entsprechende  V Bildung  zeigen. 


In  Uebereinstimmung  mit  ihrem  Körperbau,  der  der 
Empfängnis,  der  Aufbewahrung  und  Ernährung  dos  Kindes 
so  vortrefflich  angepasst  erscheint,  ist  auch  im  Geschlechts- 
leben die  Frau  der  empfangende,  aufnehmende,  succumbierende 
und  mehr  passive  Teil,  welcher  dem  Manne  als  zeugenden, 
inkumbierenden,  mehr  aktiven  Partner  entgegenstrebt.  Seine 
Aufmerksamkeit  und  Neigung  sucht  sie  durch  stärkere  Her- 
vorhebung und  Erhöhung  ihrer  Reize  zu  gewinnen.  Wohlge- 
merkt gilt  aber  dies  nur  vom  „absoluten“  Weibtypus,  als 
Ausgangspunkt  unserer  Betrachtungen,  von  dessen  Häufigkeit 
oder  Seltenheit  nachher  noch  einiges  zu  sagen  sein  wird. 
Der  Aufziehung  und  Erziehung  der  Kinder  widmet  die  Frau 
sich  auch  über  Schwangerschaft,  Geburt  und  Laktation  hin- 
aus in  höherem  Grade  als  der  Mann;  daher  fällt  auch  die 
stille,  häusliche  Tätigkeit,  die  Bewirtschaftung  des  „Nestes“ 
der  Familie  mehr  in  ihr  Bereich.  Aber  nicht  nur  im  Liebes- 
ieben, auch  im  sonstigen  Geistesleben  ist  die  Frau  empfäng- 
licher, eindrucksfähiger,  empfindsamer,  gemütvoller,  unmittel- 
barer als  der  Mann,  während  ihr  die  streng  abstrakte, 
grübelnde  oder  auch  rein  schöpferisch  tätige  Seite  der  mensch- 
lichen Psyche  weniger  liegt.  Doch  genügt  ihre  Produktions- 
fähigkeit vollkommen  für  die  verhältnismässig  einfachen, 
leicht  erlernbaren  Obliegenheiten  fast  aller  gegenwärtigen 
Berufe,  einschliesslich  derjenigen,  die  man  gewöhnlich  als 
männliche  bezeichnet.  Dagegen  steht  der  Beweis  noch  aus 
und  ist  es  sehr  fraglich,  ob  ihre  Begabung  für  die  Höchst- 
leistungen der  Kultur,  die  Schaffung  auserlesener  Meister- 
werke in  Technik,  Kunst  und  Wissenschaft,  ausreichend  ist. 
Wenn  manche  Vertreterinnen  der  Frauenbewegung,  wie  schon 
in  früheren  Zeiten,  so  in  der  Gegenwart  behaupten,  der 
Mangel  an  genialischen  Leistungen  und  epochalen  Schöpfungen 
käme  daher,  weil  den  Frauen  zu  ungestörter  Entfaltung  ihrer 
Entwickelungsmöglichkeiten  bisher  keine  Gelegenheit  gegeben 
sei,  so  bin  ich  mit  dem  Leipziger  Naturforscher  Wilhelm 
üstwald*)  und  anderen  der  Meinung,  dass  „die  systematische 

*)  Ostwald  vertritt  diese  Anschauung  in  seinem  Werke  „Grosse 
Männer“. 


‘278 


Unterdrückung  von  Seiten  der  Miiimer“  hier  nicht  sowohl  in 
Betracht  kommt,  als  vielmehr  die  natürliche  Beschaffenheit 
der  Frauen  an  und  für  sich.  Goethe  wäre  auch  ohne  Abi- 
turientenexamen Goetlie  geworden.  Immerhin  ist  zuzugeben, 
dass  wir  das  Mass  geistiger  Leistungsfähigkeit  beim  Weibe 
nach  Quantität  und  Qualität  exakt  abzuschätzen  bisher 
noch  nicht  recht  in  der  Lage  sind,  dass  es  sicherlich 
durch  Uebung  noch  wesentlich  gehoben  werden  kann, 
und  dass  es  völlig  unrichtig  ist,  wenn  Weininger 
und  andere  „Antifeministen“  sich  dahin  äussern,  „dass 
niemals  ein  wirkliches  Weib  die  Forderung  der  Frauen- 
emanzipation erhebe,  sondern  dass  dies  durchweg  nur  männ- 
lichere Frauen  tun,  die  ihre  eigene  Natur  missdeuten  und 
die  Motive  ihres  Handelns  nicht  einsehen,  wenn  sie  im  Namen 
des  Weibes  zu  sprechen  glauben“.  (Weininger:  Geschlecht 

und  Charakter,  Seite  89.) 

Gehen  wir  nun  zu  der  Begriffsbestimmung  des  Wortes 
„männlich“  über.  Männlich  sind  zuvörderst  die  männlichen 
Keimzellen,  die  Spermie  (der  Samen);  sowie  die  Drüsen,  welche 
den  Samen  bereiten,  die  Testes  (Hoden),  ferner  die  von  diesen 
ausgehenden  Gänge  und  Kanäle,  deren  Wandungen  einen 
Saft,  eine  „Zwischenflüssigkeit“  absondern,  durch  welche  die 
vSarnenzellen  nach  aussen  geleitet  werden:  die  ductus  ejacula- 
torri  mit  ihren  kleinen  Ausbuchtungen  und  Anhängen,  wie 
den  Samenampullen  und  der  Vorsteherdrüse  (Prostata);  männ- 
lich sind  die  zum  grössten  Teil  ausserhalb  des  Beckens  ge- 
legenen Umhüllungen  dieser  Gänge:  das  Scrotum  und  das 
membrum  virile.  Auch  beim  Manne  treten  wie  bei  der  Frau 
mit  dem  Reifen  der  Keimzellen  weitere  Geschlechtseigentüm- 
lichkeiten, die  sogenannten  sekundären  Geschlechtscharaktere 
auf;  sie  stehen  aber  nicht  in  so  naher  Beziehung  mit  der 
Fortpflanzung  wie  die  Menstruation  und  Brustdrüsenentwicke- 
lung, sind  vielmehr  nur  Veränderungen  und  Verstärkungen 
allgemeiner  Körpereigenschaften:  die  Stimme  wird  tiefer  und 
die  Haut  rauher,  indem  einerseits  die  Stimmbänder  länger 
und  breiter  werden,  den  Kehlkopf  etwas  nach  aussen  vor- 
drängend („Adamsapfel“),  andererseits  die  Haut  sich  behaart, 
besonders  reichlich  im  Gesicht  und  auf  der  Brust;  auch  die 


279 


pubes  zeigen  eine  von  der  weiblichen  abweichende,  mehr 
rautenförmig  nach  dem  Nabel  zu  sich  verlängernde 


Bildung.  Da  die  Fettpolsterung  in  der  Brust-  und  Hüft- 
partie  in  Wegfall  kommt,  überhaupt  die  allgemeine  Fett- 
ablagerung wohl  auch  infolge  der  grösseren  Aktivität  eine 
geringere  ist,  erscheinen  die  männlichen  Körperlinien  nicht 
so  weich  und  rund  wie  bei  der  Frau,  vielmehr  treten  die 
ohnehin  stärkeren  Knochen  und  Muskeln  merklicher  hervor. 
Ein  sehr  bedeutsamer  Unterschied  ist  ferner  der,  dass  die 
Ausstossung  der  Keimzellen  nicht  wie  bei  der  Frau  perio- 
disch und  unwillkürlich  erfolgt,  sondern  viel  unregelmässiger, 
bewusster  und  reichlicher  vor  sich  geht.  Im  Geschlechtsleben 
ist  e r infolge  davon  mehr  der  aktive,  aggressive,  aufsuchende, 
inkumbierende,  abgebende  Teil.  Der  erste  Verkehr  bewirkt 
auch  keine  der  weiblichen  Defloration  entsprechende  Ver- 
änderung. Der  ganzen  Sexualsphäre  somit  unabhängiger 
gegenüberstehend  ist  ihm  von  Natur  mehr  Spielraum  gegeben, 
die  sonstigen  Körper-  und  Geisteskräfte  zu  entwickeln,  und 
erscheint  er  auf  beiden  Gebieten  daher  als  der  vermögendere, 
regsamere,  unternehmendere,  unstetere,  differenziertere  Mensch 
— auch  hier  ist  immer  nur  vom  absoluten  Mannestyp  die 
Rede  — während  ihm  körperlich  und  geistig  das  Zierliche, 
Zarte,  Anmutige,  Schmiegsame  des  Weibes  mehr  mangelt. 

Mit  diesen  Unterschieden,  die  allerdings  die  hauptsäch- 
lichsten sind,  ist  die  Besonderheit  männlicher  und  weiblicher 
Eigenart  noch  immer  nicht  völlig  erschöpft.  Würden  wir  jeden 
einzelnen  Teil  des  menschlichen  Körpers  in  Bau  und  Aufgabe 
durchgehen,  so  würde  sich  überall  eine  wenn  auch  noch  so 
geringe  Verschiedenheit  in  der  durchschnittlichen  Beschaffen- 
heit der  Geschlechter  nachweisen  lassen,  die  freilich  in  allen 
Fällen  nur  auf  ein  kleines  plus  oder  minv  hinausläuft.  So 
beträgt  — um  ein  beliebiges  Beispiel  herauszugreifen  — die 
mittlere  Grösse  des  Mannes  (in  Deutschland)  167,  die  des 
AVeibes  156  cm.  Die  Länge  des  Rumpfes  ist  bei  den  Frauen 
im  Verhältnis  zu  den  Beinen  grösser  wie  bei  den  Männern, 
während  bei  letzteren  die  Rumpflänge  etwa  35.9%  der  Körper- 
länge beträgt,  beläuft  sie  sich  beim  Weibe  durchschnittlich 


280 


\i\ii  37.8%  der  Körpergröese  (nach  Haidcy,  Quctelet).  In- 
folgedessen erscheinen  die  Frauen  beim  Sitzen  grosser 
als  gleich  grosso  Männer  und  machen  einen  viel 
kleineren  Eindruck  in  Männer-  als  in  Frauenkleidern,  was 
allerdings  auch  daher  kommt,  dass  das  Gewand  ihres  Unter- 
körpers im  Gegensatz  zu  dem  männlichen  Beinkleid  gleich- 
massig  bis  zur  Taille  heraufreicht,  sodass  die  relative  Kürze 
der  Beine  unsichtbar  bleibt.  Der  Mann  hat  durchschnittlich 
(nach  Bischoff)  41,8%  Muskelgewebe  und  18,2%  Fettgewebe,  die 
Frau  dagegen  nur  35,8%  Muskel-,  dafür  aber  28,2%  Fett- 
gewebe. Die  Kraft  der  Frauenhand  erweist  sich  mit  dem 
Dynamometer  gemessen  etwa  ein  Drittel  kleiner  als-  die  des 
Mannes;  er  kann  etwa  das  Doppelte  seines  Ge-wdehtes  tragen, 
die  Frau  ungefähr  die  Hälfte  des  ihrigen.  Im  Blute  finden 
wir  beim  Mann  auf  1 Gramm  5 Millionen,  bei  der  Frau 
4—4%  Millionen  roter  Blutkörperchen,  der  Gehalt  an  Blut- 
farbestoff beträgt  beim  ^lanne  14,5%,  bei  der  Frau  13,2%, 
das  männliche  Herz  schlägt  durchschnittlich  72  Mal,  das 
weibliche  80  Mal  in  der  Minute.  Es  würde  zu  weit  führen 
und  auch  hier  für  den  Z-vv^eck  unserer  Darlegung  ohne  Be- 
deutung sein,  wollten  wir  hier  jedes  Stück  des  Körpers  für 
sich  besprechen.  Wenn  ich  bereits  vor  Jahren  in  meinen 
.,  Geschlechtsübergängen ‘‘  den  hypothetischen  Schluss  zog, 
dass  sich  der  geschlechtliche  Durchschnittscharakter  höchst 
wahrscheinlich  wohl  bis  auf  jede  einzelne  Körperzelle  als 
die  Bausteine  des  ganzen  Organismus  erstrecken  würde,  so 
haben  die  scharfsinnigen  Forschungen,  w'elche  in  neuerer  Zeit 
Wilson,  Rabl,  Boveri,  van  Beneden  und  andere  über  die  In- 
dividualität der  Zelle  angestellt  haben,  diese  Annahme  voll- 
auf bestätigt.  Diese  Forscher  nehmen  auf  Grund  ihrer  mit 
den  feinsten  Beobachtungsmitteln  angestellten  mikroskopischen 
Studien  an,  dass  es  Spermien  (Samenzellen)  von  männlichem 
und  -weiblichem  Charakter  gibt  und  höchst  wahrscheinlich 
auch  männliche  und  weibliche  Eizellen.  Die  Geschlechter 
unterscheiden  sich  morphologisch  voneinander  durch  eine 
verschiedene  Zahl  der  Chromosomenkörperchen.  Dieser  Chro- 
mosomenbestand ist  auch  bei  der  befruchteten  Eizelle,  aus 
der  ein  Weibchen  wird,  ein  anderer  wie  bei  der,  aus  welcher 


281 


sich  ein  Männchen  entwickelt.  Dementsprechend  findet  sich 
auch  bei  den  Tochtcrzellen,  welche  durch  unaufhörliche 
Zweiteilung  der  Chromosomen  aus  der  einen  Ur-  oder  Mutter- 
zelle hervorgehen,  um  schliesslich  den  ganzen  Organismus  als 
höhere  Einheit  aui'zubauen.  je  nach  ihrer  Geschlechtszu- 
gehörigkeit ein  verschieden  starker  Chromatingehalt.  Es  be- 
darf wohl  kaum  der  Erwähnung,  dass,  wenn  auch  die  Ei- 
zellen und  Samenzellen  .schon  vor  ihrer  Vereinigung  eine 
männliche  oder  weibliche  Vorbedeutung  haben,  in  den  Chro- 
mosomenkörperchen selbst  die  männliche  und  weibliche  Sub- 
stanz gemischt  enthalten  ist;  stammen  sie  doch  immer  wieder 
von  Urzellen  ab,  die  beide  Substanzen  in  sich  vereinigten. 
Das  geht  auch  daraus  hervor,  dass  die  Väter  durch 
die  männlichen  Keimzellen  Eigenschaften  ihrer  eigenen 
Mütter,  die  Mütter  durch  die  w'eibliche  Eizelle  Eigentümlich- 
keiten ihrer  Väter  auf  die  Nachkommen,  gleichviel  ob  diese 
männlich  oder  weiblich  sind,  vererben. 

Kehren  wir  jedoch  aus  dem  Bereich  des  mikroskopischen 
in  das  makroskopische,  von  den  zwar  viel  versprechenden 
aber  noch  keineswegs  abgeschlossenen  Beobachtungen  der 
Zellenforscher  zu  den  Ueberlegungen  zurück,  wie  sie  aus 
jedermann  zugänglichen  Tatsachen  gezogen  werden  müssen, 
so  wollen  wir,  um  das  w'eitere  zu  vereinfachen,  das  Bisherige 
dahin  zusammenfassen,  dass  wir  die  Unterschiede  der  Ge- 
schlechter in  vier  deutlich  voneinander  abgrenzbare  Gruppen 
teilen;  sie  betreffen,  wie  wir  sehen; 

I.  die  Geschlechtsorgane, 

II.  die  sonstigen  körperlichen  Eigenschaften, 

III.  den  Geschlechtstrieb, 

IV.  die  sonstigen  seelischen  Eigenschaften. 

Ein  vollkommen  weibliches,  „absolutes“  Weib  wäre 
demnach  ein  solches,  das  nicht  nur  Eizellen  produziert,  son- 
dern auch  in  jeder  anderen  Beziehung  dem  weiblichen  Typus 
entspräche,  ein  „absoluter“  Mann  ein  solcher,  der 
Samenzellen  bildet,  zugleich  aber  auch  in  allen  übrigen 
Stücken  den  männlichen  Durchschnittstypus  aufweist.  Der- 
artig absolute  Vertreter  ihres  Geschlechts  sind  aber  zu- 
nächst nur  Abstraktionen,  konstruierte  Extreme,  in  Wirk- 


lichkeit  sind  sie  bisher  nicht  beobachtet,  vielmehr  hat  man 
bei  jedem  Manne  wenn  auch  noch  so  geringfügige  Anzeichen 
seiner  Abstammung  vom  Weibe,  bei  jedem  Weibe  ent- 
sprechende Reste  männlicher  Herkunft  nachweisen  können. 
Nehmen  wir  jedoch  selbst  an,  dass  l\Ienschen  existierten,  die, 
um  es  zahlenmässig  auszudrücken,  zu  100  Prozent  männlich 
wären  oder  einen  ebenso  hohen  weiblichen  Gehalt  besässen, 
so  steht  es  doch  ausser  aller  Frage,  und  auch  hier  befinden 
wir  uns  immer  noch  auf  dem  Gebiet  einfacher  Erfahrungs- 
tatsachen, dass  sehr  vielfach  Personen  Vorkommen,  die,  trotz- 
dem sie  Eizellen  tragen,  Eigenschaften  aufweisen,  die  im 
allgemeinen  dem  männlichen  Geschlecht  zukömmlich  sind, 
und  dass  es  andererseits  Menschen  gibt,  die  Samenzellen  ab- 
sondorn,  gleichwohl  aber  weibliche  Eigentümlichkeiten  erkennen 
lassen.  Da  wir  im  Sprachgebrauch  gewöhnlich  die  Besitzer 
von  Eizellen  schlankweg  als  Frauen,  die  Träger  von  Samen- 
zellen einfach  als  Männer  bezeichnen,  gibt  es  also  Frauen 
mit  männlichen.  Männer  mit  weiblichen  Einschlägen,  und 
diese  Mischformen  sind  es  eben,  die  unter  den  Ausdruck  „sexu- 
elle Zwischenstufen“  gefasst  werden.  Wir  können  sie,  wie 
die  Geschlechtsunterschiede  selbst,  am  übersichtlichsten  nach 
den  vier  angeführten  Gesichtspunkten  ordnen. 

In  die  erste  Gruppe  der  Zwischenstufen  gehören  demnach 
solche,  die  auf  dem  Gebiet  der  Geschlechtsorgane  liegen, 
die  Zwitterbildungen  im  engeren  Sinn,  die  soge- 
nannten „Scheinzwdtter".  Männer,  die  durch  weibliche 
Spaltbildungen  an  den  Genitalien,  Frauen,  die  durch  ein  ge- 
steigertes Wachstum  dieser  Organe  schon  oft  genug  bei  der 
Geburt  zu  Irrtümern  in  der  Geschlechtsbestimmung  Anlass 
gaben.  Franz  von  Neugebauer  hat  in  seinem  klassischen 
Handbuch*)  über  den  „Hermaphroditismns  beim  Menschen", 
dem  Ergebnis  fünfzehnjähriger  Sammelforschung,  die  hier 
vorkommenden  Abstufungen  und  Kombinationen  mit  vorbild- 
lichem Fleiss  und  grösstem  Verständnis  gesammelt  und  von 
den  verschiedensten  Gesichtspunkten  aus  kritisch  gesichtet. 

*)  Franz  Ludwig  von  Xeugebauer,  Vorstand  der  gynäkologischen  Ab- 
teilung des  Evangelischen  Hospitals  zu  Warschau;  Hermaphroditismus  beim 
Menschen.  Verlag  von  Dr.  Werner  Klinkhardt,  Leipzig  1908. 


283 


Die  zweite  Rubrik  der  sexuellen  Zwischenstufen  bezieht 
sich  auf  körperliche  Eigenschaften  ausserhalb  der  Geschlechts- 
organe. Hier  finden  wir  Männer  mit  weiblichem  ßrust- 
drüsengewebe  (Gynäkomasten)  und  Frauen  ohne  solches  (An- 
dromastie,  auch  das  Wort  A-mazou-e  bedeutet  Brustlose); 
Frauen  mit  männlicher  Behaarung,  etwa  männlichem  Bart 
oder  männlichen  pubes  (feminae  barbatae,  Androtrichie)  und 
Männer  mit  weiblichem  Haartypus,  wie  weiblichen  pubes,  Bart- 
losigkeit  usw.  Frauen  mit  männlichem  Kehlkopf  und  Organ 
(Androglottie)  und  Männer  mit  weiblich  geformten  Stimm- 
bändern und  weiblicher  Stimmbildung  (Gynäkoglottie),  Männer 
mit  weiblichem  Becken  (Gynosptivsie)  und  Frauen  mit  Männer- 
becken*) (Androsphysie),  Männer  mit  weiblichem  Knochen- 
und  Muskelbau  und  Frauen  mit  männlichem  Skelett  und 
männlicher  Muskulatur,  von  männlicher  Grösse  und  Figur, 
Männer  mit  weiblichen,  Frauen  mit  männlichen  Bewegungen,**) 
Männer  mit  dem  zarten  Teint  der  Frau,  und  Frauen  mit  der 
derberen  Haut  des  Mannes,  Frauen,  die  für  Handschuhe  und 
Fussbekleidung  „Herrennummern“  und  Männer,  die  „Damen- 
nummern“ tragen  müssen:  kurzurn,  welchen  Teil  des  Körpers 
wir  auch  herausgreifen  mögen,  stets  werden  wir  in  nicht  zu 

*)  Der  berühmte  Berliner  Anatom  Waldeyer  (vgl.  „Das  Becken,  topo- 
graphisch-anatomisch usw.“  Teil  II.  Bonn  1899.  S.  393)  sagt  bezüglich  dieses 
Organs,  bei  dem  man  a priori  doch  gewiss  eine  strenge  geschlechtliche  Diffe- 
renzierung voraussetzen  sollte:  „Wir  finden  auch  Weiherbecken  vom  Habitus 
der  Männerbecken.  Die  Knochen  sind  massiver,  die  Darmbeine  stehen  steil, 
die  Schambogen  sind  eng,  die  Beckenhöhle  hat  eine  Trichterform.  Meist  haben 
die  betreffenden  Frauen  auch  in  ihrem  übrigen  Körperhabitus  etwas  Männ- 
liches (Viragines),  doch  braucht  dies  nicht  immer  der  Fall  zu  sein.“ 

**)  Die  graziös  schwebenden  Bewegungen  weiblicher  Männer  und  das 
gravitätische  Einherschreiten  männlicher  Frauen  gab  schon  den  antiken 
Schriftstellern  zu  meist  spöttischen  Bemerkungen  Anlass;  so  berichtet  bei- 
spielsweise der  Historiker  Dio  Cassius  in  seiner  römischen  Geschichte  Buch  79 
Kap.  16  folgendes;  „Als  der  schöne  Athlet  Aurelius  Zoticus  in  den  Palast 
trat  und  den  Kaiser  Antonius  Heliogabalus  wie  üblich  mit  den  Worten; 
„„Sei  gegrüsst  Kaiser  und  Herr““  salutierte,  bewegte  dieser  den  Nacken 
seltsam  wie  ein  Mädchen,  drehte  kokett  die  Augen  und  sprach;  „Nenne  mich 
doch  nicht  Herr,  Deine  Herrin  bin  ich““;  er  sank  dem  .\urelius  an  die 
Brust  und  nahm  an  seinem  Busen  ruhend  wie  eine  Geliebte  t*c 

Iquofjirt])  das  Mahl.“ 


•281 


seltenen  Fällen  männliche  Durchschnittsformen  bei  Frauen, 
weibliche  hei  Männern  wahrnehmen  können. 

Zn  der  dritten  Abteilung  sexueller  Zwischenstufen,  den 
hinsichtlich  ihres  Geschlechtstriebes  abweichenden  Personen, 
rechnen  wir  Männer,  die  Frauen  gegenüber  mehr  zu  einem 
sexuellen  Verkehr  nach  Frauenart,  beispielsweise  zur  Sucemn- 
bierung  neigen,  die  aggressive  Weiber,  sowie  masochistische*) 
Betätigungsformen  lieben.  Diesen  entsprechen  unter  den 
Frauen  solche,  die  zur  Incumbierung  neigen,  sexuell  sehr 
aggressiv  sind  (von  Prostituierten,  wo  hierfür  ganz  andere 
Ursachen  in  Betracht  kommen,  ist  hier  natürlich  ab- 

zusehen) sowie  solche,  die  sadistische  Regungen  zeigen.  In  be- 
zug auf  die  Richtung  des  Geschlechtstriebes  deutet  es  bei 
einem  Manne  auf  Feminität,  wenn  er  sich  zu  Frauen  von 
männlichem  Aussehen  und  Charakter,  zu  sogenannten  „ener- 
gischen Frauen",  manchmal  sogar  homosexuellen,  hingezogen 
fühlt,  auch  zu  männlich  gekleideten  sowie  zu  solchen,  die 
wesentlich  gereifter,  intellektueller,  älter  als  er  selbst,  sind. 
Bei  der  Frau  hinwiederum  verrät  sich  die  männliche  Bei- 
mischung in  einer  Vorliebe  für  weiblich  geartete  Männer,  sehr 
anlehnungsbedürftige,  sehr  jugendliche,  ungewöhnlich  zartbe- 
saitete Männer,  überhaupt  für  solche,  die  in  ihren  Zügen, 
im  Benehmen  und  Charakter  mehr  dem  femininen  Typus  ent- 
sprechen.**) Endlich  gehören  auch  in  diese  Kategorie  der 

*)  D:i  der  körperliche  und  seelische  Sexual-Passivismus,  den  wir  nach 
Krafft-Ebing  .Masochismus  nennen,  wie  dieser  Autor  sehr  richtig  betont  luit, 
eine  ,.\usartung  spezifisch  weiblicher  psychischer  Eigentümlichkeiten'"  ist,  so 
ist  sein  Auftreten  bei  einem  Manne  zweifellos  ein  stark  femininer  Zug,  der 
nach  meiner  Erfahrung  übrigens  auch  häufig  mit  anderweitigen  Zeichen  der 
Feminität  vergesellschaftet  ist.  Da  umgekehrt  der  Sadismus  — um  mit 
Krafft-Ebing  zu  reden  — „eine  pathologische  Steigerung  männlicher  psychi- 
scher Geschlechtscharaktere"  darstellt,  so  sind  sadistisch  veranlagte  Frauen 
männliche  Frauen.  Demnach  zählen  wir  den  Masochismus  beim  Manne,  den 
Sadismus  der  Frau  zu  den  in  das  Gebiet  der  sexuellen  Zwischenstufen  ge- 
hörigen Erscheinungen,  während  unseres  Erachtens  der  Sadismus  beim  Manne 
und  der  Masochismus  der  Frau  lediglich  .Auswüchse  (Hypertrophieen)  von 
Instinkten  sind,  die  in  dem  Geschlechtstrieb  wurzeln,  der  dem  Geschlecht 
des  Betrefienden  entspricht. 

**)  Schon  Juvenal  ^Satyre  VI)  und  Martial  67)  berichten  von 
Frauen,  die  nur  „schüchterne  Eunuchen  mit  bartlosen  Gesichtern“  lieben  können. 


285 


Zwischenstufen  Frauen,  die  nicht  nur  weiblich  geartete  Männer 
sondern  auch  männlich  geartete  Frauen  lieben  (Bisexuelle) 
oder  auch  nur  letztere  allein  oder  sogar  ganz  nach  Art 
..richtiger"  Alänner  Frauen  von  durchaus  weiblicher  Art 
(Homosexuelle).  Das  Gegenstück  zu  dieser  Unterabteilung 
sind  Männer,  die  ausser  Frauen  von  männlicher  Art  auch 
Alänner  von  femininer  Art  lieben  (Bisexuelle)  oder  nur  diese 
oder  auch  ganz  wie  Frauen  mehr  oder  weniger  stark  ausge- 
prägte Alännertypen  (Homosexuelle). 

In  Gruppe  lA".,  unter  welche  wir  die  nicht  unmittelbar 
mit  dem  Liebesieben  zusammenhängenden  seelischen  Eigen- 
schaften begriffen,  sind  den  sexuellen  Zwischenstufen  beizu- 
zählen Alänner  von  femininer  Geistes-  und  Sinnesart,  die  sich 
in  ihrer  Lebensweise,  ihrer  Geschmacksrichtung,  ihren  Gesten 
und  Alanieren,  ihrer  Sensitivität  vielfach  auch  in  ihren  Schrift- 
zügen wiederspiegelt,  auch  Alänner,  die  sich  mehr 
oder  weniger  wie  Frauen  kleiden  oder 
ganz  als  solche  leben;  andererseits  Frauen 
von  männlichem  Charakter,  männlicher  Denk-  und  Schreib- 
weise, starker  Zuneigung  zu  männlichen  Passionen,  männ- 
licher Tracht,  natürlich  auch  solche  Frauen,  die  mehr 
oder  minder  ganz  das  Leben  eines  Mannes  führen. 
Hier  sind  also  auch  unsere  Transvestiten 
unterzubringen.  Ich  will  diese  lAh  Gruppe  noch 
durch  wenige  Sätze  charakterisieren,  die  ich  ihnen  bereits  vor 
länger  als  zehn  Jahren  in  dem  einleitenden  Aufsatz  der  Jahr- 
bücher für  sexuelle  Zwischenstufen  widmete: 

„Dass  die  geistigen  Geschlechtsunterschiede  sehr  viele 
Ausnahmen  erleiden,  lehrt  die  Geschichte  und  tägliche  Er- 
fahrung. Es  gibt  Alänner  mit  dem  zarten  weichen  Gemüt 
einer  Alarie  Baskiertschew,  mit  weiblicher  Treue  und  Scham- 
haftigkeit, mit  überwiegend  reproduktiver  Veranlagung,  mit 
fast  unüberwindlicher  Neigung  zu  weiblichen  Beschäftigungen 
wie  Putz  und  Kochen,  auch  solche,  die  an  Eitelkeit,  Ko- 
ketterie, Klatschsucht  und  Feigheit  das  weibischste  AA^eib 
hinter  sich  lassen,  und  Frauen  gibt  es,  welche  wie  Christine 
von  Schweden  an  Energie  und  Grosszügigkeit,  wie  Sonja 
Kowalewska  an  Abstraktheit  und  Tiefe,  wie  viele  moderne 


286 


FraiuMirechtlerinnen  an  Aktivität  und  Ehrgeiz,  welche  an 
Vorliebe  zu  männlichen  Spielen,  wie  Turnen  und  Jagen,  an 
Härte,  Rohheit  und  Tollkühnheit  den  Durchschnittsmann  hoch 
überragen.  Es  gibt  Frauen,  die  mehr  an  die  Oel'fentlichkeit, 
und  Mä.nner,  die  mehr  in  die  Häuslichkeit  passen.  Es  gibt 
nicht  eine  spezifische  Eigenschaft  des  Weibes,  die  sich  nicht 
auch  gelegentlich  beim  Manne,  keinen  männlichen  Charakter- 
zug, der  sich  nicht  auch  bei  Frauen  fände.“  — 

Alle  diese  andersgeschlechtlichen  Einschläge  können  in 
sehr  verschieden  hohem  Grade  vorhanden  sein.  Dieser  hängt 
einmal  wesentlich  vom  Lebensalter  ab.  Am  markantesten  er- 
scheinen die  Geschlechtscharaktere  zwischen  dem  20.  und 
50.  Lebensjahre.  Vorher  im  Jünglings-  und  Jungfrauenalter 
zeigen  bekanntlich  auch  nach  der  Reife  Mädchen  oft  ein  iu- 
veniles, junge  ^länner  ein  feminines  Gepräge.  Und  auch  später 
in  der  Rückbildungsperiode  nach  dem  5.  Jahrzehnt  stellen 
sich  bei  Matronen  nach  den  Wechseljahren  oft  leichte  virile 
Stigmata  ein.  während  alte  Männer  häufig  mancherlei  frauen- 
artigeres bekommen.  Vor  allem  aber  treten  auch  auf  der 
Höhe  des  Lebens  selbst  diese  Beimischungen  in  äusserst  ver- 
schiedener Stärke  auf.  Es  kommt  vor,  um  ein  recht  augen- 
fälliges Beispiel  herauszugreifen,  dass  ein  Bartflaum  im  Ge- 
sicht eines  Weibes  nur  eben  angedeutet  ist,  es  kann  der 
Bartwuchs  auf  der  Oberlippe  aber  auch  so  erheblich 
sein,  dass  er  mehr  oder  weniger  häufig  die  Entfernung 
mittels  des  Rasiermessers  erfordert,  ja  es  kann  sogar  aus- 
nahmsweise ein  stattlicher  Vollbart  bei  einem  Weibe  vor- 
handen sein.  Weiter  ist  von  Wichtigkeit,  dass  alle  diese  Ein- 
schläge isoliert  oder  k o m b i n i e r-t  auftreten  können. 
So  ist  es  häufig,  um  bei  dem  letzten  Beispiel  zu  bleiben, 
dass  eine  femina  barbata  („Bartdame“)  einen  Vollbart  be- 
sitzt, in  jeder  sonstigen  Beziehung  aber  durchaus  wmiblich 
ist.  Es  kommen  aber  auch  alle  nur  erdenklichen  Kombina- 
tionen, alle  möglichen  Verbindungen  männlicher  und  weib- 
licher Eigenschaften  vor.  Legen  wir  der  Berechnung  der  An- 
zahl möglicher  Kombinationen  nur  jede  der  vier  Haupt- 
grüppen  als  ein  Ganzes  zu  Grunde,  vergegenwärtigen  wir 
uns  also,  dass  erstens  die  Geschlechtsteile  .,  A“,  zweitens  die 


übrigen  körperliclien  Eigenschaften  ,,  B“,  drittens  der  Ge- 
schlechtstrieb C“,  viertens  die  sonstigen  seelischen  Eigen- 
schaften „D“,  männlich  ,,m“,  weiblich  „w“  oder  gemischt 
„m-j-w“  sein  können,  so  ergibt  sich  folgende  Uebersicht  der 

möglichen  Kombinationen: G 


An.  Bn.  C„. 

Am  Bw  CmDra 
Am  Bm+wCm  Dm 

A\v  Bm  Cm  Dm 
Aw  B\v  Cm  Dm 
Ayv  Bm+w  Cm  Dm 

Am  + w Bm  Cm  Dm 

Am+w  Bw  Cm  Dm 

Am  + w Bm+w  Cm  Dm 

Am  Bm  Cyv  Dm 
Am  B\v  Cyy  Dm 

Am  Bm+wCvv  Dm 

A\v  Bm  Cvv  Dm 
Aw  Bw  Cw  Dm 
Aw  Bm^-w  Cw  Dm 

Am  + w Bm  Cw  Dm 

Am+w  Bw  Cw  Dm 
Am+w  Bm  + w Cw  Dm 

Am  Bm  Cm+w  Dm 

Am  B^  Cm4-w  Dm 

Am  Bm+w  Cm+w  Dm 

1 

Aw  Bm  Cm+w  Dm 

Aw-  Bw  CmfwDm 

Aw  Bm.)-w  Cm  + w Dm 

Am  + wBm  Cm^w  Dm 

Am  + wBw  Cm^i-w  D m 

Am+w  Bm+w  Cnj.|.w  Dm 

1 

Tabelle  I. 


Am 

Bm 

Cm 

Dw 

Aw 

Bm 

Cm 

Dw 

Am+w  Bm 

Cm  Dw 

Am 

Bw 

Cm 

Dw 

Aw 

Bw 

Cm 

Dw 

Am+w  Bw 

Cm  Dw 

Am 

Bra+w  Cm 

Dw 

Aw' 

Bri  + w Cm 

Dw 

Am+w  Bm  + w Cm  Dw 

Am 

Bm 

Cw 

Dw 

Aw 

Bm 

Cw 

Dw 

Am+w  Bm 

Cw  Dw 

Am 

Bw 

Cw 

Dw 

Aw 

Bw 

Cw 

Dw=>) 

Am+w  Bw 

Cw  Dw 

■^m 

Bm+w  Cw 

Dw 

Aw 

Bm+w  Cw 

Dw 

Am+w B mwCw  Dw 

Am 

Bm 

Cm+w  Dw 

Aw 

Bm 

Cm  + w D w 

Am  + w Bm 

Cm+w  Dw 

Am 

Bw 

Cm+w  D w 

Aw 

Bw 

Cm+w  Dw 

Am+w  Bw 

Cm+w  Dw 

Am 

Bm+w 

Cm+w  D w 

Aw 

Bm+w 

Cni+w  D w 

Am+w  Bm+w 

Cm  + w Dw 

Tabelle  II. 


Die  naclifolgende  Berechnung  der  Zahl  der  Zwischenstufentypen 
habe  ich  in  Gemeinschaft  mit  Prof.  Dr.  K.  F.  Jordan  ausgeführt. 

’)  Vollmann.  ®)  Voll  weih. 


288 


Am  Bm  Cm  Dm^-w 

AmBv  Cni  Dm  + w 

Ambm-ewCm 

AwBm  Cm  Dm+w 
Aw'B\v  C'm  Dm+w 
Aw  Bm  + w Cm  Dm  + w 

Am+wBm  CmDm+w 
Am+w  Bw  CmDm  + w 
Am+w  Bm  + w Cm  Dm+w 

AmBm  C^^  Dni  + w 
AmBni  C\v  Dm  + w 

AmBm^-w  Cw  Din.(-w 

A\vBm  C'w  Dm+w 
Aw  Bw  C’w  Dm+w 
Aw-Bm+wCw  Dm+w 

Am+wBm  CwDm+w 
Am+w  Bw  CwD„i+w 

Am  + w Bm+w  Cw  Dm+w 

AmBm  Cm.(-wDm+\v 
AmB\v  Cm.f-w  Dm^-w 

AmBm  + wCm+\v  Dm+w 

A\v'  Bm  Cm+ w D,n  + w 
A\v  Bw  C'm+w  Dm  + w 
AwBm+w  Cm+w  Dm+w 

Am+w  Bm  Cm+w  Dm  + w 
Am  + w Bw-  Cm  + w Dm+w 
Am  + wKm  + nCm  + wDm+w^) 

Tabelle  III. 


Die  erste  Horizontalreihe  der  Tabelle  I enthält  3 Kom- 
binationen sexueller  Eigenschaftsgruppen,  die  sich  dadurch 
unterscheiden,  dass  bei  übereinstimmenden  sekundären,  ter- 
tiären und  quartären  Geschlechtsmerkmalen  (Bm,  C'»,  D*"), 
die  primäre  Gruppe  die  drei  verschiedenen  möglichen  Fälle 
A>»,  Aw  und  Am  -f  w aufweist. 

Die  zweite  und  dritte  Horizontalreihe  der  Tabelle  I sind 
Wiederholungen  der  ersten,  mit  dem  Unterschiede,  dass 
die  sekundären  Geschlechtsmerkmale  aus  Bm  in  B« 
und  Bm  — w variiert  sind. 

Im  ganzen  gibt  das  3 • 3 = oder  3-  = 9 Kombinationen. 

Die  zweite  und  dritte  Horizontal-K  o I u m n e der 
Tabelle  I sind  Wiederholungen  der  ersten  Kolumne,  mit  dem 
Unterschiede,  dass  die  tertiären  Geschlechtsmerkmale 
aus  Cm  in  C«-  und  Cm  4-  « variiert  sind. 

Somit  enthält  die  ganze  Tabelle  I;  3*9  oder  3*  3- 3 
oder  3’'^  = 27  Kombinationen. 

Nun  folgen  Tabelle  II  und  III,  die  sich  dadurch  von 
Tabelle  I unterscheiden,  dass  die  q u a r t ä r e n Geschlechts- 
merkmale aus  Dm  in  Dw  und  Dm  4-  w variiert  sind,  während 
sonst  alles  wie  in  I kombiniert  ist. 

b VülIkommeDer  Zwitter. 


289 


Dies  ergibt  als  Zahl  aller  möglichen  Kombinationen 
der  4 Hauptgruppen  von  Eigenschaften  3 • 27  oder  3'^  = 
■81  Kombinationen. 

Nun  setzen  sich  aber  die  Eigenschaftsgruppen  A,  B,  C 
und  D aus  einer  Anzahl  Elemente  zusammen,  Einzel- 
eigenschaften also,  die  wiederum  jede  für  sich  männlichen, 
weiblichen  oder  gemischten  Charakter  offenbaren  können. 

Bei  näherer  Betrachtung  lässt  sich  — zugunsten  einer 
Uebereinstimmung  in  der  Zahl  — jede  der  4 Eigenschafts- 
gruppen in  4 Elemente  zerlegen,  obgleich  zuzugeben  ist,  dass 
die  Analyse  ohne  Schwierigkeit  auch  noch  viel  mehr  Einzel- 
eigenschaften feststellen  könnte. 


Die  von  uns  ins  Auge  gefassten  Elemente  wmren  etwa: 


Eigenschattsgr uppe  A. 

Eigenschaftsgruppe 

B. 

(Primäre  Geschlechtsmerkmale.) 

(Sekundäre  Geschlechtsmerkmale.) 

1.  Keimstock:  A^ 

l.r  Haarkleid : 

B* 

2.  Ei-  oder  Samenleiter;  A^^ 

2.  Kehlkopf: 

3.  Geschlechtshöcker: 

3.  Brust: 

Bin 

4.  Geschlechtsrinne ; A 

4.  Becken: 

Bir 

Eigenschaftsgruppe  C. 

Eigenschaftsgruppe 

D. 

(Tertiäre  Geschlechtsmerkmale.) 

(Quartäre  Geschlechtsmerkmale ) 

1.  Richtungsart: 

1.  Gefühlsleben: 

DI 

2.  Annäherungsart:  C” 

2.  Denktätigkeit: 

D” 

3.  Gefühlsart: 

3.  Beschäftigung: 

Din 

4.  Botätigungsart: 

4.  Kleiduug: 

Div 

Jede  dieser  4 • 4 oder  16  Eigenschaften  kann  nun,  wie 
gesagt,  abermals  von  männlicher,  weiblicher  oder  gemischter 
Beschaffenheit  fm,  w imd  m -|-  w)  sein,  sodass  sich,  da  alle 
16  Eigenschaften  irgendwie  in  jedem  Individuum  vorhanden 
sind,  noch  eine  viel  mannigfaltigere  Möglichkeit  von  Kom- 
binationen ergibt  als  bei  unserer  vorhergehenden  Berechnung, 
wo  wir  die  Eigenschafts  gruppen  noch  nicht  in  ihre  Be- 
standteile aufgelöst,  sondern  als  Einheiten  betrachtet  hatten. 

Eirschleld,  Die  Transvestiten.  19 


■290 


Greifen  wir  die  erste  solcher  Kombinationen  als  Bei- 


spiel heraus: 

»I  A II  A Ul  A IV  R I Rii  Rill  Riv  r I pii  piii  f'’’  n I nii  di"  di'’ 

m ^ A r>->  A.  »n  • k ni  m iTi  Hl  m m ^tji  m ^ Tn  ^ n\ 


würde  einen  V o 1 1 m a n n von  der  denkbar  ausgesprochensten 
Art  btxieuten.  d.  li.  Keimstock,  Samenleiter,  Geschlechts- 
liöcker  ■ und  Geschlechtsrinne  wären  bei  ihm  von  männlichem 
Typus;  desgleichen  das  Haarkleid,  der  Kehlkopf,  die  Brust 
und  das  Becken;  sein  geschlechtlicher  Trieb  und  geschlecht- 
liches Verhalten  würde  in  der  Richtung  (ob  jung  oder  alt), 
in  der  Art  der  Annäherung  (ob  aggressiv  werbend  oder 
lockend),  in  der  Gefühlsart  (die  teils  im  Seelischen,  teils  im 
Sinnlichen  wurzelt)  und  in  der  Art  der  Betätigung  (ob  aktiv 
oder  passiv,  incubus  oder  succubus)  männlichen  Charakter 
offenbaren,  d.  h.  das  Objekt  seines  Begehrens  würde  das  nor- 
male (feminin  geartete)  Weib  sein,  und  ihm  gegenüber  würde 
er  in  seelischer  und  sinnlicher  Beziehung  aggressiv  und  aktiv 
auftrcten;  endlich  würde  er  auch  im  Gefühlsleben  und  der 
Denktätigkeit,  in  der  ihm  konformen  Beschäftigung  und  der 
gewälilten  Kleidung  sich  als  kraftvolle  und  streng  männliche 
Person  darstellen,  als  Beherrscher  der  Logik,  nicht  mit  Vor- 
liebe für  Sticken,  Nähen  sowie  Kochen  u.  dergl.,  sondern  für 
Muskelarbeit  und  die  Kräfte  des  Verstandes  in  Anspruch 
nehmende  Kopfarbeit,  und  er  würde  die  Männerkleidung  der 
Prauentracht  vorziehen.  — 

Welche  Grösse  hat  nun  die  Zahl  der  sich  aus  diesen  Ge- 
sichtspunkten ergebenden  Kombinationen'? 

Zunächst  liefert  die  Variation  des  A^  (als  A.^  und 

^m+w)  3 Fälle.  Jedem  dieser  Fälle  ordnen  sich  durch  Variation 
des  AU  (als  A”,  A”  und  ) 3 weitere  Fälle  unter,  das  gibt 

also  3 3 oder  3^  = 9 Kombinationen. 


Abermals  ordnen  sich  jedem  dieser  Fälle  wieder  3 Fälle 
durch  Variation  des  AUi  unter  = 3-9  oder  3^  (=  27)  Komhi- 
nationen.  Und  so  fort:  für  jedes  der  16  Elemente  der  4 Eigen- 
schaftsgruppen  A,  B,  C und  D eine  Verdreifachung  der  Zahl. 
Dies  ergibt  als  Gesamtzahl  aller  möglichen  Kombinationen  3‘“  oder 
43  046  721  KombiHationen. 


Diese  ungeheure  Zahl  könnte  zunächst  überraschen,  da 
sie  ungefähr  ==■  d e m 33.  Teile  der  Gesamtzahl 


aller  auf  der  Erde  lebenden  Menschen  ist 
(diese  Zahl  = 1450  Millionen  gerechnet);  aber  bei  genauerem 
Nachdenken  wird  sie  nicht  nur  verständlich,  sondern  könnte 
eher  noch  als  zu  klein  zu  erachten  sein,  da  wir  beobachten, 
dass  kaum  je  ein  Mensch  einem  andern  vollkommen  gleicht. 
Im  Aussehen  wie  im  Wesen  finden  sich  so  ausserordentlich 
zahlreiche  Abweichungen  und  Nuancierungen,  dass  jedes 
Individuum  als  etwas  Besonderes  erscheint. 
Dies  gilt,  wie  es  hier  wissenschaftlich  fest- 
gestellt ist,  speziell  für  die  geschlechtliche  Eigentüm- 
lichkeit des  Menschen.  Eine  noch  grössere  Zahl  würde 
sich  ergeben,  wenn  wir,  was,  wie  gesagt,  durchaus 
als  berechtigt  anzuerkennen  wäre,  die  4 Eigenschafts- 
gruppen A,  B,  C und  D noch  in  mehr  als  je  4 Ele- 
mente unterscheiden  würden.  Wenn  man  beispielsweise  jedes 
der  4 Elemente,  nur  noch  in  zwei  Unterabteilungen  trennen 
wollte,  etwa  die  Behaarung  in  Barthaar  und  Haupthaar, 
oder  die  Kleidung  in  Ober-  und  Unterkleidung  und  so  fort, 
so  würde  die  l\Ienge  der  sexuellen  Varietätsmöglichkeiten 
schon  die  Zahl  der  Erdbewohner  übersteigen. 

Versuchen  wir  uns  von  dieser  Vermischung  männlicher  und 
weiblicher  Substanz  auch  noch  auf  andere  Weise  eine  zahlen- 
mässige  Vorstellung  zu  machen,  so  kann,  wenn  wir  den  oben 
aufgestellten  hundertprozentigen  Geschlechtstypus  zum  Aus- 
gangspunkt nehmen,  der  männliche  Einschlag  bei  einem  Weibe, 
welches  sich  von  dem  absoluten  Frauentypus  nur  wenig  unter- 
scheidet, auf  ein  bis  zehn  Prozent  beziffert  werden,  er  kann 
aber  auch  wesentlich  mehr,  etwa  fünfundzwanzig  Prozent  be- 
tragen. Es  können  schliesslich  ebenso  viele  männliche  wie 
weibliche  Eigenschaften  vorhanden  sein,  ja  es  können  sogar 
bei  einer  Trägerin  weiblicher  Keimzellen,  also  einem  Weibe, 
die  männlichen  Eigenschaften  zahlreicher  vertreten  sein  wie 
die  weiblichen  und  so  gelangen  wir  nach  und  nach  zu  einem 
Punkte,  wo  ausser  den  Geschlechtsorganen  die  Geschlechts- 
charaktere der  drei  übrigen  Gruppen,  der  Geschlechtstrieb 
sowohl  als  die  allgemeinen  körperlichen  und  seelischen  Er- 
scheinungen männlich  geartet  sind.  Dieser  Typus  grenzt  nahe 
an  den  absoluten  „hundertprozentigen“  Mann,  bei  dem  dann 

19* 


292 


el)en  auch  noch  die  vierte  Gruppe,-  die  Geschlechtsorgane 
männlich  sind.  Und  nun  wiederholt  sich  dasselbe.  Es  kann 
dem  Manne  nur  eine  Spur  Weiblichkeit  beigemengt  sein,  die 
weiblichen  Qualitäten  können  den  männlichen  gleichkommen, 
sie  können  diese  sogar  überragen,  trotzdem  es  sich  um  einen 
Träger  männlicher  Keimzellen,  also  einen  Mann  handelt,  und 
so  geht  es  weiter,  bis  wir  allmählich  wieder  zu  einem  Punkte 
kommen,  wo  Gruppe  II,  III  und  IV  bereits  totaliter  weib- 
lich, nur  Gruppe  I noch  männlich  ist  oder  womöglich  gar 
noch  in  dieser  Annäherungen  an  den  femininen  Typus  vor- 
handen sind.  Damit  nähern  wir  uns  dann  wieder  unserem 
Ausgangspunkt,  dem  vollkommen  weiblichen  Geschlecht.*} 
Alle  diese  sexuellen  Varietäten  bilden  einen  vollkommen  ge- 
schlossenen Kreis,  in  dessen  Peripherie  die  angeführten 
Zwischenstufentypen  nur  besonders  markante  Punkte  dar- 
stellen, zwischen  denen  aber  keine  leeren  Punkte  vorhanden 
sind,  sondern  lückenlose  Verbindungslinien.  Die  Zahl  der 
denkbaren  und  tatsächlichen  sexuellen  Varietäten  ist  nahezu 
unendlich,  in  jedem  Menschen  findet  sich  eine  verschiedene 
Mischung  männlicher  und  weiblicher  Substanz,  und  wie  wir 
nicht  imstande  sind,  zwei  gleiche  Blätter  an  einem  Baum 
ausfindig  zu  machen,  so  werden  wir  höchst  wahrscheinlich 
auch  nicht  zwei  menschliche  Wesen  auffinden  können,  in 
denen  das  Mischungsverhältnis  des  männlichen  und  weiblichen 
Prinzips  nach  Art  mid  Menge  vollkommen  übereinstimmt. 

Ob  nun  jemand  die  sexuellen  Zwischenstufen  samt  und 
sonders  für  pathologisch  ansieht  — ein  für  einen  dar- 
winistisch  geschulten  Biologen  meines  Erachtens  unhaltbarer 
Standpunkt. — oder  ob  man  nur  die  stärkeren  Einschläge 
von  Männlichkeit  bei  einem  Weibe  und  Weiblichkeit  bei  einem 
Manne  für  pathologisch  hält,  die  schwächeren  Grade  für 
physiologisch  — wobei  es  schwer  halten  dürfte  in  der  Reihe 

•)  Der  englische  Biologe  William  Bateson  in  Cambridge  unterscheidet  in: 
, Materials  for  the  study  of  Variation  treated  with  especial  regard  to  disconti- 
nuity  in  the  origin  of  species"  London  1894  pag.38  die  Männchen  in  mehreren  In- 
sektengattungen je  nach  der  Ausbildung  der  sekundären  Geschlechtscharak- 
tere in  „high  males“  und  „low  males“  (hochmänniiehe  und  minder  männ- 
liche); ähnlich  Hessen  sich  auch  die  Einzelwesen  aller  übrigen  geschlechtlich 
differenzierten  Pflanzen-  und  Tiergattungen  einteilen. 


der  unmerklich  ineinander  übergehenden  T}3)en  eine  Grenze 
zu  ziehen  — oder  ob  man,  wie  ich  es  tue,  alle  diese 
Zwischenstufen  als  sexuelle  Varietäten  auffasst 
und  den  Begriff  des  pathologischen  im  Sexualleben  von  ganz 
anderen  Momenten  abhängig  macht,  in  erster  Linie  nämlich 
davon,  inwieweit  die  Voraussetzungen  der  beiderseitigen  Ge- 
schlechtsreife und  Geschlechtsfreiheit  Verletzungen  erleiden  — 
alles  das  sind  nur  sekundäre  Entscheidungen  gegenüber  der  Tat- 
sache, dass  wir  mit  den  sexuellen  Zwischenstufen  als  einer  weitver- 
breiteten und  bedeutsamen  Naturerscheinung  zu  rechnen  haben. 

Die  „Zwischenstufentheorie“*)  bezweckt  also,  wie  wir 
sehen,  im  wesentlichen  nichts  anderes',  als  eine  Systemati- 
sierung, sie  will  bekannte  und  verwandte  Phänomene  metho- 
disch ordnen;  mag  im  Einzelfall  die  Frage  auftauchen,  ob 
die  Charakterisierung  einer  körperlichen  oder  geistigen 
Eigenschaft  als  männlich  oder  weiblich  insofern  gerecht- 
fertigt ist,  als  sie  dem  Durchschnittstypus  des  ‘ männlichen 
oder  weiblichen  Geschlechts  wirklich  entspricht,  an  dem  Fak- 
tum, dass  in  allen  vier  genannten  Gruppen  der  Geschlechts- 
unterschiede Mischformen,  Geschlechtsübergänge  Vorkommen, 
ändert  das  nicht.  Von  einer  eigentlichen  Zwischenstufen- 
t h e 0 r i e*)  kann  nach  meinem  Dafürhalten  genau  genommen 
erst  die  Rede  sein,  wenn  eine  Theorie  aufgestellt  wird,  welche 

•)  Den  Ausdruck  „Zwischenstufen- T h e o r i e“  finde  ich  zunächst  bei 
F 0 r e I (Die  sexuelle  Frage  pag.  264),  fast  gleichzeitigbei  B.  F ried- 
länder (Die  Renaissance  der  Eros  Uranios,  z.  B.  Anhang  pag.  84),  dann 
bei  Bloch  (Sexualleben  pag.  588),  bei  allen  mit  Bezug  auf  meinen  Namen 
bezw.  die  von  mir  herausgegebenen  „Jahrbücher  für  sexuelle 
Zwischenstufen“.  Die  nicht  ganz  richtige  Vorstellung,  die  sich  diese 
Autoren  von  dem,  was  ich  in  diese  Bezeichnung  legen  wollte,  machen,  ver- 
anlasst mich  hauptsächlich  zu  der  obigen  zusammenfassenden  Darstellung. 
Die  Anschauung  selbst,  dass  es  zwischen  den  Geschlechtern  Mischformen  — 
sexuelle  Zwischenstufen  — gibt,  ist  uralt.  Es  finden  sich  hierfür  Belege  be- 
reits in  den  mythologischen  und  historischen  üeberlieferungen  der  ältesten 
Kulturvölker.  (Vgl.  Dr.  med.  v.  Römer:  „Die  androgynische  Idee  des 
Lebens“  im  V.  Bande  des  Jhb.  f.  sex.  Zw.  und  meinen  historischen  Exkurs: 
„Zur  Theorie  und  Geschichte  der  Bisexualität“  im  V.  Kapitel  vom  „Wesen 
der  Liebe“.)  Namentlich  die  bildende  und  redende  Kunst  der  Griechen  be- 
schäftigt sich  immer  wieder  mit  dem  „Hermaphroditos“,  der  „in  dem  einen 
vereint  die  Reize  der  beiden  Geschlechter“  (wie  Christodoros  aus  Koptos  „pa- 


291 


(laß  Vorhandensein  und  die  Häufigkeit  solcher  Mischformen 
zu  erklären  sucht.  Diese  Erklärung  scheint  mir  el)enso 
einfach  und  einleuchtend  wie  die  Lehre  von  den  Zwischenstufen 
selbst.  Sie  stützt  sich  darauf,  dass  nach  den  Gesetzen 
der  gemischten  oder  beiderseitigen  Vererbung  jedem  Kinde, 
gleichviel  ob  männlich  oder  weiblich,  das  aus  der  geschlecht- 
lichen Vermischung  von  Mann  und  Weib  entsteht,  väterliche 
und  mütterliche  Eigenschaften  angeboren  sind;  es  übertragen 
sich  sogar  nach  den  Gesetzen  der  latenten  und  alternieren- 
den Vererbung  auf  jeden  Sohn  auch  noch  Eigentümlichkeiten 
aus  der  mütterlichen  Ahnenreihe  beider  Eltern,  auf  jede 
Tochter  Eigenschaften  der  Vorväter.  Der  Anteil  der  kon- 
currierenden  Erblasser  ist  in  jedem  einzelnen  Fall  ein  vari- 
abler. Das  erhellt  unter  anderem  aus  der  stets  vor- 
handenen, oft  nicht  unbeträchtlichen  Ungleichheit  der  Ge- 
schwister. Der  bedeutendste  Forscher,  den  wir  auf  dem  Ge- 
biet der  Vererbung  haben,  August  Weissmann**)  sagt:  „Vom 

latini.^che  Aatholo^e“  libr.  II  sagt).  Eine  wissenschaftliche  Bearbeitung  hat 
die  Frage  allerdings  erst  in  neuerer  Zeit  erfahren;  auch  hierzu  finden  sich 
bereits  Anfänge  u.  Ansätze  bei  Darwin,  Weissmann,  Hegar  (vgl.  die  obigen 
Zitate),  Ulrichs,  Schopenhauer  und  anderen.  Zum  Zwecke  eines  eingehenden 
methodischen  Studiums  des  Zwischenstufcnproblems  gründete  ich  im  Jahre 
1899  die  genannten  Jahrbücher,  von  denen  bis  1908  11  Bände  herau.sge- 
kommen  sind.  Von  grösseren  neuen  Werken,  die  sich  auf  die  Lehre  von  den 
sexuellen  Zwischenstufen  stützen  oder  sie  eng  berühren,  seien  drei  hervor- 
gehobon:  I.  Otto  Weininger;  „Geschlecht  und  Charakter"  (I.  Aufl.,  Wien  1903), 
ein  Werk,  das  durch  seine  kühnen,  vielfach  übertriebenen  Schlussfolgerungen 
das  grösste  Aufsehen  erregte.  In  seiner  wissenschaftlichen  Grundlage,  „dass 
nämlich  in  jedem  Manne  etwas  vom  Weibe  und  in  jedem  Weibe  etwas  vom 
Manne  sei  und  zwischen  beiden  Uebergangsformen.  sexuelle  Zwischenstufen 
existieren-,  stimmt  es  völlig  mit  den  4 Jahre  vorher  erschienenen  Jahr- 
büchern überein,  die  es  allerdings  nur  beiläufig  als  „verdienstvolles 
ünternehmen*  erwähnt.  II.  Wilhelm  Fliess:  „Der  Ablauf  des  Lebens*. 

Grundlegung  zur  exakten  Biologie  (Wien  190.5)  und  III.  Franz  von  Neu- 
gebauer: .Hermaphroditismus  beim  Menschen  (Leipzig  1903),  ein  Kompen- 
dium von  unschätzbarem  Wert;  pag.  B3ß  sagt  der  Verfasser:  ,In  der  Tat 
gibt  es  eine  Unmenge  von  Menschen,  welche  somatisch  wie  in  psycho- 
sexueller  Beziehung  sexuelle  Zwischenstufen  darstellen,  worauf  zuerst  in 
prägnanter  Weise  Magnus  Hirschfeld  hingewiesen  hat.“ 

. *•)  Weissmann:  „Das  Keimplasma,  eine  Theorie  der  Vererbung“.  Jena 
1892,  pag.  467. 


295 


Menschen  her  wissen  wir,  dass  sämtliche  sekundären  Ge- 
schlechtscharaktere nicht  nur  von  den  Individuen  des  ent- 
sprechenden Geschlechts  vererbt  werden,  sondern  auch  von 
denen  des  anderen.  Die  schöne  Sopranstimme  der  Mutter 
kann  sich  durch  den  Sohn  hindurch  auf  die  Enkelin  ver- 
erben, ebenso  der  schwarze  Bart  des  Vaters  durch  die  Tochter 
auf  den  Enkel.  Auch  bei  den  Tieren  müssen  in  jedem  ge- 
schlechtlich differenzierten  Bion  beiderlei  Geschlechtscharaktere 
vorhanden  sein,  die  einen  manifest,  die  anderen  latent.  Der 
Nachweis  ist  hier  nur  in  gewissen  Fällen  zu  führen,  weil 
wir  die  individuellen  Unterschiede  dieser  Charaktere  nur 
selten  so  genau  bemerken,  allein  er  ist  selbst  für  ziemlich 
einfach  organisierte  Wesen  zu  führen  und  die  latente  An- 
wesenheit der  entgegengesetzten  Geschlechtscharaktere  in 
jedem  geschlechtlich  differenzierten  Bion  muss  deshalb  als 
allgemeine  Einrichtung  aufgefasst  werden.“  Niemand  hat  den 
Einfluss  der  gemischten  und  latenten  Vererbung  jedoch 
schöner  zum  Ausdruck  gebracht  als  Goethe  in  dem  bekannten 
autobiographischen  Gedichtchen,  dessen  zweite  Hälfte  son- 
derbarerweise meist  bei  der  Zitierung  fortgelassen  wird; 

„V  om  Vater  hab’  ich  die  Statur, 

Des  Lebens  ernstes  Führen. 

Vom  Mütterchen  die  Frohnatur 
Die  Lust  zu  fabulieren. 

Urahnherr  war  der  Schönsten  hold. 

Das  spukt  so  hin  und  wieder. 

Urahnfrau  hatte  Schmuck  und  Gold 
Das  zuckt  Wühl  durch  die  Glieder.“ 

Im  Kampf  mit  dieser  doppelgeschlechtlichen  Vererbung 
liegt  diejenige,  welche  Darwin  die  geschlechtliche  (sexuelle) 
nannte.  Diese  reguliert  die  bisexuelle  Anlage  und  bewirkt, 
dass  manche  Eigentümlichkeiten  nur  bei  männlichen,  andere 
nur  bei  weiblichen  Sprösslingen  zur  Entwicklung  gelangen.  So 
überträgt  der  Hirsch  das  Geweih  in  der  Regel  nur  den  männ- 
lichen Nachkommen,  das  weibliche  Tier  die  milchgebende 
Drüse  nur  der  weiblichen  Nachkommenschaft.  Doch  sind  die 
Anlagen  für  diese  charakteristischen  Geschlechtszeichen  stets 
auch  bei  den  andersgeschlechtlichen  Abkömmlingen  vorhanden, 


nur  wachsen  sie  wenig  oder  garnicht.  Auch  hier  mögen  noch 
zwei  Gewährsmänner  gehört  werden:  zunächst  Darwin*) 

selbst,  der  seine  Betrachtungen  mit  den  Worten  schliesst; 

Wir  sehen  daher,  dass  in  vielen,  wahrscheinlich  in  allen 
Fällen  die  sekundären  Charaktere  jedes  Geschlechtes  schlafend 
oder  latent  in  dem  entgegengesetzten  Geschlechte  ruhen,  be- 
reit sich  unter  eigentümlichen  Umständen  zu  entwickeln“; 
dann  der  bekannte  Gynäkologe  A.  Ilegar,  der  in  einer  vor- 
trefflichen Arbeit  „über  die  Exstirpation  normaler  und  nicht 
zu  umfangreicher  Tumoren  degenerierter  Eierstücke“**)  klar- 
legt, „dass  ursprünglich  in  jedem  Individuum  zwei  geschlechts- 
bedingende  Momente  vorhanden  sind,  von  denen  das  eine  zum 
Manne,  das  andere  zum  Weibe  führt."  „Diese  suchen  nicht 
blos  die  spezifischen  Keimdrüsen,  sondern  gleichzeitig  auch 
die  anderen  Geschlechtscharaktere  herzustellen.“  „Für  ge- 
wöhnlich überwiegt  eine  Bewegungsrichtung  so,  dass  nur  ein 
spezifischer  Typus  geschaffen,  während  der  andere  verdrängt 
wird.“  Er  setzt  dann  auseinander,  dass  diese  Verdrängung 
wahrscheinlich  auf  mechanischen  Ursachen  beruht  — was  ich 
übrigens  nicht  für  sehr  wahrscheinlich  halte  — und  endet 
damit,  dass  er  sagt:  „Es  wird  dann  (wenn  nämlich  die  Ver- 
drängung nicht  oder  nur  teilweise  stattfindet)  das  andere 
geschlechtsbedingende  Moment  zur  Geltung  kommen  und  wir 
sehen  so  ein  Individuum  entstehen,  welches  einen  anderen 
Geschlechtstypus  hat,  als  denjenigen,  welcher  ihm  seiner 
Keimdrüse  nach  zukommt.  Meist  sind  freilich  Ge- 
mische männlicher  undAveiblicher  Eigen- 
schaften in  den  mannigfachsten  Kombi- 
nationen vorhanden,  bis  zu  jenen  feinen  Nuancen 
herab,  bei  denen  wir  von  einem  weibischen  Manne  und  einem 
Mannweib  sprechen.“  Das  biologische  Gesetz,  dass  in  jedem 
Menschen  auch  das  Geschlecht  ruht,  dem  er  nicht  angehört, 
bildet  die  Grundlage  für  die  Entstehung  und  das  Verständnis 
der  sexmeilen  Zwischenstufen;  ich  habe  es  in  dem  Leitartikel 

*)  Dam'in;  „Das  Variieren  der  Pflanzen  und  Tiere  im  Zustande  der 
Domestication“.  2.  Aufl.  Stuttgart  1ST3.  Bd.  II.  pag.  59. 

•*)  Im  Centralblatt  für  Gynäkologie.  10.  Nov.  1877.  pag.  297 — 307. 


297 


der  Jahrbücher  für  sexuelle  Zwischenstufen  kurz  etwa  dahiu 
präzisiert:  „alles,  was  das  Weib  besitzt,  hat,  wenn  auch  in 
noch  so  kleinen  Resten,  der  Mann  und  ebenso  sind  bei  jedem 
Weibe  zum  mindesten  Spuren  aller  männlichen  Eigentümlich- 
keiten vorhanden“  und  in  den  Geschlechtsübergängen:  „in 

jedem  Lebewesen,  das  aus  der  Vereinigung  zweier  Geschlechter 
hervorgegangen  ist,  finden  sich  neben  den  Zeichen  des  einen 
Geschlechts  die  des  andern  oft  weit  über  das  Rudimentär- 
stadium hinaus  in  sehr  verschiedenen  Gradstufen  vor.“ 
Dass  die  Gradstufen  so  hätifig  von  der  dem  Geschlecht 
im  allgemeinen  eigentümlichen  Durchschnittsform  ab- 
weichen, selbst  wenn  wir  diese  möglichst  weit  fassen,  ist 
um  so  verständlicher,  wenn  wir  in  Betracht  ziehen,  dass  der 
männlichen  oder  weiblichen  Bildung  stets  eine  einheitliche 
ungeschlechtliche  Gestaltung  von  verschieden  langer  Dauer 
vorangeht.  Aus  dieser  neutralen  Anlage  wachsen  einige  Teile 
stärker,  einige  schwächer,  andere  garnicht  und  auf  diesem 
mehr  oder  weniger  der  Entwicklung  beruht  in  der  Haupt- 
sache der  ganze  Unterschied  der  Geschlechter.  So  entstehen 
die  in  der  ersten  Gruppe  der  Geschlechtsunterschiede  zu- 
sammengefassten Organe  bei  beiden  Geschlechtern  aus  der  ge- 
schlechtslosen Geschlechtsdrüse,  an  die  sich  ursprünglich  so- 
wohl beim  Manne  als  beim  Weibe  die  Urnieren,  Urnieren- 
gänge  und  Müllerschen  Gänge  anschliessen,  während  an  der 
Körperoberfläche  in  beiden  Fällen  der  Geschlechtshöcker,  die 
Geschlechtsrinne,  die  Geschlechtsfalten  und  Geschlechtswülste, 
die  Vorstufen  der  äusseren  Genitalbildung  darstellen.  In  der 
zweiten  Gruppe  der  Geschlechtsunterschiede  ist  noch  bis 
kurz  vor  der  Reife  die  einheitliche  Grundlage  vorhanden; 
Brustdrüsen,  Behaarung,  Kehlkopf,  lassen  im  Kindesalter 
keine  Differenz  wahrnehmen.  Auch  hinsichtlich  der  dritten 
Gruppe  der  Geschlechtsunterschiede  wird  jetzt  allgemein  an- 
genommen, dass  der  Differenzierung  des  Geschlechtstriebes 
ein  undifferenziertes  Stadium  vorausgeht,*)  und  ebenso  sind 
die  sonstigen  seelischen  Unterschiede  (Gruppe  IV)  wenn  auch 

•)  Vgl.  u.  a.  Prot.  M.  Deesoir.  Allgem.  Zeitschrift  für  Psychiatrie. 
1894  Hefts. 


•298 


in  der  Kindheit  schon  vielfach  angedeutet,  (mit  Recht  be- 
zeichnet der  Sprachinstinkt  das  Kind  als  Neutrum),  so  doch 
nicht  im  entferntesten  so  ausgebildet  und  ausgeprägt,  wie 
beim  Erwachsenen. 

Die  allerletzten  Gründe  freilich,  weshalb  das  Geschlecht 
im  ganzen  oder  ein  Geschlechtszeichen  im  einzelnen  aus  der 
einheitlichen  Basis  sich  das  eine  Mal  nach  der  männlichen 
Seite,  ein  anderes  Mal  nach  der  weiblichen  wendet,  während 
es  sich  in  einem  dritten  Falle  gemischt  gestaltet,  die  End- 
ursachen also,  welche  bewirken,  dass  einmal  Knaben,  einmal 
Mädchen,  einmal  se.xuelle  Zwischenstufen  geboren  werden, 
sind  noch  in  Dunkel  gehüllt,  trotzdem  man  sogar  — und  bei 
Pflanzen  und  Tieren  nicht  ganz  ohne  Erfolg  — versucht 
hat,  willkürlich  durch  diätetische  und  anderweitige  l\Iass- 
nahmen  bestimmend  auf  die  Entstehung  des  gewünschten  Ge- 
schlechts Einfluss  zu  nehmen. 

Die  Erkenntnis,  dass  in  jedem  Menschen  die  Anlagen 
beider  Geschlechter  ruhen,  legt  ja  die  Vermutung  nahe,  es 
könne  vielleicht  der  Grad  dieser  Entwicklung  von  dritter 
Seite  beeinflusst  werden.  Namentlich  in  bezug  auf  Gruppe 
III  und  IV  der  Geschlechtsunterschiede,  das  sexuelle  Trieb- 
und  Seelenleben,  ist  dies  nicht  selten  behauptet,  wenn  auch 
noch  nicht  bewiesen  worden.  Es  würde  zu  weit  führen,  wollte 
ich  versuchen,  auf  das  eben  so  schwierige  wie  wichtige 
Problem,  um  das  es  sich  dabei  handelt,  auf  die  Frage,  wie 
sich  im  Geschlechtsleben  Wille  und  Trieb,  Disposition  und 
Suggestion,  endogene  und  exogene  Ursachen  zueinander  ver- 
halten hier  auch  noch  des  näheren  einzugehen.  Ich 
fürchte,  die  Geduld  meiner  Leser  ohnehin  schon  zu 
lange  in  Anspruch  genommen  zu  haben  und  beschränke 
mich  in  dieser  Frage,  die  mit  unserem  Hauptthema  nur 
mittelbar  zusammenhängt,  meine  Ueberzeugung,  zu  der  ich 
auf  Grund  theoretischer  Erwägungen  und  empirischer  Er- 
fahrungen gelangt  bin,  dahin  zu  äussern:  Mag  der  hemmende 
und  fördernde  Wille  eigener  und  anderweitiger  Einwirkung,  der 
Erziehung,  Uebuug  und  Suggestion  auch  noch  so  zugänglich  sein 
— wenngleich  sicherlich  auch  die  Beherrschbarkeit  ihre  Grenzen 
hat  — die  sexuelle  Eigenart  als  solche  in  körper- 


299 


lieber  und  geistiger  Beziehung  ist  angeboren,  abhängig  von 
der  ererbten  Mischung  männlicher  und  weiblicher  Substanz, 
unabhängig  von  aussen;  sie  ist  in  der  Anlage  präformiert 
und  schlummert  in  ihr  lange  bevor  sie  erwacht,  ins  Bewusst- 
sein dringt  und  sich  entfaltet;  sie  unterliegt  zeitlichen, 
namentlich  auch  periodischen  Schwankungen,  entwickelt  sich 
jedoch  konsequent,  nimmt  allmählich  zu,  erhält  sich  auf  einer 
gewissen  Höhe,  geht  dann  wieder  zurück,  bewahrt  aber  in 
allem  Wesentlichen  während  der  ganzen  Lebensdauer  das- 
selbe charakteristische  Gepräge. 


Kehren  wir  nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  über 
die  sexuellen  Mischformen  zum  Hauptgegenstand  unserer  Ar- 
beit, dem  erotischen  Verkleidungstrieb  zurück,  so  wird  uns 
dieser  nunmehr  in  mannigfacher  Beziehung  verständlicher  und 
weniger  seltsam  erscheinen.  Nicht  nur  für  die  Stellung,  die 
ihm  innerhalb  der  Naturerscheinungen  einzuräumen  ist,  son- 
dern auch  für  seine  Aetiologie,  Prognose  und  Therapie  er- 
geben sich  aus  dem  Dargelegten  wichtige  Schlüsse.  Wir 
deuteten  bereits  kurz  an,  dass  er  der  IV.  Gruppe  der 
Zwischenstufen  beizuzählen  ist;  hinsichtlich  der  drei  ersten 
Gruppen  der  Geschlechtsunterschiede,  der  Geschlechtsorgane, 
den  übrigen  körperlichen  Eigenschaften  und  dem  Geschlechts- 
trieb zeigen  diese  Männer  keine  oder  nur  unbedeutende  Ab- 
weichungen von  der  Norm,  unwesentlich  jeden- 
falls im  Vergleich  mit  den  sonstigen  psychischen  Ge- 
schlechtscharakteren, wo  sich  in  dem  Drange  sich  als  Weib 
zu  kleiden,  in  dem  Wunsche  möglichst  sogar  als  Weib  zu 
leben,  eine  Idee  zeigt,  wie  sie  kaum  weiblicher  gedacht 
werden  kann. 

Da  OS  sich,  wie  wir  sahen,  hier  um  eine  Form  der 
Zwischenstufen  handelt,  die  sich  von  der  bisher  beschriebenen 
deutlich  abhebt,  erscheint  es  angebracht,  auch  der  neuen 
Form  einen  neuen  Namen,  eine  besondere  wissenschaftliche 
Marke  zu  geben.  Ich  entnahm  die  Bezeichnung  dem  im 
Symptomenbilde  äusserlich  hervorstehendsten  Zuge,  der  offen- 


300 


har  auch  hei  den  Betreffenden  den  Hauxitinhalt  ihrer  Emp- 
findungen und  Gedanken  bildet,  dem  Triebe,  die  Kleidung  des  ent- 
gegengeseizten  Gesehlechteß  anzulegen  und  nannte  die  Personen 
nach  dem  lateinischen  trans  =-  entgegengesetzt  (vgl.  trans- 
versus)  \ind  dem  Partizip  vestitus,  a,  um  = gekleidet,  das  sich 
auch  als  Adjektiv  bei  römischen  Klassikern  findet,  Trans- 
vestiten. Das  Wort  hat  den  Vorzug  der  Wandlungsfähigkeit, 
man  kann  die  Neigung  bei  beiden  Geschlechtern  als  trans- 
vestische  bezeichnen,  ein  Mann,  der  den  Verkleidungs- 
trieh  hat,  wäre  ein  Transvestit,  eine  Frau  eine 
T r a n s V e s t i t i n , die  Erscheinung  selbst  könnte  Trans- 

V e s t i t i s m u s , die  Vornahme  der  Verkleidung  Trans- 

V e s t i t u r (vgl.  Investitur)  genannt  werden.  Ein  Nachteil 

des  Wortes  ist,  dass,  wenn  es  auch  die  augenfälligste  Seite 
der  Erscheinung  trifft,  doch  ihren  inneren  Gehalt  keineswegs 
erschöpft.  Einige  der  Transvestiten  haben  selbst  Aus- 
drücke gebildet,  die  als  Ausdruck  ihrer  Empfindungen 
recht  bemerkenswert  sind.  Der  eine  (Fall  II)  nannte  seinen 
Trieb  „Puellismus",  ein  anderer  i^Fall  XI)  benannte  in  einem 
Aufsatz,  .,in  welchem  er  seiner  Frau  alles  klar  zu  machen 
suchte“  die  Männer,  welche  äusserlich  als  Weib  auftreten  oder 
auftreten  möchten,  sexuell  dagegen  männlich  veranlagt  sind 
..Junoren“.  Beide  Wortbildungen  sind  aus  verschiedenen 
Gründen  nicht  geeignet,  sie  würden  den  Trieb  nur  bei  einem, 
nämlich  dem  männlichen  Geschlecht  zum  x^usdruck  bringen, 
sie  sind  auch  nicht  wandlungsfähig  und  können  leicht  zu 
Missverständnissen  Veranlassung  geben.  Will  man  mehr  dem 
Umstande  Rechnung  tragen,  dass  es  sich  nicht  um  ein  blosses 
Verkleiden  handelt,  sondern  mehi-  um  einen  geschlechtlichen 
Verwandlungstrieb,  so  käme  wohl  in  erster  Linie  als  Ab- 
Teitungswort  das  griechisch-deutsche  Metamorphose 
in  Betracht.  Man  könnte  die  Personen  als  sexuelle 

Metamorphotiker,  den  Trieb  als  sexual-meta- 
inorphotischen.  die  Erscheinung  als  Sexuaimetamorphismus 
(vgl.  Dimorphismus),  die  Vornahme  der  Verkleidung  als 
Sexualmctamorphose  bezeichnen.  Abgesehen  von  der  Ungelenkig- 
keit des  Ausdrucks  spräche  dagegen,  dass  Krafft-Ebing  be- 
reits als  Metamorphosis  sexualis  paranoica  den  Geschlechts- 


301 


verwandlungs  w a h n bezeichnet  hat,  den  t\ir  vom  Geschlechts- 
verwandlungs  trieb,  wie  oben  besprochen,  scharf  unter- " 
scheiden  müssen.  Für  die  von  Sexuaiforschern  wiederholt  ge- 
übte, meines  Erachtens  nicht  sehr  glückliche  Praxis,  eine 
sexuelle  Anomalie  nach  einer  Person  zu  benennen,  von  der 
bekannt  wurde,  dass  sie  ihr  besonders  stark  zuneigte  (die 
Worte  Sadismus,  Masochismus,.  Narcissismus,  Retifismus, 
auch  das  nach  dem  biblischen  Onan  gebildete  Wort  Onanie  ge- 
hören hierher)  fehlen  unter  den  heterosexuellen  Transvestiten 
die  entsprechenden  „Berühmtheiten“.  Vielleicht  gelingt  es 
dem  Scharfsinn  meiner  sehr  geschätzten  Leser  einen  Ausdruck 
zu  finden,  der  mehr  noch  den  Kern  der  Erscheinung  trifft, 
als  der  vorläufig  angenommene,  von  dem  ich  mir  wmhl  be- 
wusst bin,  dass  er  als  nach  allen  Richtungen  befriedigend 
nicht  angesehen  werden  kann. 

Was  die  Ursache  des  Verkleidungstriebs  betrifft,  so  ist 
dem,  was  wir  über  die  Aetiologie  der  sexuellen  Zwischen- 
stufen. im  allgemeinen  ausgeführt  haben,  wenig  mehr  hinzu- 
zufügen. y/  e s h a 1 b der  weibliche  Einschlag  in  dem  einen  Fall 
bewirkt,  dass  ein  Hermaphrodit  (Beispiel  der  ersten  Gruppe) 
entsteht,  in  einem  zweiten  ein  Gynäkomast  (Beisp;  der  II. 
Gr.),  in  einem  dritten  Fall  ein  Urning  (Beisp.  der  III.  Gr.), 
im  vierten  ein  Transvestit  (Beisp.  d.  IV.  Gr.)  entzieht  sich 
bisher  unserer  Beurteilung. 

Die  Diagnose  und  Differentialdiagnose 
des  Transvestitismus  habe  ich  bereits  bei  der  Besprechung 
verwandter  Erscheinungen  eingehend  erörtert;  hinsichtlich  der 
Prognose  halte  ich  ein  Verschwinden  des  transvesti- 
tischen  Triebes  nach  dem  ganzen  Charakter  dieser  und  ver- 
wandter Mischformen  nicht  für  sehr  wahrscheinlich,  doch  be- 
sitzen wir  noch  keine  ausreichende  Erfahrung,  um  darüber 
ein  abschliessendes  Urteil  zu  fällen;  dem  Triebe  selbst  könnte 
man  wohl  noch  am  ehesten  auf  psychotherapeutischem  Wege 
beikommen,  etwa  durch  eine  Vereinigung  der  Freudschen  Psy- 
choanalyse mit  geschickter  Suggestivbchandlung.  Ausserdem 
empfiehlt  sich  wie  bei  allen  analogen  Anomalien  eine  All- 
gemeinbehandlung des  Zentralnervensystems,  die  eine  Kräfti- 
gung der  Willensenergie  im  Auge  hat,  sowie  eine  genaue  Re- 


302 


gulierung  der  Lebensweise,  die  eine  möglichste  Ablenkung  der 
Geistestätigkeit  bezweckt.  Kommt  inan  mit  alledem  nicht 
zum  Ziel,  so  ist  das  wichtigste  die  Entscheidung,  ob  und 
inwieweit  es  ratsam  ist,  dem  Triebe  gelegentlich  nachzugeben. 
Wir  sahen  an  mehreren  Beispielen,  wie  ganz  ausserordentlich 
beruhigt  und  zu  ihrem  Vorteil  verändert  sich  die  Trans- 
vestiten fühlen,  wenn  dies  zuweilen  geschieht.  Unwillkürlich 
erinnert  man  sich  bei  ihren  Schilderungen  des  Satzes  von 
Eduard  von  Hartmann  in  seiner  Philosophie  des  Unbe- 
wussten, dass  die  Nichtbefriedigung  eines  Triebes  für  das  be- 
treffende Individuum  ein  grösseres  U e b e 1 sei,  als 
die  massvolle  Befriedigung.  Bedenkt  man  weiter,  dass  es 
sich  um  eine  im  Grunde  genommen  harmlose  Neigung 
handelt,  durch  die  an  sich  Niemandem  ein  Schade  zugefügt 
wird,  so  lässt  sich  vom  rein  medizinischen  Standpunkt  nichts 
gegen  ein  zeitweises  Anlegen  der  andersgeschlechtlichen  Klei- 
dung sagen;  eine  andere  Frage  ist,  wie  weit  sonstige  Be- 

denken und  Rücksichten  forensischer  Natur, 
etwa  eine  Erregung  öffentlichen  Aergernisses,  Vorspiegelung 
falscher  Tatsachen  der  Verkleidung  entgegenstehen;  es  soll 
hierauf  im  nächsten  Kapitel,  in  dem  wir  die  Stellung  der 
Transvestiten  zur  Aussenwelt  erörtern  wollen,  noch  näher 
eingegangen  werden.  Hier  will  ich  nur  noch  einen  Punkt 

berühren,  nämlich  den,  ob  diese  Personen  zur  Eingehung 
einer  Ehe  geeignet  erscheinen.  AVie  wir  erfuhren,  ist  .ein 
nicht  geringer  Teil  verheiratet,  meist  sogar  glücklich.  Nur 
in  einem  Falle  (XI)  war  die  Ehe  in  einem  gewissen  Zu- 

sammenhang mit  dem  Verkleidungstrieb  eine  recht  unglück- 
liche, allerdings  war  hier  die  Frau  psychopathisch, 
litt  an  persecutorischen  AA'ahnideen  und  Sinnestäuschungen 
und  befindet  sich  seit  längerer  Zeit  in  einer  Irrenanstalt. 
Unbedingt  muss  gefordert  werden,  dass  ein  Transvestit,  be- 
vor er  heiratet,  seine  Frau  über  sich  aufklärt;  es  kann  einem 
Weibe  nicht  zugemutet  werden,  dass  sie  unvorbereitet  eines 
Tages  der  bizarren  Eigenart  ihres  Mannes  gegenübersteht. 
Ich  habe  mich  gewundert,  dass  sich  manche  Frauen  aller- 

dings verhältnismässig  leicht  darin  gefunden  haben,  mit  ihren 
weiblich  gekleideten  Ehemännern  sogar  zu  verreisen  oder  mit 


303 


ihnen  abends  am  Familientisch  zu  sitzen,  beide  Ehegatten  in 
Frauentracht.  Wenn  aber  auch  die  Frau  sich  mit  der  Lieb- 
haberei des  Mannes  einverstanden  erklärt,  so  habe  ich  hin- 
sichtlich der  Zweckmässigkeit  dieser  Ehen  doch  noch  meine 
Bedenken;  es  lässt  sich  nicht  bestreiten,  dass  der  Trans- 
vestitismus zu  denjenigen  sexuellen  Zwischenstufen  gehört,  bei 
denen  der  andersgeschlechtliche  Einschlag  besonders  beträcht- 
lich ist.  Bei  leichteren  Einschlägen,  die,  um  wieder  einen 
zahlenmässigen  Begriff  zu  geben,  331^  Prozent  nicht  über- 
steigen, kann  leicht  ein  Ausgleich  zwischen  den  Ehegatten 
erzielt  werden,  sodass  die  Nachkommenschaft  im  Sinne 
hereditärer  Belastung  nicht  gefährdet  erscheint.  Wo  hin- 
gegen die  sexuelle  Spaltung  der  Persönlichkeit  eine  so 

klaffende  ist,  wie  in  unseren  Fällen,  liegt  doch  eine  solche 
Abartung  vom  reinen  Geschlechtstypus  vor,  dass  sie,  wenn 
sie  auch  selbst  noch  nicht  als  Entartung  angesprochen  werden 
soll,  doch  leicht  bei  der  Nachkommenschaft  zu  psychisch  un- 
einheitlichen, gelockerten,  labil-degenerierten  Individuen  führen 
kann.  Einen  Beweis  für  diese  mehr  theoretischen  Erwägungen 
entspringende  Vermutung  kann  ich  allerdings  nicht  bringen, 
im  Gegenteil  die  Kinder  der  Transvestiten,  welche  ich  sah, 
machten  auf  mich  einen  guten  und  gesunden  Eindruck.  Doch 
ist  das  bisher  zur  Verfügung  stehende  Material  nicht  ge- 
nügend, die  geäusserten  Befürchtungen  zu  zerstreuen.  Das 
Verantwortungsgefühl  für  eine  Nachkommenschaft,  die  dem 
heutigen  Leben,  das  ja  an  das  Nervensystem  ganz  besonders 
hohe  Ansprüche  stellt,  gewachsen  ist,  lässt  ja.  nur  zu  sehr  zu 
wünschen  übrig.  Die  Züchtungshygiene  erfordert,  dass  Trans- 
vestiten, die  sich  an  der  Hervorbringung  neuer  Menschen 
beteiligen,  körperlich  gesunde,  kräftige,  auch  geistig  gut  ent- 
wickelte Personen  sind,  die  in  noch  höherem  Masse,  wie 
die  Rücksicht  auf  die  Kinder  dies  ohnehin  nötig  macht,  auf 
die  Gesundheit  der  Ehehälften  bei  der  Gattenwahl  Acht  geben. 
Bei  den  transvestitischen  Frauen  spricht  übrigens  noch  gegen 
die  Ehe,  dass  sie  meist  sehr  unruhigen  Geistes,  zu  Aben- 
teuern geneigt  und  an  die  Häuslichkeit  schwer  zu  fesseln 
sind.  Am  besten  passt  wohl  in  der  Tat,  wie  dies  ja  auch 
den  Wünschen  dieser  Personen  entspricht,  ein  Transvestit  zu 


304 


einer  efft'as  männlich  gearteten  Frau,  -die  natürlich  keine 
Transvestitin  zu  sein  braucht,  eine  Transvestitin  zu  einem 
weiblichen  Mann,  damit,  um  mit  Schopenhauer*)  zu  reden, 
,der  bestimmte  Grad  seiner  Mannheit  dem  bestimmten 
Grade  ihrer  Weiblichkeit  entspricht“;  richtiger  wäre 
es  allerdings  in  unserem  f’all  zu  sagen:  der  bestimmte 

Grad  ihrer  Mannheit  dem  bestimmten  Grad  seiner 
Weiblichkeit. 

•)  A.  Schopenhauer  in  „Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung“  (Meta- 
physik der  Geschlechtsliebe).  Bd.  II.  Kap.  44.  pag.  623.  ed.  Frauenstädt. 


III. 


Ethnologisch-historischer  Teil. 

Die  Neigungen  des  Mensclien 
entscheiden  sein  Geschick. 

Nachdem  wir  die  dieser  Arbeit  zü  Grunde  gelegten  Fälle 
analysiert  und  kritisch  behandelt  haben,  soll  es  jetzt  noch 
unsere  Aufgabe  sein,  rückschauend  zu  untersuchen,  ob  ver- 
wandte Erscheinungen  nicht  bereits  anderweitig  in  der  Lite- 
ratur, Geschichte  und  Gegenwart  Beachtung  gefunden  und  Be- 
deutung gewonnen  haben.  Die  Vermutung  liegt  von  vorne- 
herein  nach  der  ganzen  Art  dieser  und  ähnlicher  Zwischen- 
stufen nahe,  dass  es  sich  hier  nicht  um.  in  Ort  und  Zeit  be- 
schränkte Vorkommnisse  und  Persönlichkeiten  handelt,  und 
wie  sehr  diese  Annahme  berechtigt  ist,  erkennen  wir  bei 
einer  Durchforschung  der  in  Betracht  kommenden  Quellen.*) 

*)  Da  diese  Quellen  in  ethnographischen  und  sonstigen  Schriftwerken 
sehr  weit  zerstreut  liegen,  kann  der  historische  und  literarische  Abriss,  den 
wir  im  folgenden  geben  wollen,  keinen  Anspruch  auf  Vollständigkeit  erheben; 
immerhin  wird  er  als  erster  Versuch  einer  zusammenfassenden  Darstellung  für 
den  weiteren  Ausbau  einer  Geschichte  des  Verkleidungstriebes  und  der  Trans- 
vestiten eine  nicht  ganz  ungeeignete  Grundlage  bieten  können.  Wir  möchten 
aber  nicht  unterlassen,  unsere  Leser  zu  bitten,  uns  gütigst  davon  in  Kenntnis 
zu  setzen,  falls  sie  wesentlichere  Lücken  bemerken  oder  in  Reisewerken,  Zeit- 
schriften und  sonstigen  Veröffentlichungen  aut  Vermerke  stossen,  die  hier 
keine  Berücksichtigung  gefunden  haben.  Hinsichtlich  der  den  Zeitungen,  Zeit- 
schriften, Gerichtsberichten  usw.  entnommenen  Fälle  dieses  Kapitels  sei  be- 
merkt, dass  natürlich  nur  ein  Teil  derselben  auf  seine  absolute  Genauigkeit 
nachgeprüft  werden  konnte.  Gleichwohl  halte  ich  auch  diese  Mitteilungen  als 
Ganzes  genommen  für  ein  zuverlässiges  und  ebenso  verwendbares  Material  wie 
die  aus  den  Werken  der  Ethnographen,  Historiker  usw.  zitierten  Beispiele, 
abgesehen  davon,  dass  gerade  diese  Notizen  besonders  lebendig  den  Eindruck 
aktueller  Vorkommnisse  auf  diesem  Gebiete  wiederspiegeln.  Ira  Beiwerk  mögen 
in  dem  einen  oder  andern  Falle  gelegentliche  Unrichtigkeiten  unterlaufen  sein. 

H i r s c h t e 1 d , Die  Transvestiten.  20 


:306 


Lässt  sich  (loch  aus  ihnen  die  zunächst  befremdliche  Tatsache 
nachweisen.  dass  der  Verkleidungstricb  älter  ist,  als  — die 
Kleidung  selbst,  anscheinend  ein  Widerspruch  in  sich,  in 
Wirklichkeit  aber  nur  ein  Grund  mehr  für  die  Auffassung, 
dass  diese  Neigung  nicht  auf  einer  blossen  Freude  an 
schöneren  Formen,  Farben  und  Stoffen  beruht,  sondern  auf 
dem  meist  unbewussten  Drang,  dem  inneren  Weibge- 
fühl einen  äusseren  Ausdruck  zu  geben.  Ich  habe  einige 
Male  Transvestiten,  die  besonders  stark  über  die  Undurch- 
führbarkeit ihrer  Wünsche  klagten,  eine  wohl  etwas  sophistisch 
klingende,  im  Grunde  aber  wohlgemeinte  Frage  vorge- 
legt, deren  Beantwortung  ihnen  meist  nicht  geringe  Schwierig- 
keiten bereitete  und  die  zu  entscheiden  auch  in  der  Tat  nicht 
leicht  ist,  die  Frage:  .,Was  würden  Sie  denn  nun  aber  tun, 
wenn  sie  in  einem  Volke  geboren  wären  und  lebten,  in  dem 
Mann  und  Frau  nackt  gehen  oder  beide  dieselbe 
Kleidung  tragen?“  Ein  schlagfertiger  oder  gut  unter- 
richteter Transvestit  hätte  da  zunächst  die  Gegenfrage  stellen 
können;  ..Gibt  es  oder  gab  es  überhaupt  Länder,  deren  Ein- 

So  ergab  bei  dem  Fall,  der  mit  der  Marke:  „Ein  Selbstmörder  in  eleganter 
Frauenkli'idung“  durch  die  Zeitungen  lief,  eine  Nachprüfung,  dass  diese  ele- 
gante Toilette  ein  sehr  einfaches  Tuchkleid  im  Werte  von  45  Mark  war. 
Was  den  Hauptinhalt,  auf  den  es  hier  ankommt  — die  Verkleidung  des 
eigcn(’n  Geschlechts  — betrifft,  so  verbürgen  der  Charakter  der  Zeitungen, 
in  denen  die  Mitteilungen  zuerst  erschienen  sind,  und  vor  allem  der 
ganze  innere  Zusammenhang  die  Glaubwürdigkeit.  Bezüg- 
lich der  Abkürzungen  sei  bemerkt,  dass  J h b.  bedeutet:  „Jahrbücher 
für  sexuelle  Zwischenstufe  n“,  Mb.  = „Monatsbe- 
richte des  wissenschaftlich-humanitären  Komitees“ 
und  Z.  f.  S.  = „Zeitschrift  für  Sexualwissenschaft“. 
Wertvolle  literarische  Hinweise  für  dieses  Kapitel  erhielt  ich  besonders  von 
meinem  Freunde  Eduard  Bertz  in  Potsdam,  ferner  von  meinen 
Kollegen  Dr.  Bloch  in  Charlottenburg,  Dr.  v.  T r i c h t in  Am- 
sterdam, Dr.  F.  Kraus  in  Wien  und  G.  I v e s in  London.  Ich 
benutze  die  Gelegenheit,  um  sowohl  diesen  Herren,  als  allen  ander  n. 
die  mich  mit  Materialien  unterstützten,  sowie  auch  den  oben  zitierten  Au- 
toren von  Quellenschriften  meinen  verbindlichsten  Dank  auszusprcchen,  ebenso 
den  beiden  Herren,  die  die  Güte  hatten,  mich  beim  Lesen  der  Korrekturen 
zu  unterstützen,  den  Herren  Alfred  Weber  und  Paul  Przyrembel 
in  Paris. 


307 


wohner  auf  jedes  künstliche  Symbol  ihrer  Zugehörigkeit  zu 
dem  einen  oder  anderen  Geschlecht  Verzicht  leisteten?“  Diese 
Frage  hätte  — soweit  ich  sehe  — verneint  werden  müssen. 
Auch  dort,  wo  ?tlann  und  Frau  nackt  gehen,  unterscheiden 
sie  sich  stets  in  der  Art  und  Weise,  wie  sie  ihren  Körper 
verzierten  oder  verunzierten,  sich  bemalten  und  tätowierten, 
sich  Einschnitte  machten,  Löcher  einbohrten,  Zähne  färbten 
oder  ausbrachen,  wie  sie  sich  mit  Muscheln,  Federn  und  Fellen 
behingen,  wie  sie  die  Waffen  trugen  oder  sich  die  Haare 
wachsen  liessen.  Wenn  Rumpf  (loc.  cit.  pag.  284)  sagt; 
„Tätowierungen  haben  bei  Naturvölkern  d e n s e 1 b e n Wert 
wie  Verhüllungen.  Tätowierte  Südseeinsulaner  kommen  sich 
ebensowenig  nackt  vor,  wie  bekleidete  Europäer“,  so  stimmt 
das  durchaus  mit  den  Berichten  vieler  Forschungsreisenden, 
beispielsweise  mit  der  Erzählung  des  Reisenden  Mertens*) 
überein,  dem  die  Eingeborenen  von  Luknor,  als  er  sie  nach 
der  Bedeutung  des  Tätowierens  fragte,  entgegneten:  „Es  hat 
denselben  Zweck,  wie  eure  Kleider,  nämlich  den  Frauen  zu 
gefallen.“  Dass  aber  auch  schon  bei  diesen  Vorläufern  der 
Bekleidung  der  erotischen  Verkleidung  ent- 
sprechende Gebräuche  verkommen,  zeigt  u.  a.  eine 
Mitteilung  von  Langsdorff,**)  aus  der  hervorgeht,  dass  die 
Aleuten  einzelne  Knaben  ganz  weiblich  erziehen; 
man  rupft  ihnen  den  keimenden  Bart  aus  und  täto- 
wiert sie  wie  Weiber  um  den  Mund.  Noch  be- 
bezeichnender ist  folgender  Bericht  Schweinfurth’s:  ***)  „Nicht 
selten  sieht  man  Bongoraänner  sich  auch  mit  Schmucksachen 
weiblicher  Art  behängen.  So  tragen  beispielsweise  viele  die 
Ohrränder  mit  Ringen  und  halbmondförmigen  Kupferblätt- 
chen besetzt.  Andere  stecken  wie  Weiber  in  die 
durchlöcherte  Oberlippe  einen  Kupfer- 
nagel mit  pilzförmigem  Kopf,  hin  und  wieder  sogar  kleine 

*)  Waitz-Gerland:  Anthropologie  der  Naturvölker.  Leipzig  1872. 

Bd.  V.  S.  67. 

*•)  von  Langsdorff,  G.  H.:  Bemerkungen  auf  einer  Reise  um  die  Welt 
in  den  Jahren  1803  bis  1807.  2 Bände.  Frankfurt  a.  M.,  Wilmans.  1812. 

•*♦)  Schweinfurth;  Im  Herzen  von  Afrika.  Leipzig  1878.  pag.  116. 

20* 


Kiipferscheibetu  am  häutigsten  Ringe  oder  ein  Stück  Stroh- 
halm.- 

Bei  den  Völkern  vollends,  die  sich  bereits  in  gewebte 
Stoffe  hüllten,  ist  überall  ein  geschlechtlicher 
Trachtenunterschied  wahrnehmbar.  Oft  ist  der- 
selbe freilich  ausserordentlich  gering,  manchmal  kommt  er 
nur  in  der  Länge  des  Gewandes  zur  Geltung.  So  sagt  Hein- 
rich E 1 i s in  seiner  Beschreibung  einer  Reise  nach  der  Hud- 
sonbai von  den  Eskimos:  „Die  Kleidung  der  Weiber 

ist  n u r d a r i n von  der  Kleidung  der  Männer  unterschieden, 
dass  sie  Jacken  tragen,  die  etwas  tiefer  in  die  Knie- 
kehle herabreichen.“  Von  den  alten  Deutschen  berichtet 
Tacitus;  „nec  alius  feminis  quam  viris  habitus“  zu  deutsch: 
„Die  Tracht  der  Frauen  ist  nicht  verschieden  von 
der  der  Männer,“  aber  schon  Spalart*)  weist  in  seinem 
vortrefflichen  Werk  an  Hand  von  Abbildungen  nach,  dass 
diese  Notiz  keineswegs  mit  der  Darstellung  germanischer 
Männer  und  Frauen  übereinstimmt,  wie  wir  sie  auf  antiken 
Denkmälern  und  Münzen  häufig  finden.  Der  Chiton  der 
griechischen  Frauen  war  ebenfalls  mit  dem  der  Männer 
nahezu  identisch,  nur  Hessen  ihn  die  Frauen  entsprechend  ihrer 
ruhigeren  Lebensw'eise  länger  über  die  Füsse  herabfallen. 
Üeberhaupt  bestand  bei  vielen  alten  Kulturvölkern,  vde  den 
Griechen,  Römern,  Aegyptern,  Babyloniern  und  Assyriern 
lange  Zeit  der  geschlechtliche  Trachtenunterschied  nur  in  der 
Drapierung  der  Gewänder,  in  der  Art  wie  sie  die  grossen 
ungenähten  Umschlagetücher  sich  umwarfen  und  rafften.  Nicht 
ohne  Interesse  für  uns  ist  eine  Bemerkung,  die  sich  bei  Ar- 
chippus  findet;  in  dieser  wird  dem  Sohn  des  Alcibiades  vor- 
gehalten, dass  er  sein  Gewand  „w  i e e i n W e i b n a c h - 
schleppen  Hesse,  wohl  um  besser  seinem  Vater  zu 
gleichen,  der  bei  Spaziergängen  auf  öffentlichen  Plätzen 
seinen  langen  Purpurmantel  in  gleicher  Weise  trüge.“  Es  ist 
höchst  erstaunlich  zu  beobachten  und  für  die  Auffassung  der 

•)  Robert  v.  Spalart:  Versuch  über  das  Kostüm  der  vorzügliclistcn 
Völker  des  Altertums,  des  Mittelalters  und  der  neueren  Zeiten.  4 Teile. 
Wien  1796.  Teil  II.  pag.  335. 


309 


Tracht  als  stummer  Gebärdensprache  überaus  lehrreich,  wie 
meisterhaft  es  die  Alten  verstanden,  nicht  nur  das  Geschlecht, 
sondern  auch  Rang,  Stand  und  Würde,  Bildung  und  Cha- 
rakter, Stolz  und  Bescheidenheit  und  viele  Eigenschaften  sonst 
durch  den  blossen  Faltenwurf  ihrer  Kleider  zum  Aus- 
druck zu  bringen.  Man  denke  an  die  Rednerstatuen  im 
Lateran  und  viele  andere,  die  sich  in  römischen  Museen  in 
Neapel  und  im  Louvre  finden. 

Die  Kunst  für  die  Bekleidung  geeignete  Stoffe  zu  weben 
ist,  wie  die  ägyptischen  Altertümer  und  Funde  in  den  Pfahl- 
bauten zeigen,  eine  der  ältesten  prähistorischen  Errungen- 
schaften der  i\Ienschheit.  Verhältnismässig  viel  später  verfiel 
man  auf  den  Gedanken,  die  Tücher  in  kleinere  den  ein- 
zelnen Körperteilen  angepasste  Stücke  zu 
zerschneiden,  die  lange  Zeit  mit  Bändern,  Spangen,  Nadeln 
zusammengehalten  wurden,  bis  ein  kluger  Mensch  den  Ein- 
fall hatte,  die  Hüllen  durch  Nähte  dauernder  aneinander  zu 
heften,  ein  Mann  — vielleicht  auch  ein  W^eib  — dem  die  so 
ausgedehnte  Zunft  der  Herren-  und  Damenschneider  wohl 
sicherlich  schon  ein  Denkmal  errichtet  haben  würde,  wenn 
nicht  seine  Personalien  gänzlich  dem  Dunkel  der  Vergessen- 
heit anheim  gefallen  wären.  Dass  auch  unsere  Beinkleider 
ursprünglich  aus  zw^ei  einzelnen  röhrenförmig  um  die  Beine 
gelegten  Tücher  bestanden,  spiegelt  sich  nicht  nur  in  römischen 
Reliefs,  sondern  auch  in  der  noch  jetzt  allgemein  üblichen 
Bezeichnung;  „ein  Paar  Hosen“  wieder.  Vor  Erfindung  der 
Webekunst  bedienten  sich  die  wilden  Völkerschaften  ab- 
gezogener Häute,  tierischer  Pelze,  die  ja  auch  jetzt  noch 
ein  beliebtes  Kleidungsstück  sind  und  noch  früher  scheint 
man  um  die  Lenden  Blätterwerk  gelegt  zu  haben;  wenigstens 
lässt  die  Stelle  aus  dem  I.  Buch  Mosis  (cap.  III.  7.)  darauf 
schliessen,  welche  lautet:  „Da  waren  beider  Augen  aufgetan 
und  sie  wurden  gewahr,  dass  sie  nackt  seien  — da  nahmen 
sie  Feigenblätter  und  machten  sich  Schürzen.“*)  Noch 

•)  Bei  den  Ipurinaindianerinnen  in  Brasilien  findet  man  neben  dem 
Fransenbehang  aus  Baumwollstreifen  auch  jetzt  noch  gelegentlich  das  Fei- 
genblatt als  einziges  Kleidungsstück.  Pflanzengürtel 
tragen  u.  a.  auch  Einwohner  des  Kongogebicts,  Grasröcke  die  Samoanerinnen. 


:ilO 


zwei  andere  Stellen  aus  demselben  ersten  Buch  Mosis  ver- 
dienen in  Bezug  auf  die  Geschichte  der  Kleidung  erwähnt 
zu  werden.  Kapitel  II.  25  heisst  es;  „Und  sie  waren  beide 
nackt,  der  Mensch  und  sein  Weib  und  schämten  sich 
nicht“  und  im  dritten  Kapitel,  Vers  21  hören  wir,  dass 
„Gott  dem  ^lenschen  und  seinem  Weibe  Röcke  von  Fell 
machte  und  sie  ihnen  anzog.“  Von  einer  unterschiedlichen  Ge- 
schlechtstracht ist  hier  noch  nicht  die  Rede,  aber  sie  muss 
wohl  vorhanden  gewesen  sein  und  es  muss  sich  auch  schon  er- 
eignet haben,  dass  gelegentlich  Personen  des  einen  Geschlechts 
die  Tracht  des  anderen  anlegten,  sonst  wmrde  nicht  Moses  irt 
V.  Buch  Kap.  22,  5 so  energisch  dagegen  protestiert  haben. 
Er  sagt  hier  (nach  der  wörtlichen  Uebersetzung  de  Wettes): 
„Ein  Weib  soll  nicht  Mannskleider  tragen  und  ein  Mann  soll 
nicht  das  Gewmnd  eines  Weibes  anziehen;  denn  ein  Greuel 
Jehovahs,  Deines  Gottes  ist,  wer  solches  tut.“  Luther  über- 
setzt: „Ein  Weib  soll  nicht  Mannsgeräte  tragen  und  ein 
Mann  soll  nicht  Weiberkleider  antun;  denn  wer  solches  tut, 
der  ist  dem  Herrn,  Deinem  Gott,  ein  Greul.“  Das  hebrä- 
ische Wort  ',72  um  das  es  sich  hier  handelt,  bedeutet 
nicht  "bloss  Gewandung,  sondern  „alles,  was  man  an 
sich  trägt.“  Die  Kommentatoren  des  Deuteronomiums 
sind  hinsichtlich  der  Deutung  dieser  bemerkenswerten  Bibel- 
stelle verschiedener  Meinung.  Bei  Keil  und  Delitzsch*)  finde 
ich  folgendes: 

V.  5;  Wie  das  Eigentum  des  Nächsten  dem  Israeliten 
heilig  sein  soll,  so  nicht  minder  oder  noch  mehr  die  gött- 
liche Sonderung  der  Geschlechter,  die  das  bürgerliche  Leben 
durch  die  jedem  Geschlechte  eigentümliche  Kleidung  geheiligt 
hat.  „Nicht  soll  Männergerät  am  Weibe  sein  und  der  Mann 
soll  nicht  Weiberkleidung  anziehen.“  ihr  bedeutet  weder 
bloss  die  Kleidung,  noch  bloss  Waffen,  sondern  umfasst  alles 
Haus-  und  andere  Gerät,  wie  Ex.  22,  ß;  Lev.  11,  32;  13, 

49.  Die  nächste  Absicht  dieses  Verbotes  geht  nicht  auf  Ver- 

•)  Biblischer  Kommentar  über  das  alte  Testament,  herausgegeben  von 
C.  Fr.  Keil  u.  Franz  Delitzsch.  I.  Teil:  Die  Bücher  Mose’s.  Leipzig. 

Dörffling  u.  Franke  1870. 


— . 311 


hütung  von  Unzucht  oder  Opposition  gegen  götzendienerische 
Gebräuche;  denn  die  Belege,  welche  z.  B.  Spencer  de  legg. 
1.  II,  c.  29  für  solche  Gebräuche  bei  heidnischen  Völkern 
angeführt  hat,  sind  weit  hergeholt,  sondern  auf  die  Heilig- 
haltung des  durch  die  Schöpfung  von  Mann  und  Weib  be- 
gründeten Unterschiedes  der  Geschlechter,  an  dem  Israel  sich 
nicht  versündigen  soll.  Jede  Aufhebung  oder  Ver- 
wischung dieses  Unterschiedes,  wie  z.  B. 
auch  die  Emanzipation  des  Weibes,  ist, 
weil  naturwidrig,  ein  Greuel  vor  Gott.“ 

Eine  andere  theologische  Autorität*)  legt  die  Stelle 
so  aus ; 

„Vom  Eigentum  des  Nächsten  zum  Eigentümlichen  in 
der  Natur  übergehend,  kommt  v.  5.  die  Eigentümlichkeit  der 
Geschlechter  in  Betracht,  und  zwar  nach  der  je  eigen- 
tümlichen äusseren  Erscheinungsweise,  indem,  was  jeder  hat, 
trägt.  ist  etwas  Fertiges,  Verfertigtes,  Zeug,  Waffe, 

Gerät,  nicht  bloss  Kleidung,  die  gleichfolgend  besonders  be- 
tont vurd.  , Der  konkrete  Ausdruck  soll  die  Idee  exemplifi- 
zieren, dass  jeder  Eingriff  in  die  Natureigentümlichkeit  der 
Geschlechter,  solche  Verwischung  der  geschlechtlichen  Diffe- 
renz, wie  wenig  es  in  Beziehung  auf  den  Nächsten  als  Eigen- 
tumsschädigung taxiert  werden  möchte,  um  so  mehr  eine 
solche  im  Blick  auf  Gott  ist.  Zu  einseitig  hat  man  an 
Verhütung  von  Unzucht  durch  verkleidete  Männer  gedacht, 
zu  weit  her  einen  Gegensatz  gegen  götzendienerische  Ge- 
bräuche geholt.  Was  „^lannesgerät  auf  einem  Weibe“  an- 
langt, so  bot  dafür  die  Geschichte  Aegyptens  gerade  da- 
mals ein  drastisches  und  lehrreiches  Beispiel.  Sollte  es  Mose 
bekannt  gewesen  sein?  Dann  würde  sich  der  Ausdruck  'ibD 
erklären.  Er  deutet  auf  die  Unnatur,  dass  die  zartere  Frau 
in  männlicher  Rüstung  einhergeht,  ein  Mannweib  in  Ge- 
sinnung und  Erscheinung.  Denn  Ha’tschepsut  (Hatasu), 
die  königliche  Witwe  und  Schwester  des  Thotmes  II,  des 

*)  Das  Deuteronomium  oder  das  Fünfte  Buch  Mose.  Theologisch- 
homiletisch bearbeitet  von  Fr.  W.  Julius  Schräder.  Zweite  verbesserte 
Auflage,  herausgegeben  von  Pastor  Lic.  Georg  Stosch-Berlin.  Bielefeld  u. 
Leipzig.  Velhagen  etc.  1902. 


312 


wahrscheinlichen  Pharao  des  Auszugs,  die  nach  diesem  re- 
gierte, nahm  plötzlich  nach  dem  Tode  ihres  Mannes 
miinnliche  Kleidung  an  und  scheint  darauf  bestan- 
den zu  haben,  als  ein  Mann  angeredet  zu  werden.  Sie  suchte 
das  Andenken  ihres  von  den  Göttern  verlassenen  und  ge- 
hassten Mannes  „in  jeder  nur  denkbaren  Weise  auszutilgen" 
(Brugsch).  Siehe  Urquhart  II,  S.  214.“  Dieser  seiner  Aus- 
legung fügt  der  Kommentator  noch  folgende  homiletische  Zu- 
sätze bei  (p.  136): 

V.  .5.  Luther:  „Hier  wird  nicht  verboten,  was  Ge- 
fährlichkeit zu  meiden  oder  Scherz  zu  treiben  oder  die  Feinde 
zu  betrügen  geschehen  mag;  ist  insgemein  zu  verstehen,  dass 
eine  Frau  ihre  Geschäfte  besorge,  ein  Mann  seine,  in  Summa: 
jeglicher  an  dem  Seinen  sich  genügen  lasse  usw.  — B e r 1. 
Bib.:  „Sonderlich  ein  Lehrer,  wenn  er  etwas  tut,  das  ihm 
nicht  ansteht,  ist  als  einer,  der  seine  Kleider  verwechselt  hat. 
Ist  auch  den  Männern  was  Unanständiges,  dem 
Zierat  und  Putz  der  Weiber  (1.  Petr.  3,  3) 
nachzuahmen.“  — Calov;  ..Von  den  Aegyptern  hat 
das  Fastnachtswesen  unter  den  Heiden  seinen  Ursprung  ge- 
nommen.“ — T u b.  Bib.:  „Masken  und  Wechslungen  der 
Kleider  geben  zu  vielen  Sünden  Anlass,  Eph.  5,  4“  (1.  Kor. 
11,  4ff).  — Kein  Mannweib,  auch  keine  Entmannung,  kein 
weibischer  Mann!“ 

Fast  alle  anderen  Bibelkommentatoren  stimmen  darin 
überein,  dass  dieses  „Verbot  der  Verhüllung  des  eigenen 
Geschlechts  offenbar  in  erster  Linie  ein  Protest  gegen  eine 
Kultsitte  sein  sollte,  die  sich  im  syrischen,  phönizischen  und 
anderem  Heidentum  vorfand,  wo  sogar  bei  Prozessionen 
Männer  in  Frauengewandung  und  Frauen  in  Männertracht 
einherzogen.“  Dass  dies  zu  der  Zeit,  in  der  die  mosaische 
Gesetzgebung  entstand  und  lange  vor-  und  nachher  bei  reli- 
giösen Zeremonien  vielfach  vorkam,  trifft  zu,  ob  es  aber 
dem  Gesetzgeber,  als  er  das  '"ibrigens  nur  der  jüdisch-christ- 
lichen Religion  eigene  Verbot  des  Trachtenwechsels  er- 
liess,  wirklich  nur  um  die  Erhebung  eines  Protestes  dagegen 
zu  tun  war,  scheint  mir  sehr  fraglich.  Wie  alle  Orientalen, 
so  erblickten  auch  die  alten  Juden  im  Weibe  einen  Menschen 


313 


zweiter  Klasse.  Wurde  ein  Mädchen  geboren,  so  freute  man 
sich  — auch  jetzt  geschieht  dies  leider  noch  vielfach  — nicht, 
dass,  sondern  trotzdemes  ein  Mädchen  war.  Im  dritten 
Buch  Moses,  Kap.  XII,  2,  wird  ausgeführt,  dass  „wenn  ein 
Weib  einen  Knaben  gebiert  es  7 Tage  unrein  ist  und  33  Tage 
nicht  zum  Heiligtum  kommen  darf;  wenn  aber  ein  Weib  ein 
jMädchen  gebiert,  so  bleibt  sie  14  Tage  unrein  und  müsse 
66  Tage  zu  Hause  bleiben,"  eine  Stelle,  die  viele  Kommen- 
tatoren mit  der  Anschauung  zusammenbringen,  die  man  von 
der  lieber legenheit  des  männlichen  über  das  weibliche  Ge- 
schlecht hatte.  Nach  der  ganzen  im  Orient  herrschenden 
Auffassung  musste  es  für  den  Mann  als  eine  Erniedrigung, 
für  die  Frau  als  eine  Ueberhebung  erscheinen,  wenn  er 
Frauentracht,  s i e Männerkleidung  anlegte. 

Einer  der  Bibelkommentatoren  — Bertholet  — beruft 
sich  bei  Buch  V.  22.  5 auf  den  Kirchenvater  Eusebius, 
der  erzählt  hätte,  dass  bei  dem  Hybristika-Fest  die  Weiber 
in  männliche  Gewänder  gekleidet,  die  Männer  aber  in  Weiber- 
kleider gehüllt  ( „ yvviöi/;  rivsg  äräotg  otx  uv6otg  ru  asj-ivov  (ftaswg 
dnuQvr^aufiavoi“)  Opfer  brächten.  Er  hatte  auch  noch  hin- 
zufügen können,  dass  derselbe  Kirchenvater  ( Eusebius LXXXIV, 
de  laud.  Const.  p.  516)  schildert,  dass  sich  auf  dem  Gipfel 
des  Libanon  ein  Tempel  der  Aphrodite  befunden  habe,  in  dem, 
wde  er  sagt:  „einige  Adrogynen,  die  eher  Weiber  als  Männer 
genannt  werden  sollten,  da  sie  die  Würde  ihres  Geschlechtes 
ablegten  und  litten  was  Weibern  zusteht,  die  Gottheit  ver- 
ehrten." In  seiner  ausgezeichneten  Arbeit:  ..Uober  die  an- 
drogynische  Idee  des  Lebens"*)  hat  Dr.  v.  Römer  viele 
Beispiele  für  die  Verbreitung  ähnlicher  Kultsitten  ge- 
geben; da  gab  es  im  Altertum  dem  Dionysos  und 
der  Ariadne  gewidmete  Feste,  in  denen  zwei  Jünglinge  in 
Weiberkleidern  mit  Weinrankeu  und  reifen  Trauben  geschmückt 
den  Chorus  anführten,  da  gab  es  den  Gottesdienst  des  Attis 
und  der  grossen  Mutter,  bei  welchem  die  Priester  Frauen- 
kleider anlegten;  sie  wurden  deshalb  Kureten  (=  Maidlinge 
von  xovoat  =.  Mädchen)  genannt.  Da  hatte  man  die  Tharge- 


) Jahrb.  E.  sex.  Zwisch.  V.  pag.  712 — 939. 


314 


lien.  oin  Reinigun?s-  und  Sühnet'oet  für  den  Gott  Apollo  und 
die  Artemis,  zu  dessen  Feier  es  gehörte,  dass  zwei  Männer 
zum  Opfer  der  Sühnung  herausgeführt  wurden,  von  denen 
der  eine  die  Männer,  der  andere  die  Frauen  dar- 
stellte. da  kannte  man  die  dem  Herkules  geweihten  Mysterien 
in  Antimachia.  wo  der  TTerkulespriester  el)cnfalls  das  Opfer 
bringen  musste,  in  weiblicher  Kleidung  zu  erscheinen.  Im 
letztgenannten  Falle  liegt  cs  nahe,  zu  vermuten,  dass  da- 
mit auf  den  alten  Mythos  von  Herkules  und  Omphale  ange- 
spielt  werden  sollte.  Omphale,  die  lydische  Königstochter, 
so  heisst  es  in  der  Heraclessage,  kaufte  von  Hera  den  starken 
Heracles.  dem  sie  einen  oder  mehrere  Söhne  gebar.  In  ihrem 
Dienste  soll  Herkules  „zum  Weibe“  geworden  sein,  weich- 
liche lydische  Weiberkleider  angelegt,  Wolle  gesponnen  und 
die  häuslichen  Verrichtungen  besorgt  haben,  während  die  Ge- 
m.ahlin  seine  Löwenhaut  anlegte  und  die  Keule  des  Helden 
schwang.  _Der  Nacken,  dem  einst  bei  Atlas  der  Himmel 
eine  leichte  Last  gewesen  war,  trug  jetzt  ein  goldenes 
Weiberhalsband,  die  nervigen  Heldenarme  umspannten  Arm- 
bänder. mit  Juwelen  besetzt,  sein  Haar  quoll  geschoren 
unter  einer  Mitora  hervor,  langes  Frauengewand  wallte  über 
die  Heldenglieder  herab.  So  sass  er,  den  Rocken  vor  sich,  unter 
andern  ionischen  Mägden,  spann  mit  seinen  knochigen 
Fingern  den  dicken  Faden  ab,  und  fürchtete  das  Schelten 
seiner  Herrin,  wenn  er  sein  Tagewerk  nicht  vollständig  ge- 
liefert. War  sie  in  guter  Laune,  musste  der  Mann  in  Weiber- 
tracht ihr  und  ihren  Frauen  die  Taten  seiner  Helden jugend 
erzählen,  wie  er  die  Schlangen  mit  starker  Knabenhand  er- 
drückt. den  Riesen  Geryones  als  Jüngling  erlegt,  der  Hydra 
den  Kopf  abgeschlagen  und  den  Höllenhund  aus  dem  Hades 
heraufgezogen  hatte.  Die  Weiber  aber  ergötzten  sich  an 
diesen  Geschichten,  wie  man  an  Ammenmärchen  seine  Freude 
hat.“  Nach  einigen  Jahren  erwachte  Herkules  aus  seiner 
Verblendung.  _Rasch  entschlossen  schüttelte  er  die  Weiber- 
kleider von  sich  ab  und  bald  war  er  wieder  der  kraiterfülltc 
Sohn  Jupiters,  der  noch  viele  Heldentaten  verrichtete."*) 

*)  Vgl.  Gustav  Schwab:  Die  schönsten  Sagen  des  klassischen  Alter- 
tums nach  seinen  Dichtern  und  Erzählern.  Gütersloh  1907.  p.  163. 


315 


Diese  Sage  soll  übrigens  asiatischen  Ursprungs  sein  und 
ausgehen  von  der  Geschichte  der  lydischen  Mondgöttin  und 
ihres  Gemahls,  dem  Sonnengott,  von  denen  man  glaubte, 
dass  sie  „die  Eigenart  beider  Geschlechter  tauschten.“ 

Aber  nicht  nur  bei  den  antiken  Kulturvölkern  und  nicht 
allein  in  den  religiösen  Kulten,  sondern  auch  überall  sonst, 
wo  Land  und  Leute  sorgsam  durchforscht  sind,  gelangen  wir 
zu  dem  Ergebnis,  dass  Karsch  in  seiner  so  überaus  instruk- 
tiven Arbeit  über  „Uranismus  oder  Päderastie  und  Tribadie 
bei  den  Naturvölkern“  so  prägnant  dahin  zusammenfasst 
dass:  „1.  weder  alle  als  Weiber,  d.  h.  mit  weiblichen  Ge- 
burtsorganen geborenen  Personen,  noch  alle  als  Männer, 
d.  h.  mit  männlichen  Begattungswerkzeugen  ausgestatteten 
Menschen,  den  Beruf  fühlen,  die  Rolle  zu  spielen, 
welche  durch  die  Natur  ihrer  Geschlechtsorgane  ihnen  auf  er- 
legt zu  sein  scheint:  für  die  Erhaltung  und  Vermehrung  des 
Menschengeschlechtes  ihr  Scherflein  beizutragen  und  in  Ver- 
bindung damit  diejenigen  Arbeiten  zu  verrichten,  welche  die 
menschliche  Gesellschaft  den  lediglich  nach  ihren  ver- 
schiedenen Geschlechtsorganen  klassifizierten  beiden  Ge- 

schlechtern anzuweisen  pflegt;  dass  vielmehr  eine  mehr  oder 
minder  grosse  Anzahl  Individuen  dahin  neigt,  die 
Rolle  des  anderen,  ihm  äusserlich  ent- 
gegengesetzten Geschlechtes,  sei  es  in 
einigen,  sei  es  in  allen  Beziehungen,  zu 
übernehmen  ; dass  2.  solche  Personen  ohne  Ausnahme 
alle  Natur  Völker  aufzuweisen  haben  oder  hatten,  als 
welche  bekannt  sind:  I.  die  negerartigen  Völker, 
II.  die  M a 1 a y e n , III.  die  Indianer  und  IV.  d i e 
Arktiker  oder  Hyperboreer.“ 

In  diesen  Schlussfolgerungen  seiner  umfangreichen  Studie 
lässt  der  hervorragende  Berliner  Sexualforscher  zunächst  die 
Frage  offen,  ob  alle  Personen  die  „dazu  neigen,  die  Rolle 
des  ihnen  äusserlich  entgegengesetzten  Geschlechts  zu  über- 
nehmen“ als  homosexuell  empfindend  anzuseheu  sind.  Diese 
vorsichtige  Ausdrucksweise  verdient  Anerkennung;  es  ist 
nicht  anzunehmen,  dass  die  Forschungsreisenden  die  ver- 


316 


schifxleneu  Grade  der  Zwischenstufen:  H e r m a p h r o - 

diten  (I.  Gr.),  Androgynen  (II.  Gr.),  TJ  r a - 

nier  (III.  Gr.)  und  Transvestiten  (IV.  Gr.) 
auseinanderzuhalten  imstande  gewesen  sind  angesichts 

ihrer  mangelhaften  Vorkenntnisse  auf  diesem  verhält- 

nismässig neuen  Gebiet  und  der  Schwierigkeit,  diese  Unter- 
scheidung ohne  sehr  eingehende  Exploration  und  Unter- 
suchung zu  bewerkstelligen.  Was  den  Ethnologen  greifbar 
entgegentrat,  war  im  wesentlichen  doch  nur  die  Erscheinung, 
dass  Frauen  wie  Männer,  Männer  wie  Frauen  lebten. 
Einige*)  glaubten,  dies  ohne  weiteres  als  Zeichen  ,,scheusslicher 
Entartung“  — eine  der  auf  diesem  Gebiet  ja  so  gebräuch- 
lichen Bezeichnungen  — ansehen  zu  dürfen.  Selbst  Oskar 
Baumann**)  sagt,  ,,die  Männer  von  angeboren-konträrer  Sexu- 
alität bei  den  Bantunegern  seien  daran  kenntlich,  dass  sie 
^von  Jugend  auf  keinen  Trieb  zum  Weibe  zeigten,  vielmehr 
an  weiblichen  Arbeiten,  wie  Kochen,  Mattenflechten  u.  dergl. 
Vergnügen  fänden;  sobald  ihre  Angehörigen  dieses  bemerkten, 
fügten  sie  sich  ohne  Widerstreben  dem  Tatbestände  dieser 
Eigenheit;  der  junge  Mann  lege  Weiberkleidung  an,  trage 
das  Haar  nach  Weiberart  geflochten  und  benehme  sich  völlig 
als  Weib.“ 

Da  feminine  Homosexuelle  sich  gelegentlich  als  Frauen 
verkleiden,  ziehen  viele  den  Rückschluss,  dass  die- 
jenigen, die  die  Neigung  haben,  sich  so  zu  verkleiden  nun 
auch  stets  homosexuell  sein  müssten.  Dieser  Rückschluss  hat 
sich  aber  als  Trugschluss  herausgestellt:  so  wenig  alle 
Homosexuellen  effeminiert,  so  wenig  sind  alle  Effeminierten  ho- 
mosexuell. Selbst  wenn  ein  Reisender  bei  einem  Verkleideten 
im  Einzelfall  gleichgeschlechtlichen  Verkehr  nachgewiesen 

•)  Vgl.  Bastian,  Adolf:  Der  Mensch  in  der  Ge.schichte.  Zur  Begrün- 
dung einer  psychologischen  Weltanschauung.  3 Bände.  Leipzig.  Wigand. 
1860. 

**)  Baumann,  Oskar:  Konträre  Sexualerscheinungen  bei  der  Neger-Bc^ 
völkerung  Zanzibars.  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Organ  der  Berliner  Ge- 
sellschaft für  Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte.  31.  Jahrg.,  iSO-b 
Heft  6,  S.  668—670,  mit  2 Textfiguren  S.  669.  Berlin,  Asher  & Co.  1899. 


317 


hätte,  was  wohl  nur  ganz  ausnahmsweise  vorgekommen  sein 
dürfte,  bliebe  nach  unseren  obigen  Darlegungen  noch  zu  ent- 
scheiden, ob  dieser  eine  sekundär-episodische  Folge  des  pri- 
mären Weibgefühls  und  Verkleidungstriebes  ist  oder  ob  der 
letztere  sich  auf  dem  Boden  urnischer  Anlage  entwickelt  hat. 
Es  ist  aber  auch  möglich,  dass  überhaupt  keine  triebhafte 
Neigung  — gleichviel  ob  rein  transvestitisch  oder  homo- 
sexuell — die  Verkleidung  verursacht  hat,  sondern  dass  sie 
von  ganz  anderen,  mehr  äusseren  Gründen  veranlasst 
wurde,  von  denen  wir  noch  eine  ganze  Reihe  kennen  lernen 
werden.  In  diesen  Fällen  schliesst  freilich  der  äussere  Grund 
nicht  die  innere  Neigung  aus.  Wenn  beispielsweise  v.  Römer 
uns  scharfsinnig  klarlegt,  dass  in  den  antiken  IMysterien  das 
Auftreten  von  Frauen  als  Männer  und  Männer  als  Frauen  die 
androgynische  Idee  des  Lebens  und  der  Gottheit,  das  mann- 
weibliche Prinzip  des  Zeugens  und  Empfangens  in  Einem 
versinnbildlichen  sollte,  so  schliesst  das  nicht  aus,  sondern  lässt 
es  sogar  wahrscheinlich  erscheinen,  dass  man  zur  Verkörpe- 
rung dieses  tiefen  Gedankens  vorzugsweise  Jünglinge  und 
Jungfrauen  w'ählte,  die  sich  infolge  ihres  Wesens  besonders 
gut  eigneten  und  dazu  neigten,  die  Rolle  des  andern  Ge- 
schlechts zu  übernehmen. 

Manche  Ethnologen  scheinen  sich  übrigens  mehr  oder 
weniger  deutlich  bewmsst  gewiesen  zu  sein,  dass  die  Beur- 
teilung der  sich  ihnen  engegenstellenden  Erscheinung  keine 
ganz  so  einfache  ist.  Sehr  deutlich  geht  dies  unter  anderen 
aus  der  sorgsamen  Zusammenstellung  hervor,  die  uns  Karsch 
in  der  eben  genannten  Arbeit  über  die  amerikanischen  Natur- 
völker — die  Indianer  — geliefert  hat.  Von  diesen  hoben  zahl- 
reiche Gewährsmänner  einerseits  hervor,  „dass  sie  im  allgemeinen 
weniger  Neigung  zum  geschlechtlichen  Verkehr  an  den  Tag 
legten  als  andere  Menschenrassen,“  andererseits  dass  es  vom 
nördlichsten  Nordamerika  bis  zum  südlichsten  Südamerika 
kaum  einen  Indianerstamm  gäbe,  in  dem  sich  nicht  eine  über- 
raschend grosse  Anzahl  „verweibter  Männer“  fände,  denen 
eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von  Frauen  gegenüberstandc 
„die  in  allem  den  Männern  nachahmten,  als  w'enn  sie  auf- 
gehört hätten,  Weiber  zu  sein.“  Schon  im  Jahre  1697 


iinterächied  der  Forschungsreiseudo  Hennepin*)  unter  diesen 
von  der  N'orrn  abwcichcmien  .Männern  drei  Forme  n.  Wir 
zitieren  im  folgenden  den  Bericht  K a r s c h’s  (in  dem 
wir  die  für  unser  Thema  besonders  bemerkenswerten  Stellen 
durch  Sperrdruck  kenntlich  machen).  Hennepin  unterschied: 

.,1.  H e r m a p h r 0 d i t e n , d.  h.  Zwitter,  Personen  mit 
angeblich  männlichen  und  weiblichen  Geschlechtsorganen,  II. 
-Männer  mit  weiblichem  Aussehen,  die  sich 
mit  weiblichen  Arbeiten  beschäftigten 
und  weder  auf  die  Jagd  gingen  noch  als 
Krieger  in  den  Krieg  zogen;  sie  unter- 
schieden sich  von  den  Hermaphroditen 
dadurch,  dass  sie  bloss  als  ^länner  galten; 
endlich  III.  Männer,  welche  sich  anderer  Personen  männ- 
lichen Geschlechts,  unter  ihnen  auch  der  Männer  von  weib- 
lichem Aussehen,  zur  Befriedigung  ihres  Geschlechtstriebes  be- 
dienten. Die  Hermaphroditen  aber  wurden  wohl  mit  Unrecht 
von  den  Männern  mit  weiblichem  Aussehen  scharf  getrennt 
gehalten  und  dürften  höchstens  einen  Unterschied  im  Grade 
der  Verweiblichung  (Effemination)  geboten  haben,  was  denn 
auch  von  C o r e a 1 am  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
unbedenklich  angenommen  wird.  Eine  kurze  Uebersicht  über 
die  Geschichte  dieser  Effeminierten  gebietet  indessen,  sie  vor- 
läufig auseinander  zu  halten. 

1.  Die  Hermaphroditen.  Wenn  man  den  zahl- 
reichen Schriftstellern,  welche  Hermaphroditen  oder  Zwitter 
unter  den  Indianern  gesehen  oder  von  solchen  gehört  haben 
wollen  oder  die  .\ngaben  anderer  über  sie  in  gutem  Vertrauen 
hinnahmen,  Glauben  schenken  wollte,  so  müsste  die  neue 
Welt  nicht  nur  zur  Zeit,  als  sie  entdeckt  wurde,  solche  mit 
mehr  oder  weniger  vollkommenen  Zeugungsorganen  der  beiden 
Geschlechter  ausgestattete  Wesen  in  grosser  Menge  hervor- 
gebracht haben,  sondern  müsste  auch  noch  jetzt  von  derlei 
Geschöpfen  wimmeln  und  ein  Dorado  für  den  .\natomen  sein. 


•)  Hennepin,  R.  P.  Louis;  Nouvelle  decouverte  d’un  tres  grand  pays 
situe  en  .Imerique  entre  le  Nouveau  Mexique  et  la  Mer  Glariale.  Utrertit, 
Broedelet.  1697. 


319 


Wenn  jedoch,  was  selten  geschah,  an  einem 
solchen  hypothetischen  AV  ander  einmal 
eine  Ocularinspektion  vorgenommen  wurde, 
so  stellte  es  sich  jedesmal  als  einen  nor- 
mal gebauten  Mann  heraus,  welchem  weib- 
liche Formen,  Bewegungen  und  Triebe  an- 
hafteten, so  dass  es  nicht  um  einen  rein 
somatischen,  wie  man  vermutete,  sondern 
um  einen  psychophysischen  Hermaphro- 
ditismus sich  handelte. 

Hermaphroditen  in  grosser  Zahl  sollten  besonders  die 
nordamerikanischen,  von  vielen  Indianerstämmen  bewohnten 
Gebiete  Florida  und  Louisiana  zur  Zeit  ihrer  Unterwerfung 
unter  europäischen  Besitz  beherbergt  haben;  ihr  Vorkommen 
in  Florida  behauptete  anscheinend  zuerst  1586  Laudonniere 
und  1591  le  AI  o y n e , später,  1717  Lapper  und  1744 
Charlevoix  ; eine  ausführliche  Abhandlung  über  die 
Hermaphroditen  von  Florida  verfasste  1769  P a u w ; „Des 
Hermaphrodites  de  la  Floride“,  in  der  er  die  Sage  von  ihnen 
für  Gewissheit  ihrer  Existenz  nahm  und  eine  Erklärung  für 
sie  zu  geben  versuchte;  der  ungläubige  Zimmermann 
entschuldigt  ihre  Erwähnung  lediglich  mit  dem  Ansehen,  in 
welchem  P a u w stehe,  und  meint,  Pa  uw  habe  sich 
von  dem  AVunsche  leiten  lassen,  durch  ihre 
Hermaphroditen  die  Ausartung  der  Ameri- 
kaner noch  deutlicher  bewiesen  zu  sehen; 
er  gibt  verschleiert  der  AnsichtAusdrupk, 
dass  es  bei  denHermaphroditen  nur  um  als 
AA'eiber  verkleidete  und  gezierte  Manns- 
personen sich  gehandelt  habe.  Ganz  ohne  Be- 
denken äussert  Schneider,  der  Eifer,  mit  welchem 
P a u w „diese  Kinäden"  zu  Hermaphroditen  umzustempeln 
gesucht  habe,  könne  ihm  nur  ein  Lächeln  abnötigen.  Lafitau 
vermochte  1724  in  den  Hermaphroditen  nur 
effeminierte  Männer  zu  erblicken,  deren 
AVesen  er  mit  der  griechischen  Liebe  in 
A^  e r b i n d u n g bringt  und  idealisiert,  und  auch  Bruzen 
LaMartiniere  schliesst  sich  1726  ganz  an  C o r e a 1 


320 


an,  nach  dein  diese  angeblichen  Hermaphroditen  eben  nichts 
als  e f f e m i n i e r t e Männer  waren,  welche,  wie 
C 0 r e a 1 hinzufügte,  in  gewissem  Sinne  ja  auch  wirkliche 
Hermaphroditen  sind  („qui  en  un  sens  sont  des  veritables 
Hermaphrodites",  der  Wortlaut,  den  La  M a r t i n i e r c 
von  C 0 r e a 1 übernimmt).  D u m o n t mochte  1753  zwar 
nicht  behaupten,  dass  es  in  Louisiana  Hermaphroditen  unter 
den  Indianern  nicht  gegeben  hätte,  da  nach  fast  allen  Schrift- 
stellern dieses  Land  voll  von  solchen  Leuten  gewesen  sein 
solle;  allein  er  versichert  seinerseits,  auf  seinen  weiten 
Reisen  in  jenem  Lande  nicht  einen  einzigen  Hermaphroditen 
angetroffen  zu  haben;  er  glaube,  die  Fabel  von  ihnen  be- 
ruhe auf  einer  Verkennung  der  Aufseher  der  Frauen  bei  den 
Natchez  und  anderen  Stämmen,  welche  nicht  nur  ihr 
Haar  lang  trugen  und  in  weiblicher  Tracht 
einhergingen,  sondern  den  Barbaren  wahrscheinlich 
auch  zur  Befriedigung  ihrer  Lüste  gedient  hätten,  wenn 
sie  selbe  auf  deren  Jagd-  und  Kriegszügen,  die  unter  Zurück- 
lassung der  Frauen  vor  sich  gingen,  begleiteten.  Nicht  ohne 
wesentliches  Tnterresse  ist  übrigens,  dass  in  Louisiana  auch 
die  in  den  Tempeln  auf  Fellen  schlafenden  Priester  in 
weiblicher  Tracht  erscheinen  mussten  (Bastian). 

Eine  von  einer  Kupfertafel  begleitete  Schilderung  der 
Tätigkeit  der  Hermaphroditen  in  Florida  liegt  vor  von 
Jacobus  le  Moyne  1591;  eine  nach  einem  etwas  ver- 
kleinerten photographischen  Abdruck  dieser  Kupfertafel  (Fol. 
XVII)  hergestellte  Textabbildung  wurde  der  vorliegenden  Ab- 
handlung (K  arsch’s)  beigefügt;  die  Hermaphroditen  sind  hier 
in  langem  Haare,  als  Pfleger  ihrer  erkrankten  Landsleute, 
die  sie  teils  auf  dem  Rücken,  teils  auf  Bahren  in  die  für 
Kranke  bestimmten  Pflegestätten  tragen,  dargestellt.  Diese 
Hermaphroditen,  von  kräftigerer  und  mehr  ausdauernder  Kon- 
stitution als  die  Weiber,  wurden  nach  1 e Moyne  in  Florida 
als  Träger  von  Lasten  aller  Art  beschäftigt;  besonders  trugen 
sie  den  in  den  Krieg  ziehenden  Häuptlingen  deren  Gepäck 
nebst  Speisevorräten;  die  durch  Verwundung  oder  Erkrankung 
Kampfunfähigen  schafften  sie  vom  Platze,  die  Toten  auf  die 
Grabstätte;  von  ansteckenden  Krankheiten  Befallene  brachten 


321. 


sie  an  abgelegene  Orte  und  pflegten  sie  dort  bis  zu  ihrer 
Genesung. 

Nach  de  Lahontan  gab  es  bei  den  Illinois  ausser 
notorischen  Päderasten  noch  Hermaphroditen,  welche  beider 
Geschlechter  ohne  Unterschied  sich  bedienten  („mais  ils  font 
indifferemment  usage  des  deux  sexes“),  eine  Behauptung, 
welche  wohl  nur  auf  Vermutung  beruht. 
Ross  Cox  schilderte  seine  seltsame  Begegnung  mit  einem 
„hermaphroditischen“  Häuptlinge  der  Kettle-Indianer;  1814 
spricht  de  1 a Salle  von  Hermaphroditen  bei  den  Illinois 
als  einer  Wirkung  des  Klimas  ihres  Heimatlandes,  und  auch 
noch  im  vorletzten  Jahrzehnt  des  19.  Jahrhunderts  ist  von 
sogenannten  Hermaphroditen  unter  den  Indianerstämmen  Nord- 
amerikas im  Osten  und  Westen  des  Felsengebirges  seitens 
einiger  Aerzte  im  Dienste  der  Vereinigten  Staaten  die  Rede 
(Holder).  Holder  selbst  hat  einen  im Absaroke-Stamme 
lebenden  jungen  Indianer,  der  weiblich  gekleidet  ging  und  den 
er  deshalb  für  hermaphroditisch  hielt,  nach  dem  Vorgänge 
H a m m 0 n d’s  körperlich  genau  untersucht  und  zu  seiner 
Ueberraschung  als  durchaus  normalen 
Mann  befunden;  mehrere  Jahre  hatte  die  junge  Rot- 
haut als  weiblicher  Teil,  wie  man  sagte,  einer  ehe- 
lichen Gemeinschaft  mit  einem  wmhl  bekannten  männlichen 
Indianer  der  Absaroke-Stammes  zusammengelebt  (Es  folgen 
hier  Bemerkungen  Holders  über  die  Ausführung  des  mann- 
männlichen  Verkehrs,  die  wir  als  für  diese  Arbeit  belang- 
los übergehen  können.) 

2.  Die  ver  weihten  Männer  oder  Effcmi- 
liierten.  Von  verweibten  Männern  unter  den  Indianern 
handelte  bereits  1555  Cabega  deVaca;  er  scheint  sie 
für  Impotente  angesehen  zu  haben.  Wie  weibliche 
Personen  von  so  männlicher  Herzhaftig- 
keit, dass  sie  sich  sogar  aus  dem  Kriegs- 
handwerk eine  Ehre  machten,  unter  den 
Indianern  gefunden  wurden,  so  gab  es 
auch  andererseits  Mannspersonen,  welche 
sich  wie  Weiber  kleideten.  Bei  den  Illinois,  den 
Sioux,  in  Florida,  Louisiana  und  Yucatan  lebten  junge 

H i r s c b t e 1 d , Die  Transvestiten.  21 


Männer  in  W e i b e r t r a c h t , die  ü i o dann 
zeitlebens  b e i b e h i e 1 t e n ; sie  hatten  Gefallen  au 
weiblichen  Beschäftigungen,  verheirateten  sich  niemals  mit 
Weibern,  zogen  nicht  in  den  Krieg,  wohnten  aber  mit  Vor- 
liebe religiösen,  auf  das  Gemüt  wirkenden  Zeremonien  bei. 
An  vielen  Orten  erlangten  sie  dadurch  ein  Ansehen,  welches 
sie  als  einem  über  den  gemeinen  Mann  erhabenen  Stande  an- 
gehörig betrachten  liess  (Lafitau,  Baumgarten, 
Marquette).  Martius  ist  nicht  geneigt, 
die  Männer,  welche  sich  als  Weiber  klei- 
deten, sich  ausschliesslich  weiblichen  Be- 
schäftigungen widmeten,  spannen,  webten, 
Geschirre  anfertigten  u.  dergl.,  als  eine 
besondere  Klasse  anzusehen;  „dass  diese  Sitte 
so  seltsam  travestierter  Männer,  welche  vorzugsweise  und  zu- 
erst von  den  Illinois,  den  Sioux  und  anderen  Indianern  in 
Lousiana,  Florida  und  Yucatan  berichtet  worden,  so  fern 
von  jenen  Ländern,  auch  im  südlichen  Brasilien 
wieder  erscheint,  ist  um  so  merkwürdiger  als  überhaupt  das 
Wesen  und  die  Bestimmung  solcher  Mannweiber  ein  Rätsel 
in  der  Ethnographie  Amerikas  ausmacht.  Uebrigens  scheinen 
alle  Berichte  darin  übereinzustimmen,  dass  die  Mannweiber  bei 
den  Indianern  in  geringer  Achtung  stehen.  Von  einem  be- 
sonderen Kultus  oder  einer  Ordensverbrüderung  findet  man 
keine  Spur.  Es  ist  mir  daher  wahrscheinlicher,  dass  s i e 
mit  der  so  tief  eingewurzelten  Sittenver- 
derbnis der  Indianer  Zusammenhängen,  als  dass  man  von 
ihnen  auf  eine  Sekte  von  Entsagenden  und  sich  in  frei- 
williger Demut  Erniedrigenden  schliessen,  oder,  wie  Lafitau 
getan,  in  ihnen  Priester  der  Dea  syria,  wenn  gleich  in 
tiefster  Ausartung,  erkennen  dürfte“  (Martius  1832,  1867). 

Die  Männer,  welche  sich  gleich  Weibern 
kleideten  und  alle  Geschäfte  der  Weiber 
besorgten,  wurden  von  den  jungen  Männern  förmlich 
wie  Weiber  behandelt,  lebten  auch  in  einem  gewissen  „un- 
natürlichen Umgänge“  mit  ihnen;  der  alte  C h a r - 
bonneau,  nachdem  er  37  Jahre  im  Osten  des  Felsenge- 
birges geweilt  hatte,  behauptete  sogar,  dass  in  dieser  Hin- 


323 


sicht  die  Mannweiber  der  Canadier  den  Weibern  vorgezogen 
würden;  während  Prinz  Maximilian  zu  Wied  in 
Nordamerika  weilte  (1832  bis  1834),  sollen  sich  nicht  viele 
solcher  Geschöpfe  in  den  von  ihm  besuchten  Indianerstämmen 
befunden  haben,  unter  den  Mandan’s  nur  ein  grosser, 
taubstummer  Mann  und  unter  den  Mönnitarri’s  zwei  bis  drei 
solcher  Individuen  (Wied  II  133);  Wied  gibt  (II  133, 
Fussnote)  ausdrücklich  an,  dass  der  Gebrauch  der  Mann- 
weiber für  die  Indianerstämme  der  Sauk’s,  Foxes,  Mandan’s, 
Mönnitari’s,  Crow^’s,  Blackfeet’s,  Dakota’s,  Assiniboin’s, 
Arrikkara’s  und  die  meisten  Nationen  des  innern  Nord- 
amerika erwiesen  sei,  mit  Ausnahme  allein  der  Menomomie’s 
(Folles  avoines)  und  der  Ottäwa’s  (Courtes  oreilles).  Das 
Lebensalter,  in  welchem  diese  männlichen 
Indianer  zuerst  ihrGeschlecht  verleugnen, 
indem  sie  ihren  Körper  in  weibliche  Klei- 
dung hüllen,  ist  nicht  stets  das  gleiche. 
Bis  w’ eilen  geschieht  es  schon  sehr  früh, 
im  kindlichen  Alter,  aus  unbekannten 
Gründen  (Marquette);  manche  Väter  haben 
dann  ihre  Kinder  von  ihrem  Vorhaben  ab- 
zubringen gesucht, ihnen  zugeredet, auch 
schöne  Waffen  und  männliche  Kleidungs- 
stücke ihnen  dargeboten,  ihnen  Gefallen 
an  männlichem  Treiben  ein  zuflössen  sich 
bemüht,  und  wenn  nichts  fruchtete,  eine 
Sinnesänderung  mit  Strenge  und  Gewalt 
herbeizuführen  versucht,  ja  die  Knaben 
gezüchtigt  und  geprügelt,  ohne  zum  Ziele 
zu  kommen  (Wied).  In  anderen  Fällen  nehmen  In- 
dianer erst  im  vorgerücktern  Mannesalter 
diese  Metamorphose  vor;  sie  erklären  alsdann,  dass 
Traum  oder  eine  höhere  Eingebung  ihnen  dieselbe  als  Medizin 
oder  als  ihnen  zum  Heile  anempfohlen  habe  und  sie  be- 
harren ohne  Bedenken  bei  ihrem  Ent- 
schlüsse, welcher  ihnen  zwar  eine  gewisse  Verachtung 
zuzieht,  aber  dennoch  dem  ganzen  Stamme  als  heilig  gilt. 
So  ersetzte  ein  gefeierter  Krieger  des  Otoe-Stammes,  einem 

21* 


324 


Traume  folgend,  seinen  Kriegerschmuck  durch  ein  Weiber- 
kleid. wie  John  T.  Irving  in  einem  besonderen  Ka- 
pitel „The  Metamorphosis“  ausführlich  geschildert  hat.  Von 
dem  starken  Einflüsse  ihrer  lebhaften  Phantasie  auf  ihr 
äusseres  Leben  legt  auch  die  Erzählung  eines  Sauk-Indianers 
Zeugnis  ab,  nach  der  ein  Mann,  dem  die  böse  Gottheit  in 
Gestalt  des  Mondes  erschien,  sich  als  Weib  kleiden  und  als 
solches  sich  hingeben  müsse  („become  cinaedi“  K e a t i n g). 
Auch  erzählen  nach  Wied  die  Indianer  eine  Fabel,  an 
welche  sie  glauben:  Man  wollte  einst  einen  Mann  zwingen, 
die  Weiberkleidung  nicht  anzulegen;  ein 
ausgezeichneter  Krieger  bedrohte  ihn;  es  kam  zu  heftigem 
Streite,  in  dessen  Folge  das  Mannweib  von  einem  Pfeil  töt- 
lich  getroffen,  zusammenbrach:  statt  seiner  Leiche  jedoch  fand 
man  am  Boden  einen  Haufen  von  Steinen  und  zwischen  ihnen 
den  Pfeil.  Seitdem  mischt  sich  niemand  mehr  in  diese  Ange- 
legenheit, die  man  vielmehr  als  von  höheren 
Mächten  eingesetzt  und  geschützt  an- 
sieht.  — Männer  in  Weiberkleidung  unter 
den  Indianern  werden  aber  auch  noch  sonst 
vielfach  erwähnt,  so  von  Bossu,  Bernal 
Diaz,  DuflotdeMofras,  Dumont,  Falkner, 
Lopez  de  Gomara,  Hennepin,  de  Herrera, 
James,  Peter  Mart  yr,  Mc  Coy,  Mc  Kenne  y, 
Oviedo,  Perrin  du  Lac,  Piedrahita,  Ra- 
musio,  dela  Salle,  Tanner;  fast  alle  diese  Schrift- 
steller haben  aus  eigener  Anschauung  berichtet,  w'ährend 
andere,  wie  Bastian,  Mantegazza,  Peschei, 
Ratzel,  Schneider,  Schnitze,  Schurtz  und 
namentlich  Theodor  Waitz  das  ihnen  bekannt  ge- 
wordene Quellenmaterial  zusammenstellten.  Die  Männer 
in  Weibert  rächt  gaben  zweifellos  die 
Haupt  Veranlassung,  dass  die  Indianer  ganz  all- 
gemein von  den  Ethnographen  der  Päderastie  beschuldigt 
werden,  obwohl  doch  sicher  derlei  Akte  bei  ihnen  in  den 
wenigsten  Fällen  offen  zur  W’’ahrnehmung 
gelangt  sein  dürften.  Bei  der  ungeheuer 
grossen  Verbreitung  aber,  welche  die 


325 


ausgesprochene  Neigung,  als  Weib  zu  er- 
scheinen, um  die  Gunst  der  Männer  zu  ge- 
winnen, unter  den  Indianern  hatte,  ist  es 
kaum  verwunderlich,  dass  von  Seite  der  Ethnographen  eine 
Menge  von  Namen  berichtet  wird,  mit  denen  man  bei  den 
verschiedenen  Stämmen  diese  falschen  Weiber  be- 
legte, wie  agokwas,  bardaches,  bote,  burdash,  camayoas,  cu- 
dinas,  cusmos,  joyas,  maricones,  mihdäckä,  mujerado. 
Uebrigens  darf  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass 
Weibertracht  bei  manchen  Indianerstämmen  auch  zur 
Strafe  als  Beschimpfung  angelegt  wurde.  So  er- 
zählt W^  a i t z , ein  Krieg  der  Delaware  mit  den  Irokesen 
1742  habe  mit  dem  denkwürdigen  Ereignisse  geendet,  dass 
die  gänzlich  gebrochenen  Delaware’s  „zu  Weibern  ge- 
macht“, d.  h.  ihnen  Weiberröcke  von  den 
Irokesen  angezogen  wurden,  um  sie  für  einen 
Vertragsbruch  zu  strafen,  wie  diese  sagten,  um  sie  als  all- 
gemeine Friedensstifter  zu  bezeichnen,  wie  sie  selbst  Zugaben; 
nur  die  Deutung  der  Tatsache,  nicht  diese  an  sich  sei  zweifel- 
haft. Auch  wurde  ihnen  erklärt,  sie  könnten  Land  nicht 
verkaufen,  da  sie  besiegt  und  zu  Weibern  gemacht  seien. 
Und  Bastian  teilt  mit.  über  die  Niederlage  Guanar- 
Auqui’s  erzürnt,  habe  Guascar  ihm  Frauenkleider 
gesendet,  damit  er,  mit  diesen  angetan,  nach  Cuzco, 
der  Residenz  des  Inca  von  Peru,  zurückkehre.  Anderseits 
wird  von  vielen  Stämmen  angegeben,  dass  ihre  männ- 
lichen Priester  Weiberkleider  tragen 
mussten. 

3.  Von  den  ä n n e r n , die  seitens  der  Mannweiber  be- 
gehrt werden  und  Erhörung  gewähren,  ist  selten  die  Rede; 
sie  werden  dem  ungeübten  Auge  merkliche  Unterschiede  von 
den  übrigen  Männern  weder  in  ihrer  Tracht  noch  in  ihrer 
sonstigen  Erscheinung  aufgewiesen  haben,  und  das  ist  um 
so  wahrscheinlicher,  als  vielmals  von  Männern  erzählt  wird, 
welche  einen  Unterschied  zv^ischen  Weibern  und  Mannweibern 
als  Gegenstand  des  Liebesgenusses  nicht  zu  machen  pflegten 
(Dumont,  Tanne  r);  indessen  gab  es  auch  solche, 
welche  jeden  Umgang  mit  Weibern  mieden,  es  vorziehend,  sich 


326 


ganz  auf  den  geschlechtlichen  Verkehr  mit  Mannspersonen  zu 
beschränken  und  mit  solchen  einen  Umgang  zu  pflegen, 
dem  bisweilen  sogar  durch  eine  Heirat  eine 
besondere  Weihe  verliehen  ward.  Quellenbelege 
dafür,  dass  Ehen  unter  Männern  bei  den  Indianern  vorkamen, 
bin  ich  nicht  in  der  Lage  beizubringeii,  da  durch  eine  un- 
glückliche Verkettung  von  Umständen  gerade  die  auf  die  Hei- 
raten unter  Indianern  Bezug  nehmenden  Werke  mir  unzu- 
gänglich blieben.  Von  solchen  mannmännlichen  Ehen  teilt 
aber  Bastian  einige  Beispiele  mit.  Bei  den  kalifornischen 
Indianern  fanden  ausser  den  gemischten  Ehen  auch  Heiraten 
von  Männern  mit  Männern  statt;  sie  geschahen  öffentlich, 
aber  ohne  die  sonst  gebräuchlichen  Zeremonien;  die  zur 
Weiberrolle  bestimmten  Männer  wurden 
schon  in  der  Jugend  ausgesucht  und  in  den 
Geschäften  der  Weiber,  in  ihrer  Art,  sich 
zu  kleiden,  zu  gehen  und  zu  tanzen,  unter- 
richtet, so  dass  sie  fast  ganz  den  Weibern 
glichen.  Da  sie  stärker  waren  als  diese,  und  deshalb  zu 
den  mühsamen  Geschäften  tauglicher,  so  wurden  sie  gewöhn- 
lich von  den  Häuptlingen  und  Ael testen  geheiratet,  denn 
während  die  Männer  nichts  taten,  als  fischen,  jagen  und  ihre 
Waffen  herrichten,  waren  den  Weibern  alle  häuslichen  Arbeiten 
und  Feldgeschäfte  übertragen  (Bastian).  Im  Westen  des 
Felsengebirges  bei  den  gebildeten  „Tahus“  verheirateten  sich 
Männer  mit  Mannweibern  nach  Castaneda 
und  Alarcon  bei  Bastian."  (Bericht  Karschs.) 

Von  besonderem  Interesse  ist  der  authentische  Unter- 
suchungsbefund, welchen  der  Dr.  med.  Holder*)  über  einen 
in  seinen  Diensten  befindlichen  Bo-te  1889  im  New-Yorker 
Medical  Journal  veröffentlicht  hat. 

Mit  dem  Wort  Bo-te,  das  wörtlich  „nicht  Mann,  nicht 
Weib“  bedeutet,  bezeichnen  die  Krähenindianer  (Crows)  in 

•)  Holder,  A.  B.,  The  Bote.  Deecription  of  a peculiar  se.xual  per- 
version  found  amon?  North  American  Indians.  The  New  York  Medical  Journ. 
A weekly  review  of  Medicine,  No.  575,  Vol.  L,  No.  2ll,  Decenibcr  7,  1899, 
Seite  623—625. 


327 


Montana,  unter  denen  Holder  praktizierte,  eine  Gruppe  als 
Frauen  gekleidete  Männer,  die  in  der  Literatur  wiederholt  als 
Hermaphroditen  geschildert  worden  waren. 

„Sie  tragen  weibliche  Kleidung,“  — wir 
zitieren  nach  Karsch  — „scheiteln  ihr  Haar  in  der  Mitte 
und  flechten  es  wie  ein  Weib,  besitzen  oder  er- 
künsteln weibliche  Stimme  und  Geberden  und  leben  in  be- 
ständiger Verbindung  mit  Weibern,  gleich  als  ob  sie  zu 
diesen  gehörten;  indessen  verlieren  ihre  Stimme,  ihre  Ge- 
sichtszüge und  ihre  Gestalt  nie  so  sehr  die  männlichen  Eigen- 
schaften, dass  es  einem  aufmerksamen  Beobachter  schwer 
wäre,  einen  Bote  von  einem  Weibe  zu  unterscheiden.  E i n 
solcher  Bote  verrichtet  bei  den  Crow 
weibliche  Arbeit,  vde  fegen,  scheuern,  Schüsseln 
spülen,  mit  solcher  Anstelligkeit  und  Willigkeit,  dass  er 
auch  bei  der  weissen  Bevölkerung  häufig  Beschäftigung  er- 
hielt. Gewöhnlich  wird  die  weibliche  Tracht 
in  der  Kindheit  angelegt  und  auch  weib- 
liche Sitten  werden  schon  früh  ange- 
nommen ; doch  den  Beruf,  dem  er  sich  später  widmet, 
übt  ein  Bote  erst  zur  Zeit  seiner  Geschlechtsreife  aus. 
Ein  kleiner  Schüler  einer  Erziehungsanstalt  (Knaben-Pen- 
sionat  einer  Indianer-Agentur)  wurde  öfters  dabei  ertappt, 
wie  er  heimlich  weibliche  Kleidung  anlegte;  obwohl  jedes- 
mal bestraft,  bildete  er  sich  doch,  der  Schule  entwachsen, 
zum  Bote  aus,  welchem  Berufe  er  seitdem  treu  geblieben  ist. 
Ein  bei  dem  Crowstamme  accreditierter  Bote,  der  zur  Kund- 
schaft des  Arztes  Dr.  Holder  gehörte,  war  ein  Dakota- 
Indianer;  er  wird  als  ein  prächtig  gestalteter  Bursche  von 
einnehm.enden  Gesichtszügen,  vollkommener  Gesundheit,  leb- 
hafter Beweglichkeit  und  glücklichster  Gemütsveranlagung  ge- 
schildert; Holder  zog  ihn  zu  seiner  Bedienung  heran  und 
brachte  ihn,  wenn  auch  nach  langem  Widerstreben,  durch 
Erweisung  von  allerhand  Aufmerksamkeiten  dahin,  sich  von 
ihm  untersuchen  zu  lassen.  5 Fuss  8 Zoll  hoch,  158  Pfund 
schwer,  33  Jahre  alt,  vollkommen  bartlos,  mit  offenem,  in- 
telligenten Gesicht,  hatte  dieser  Bote  die  aus  4 
Kleidungsstücken  bestehende  weibliche 


328 


1'  r a c h t bereits  im  s e c li  s t e ii  Lebensjahre 
angelegt;  er  trug  sein  24  bis  26  Zoll  langes  Haar  in 
ilcr -Mitte  gescheitelt  und  liess  es  in  zwei  Wellen  locker  hinter  den 
Schultern  herabfallen;  es  ist  das  zwar  die  gewöhnliche  Haar- 
tracht der  ^Männer  bei  den  Dakota,  aber  bei  den  Crow 
teilen  die  Männer  ihr  Haar  seitlich  und  tragen  es  in  langen 
Flechten.  Nach  seiner  Entblössung  zeigte  sich  die  Haut  des 
Bote  weich  und  haarlos,  selbst  Brust,  Arme,  Achselhöhlen 
und  Beine  waren  vollkommen  unbehaart,  w'as  aber  als  be- 
deutungslos bezeichnet  wird,  weil  alle  Indianer  der  Kund- 
schaft Dr.  Holde  r’s,  Männer  wie  Weiber,  dieselbe  Eigen- 
tümlichkeit aufweisen.  Seine  Brustwarzen  waren  wie  sonst 
beim  Manne  kümmerlich.  Als  der  Bote  das  seine  Geschlechts- 
teile verdeckende  Kleidungsstück  entfernte,  gab  er  seinen 
Schenkeln  eine  solche  Lage,  dass  sie  die  Geschlechtsorgane 
vollständig  versteckten,  eine  Bewegung,  welche  Holder 
sonst  nur  bei  der  L’’ntersuchung  schamhafter  Frauen  sah,  bei 
denen  sie  wegen  der  mehr  zurücktretenden  Genitalien  und 
der  starken  Rundung  der  Schenkel  den  Zweck  leicht  erreichte; 
indess  aucii  dem  Bote  gelang  das  Kunststück  vollkommen,  viel- 
leicht wegen  der  Bildung  seiner  Schenkel,  welche  dem  unter- 
suchenden Arzte  von  weiblicher  Fülle  zu  sein  schienen,  oder 
infolge  einer  durch  L"ebung  erlangten  Geschicklichkeit;  freund- 
lichst  gebeten,  seine  Schenkel  zu  trennen,  liess  der  Bote 
männliche  Organe  zum  Vorschein  kommen,  an  Grösse  viel- 
leicht nicht  ganz  so.  wie  die  stattliche  Gestalt  des  ^laniies 
sie  hätte  vermuten  lassen,  aber  in  Bildung  und  Lage  voll- 
kommen normal.  Der  Penis  hatte  im  schlaffen  Zustande 
4).<  Zoll  Länge  bei  Zoll  Umfang;  Vorhaut  und  Eichel 
waren  normal,  jeder  Hoden  hatte  die  Grösse  einer  kleinen 
Mandel,  die  Scham  bekleidete  ein  dünner  Wuchs  kurzer  Be- 
haarung wie  gewöhnlich  beim  männlichen  Indianer.  Vor  der 
Untersuchung  hatte  der  Bote  dem  Arzte  das  Versprechen 
abgenommen,  nichts  über  seinen  Befund  zu  verraten  und 
nachher  versicherte  er  ihm,  dass  seit  seiner  Kindheit  noch 
Niemand  ausser  dem  Arzte  seine  Geschlechtsteile  gesehen 
habe;  seine  ständigen  Gefährten  seien  Frauen;  und  auf  die 
Frage,  wie  er,  mit  Frauen  zusammen  badend,  es  anfange, 


329 


(Uesen  (ien  Anblick  seines  Gemächtes  zu  entziehen,  erwiderte 
er:  „das  mache  ich  so",  und  schlug  wiederum  seine  Schenkel 
so  zusammen,  wie  er  es  beim  Ablegen  des  letzten  Kleidungs- 
stückes getan  hatte;  Penis  und  Hodensack  waren  wieder 
vollständig  unsichrbar,  und  es  hätte  einer  Besichtigung  aus 
allernächster  Nähe  bedurft,  um  über  sein  Geschlecht  ins  Klare 
zu  kommen;  er  bestritt,  jemals  geschlechtlichen  Umgang  mit 
einem  Weibe  gepflogen  zu  haben  und  fügte,  auf  seine  Scham 
deutend,  hinzu:  „kein  Geschwür  und  keine  Narbe!“  — nach 
Holder  bei  einem  so  venerischen  Stamme  wie  die  Crow’s 
auf  keinem  Fall  ein  schlechtes  Argument.“  Von  anderen  In- 
dianern, bei  denen  sich  Holder  nach  dem  Geschlechtsleben 
seines  Bote  erkundigte,  teilten  ihm  einige  mit,  dass  dieser 
doch  mit  Frauen  sexuellen  Umgang  hätte,  während  andere 
ihm  erzählten,  sein  Hauptvergnügen  sei,  „Männer  zu  über- 
reden, sich  seinen  Liebkosungen  zu  fügen“.  Der  Bericht 
Holders  erinnert  sehr  an  die  von  Krafft-Ebing  und  anderen 
zitierte  Abhandlung,  welche  1882  der  in  Neu-Mexiko  als 
Militärarzt  stationierte  Ar.  William  Hammond,  über  die  unter 
den  Pueblo-Indianern  lebenden  Mujerados  veröffentlicht  hat.*) 
Wie  unter  den  amerikanischen,  so  finden  sich  auch  unter 
allen  anderen  Naturvölkern  und  wie  unter  ihnen,  auch  unter 
den  älteren  und  neueren  Kulturvölkern,  den  asiatischen  so- 
wohl wie  den  europäischen  Gele  Beispiele,  die  mit  Sicherheit 
erweisen,  dass  die  Verkleidung  in  eine  Person  des  anderen  Ge- 
schlechts nichts  weniger  als  ein  Novum  ist, 
vielmehr  als  eine  menschliche  Eigentümlichkeit,  die  nicht  an 
Ort,  Zeit,  Race,  Stamm  und  Religion  gebunden  ist,  eine  Er- 
scheinung, die,  wie  übrigens  jede  aus  dem  Bereich  der 
Zwischenstufen,  stets  vorhanden  gewesen  ist.  Die  Art  ihrer 
Verbreitung  zeigt,  dass  sie  nicht  etwa  von  einer  Gegend  auf 
eine  andere,  von  der  mongolischen  Race  auf  die  Ureinwohner 
Amerikas,  von  der  griechischen  etwa  auf  die  alt-nordische 
i\Iythülogie,  in  der  Thor,  als  Freya  verkleidet  vom  Riesen 


•)  Vgl.  Hammond,  William  A.:  The  dieease  of  the  Scythians  (Morbus 
Foeminarum)  and  other  analogous  condiüons.  American  Journal  of  Neu- 
rologie and  Psychiatry,  August  1882  S.  339  (nach  Hammond  1891,  107). 


.330 


Thryni  seinen  verlorenen  FTammer  zurückgewmnt  (wobei  ihn 
Loki  in  der  Verkleidung  einer  Dienerin  begleitet),  sondern 
dass  sie  sich  überall  selbständig,  von  innen  her- 
aus, entwickelt  hat. 


Geschlechtsverkleidung  von  Kindern. 

Als  eine  Gruppe  für  sich,  wenn  auch  nur  bis  zu  einem 
gewissen  Grade,  da  sicherlich  manchmal  die  Kinder  mehr  die 
Eltern,  wie  diese  jene  beeinflusst  haben  werden,  müssen  wir  von 
den  übrigen  Fällen  die  verhältnismässig  nicht  gar  so  seltenen  Bei- 
spiele absondern,  in  denen  Vater  und  Mutter  Knaben  oder  Mäd- 
chen absichtlich  in  der  Tracht  des  andern  Geschlechts  aufwachsen 
Hessen.  Bei  den  meisten  Völkern  wird  ja,  wie  wir  bereits 
oben  besprachen  — der  Geschlechtsunterschied  lange  vor  der 
Geschlechtsreife,  gewöhnlich  schon  im  dritten  Lebensjahr  zum 
Ausdruck  gebracht,  bei  manchen  erst  mit  der  Reife,  bei 
einigen,  wie  bei  den  Koreern,*)  sogar  erst  mit  der  Ver- 
heiratung, die  ja  allerdings  bei  \delen  Völkern  so  früh  statt- 
findet, dass  sie  fast  mit  der  Pubertät  zusammenfällt.  Nun 
kommt  es  aber  ausnahmsweise  vor  und  es  sind  uns  im  vor- 
hergehenden auch  schon  Vorgänge  der  Art  begegnet,  dass 
Eltern  Knaben  als  Mädchen  — das  umgekehrte  ist  seltener  — 
aufzogen,  die  dann  dauernd  in  dem  ihren  Sexualorganen  nicht 
entsprechenden  Geschlecht  verblieben  sind.  Die  ethnogra- 
phischen Gewährsmänner  haben  sich  bemüht.  Gründe  für 
diese  gewiss  sehr  befremdlichen  Vorgänge  aus- 
findig zu  machen.  Ob  sie  dabei  stets  das  Richtige  getroffen 
haben,  ist  schwer  festzustellen.  Von  den  im  nördlichsten 
Russland  lebenden  Konjagen  berichten  ihre  Schilderer,  dass 
wenn  dort  Eltern  ein  Sohn  mädchenhaft  erscheint,  sie  ihn 
schon  in  frühester  Kindheit  zum  „ Achnutschik“  bestimmen, 
das  bedeutet  zu  einem  Wesen,  das  sie  weiblich  tätowieren 
und  sich  ganz  nach  Frauenart  beschäftigen  und  leben  lassen. 
Auch  wenn  Vater  und  }\Iutter  sich  eingebildet  haben,  das  zu 

•)  Karsch  - Haack;  Das  gleichgeschlechtliche  Leben  der  Ostasiaten. 
München  1906.  p.  130. 


331 


erwartende  Kind  werde  eine  Tochter  sein,  sich  aber  in  ihrer 
Hoffnung  getäuscht  sehen,  machen  sie  angeblich  den  neu- 
geborenen Sohn  zum  Achnutschick. 

Bei  den  Laches,  einem  südamerikanischen  Volksstamm 
entsprach  es  dem  Herkommen,  dass  der  sechste  Knabe,  den 
eine  Frau  gebar,  ohne  dass  ein  Mädchen  die  Reihe  unter- 
brach als  „Cusmos“  erzogen  wurde,  als  ein  Wesen,  das  ganz 
wie  ein  weibliches  betrachtet,  erzogen  und  gekleidet  wurde.*) 
Manchmal  heisst  es,  dass  Eltern  Knaben  als  Mädchen  gross- 
zogen, weil  sie  ihnen  besonders  zart  und  schwächlich,  dem 
rauheren  Männerleben  nicht  gewachsen  erschienen.  So  gibt 
es  bei  den  Sakalaven  im  nordwestlichen  Teil  der  Insel  Mada- 
gaskar und  auch  bei  den  Hovas,  dem  Hauptstamm  der  Insel, 
(wenn  auch  dort  nicht  in  derselben  Häufigkeit)  männliche 
Kinder,  die  als  weibliche  aufgezogen  werden.  Sie  werden 
Sekrata  genannt.  Von  ihnen  heisst  es  (vgl.  Jhb.  III.  p.  578); 
„Die  Sekrata  sind  immer  normal  entwickelte 
männlichePersönen,  die  man  nur  aus  dem 
Grunde  als  weibliche  behandelt,  weil  sie 
sehr  zart  und  schwächlich  sind.  Schliesslich 
gelangen  sie  ganz  dazu,  sich  selbst  für  Mädchen  zu  halten. 
Sie  nehmen  die  Tracht,  die  Gewohnheiten,  den  Charakter  des 
weiblichen  Geschlechtes  an,  und  die  Autosuggestion  geht  so 
weit,  dass  sie  ihr  wahres  Geschlecht  in  allen  Fällen  völlig 
vergessen.  Sie  verwenden  die  grösste  Sorgfalt  auf  ihre  Toi- 
lette, tragen  lange  Kleider  und  lange,  in  einen  zierlichen 
Knoten  verschlungene  Haare.  In  den  durchbohrten  Ohren 
werden  Silbermünzen  als  Schmuck  befestigt,  die  Arme  und 
die  Fussknöchel  werden  mit  Spangen  geziert.  Die  Sekrata 
haben  das  Benehmen  von  Frauen  und  erhalten  schliesslich  in- 

*)  Waitz,  Theodor:  Anthropologie  der  Naturvölker,  fortgesetzt  von 
Georg  Gerland.  6 Bände.  Leipzig,  Fleischer.  1S59 — 1872.  — 1.  Teil: 
üeber  die  Einheit  des  Menschengeschlechtes  und  den  Naturzustand  des  Men- 
schen, 1859  (zweite  Auflage  von  G.  Gerland,  1877).  — 2.  Teil:  Die  Neger- 
völker und  ihre  Verwandten.  1860.  — 3.  Teil:  Die  Amerikaner,  1.  Hälfte, 
1862.  — 4.  Teil:  Die  Amerikaner,  2.  Hälfte,  1864.  — 5.  Teil:  Die  Völker 
der  Südsee,  1.  Heft,  1865:  2.  Abteilung  von  G.  Gerland,  1870.  — 6.  Teil: 
Die  Völker  der  Südsee,  3.  Abteilung  von  G.  Gerland,  1872;  vgl.  Bd.  IV, 
p.  376. 


332 


fok'P  der  L'ebung  und  durch  die  Nuchahinung  auch  eine  weib- 
liche Stimme.  Sie  brauchen  keine  schwere  Arbeit  zu  tun  und 
beschäftigen  .sich  nur  mit  dem  Hauswesen,  der  Küche  und 
dem  Flechten  von  Matten.  Vom  Kriegsdienst  sind  sie  befreit 
und  dürfen  auch  nicht  die  Rinder  hüten,  da  dieser  Beruf  den 
Männern  Vorbehalten  ist.  Niemand  nimmt  an  dem  Gebahren 
der  Sekrata  Anstoss,  man  findet  es  im  Gegenteil  ganz  na- 
türlich, und  irgend  eine  Aeusserung  darüber  würde  sich  schwer 
rächen,  da  nach  dem  bestehenden  Aberglauben  alsdann  der 
beleidigte  Sekrata  über  den  Beleidiger  das  Los  werfen  und 
Krankheit  über  ihn  bringen  würde.“ 

Auch  in  Kulturländern  ist  verschiedentlich  von  Eltern 
die  Schwächlichkeit  als  Verkleidungs-Grund  ange- 
führt worden,  der  sie  bewog,  das  männliche  Geschlecht  eines 
Kindes  zu  verheimlichen,  so  in  folgendem  Fall,  der  sich  im 
•J.  1903  in  Kratsch  in  Schlesien  ereignete.  Dort  diente  auf 
einem  Dominium  seit  längerer  Zeit  eine  Magd  Auguste  Kl.; 
eines  Tages  wurde  sie  krank,  und  bei  dieser  Gelegenheit  stellte 
ier  Arzt  fest,  dass  Auguste  ein  männliches  Wesen  sei.  Die 
Person  war  armer  Leute  Kind  aus  dem  Bunzlauer  Kreise  und 
als  Knabe  auf  den  Namen  August  getauft  worden.  D a d a s 
Kind  jedoch  zart  und  schwächlich  blieb, 
wurde  es  von  den  Eltern  als  Mädchen  gross 
gezogen.  Als  die  Eltern  starben,  kam  es  zur  Pflege  zu 
einer  Verwandten.  Später  vermietete  sich  das  angebliche  Mäd- 
chen als  Magd.  1903  hat  der  Siebzehnjährige  Beinkleider 
anziehen  müssen,  seinen  ursprünglichen  Namen  August  ange- 
nommen und  dient  jetzt  als  Schäferknecht  (Jhb.  V.  p.  1197). 

Ein  verwandtes  Motiv  liegt  vor,  wenn  Eltern  Kinder  im 
entgegengesetzten  Geschlecht  aufwachsen  lassen,  um  ihnen  ihr 
Fortkommen  zu  erleichtern,  so  wurde  aus  Cincinnati  im 
J.  1905  folgender  Vorfall  gemeldet  (Mb.  IV.  Juni  p.  13); 

„Durch  den  Tod  des  Fräuleins  Frances  Lamouche  in 
einem  hiesigen  Krankenhaus  kam  eine  seltsame  Geschichte  zu 
Tage,  die  wohl  mit  ihr  begraben  worden  wäre,  wenn  sie  sich 
nicht  der  Wärterin  anvertraut  hätte.  Das  Mädchen  war 
20  Jahre  alt.  Als  sie  6 Wochen  vorher  als  Frank  Willams 
zugelassen  wurde,  trug  sie  Männerkleider  und  sah  ganz  wie 


— 333  - 

ein  junger  Mann  aus.  Ihr  Haar  war  kurz  geschnitten  und 
nichts  in  ihrem  Wesen  liess  ihr  wahres  Geschlecht  vermuten. 
Sie  war  Tänzer,  Jockey,  und  schliesslich  Bar-Inhaber  ge- 
wesen. Sie  konnte  sich  nicht  entsinnen,  je  anders  denn  als 
Knabe  gekleidet  gewesen  zu  sein.  Sie  wurde,  wie  sie  der 
Wärterin  erzählte,  in  einem  kleinen  Dorfe  unweit  Paris  ge- 
boren. Ihr  Vater  war  Komödiant,  ihre  Mutter  Tänzerin  und 
Sängerin.  Schon  mit  kaum  5 Jahren,  sagt  sie,  habe  sie  Knie- 
hosen getragen  und  die  Verkleidung  begonnen,  die  erst  mit 
ihrem  Tode  enden  sollte.  „Merk  dir,  Kleine,  pflegte  ihr  die 
Mutter  zu  sagen.  Du  wirst  eines  Tages  allein  in  der  Welt 
stehen  und  da  wirst  Du  viel  leichter  als  Bursch 
deinen  Weg  machen,  als  als  Mädchen.  Nach 
ihrem  Tode  wurde  ein  kleines  Paket  unter  ihrem  Kopfpolster 
versteckt  gefunden.  Darin  waren  Briefe  von  einem  jungen 
Franzosen  in  Neu-Orleans,  in  denen  er  sie  bat,  seine  Hilfe 
anzunehmen  und  mit  ihm  nach  Frankreich  zurückzukehren. 
Auch  andere  Briefschrciber  boten  ihr  Hilfe  an.  Ein  Brief 
war  von  Frl.  Dr.  j\Iarie  Walker  (einer  als  Mann  lebenden 
Aerztin,  von  der  noch  weiter  unten  die  Rede  sein  wird)  aus 
Oswego  N.-Y.  und  enthielt  eine  Einladung,  zu  ihr  zu  kommen: 
„Sie  können  hier  leben“,  schrieb  sie,  „und  mögen  sich  kleiden 
wie  es  Ihnen  Ihre  eigene  Neigung  vorschreibt.“ 

Auch  die  englische  Seeräuberin  Maria  Read,  die  im  Be- 
ginn des  18.  Jahrhunderts  die  Meere  unsicher  machte,  war 
von  ihrer  selbst  männlich  gearteten  Mutter  systematisch  als 
Knabe  erzogen  worden..  Diese  hatte  sie  als  Diener  bei  einer 
französischen  Dame  vermietet.  Maria  aber  liess  sich  bald  als 
Matrose  auf  einem  englischen  Kriegsschiffe  anwerben  und  be- 
gann damit  ihr  Abenteurerleben,  das  erst  endete,  als  sie  sich 
in  einen  Soldaten  verliebte,  den  sie  heiratete.*)  Bloch**) 
hält  diese  Piratin  und  nach  ihrer  Liebesgeschichte  wohl  mit 
Recht  für  „zweifellos  heterosexuell“. 

•)  E.  Whitehead:  „Lehen,  Taten  und  Schicksale  der  merkwürdigsten 
englischen  Räuber  u.  Piraten  usw.“  Deutsch  v.  J.  Sporschill.  Leipzig  1834. 
Teil  II.  p.  75—81. 

**)  Geschlechtsleben  in  England.  T.  III.  p.  56.  Berlin  1903. 


V'or  einigen  Jahren  geriet  eine  berühmte  Pariser  Millionen- 
schwindlerin in  den  V’^erdacht,  dass  sie  einen  Sohn  fälschlich  als 
Mädchen  hätte  in  das  Taufregister  eintragen  und  erziehen  lassen, 
weil  das  Testament  ihres  Liebhabers  vor  der  Geburt  des 
Kindes  dieses  zum  Erben  eines  grossen  Vermögens  bestimmt 
hatte,  wenn  sie  mit  18  Jahren  den  Neffen  des  Erblassers 
heiraten  würde.  Der  Verdacht,  der  durch  die  tiefe  unweib- 
liche Stimme  und  die  männliche  Gestalt  der  Tochter  Nahrung 
erhielt,  stellte  sich  jedoch  als  nicht  gerechtfertigt  heraus. 
(Jhb.  V.  1214.) 

Dass  aber  solche  Motive  tatsächlich  verkommen  können, 
lehrt  folgender  Fall,  der  in  Amsterdam  das  grösste  Aufsehen 
machte. 

„In  der  dortigen  Kinkerstraat  wohnte  seit  Jahren  e i n 
junges  Mädchen,  das  nunmehr  als  junger 
Mann  durch  die  Strassen  flaniert.  Als  Mäd- 
chen führte  der  junge  Mann  dort  jahrelang  ein  Kurzwaren- 
geschäft und  gab  dabei  noch  Unterricht  an  einer  Sonntag?- 
schule.  Man  kann  sich  das  Entsetzen  seiner  Freundinnen  aus- 
malen, als  diese  erfuhren,  dass  „sie“  ein  „er“  war,  der  ihnen 
jetzt  im  hellen  Sommerüberzieher  und  Schlapphut  Fenster- 
promenaden machte.  Gleichzeitig  kündigte  „er“  öffentlich 
seine  Verlobung  mit  einer  seiner  früheren  Freundinnen  an. 
Diese  Vermummung,  welche  wohl  ein  gerichtliches  Nach- 
spiel haben  dürfte,  w'urde  schon  von  der  Geburt 
des  Knaben  an  durchgeführt.  Eine  Verwandte 
hatte  den  Eltern  eine  bedeutende  Geldsumme  in  Aussicht  ge- 
stellt, falls  das  zu  erw'artende  Kind  ein  Mädchen  sei;  diesem 
sollte  nach  zurückgelegtem  23.  Lebensjahre  das  Geld  ausbe- 
zahlt w'erden.  So  wurde  denn  der  Knabe  als  Mädchen  ein- 
geschrieben. Kaum  hatte  er  aber  das  23.  Jahr  hinterm 
Rücken,  als  er  die  Mädchenrücke  ablegte  und  in  Männerkleider 
schlüpfte.  Seine  früheren  Freundinnen  behaupten,  er  habe 
in  keiner  Weise  Veranlassung  gegeben,  anzunehmen,  dass  er 
kein  Mädchen  sei.“  (Jhb.  V.  1181.) 

Die  Sorge  um  die  Zukunft  ihres  Kindes  war  es  schon 
welche  nach  der  griechischen  Mythologie  die  Göttin  Thetis 
bewog,  ihren  Sohn  Achilles  in  Mädchenkleidern  aufwachsen 


335 


zu  lassen,  ein  Beispiel,  welches  übrigens  zeigt,  dass  nicht 
überall  in  Griechenland  wie  in  Athen  Knaben 
und  Mädchen  die  gleichen  Gewänder  trugen. 

„Als  Achilles  9 Jahre  alt  war,  so  berichtet  Homer,*)  er- 
klärte der  griechische  Seher  Kalchas,  dass  die  ferne  Stadt 
Troja  in  Asien,  welcher  der  Untergang  durch  griechische 
Waffen  bevorstehe,  ohne  diesen  Knaben  nicht  werde  erobert 
werden  können.  Diese  Wahrsagung  drang  auch  zu  seiner 
Mutter  Thetis  durch  die  tiefe  See  in  ihr  unsterbliches  Ohr, 
und  weil  sie  bereits  wusste,  dass  jener  Feldzug  ihrem  Sohne 
den  Tod  bringen  würde,  so  stieg  sie  empor  aus  dem 
Meere,  schlich  sich  in  ihres  Gatten  Palast,  steckte  den  Knaben  in 
Mädchenkleider,  und  brachte  ihn  in  dieser  Verwandlung 
zu  dem  Könige  Lykomedes  auf  der  Insel  Skyros,  der  ihn 
unter  seinen  Mädchen  als  Jungfrau  heran- 
wachs.en  Hess  und  in  weiblichen  Arbeiten 
gross  zog.  Als  aber  dem  Jüngling  der  Bart  zu  keimen 
begann,  entdeckte  er  sich  in  seiner  Verkleidung  der  lieblichen 
Tochter  des  Königs,  Deidamia.  Die  gleiche  zärtliche  Neigung 
vereinigte  in  der  Verborgenheit,  den  Heldenjüngling  mit  der 
königlichen  Jungfrau,  und  während  er  hei  allen  Bewohnern 
der  Insel  für  eine  Verwandte  des  Königs  galt,  war  er  heim- 
lich ihr  Gemahl  geworden.  Da  aber  der  Göttersohn  zur  Be- 
siegung Trojas  unentbehrlich  war,  entdeckte  der  Seher 
Kalchas,  dem  wie  sein  Geschick  auch  sein  Aufenthalt  kein  Ge- 
heimnis geblieben  war,  sein  Los  den  Atriden  und  die  Fürsten 
schickten  Odysseus  und  Diomedes  ab,  Achilles  in  den  Krieg 
zu  holen.  Als  die  Helden  auf  der  Insel  Skyros  ankamen, 
wurden  sie  dem  Könige  und  seinen  Jungfrauen  vorgeführt. 
Aber  das  zarte  Jungfrauengesicht  verbarg  den  künftigen 
Helden,  und  so  scharfsichtig  der  Blick  der  beiden  Griechen- 
fürsten war,  so  vermochten  sie  doch  nicht  ihn  aus  der  Mäd- 
chenschar heraus  zu  erkennen.  Da  nahm  Odysseus  seine 
Zuflucht  zu  einer  List.  Er  liess  wie  von  ungefähr,  in  den 
Frauensaal,  in  dem  die  Mädchen  sich  befanden,  einen  Schild 
und  einen  Speer  bringen  und  dann  die  Kriegstrompete  blasen. 


) G.  Schwab,  loc.  eit.  p.  253. 


als  ob  der  Foind  heraurückte.  Bei  diesen  Sclireckenstünen  ent- 
flohen alle  Frauen  aus  dem  Saale,  Achilles  aber  blieb  allein 
zurück  und  griff  mutig  zu  dem  Speer  und  Schild.  Jetzt  ward 
er  von  den  Fürsten  entlarvt  und  als  sie  ihm  alles  erklärt, 
erbot  er  .sich,  an  der  Spitze  der  IMynnidonen  oder  Thessalier, 
in  Begleitung  seines  Erziehers  Phönix  und  seines  Freundes 
Patroclos  mit  50  Schiffen  in  den  Krieg  zu  ziehen,  um  den 
Griechen  zu  helfen.“ 

In  den  meisten  Fällen,  von  denen  wir  hören,  fehlt  aller- 
dings jeder  Anhaltspunkt  dafür,  weshalb  die  Eltern  ihr  Kind 
einem  anderen  Geschlecht  zugewiesen  haben,  als  dem,  in 
welchem  es  geboren  war.  "Wir  greifen  noch  einige  Beispiele 
heraus. 

In  dem  15S4  aufgesetzten  Turmknopfe  der  Berliner  Nikolai- 
kirche fand  sich  bei  der  Oeffnung  folgende  Nachricht:  „Anno 
1583  ist  allhier  zu  Cölln  an  der  Spree  in  der  Schulen  eine 
Jungfrau  offenbar  geworden,  so  in  Knaben - 
kleidung  in  die  Schule  gegangen  und  des 
B a c e a 1 a u r e i f a ra  u 1 u s gewesen,  auch  bei  ihm 
im  Bett  geschlafen,  welcher  an  ihr  nie  bemerkt,  dass  sie  ein 
Weibsbild  gewesen.  Sie  war  von  Pariss  in  Frankreich  und 
hat  ihre  Lektion  allzeit  so  fleissig  gelernet,  das  sie  nie  gc- 
stäupet  Wörden.  Kam  sie  derowegen  zu  einem  Bürger  an 
einen  freien  Tisch  und  vertrauete  sich  endlich  der  Fraue  an. 
Uer  Rat,  in  der  Aleinung,  es  sei  eine  Kundschafterin.  hat  sie 
eingesetzet,  nachher  aber  wieder  losgelassen,  da  ihre  Un- 
schuld sich  erwiesen.  Die  Gräfin  von  Zollern  nahm  sie  zu 
sich,  da  sie  schön  ausnähen  , gekonnt,  hat  sie  aber  dann  des 
Administrators  zu  Halle,  Markgraf  Joachim  Friedrichs  Cu^ 
mahl  geschenket.“*) 

Die  Preussische  Lehrerzeitung  vom  2.  Juni  1883  brachte 
folgende  Notiz:  „In  Arnstadt  (in  Thüringen)  starb  am  Frei- 
•tag  die  bisherige  Einsammlerin  für  das  dortige  Jakobstift. 
eine  69jährige  Person.  Erst  durch  den  Tod  stellte  sich  her- 
aus, dass  dieselbe  von  Kindheit  an  als  Mann  in 
F rauenkleidern  gelebt  hat.  Musste  dies  Geheimnis 

•)  Nach  einem  Bericht  der  Vossischen  Zeitung.  Vgl.  Jlib.  V,  1222. 


bei  dem  Tod  des  Verstorbenen  wohl  einmal  zutage  treten, 
so  wird  doch  voraussichtlich  das  andere  über  die  Beweg- 
gründe, weiche  die  Angehörigen  der  Heimgegangenen  zu  diesem 
von  der  Geburt  derselben  an  datierten  Betrüge  be- 
stimmten, wohl  für  immer  in  mystisches  Dunkel  gehüllt 
bleiben.“ 

Aus  Pilsen  wurde  1903  berichtet:  „Heute  wurde  am 

hiesigen  Bahnhofe  der  Pilsen-Priesener  Bahn  von  einem  Wach- 
mann eine  Frauensperson  angehalten,  welche  durch  ihr  scheues 
Wesen  die  Aufmerksamkeit  der  Passanten  erregte.  Sie  wurde 
zur  Ausweisleistung  aufgef ordert  und  auf  die  Polizeiwach- 
stube gebracht.  Dort  vmrde  schliesslich  konstatiert,  dass 
man  es  mit  keiner  Frauensperson,  sondern  mit  einem  Manne 
zu  tun  habe.  Im  Verlaufe  des  Verhörs  wurde  die  Tatsache 
festgestellt,  dass  der  19  Jahre  alte  ^lann  seit  seiner 
Geburt  als  weibliches  Wesen  erzogen  und 
auf  den  Namen  Maria  Karfiol  getauft  und 
in  den  Matrikeln  eingetragen  wurde.  Frist 
nach  Bukowa  bei  Breznitz  zuständig  und  seit  zwei  Jahren 
bei  dem  Grundbesitzer  Gustav  Themmel  bei  Brüx  als  Dienst- 
magd beschäftigt,  wo  er  alle  weiblichen  Arbeiten  verrichtete. 
Sein  Arbeitbuch  lautet  gleichfalls  auf  den  Namen  „Maria 
Karfiol“.  Auf  Befragen  gab  er  an,  dass  er  von  seinen 
Eltern  stets  als  Mädchen  erzogen  wurde,  alle 
weiblichen  Handarbeiten  erlernt  und  dann  einen  Dienst  als 
Magd  angenommen  habe.  Er  ist  von  grosser  Statur,  hat  ein 
ganz  glattes,  mädchenhaftes  Gesicht,  trägt  seine  langen 
Haare  in  einen  Zopf  geflochten  und  bewegt  sich  in  den 
Frauenkleidern  ohne  allen  Zwang.  Er  raucht  und  trinkt 
nicht  und  meidet  jede  Begegnung  mit  dem  weiblichen  Ge- 
schlechte.  Er  behauptet  ferner,  dass  nur  seine  Eltern  sein 
Geschlecht  kennen,  dass  diese  ihm  seit  jeher  den  Umgang  mit 
Knaben  verboten  haben  und’  ihn  nur  Frauenkleider  tragen 
Hessen.  Den  Grund  hierfür  wmsste  er  nicht  anzugeben.  Maria 
Karfiol  wurde  nun  in  Männerkleider  gesteckt  und  ihres  langen 
Zopfes  beraubt.“  (Jhb.  V.  p.  1193.) 

Auch  unser  Fall  III,  welcher  in  Männerkleidern  auf- 
wuchs,  weiss  das  Motiv  seiner  Eltern  nicht  anzugeben  und 

Hirscbfeld,  Die  Trans veetilen.  22 


aucli  in  einem  mir  persünlich  bekannten  Fall  eines  Berliner 
Mädchens,  das  von  ihrem  alleinstehenden  Vater,  einem  be- 
reits verstorbenen  Sonderling,  als  Knabe  erzogen  wurde,  liess 
es  sich  nicht  feststellen,  was  ihn  dazu  - bewog.  Die  Tochter, 
die  durchaus  keine  Vorliebe  für  die  männliche  Tracht  behalten 
hat,  vermutet  dass  der  Vater  — der  Fall  liegt  vor  Ein- 
richtung der  ^Mädchengymnasien  — ihr  eine  bessere  Schul- 
bildung hat  zuteil  werden  lassen  wollen.  Wir  sehen  übrigens, 
dass  die  Kinder  manchmal  selbst  in  sehr  früher  Jugend  die 
Kleidung  des  anderen  Geschlechts  annehmen.  Ein  eigen- 
artiger Fall  wurde  uns  aus  San  Francisco  mitgeteilt.  Dort 
entdeckte  man  in  einem  Waisenhause,  dass  ein  etwa  8 Jahre 
altes  Mädchen,  das  sich  mit  seiner  Schwester  bereits  geraume 
Zeit  in  der  Anstalt  befand,  ein  Knabe  war.  Der  Kleine  gab 
an,  dass  er  nach  dem  plötzlichen  Tode  beider  Eltern  die 
Mädchenkleider  seiner  Schwester  angezogen  habe,  um  nicht 
von  ihr  getrennt  zu  werden.  Ein  anderer  Fall  trug  sich 
im  J.  1900  in  Münster  zu.  Im  dortigen  Polizeigefängnis  w'ar 
ein  etwa  iTjahriger  Jüngling  eingeliefcrt  worden,  der  sich 
ohne  Arbeit  herumtrieb.  Durch  einen  Zufall  stellte  sich  her- 
aus, dass  der  angebliche  Junge  ein  Mädchen  w'ar.  Sie  be- 
hauptete  von  frühester  Kindheit  in  männlicher  Kleidung  ge- 
gangen zu  sein;  sie  sei  ihrem  Vater,  einem  herumziehen- 
den Seiltänzer  wegen  ausgestandener  Misshandlungen  ent- 
laufen; um  sich  besser  fortzuhelfen  und  nicht  so  leicht  er- 
kannt zu  werden,  habe  sie  die  Kleidung  ihres  Bruders  an- 
gezogen. 

Bei  der  grossen  Bedeutung,  die  man  heute  und  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  sicherlich  mit  Recht  den  Kindhciter- 
lebnissen  beilegt,  wird  mancher  geneigt  sein,  aus  den  ge- 
schilderten Fällen,  in  denen  Eltern  die  Kinder  im  anderen 
Geschlecht  erzogen,  verallgemeinernd  zu  folgern,  dass  der 
spätere  Transvestierungsdrang  meist  durch  Einwirkungen 
ähnlicher  Art  bedingt  ist.  l\Ian  darf'  jedoch  nicht  übersehen, 
dass  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Transvestiten  grade  ganz 
gegenteilige  Einflüsse  wirksam  gewesen  sind;  ferner  ist,  da 
uns  kompetente  Aussagen  der  Eltern  fast  gänzlich  fehlen, 
bisher  garnicht  abzuschätzen,  inwieweit  die  Kinder  schon 


selbst  in  frühestem  Alter  danach  drängten,  Mädchenkleider  zu 
behalten  — man  erinnere  sich  unseres  Falles  XIV  — oder 
inwieweit  die  Eltern  instinktiv  die  andersgeschlechtlichen  An- 
lagen herausfühlten.  Ich  kann  mich  des  Eindrucks  nicht  er- 
wehren, als  ob  das  Anlegen  der  Tracht  des  anderen  Ge- 
schlechts nur  bei  solchen  Kindern  eine  für  ihre  ganze  Lebens- 
dauer entscheidende  Bedeutung  hat,  bei  denen  die  Vorbe- 
dingung einer  in  bestimmter  Weise  charakterisierten  Ge- 
schlechtsmischung gegeben  ist.  Unsere  Kasuistik  zeigte  zur 
genüge,  wie  ungemein  früh  sich  die  zur  Transvestierung 
neigende  Eigenart  in  symptomatischen  Neigungen  und  Hand- 
lungen verrät. 


Kehren  wir  von  der  Verkleidung  der  Kinder  zu  der  der 
Erwachsenen  zurück,  so  könnte  es  fast  scheinen,  wenn  man 
die  verhältnismässige  Häufigkeit,  mit  der  uns  von  diesen 
Vorkommnissen  bei  den  alten  und  aussereuropäischen  Völkern 
berichtet  -wird  mit  der  Seltenheit  vergleicht,  in  der  bei  uns 
solche  Fälle  bekannt  geworden  und  vor  allem  wissenschaft- 
lich gewürdigt  sind,  als  oh  der  Trieb,  das  Aeussere  des  an- 
deren Geschlechts  anzunehmen,  ehemals  und  anderswo  relativ 
häufig  vorgekommen  ist,  während  er  in  den  jetzigen  Kultur- 
ländern viel  seltener  auftritt.  Beides  halte  ich  für  einen 
Irrtum,  entstanden  einerseits  durch  die  grössere  Naivität,  mit 
der  die  von  Sittlichkeitsnormen*  unbeengteren  Völker  sich 
geben,  andererseits  durch  die  Sexualangst,  die  bei  den  mo- 
dernen Völkern  das  Studium  aller  mit  dem  Geschlechtsleben 
zusammenhängenden  Fragen  ungemein  erschwert.  Tatsächlich 
geben  auch  manche  Reisende  an,  dass  sie  enttäuscht  waren, 
nachdem  sie  vorher  so  viel  von  den  in  manchen  Gegenden  in 
der  Gewandung  des  anderen  Geschlechts  lebenden  ,, Herma- 
phroditen“ gehört  hatten,  auf  ihrem  Wege  kaum  einen  oder 
bei  einem  Stamme  nur  zwei  oder  drei  zu  begegnen,  anderer- 
seits werden  wir  bei  sorgsamer  Umschau  erkennen,  dass 
auch  in  unserer  Mitte  die  Transvestiten  — ebenso  wie  die 
anderen  Formen  der  Zwischenstufen  — keine  so  ausser- 

22* 


340 


ordentliche  Rarität  sind,  wie  die,  welche  sie  nicht  be- 
achteten. meist  meinen.  Es  heisst  zwar  richtig  in  einem 
alten  Spruch,  quod  non  est  in  sensu,  non  est  in  intellectu 
(was  nicht  in  den  Sinnen,  ist  nicht  im  Verstände)  aber  es 
heisst  nicht,  wie  viele  zu  denken  scheinen:  quod  non  est  in 
sensu,  non  est  in  mundo  (was  nicht  in  den  Sinnen,  ist  nicht 
in  der  Welt).  Die  Scham  und  Scheu  in  sexuellen  Dingen 
— gleich\'iel  ob  natürlich  oder  anerzogen  — ist  namentlich 
dann  gross,  wenn  es  sich  um  ein  stärkeres  Abw'eichen  von 
der  Norm  handelt.  Das  hat  sehr  dazu  beigetragen,  dass, 
während  die  häufigeren  leichten  Einschläge  von  Weiblichkeit 
beim  Manne  und  Virilität  beim  Weibe  meist  übersehen  werden, 
oft  mit,  öfter  ohne  Absicht,  die  stärkeren  Beimischungen,  alle 
Arten  von  deutlicherem  körperlichen  oder  seelischen  Her- 
maphroditismus — die  „Zwitter“  — unter  den  christlichen 
Völkern  für  etwas  Naturwidriges,  Abscheuliches  — für  keine 
Natur-  sondern  eine  Charakteranlage  — zum  mindesten  für 
etwas  Unheimliches,  Grauenhaftes  gelten.  Die  Alten  standen 
hierin  auf  einer  geistig  viel  höheren  Stufe.  Im  körperlichen 
Hermaphroditen  sahen  sie  ein  Wesen,  das  „in  sich  vereint 
die  Reize  der  beiden  Geschlechter“,  die  Liebe  feierten  sie 
mit  derselben  Begeisterung,  ob  sie  sich  auf  eine  Person  des 
anderen  oder  desselben  Geschlechts  erstreckte,  die  „mascula 
Sappho“,  die  sich  ungleich  ihren  Schülerinnen  mit  einer 
derben  Tunica  umgürtete,  in  der  sich  die  eckigen  Umrisse 
ihrer  Hüften  und  ihrer  kraftvollen  Schenkel  deutlich  abhoben, 
Megilla,  welche  keck  ihre 'Frauenperücke  abhebt,  unter  der 
sie  wie  ein  Athlet  geschoren  erscheint,  dabei  ausrufend; 
„Hast  Du  je  einen  so  schönen  Jüngling,  wie  mich  gesehn,“ 
Männer,  die  so  weiblich  w'aren,  dass  ihnen  Martial  nachsagt, 
alles  hätten  sie  von  ihrer  Mutter,  nur  einen  einzigen  Teil 
von  ihrem  Vater  — pars  est  una  patris,  caetera  matris  habet 
— alle  solche  Tj^en  waren  ihnen,  höchstens  ein  Gegenstand 
gutmütiger  fröhlicher  Spöttereien.  Bei  uns  bestehen  ja  noch 
gegen  einige  der  Zwischenstufen  schmachvolle  Gesetze  und  es 
ist  bezeichnend  genug,  dass  man  sich  zu  ihrer  Rechtfertigung 
und  beabsichtigten  Verschärfung  nicht  auf  wissenschaftliche 
Feststellungen  beruft,  sondern  auf  das  sogenannte  „Volks- 


341 


bewusstsein",  das  will  sagen,  auf  künstlich  durch  Strafbe- 
stimmungen genährte,  mit  Unkenntnis  eng  verbundene  Kontra- 
instinkte und  Antipathien.  Die  Ueberwindung  dieser  Vor- 
urteile ist  für  den  Kulturfortschritt  der  Menschheit  ebenso 
wichtig,  wie  es  die  Beseitigung  der  Hexenverbrennung,  die 
Abschaffung  der  Tortur,  die  Befreiung  der  Sklaven  war. 

Dass  man  auf  die  Männer,  die  sich  weibliche  Neigungen 
„zu  schulden  kommen  Hessen“  stets,  mit  stärkerer  Verachtung 
herabsah,  als  auf  Frauen,  die  nach  Vermännlichung  trachteten, 
hängt  im  letzten  Grunde  wohl  auch  mit  der  höheren  Meinung 
zusammen,  die  die  Männer  von  sich  hatten;  mehr  oder  minder 
unbewusst  empfanden  sie  es  als  eine  Erniedrigung  ihres  Ge- 
schlechts, wenn  ein  Mann  mit  oder  ohne  IVillen  Zeichen  der 
Mannheit  einbüsste.  Deshalb  suchte  man  auch  vielfach 
Menschen  zu  strafen,  namentlich  auch  Feinde  zu  demütigen, 
indem  man  sie  ihrer  männlichen  Geschlechtscharaktere  be- 
raubte. Das  gilt  nicht  nur  von  der  Entmannung  im  eigent- 
lichen Sinn  — noch  im  letzten  .Jahre  hatte  ich  Gelegenheit  in  Rom 
einen  Mann  kennen  zu  lernen,  der  als  italienischer  Soldat  im 
Feldzuge  gegen  die  Abessynier  von  diesen  kastriert  und  in- 
folgedessen ganz  verweiblicht  war  — sondern  auch  von 
leichteren  Graden  der  Entmännlichung.  So  wurde  bei  den 
alten  Juden  schon  der  Raub  des  Bartes  als  eine  Schmach 
angesehen.  Im  2.  Buch  Samuelis,  cap.  X.  v.  4 wird  be- 
richtet: ..Hamun  liess  sie  ergreifen  und  ihnen  den  Bart  ab- 
scheeren.“  Ob  auch  der  zwangsweisen  Abnahme  des  Bart- 
schmucks in  unseren  Zuchthäusern  ähnliche  Vorstellungen  zu- 
grunde liegen?  Ich  halte  es  wmhl  für  möglich;  oft  genug 
werden  ja  Massnahmen  mechanisch  jahrhundertelang  fortge- 
setzt, deren  ursprüngliche  Absicht  längst  in  Vergessenheit 
geriet.  Herodot  erzählt  uns,  dass  Krösus  Cyrus  riet,  er  solle 
die  Lyder  nicht  zu  Sklaven  machen,  sondern  ihnen  nur  das 
Tragen  von  Waffen  untersagen,  ihnen  das  Anlegen  langer 
Röcke  und  hoher  Schuhe  befehlen,  ihre  Knaben  im  Zither- 
und  Harfenspiel  und  in  der  Krämerei  unterrichten.  „Dann,  o 
König,  schloss  Krösus,  wirst  Du  sehen,  wie  sie  alsbald  aus 
Männern  Weiber  werden  und  brauchst  ihren  Abfall  nicht  zu 
befürchten.“  Auch  sonst  hören  wir  in  der  Geschichte  wieder- 


holt  davon,  daos  die  Sieger  die  [Jnterlegeuen  in  Weiherröcke 
steckten. 

Ich  erwähnte  bereits  oben  derartige  Beispiele.  In  Schott- 
land hörte  ich,  dass  im  Volke  eine  Sage  kursiere,  nach  der 
die  bekannte,  so  eigenartige  Rocktracht  der  Hochländer 
ebenfalls  auf  eine  Strafe  zuriiekgeführt  wdrd,  die  in  Ur- 
zeiten ein  alter  schottischer  Herrscher  über  die  männliche 
Bevölkerung  verhängte,  weil  sie  sich  nicht  tapfer  genug 
verteidigt  hätte. 

Wenn  Frauen  männliche  Sitten  und  Gebräuche  an- 
nahmen.  erachteten  im  allgemeinen  die  Männer  dies  weniger 
als  eine  Herabwürdigung  des  weiblichen  Geschlechts,  eher  als 
eine  .Unmassung.  Immerliin  glaube  ich,  dass  die  im  alten 
Rom  gültige  Vorschrift,  nach  der  die  Prostituierten  die  tunica 
virilis.  also  einen  Männerrock  tragen  mussten  nicht  etwa, 
wie  behauptet  ist,  auf  homosexuelle  Instinkte  zurückzuführen 
ist,  sondern  auf  das  Bestreben,  die  käuflichen  Frauen  von 
den  ehrbaren  in  herabsetzender  Weise  zu  unterscheiden.*) 

Eine  ganz  sonderbare  Sitte  findet  sich,  wie  u.  a.  Hahn  in 
den  Albanesischen  Studien,  Bernhard  Stern,  E.  Vely**)  be- 
richten bei  den  Merediten,  einem  in  Dalmatien  wohnenden  Volks- 
stamni.  der  katholisch  ist.  Dort  darf  ein  Mädchen  — vermut- 
lich nach  einer  uralten  Sitte  — zum  Pfarrer  gehen  und  er- 


*)  Man  vgl.  hierzu:  a)  H o r a t S a t.  I,  2.  62 — 6.3 

Quid  inter- 

Eät  in  matrona,  ancilla  peccesne  t o g a t a ? 
Anm.  von  G.  T.  A.  Krüger:  Die  Toga  war  das  Kleid  der  meretrices  und 
aller  bes.-holtenen  Frauen,  namentlich  der  judicio  publico  damnatae,  in  ad- 
ulterio  derrehensae. 

b)  Marquardt,  Römische  Privaf.altertümer.  Teil  I.  ?.  42.  Note  204. 
ibid.  80— S2; 

N'ec  maeäs  huic  inter  niveos  viridesque  lapillos  — 

Sit  licet  hoc,  cerinthe,  tuum!  — tenerum  est  femur  aut  mis 
F.ectira,  atque  etiam  melius  persaepe  t o g ,a  t a e ost. 

Martial.  Epigrammat.  \T,  64,  1 — S: 

Jnm  sis  nec  rigida  Fabiorum  gente  creattis, 

patris  ad  speculum  tonsi  matrisque  t o g a t a c 
Filius  et  possit  sponsam  te  sponsa  vocare: 

**)  Im  Berliner  Tageblatt  v.  12.  V.  07. 


klären:  „i  c h w i 1 1 f o r t a n a 1 s M a n n g e 1 1 e n ir  n d 
leben.“  Der  Pfarrer  bringt  dies  dann  nach  der  Messe 
zur  Kenntnis  der  Gemeinde  und  gibt  dem  Mädchen  einen 
männlichen  Kamen.  Darauf  zieht  die  Mereditin  Männer- 
kleider an,  trägt  Waffen  und  wird  nunmehr  von  allen  als 
Mann  behandelt.  „Freilich“,  sagt  E.  Vely,  darf  der  neue 
Mann  in  dieser  erwählten  und  vom  Gesetz  gewährleisteten 
Freiheit  keinerlei  w'eibliche  Schwäche,  keinen  Rückfall 
zeigen,  sich  nicht  verlieben.  Dann  droht  unfehlbar  der  Tod, 
der  bis  dahin  als  vollgültig  dem  Manne  Gleichgeachteten. 
Nach  Stern  (loc.  cit.  p.  171)  stand  die  Todesstrafe  nur 
darauf,  wenn  sie  nach  ihrer  Meldung  als  Mann  schwmnger 
wurde. 


Verkleidung  und  Gesetz. 

Dass  christliche  Geistliche  sich  an  dieser  eigentümlichen 
Zeremonie  des  Mannw^erdens  beteiligen,  trotzdem  doch, 
wie  wir  sahen,  die  Bibel  es  so  streng  verpönt,  dass  ein  Weib 
Mannesgeräte  trägt,  ist  auffallend,  noch  auffallender,  dass  das 
biblische  Trachtenverbot  in  das  Gesetzbuch  keines  christlichen 
Volkes  übergegangen  ist,  wiewmhl  es  als  erstes  an  der  Spitze 
der  sogenannten  Pluralverbote  gegen  die  Unzucht  steht.  Es 
ist  das  eine  Unterlassung,  zum  mindesten  eine  Inkonse- 
quenz, die  mit  dem  sonstigen  Eifer  der  Kirche,  möglichst 
viele  sexuelle  Sünden  zu  konstruieren,  schwer  in  Einklang 
zu  bringen  ist.  Vielleicht  war  man  der  ^leinung,  dass  es  hier 
keiner  besonderen  Vorschriften  bedürfte,  um  den  i\Ienschen  das 
irdische  Leben  zu  Verbittern  und  zu  erschweren,  sondern 
dass  allgemeinere  Bestimmungen  entsprechend  denjenigen  ge- 
nügten, wie  wir  sie  in  den  Paragraphen  vom  groben  Unfug, 
von  der  Erregung  öffentlichen  Aergernisses,  von  der  Ver- 
letzung des  Scham-  und  Sittlichkeitsgefühls  und  ähnlichem  ja 
hinreichend  besitzen.  Tatsächlich  hat  man  sich  solcher  Ge- 
setze auch  wiederholt  bedient,  um  gegen  die  Verkleidung 
einer  Person  in  eine  solche  des  anderen  Geschlechts  strafbar 
vorzugehen.  Meines  Erachtens  zu  Unrecht.  In  einer  aus- 
gezeichneten Arbeit,  die  der  Amtsgerichtsrat  a.  D.  Dr.  jur. 


344 


Wilhelm  in  Strassbiirg  vor  kurzem  über  „Die  rechtliche 
Stellung  der  (körperlichen)  Zwitter  de  lege  lata  und  de  lege 
ferenda“  veröffentlicht  hat.*)  nimmt  der  Verfasser  auch 
Stellung  zu  der  Frage  ,,der  strafrechtlichen  Verfolgung  der 
Fälle,  in  denen  Männer  in  Weiberkleidung,  Weiber  in  Männer- 
kleidung ausgehen“;  er  schreibt: 

„Im  Strafgesetzbuch  exis-tiert  kein 
Paragraph,  welcher  das  Anlegenvon  Klei- 
dern, welche  dem  wahren  Geschlecht  nicht 
entsprechen,  oder  das  Ausgehen  in  solchen 
Kleidern  mit  Strafe  belegt.  Soweit  mir  bekannt, 
ist  auch  in  keinem  Bundesstaat  — jedenfalls  weiss  ich  dies 
bestimmt  von  Preussen  und  Elsass-Lothringen  — etwa  ein 
unter  Polizeistrafe  gestelltes  Verbot  auf  Grund  allgemeiner, 
zur  Erhaltung  der  öffentlichen  Ruhe,  Ordnung,  Sittlichkeit, 
des  Anstandes  usw.  gegebner  Polizeiblankettgesetze  erlassen 
worden.  Derartige  Verbote  würden  hinsichtlich  ihrer  Zu- 
lässigkeit auch  schweren  Bedenken  unterliegen.  Demnach  kann 
auch  nur  auf  Grund  des  Paragraph  360'^  StGB,  wegen 
groben  Unfugs  eingeschritten  werden.  — Dieser  Para- 
graph setzt  aber  eine  Belästigung  des  Publi- 
kums, eine  Störung  der  Oeffentlichkeit 
voraus.  Daher  kann  das  Anlegen  von  Kleidern,  die  dem 
eignen  Geschlecht  widersprechen,  an  und  für  sich,  also 
namentlich  in  geschlossner  Gesellschaft,  nicht  als  grober  Un- 
fug bestraft  werden,  ferner  aber  auch  nicht  einmal  das  Aus- 
gehen in  solchen  Kleidern,  sofern  dies  dem  Publikum  gar- 
nicht  auffällt  und  keine  Aergerniserregung,  kein  unliebsames 
Aufsehen  usw.  in  der  Oeffentlichkeit  entsteht.  Von  diesen 
Grundsätzen  geht  auch,  wie  mir  von  den  Herren  Kriminal- 
kommissaren der  Sittenabteilnngen  beim  Berliner  Polizei- 
präsidium mitgeteilt  w'urde,  sowohl  die  Berliner  Polizei  als 
die  Amtsanwaltschaft  bei  den  Berliner  Gerichten  aus, 
namentlich  bei  der  Verfolgung  der  in  falschen  Kleidern  pro- 
menierenden homosexuellen  Männer  oder  Frauen  aus.  In 


•)  In  den  juristisch-peyehiatrischen  Grenzfragen  bei  Machold  in  Halle 
1909  p.  54ff. 


345 


dieser  Beziehung  hatte  ich  Gelegenheit,  durch  Herrn  Dr. 
Hirschfeld,  an  den  ich  mich  wegen  Materials  für  diese  Arbeit 
gewandt  hatte,  einen  ganz  eigenartigen  Fall  kennen  zu  lernen. 
Ein  homosexuelles  Weib,  eine  echte  Virago,  in  Stimme,  Gang, 
Gebärden,  Charaktereigenschaften  usw.  völlig  Mann,  trägt 
seit  längerem  j\Iännerkleider  und  lebt  völlig  als  Mann.  Die 
Person  macht  auch  ganz  und  gar  den  Eindruck  eines  jungen 
Mannes.  Diese  Person  möchte:  einmal  ihren  weiblichen  Vor- 
namen im  Geburtsregister  in  einen  männlichen  umgeändert 
sehen,  was  natürlich  unmöglich  ist;  denn  wegen  ihrer  völlig 
normalen  Geschlechtsteile  muss  sie  als  Weib  gelten;  ferner 
aber,  und  darauf  kommt  es  ihr  ganz  besonders,  ja  fast  aus- 
schliesslich an,  möchte  sie  stets  Männerkleider  behalten 
dürfen.  Diesem  ihren  Willen  kann  staatlich 
nicht  entgegengetreten  werden.  Die  Per- 
son erregt  in  Männerkleidern  gar  kein 
Aufsehen,  jedermann  hält  sie  für  einen 
a n n , eine  Verfolgung  wegen  Störung  der  Oeffentlichkeit, 
wegen  groben  Unfugs  ist  daher  ausgeschlossen,  ein  andres 
Mittel  aber,  sie  zu  zwingen,  Weiberkleider  anzulegen,  gibt 
es  nicht.  Um  sich  Gewissheit  über  die  Rechtslage  zu  ver- 
schaffen, ging  die  Person  in  Begleitung  von  Dr.  Hirschfeld 
auf  das  Berliner  Polizeipräsidium.  Hier  wurde  der  Person, 
nachdem  die  betreff.  Beamten  durch  den  Anblick  und  das 
Gebaren  der  Person  selbst  sich  überzeugt,  dass  die  Person 
völlig  den  Eindruck  eines  Mannes  hinterlasse,  erklärt,  dass, 
so  lange  sie  durch  ihre  Kleidung  und  ihr  Benehmen  in  der 
Oeffentlichkeit  kein  Aufsehen,  keinen  Auflauf  usw.  errege,  ihr 
seitens  der  Polizei  nichts  geschehen  könne.  Bemerkenswert 
ist  die  Tatsache,  dass  nach  Angabe  dieser  Person  sie  grade 
umgekehrt  früher  bei  dem  Ausgehen  in  Weiberkleidern  auf  der 
Strasse,  stets  ein  Gegenstand  des  Spottes  und  des  unlieb- 
samen Aufsehens  gewesen  sei,  die  Passanten  hätten  gelacht 
und  sich  nach  ihr  umgeschaut,  die  Kinder  seien  ihr  spöttelnd 
nachgelaufen  usw.  Grade  dieses  Aufsehen  batte 
sie,  abgesehn  von  ihrem  Innern  Gefühl 
und  Drang  nach  Männerkleidung,  mit  ver- 
anlasst, letztere  anzulegen.  Jedenfalls  sei  es 


346 


ihr  aiimöglich  und  undenkbar,  wieder  als  Frau  zu  leben. 
Solbstvorßtändlich  könnte  liie  Person,  wenn  sie.  in  AVeiber- 
kleidern  ausginge,  trotz  der  dadurch  hervorge- 
rufnen  Belästigung  des  Publikums,  nicht 
wegen  groben  Unfugs  bestraft  werden,  denn  auf  alle  Fälle 
hat  jedermann  das  Recht,  sich  mindestens  nach  seinem  eignen 
Geschlecht  entsprechend  zu  kleiden,  möge  nun  -die  Kleidung 
zu  seinem  Gesamtwesen  passen  oder  nicht.“ 

Der  Fall  des  von  Amtsgerichtsrat  Dr.  Wilhelm  hier  er- 
wähnten Mädchens  ist  der  oben  (p.  192)  an  Hand  des  dem 
Polizeipräsidium  eingereichten  Gutachtens  ausführlich  ge- 
schilderte. Ich  kenne  noch  eine  ganze  Reihe  von  Beispielen, 
in  denen  Personen  in  der  Tracht  ihres  eigenen  Geschlechts 
mehr  Aufsehen  erregten  — und  Aufsehen  ist  hier  fast  gleich- 
bedeutend mit  Aergernis  — als  in  der  des  anderen  Ge- 
schlechts. In  Berlin  lebt  ein  junger  Pole,  der  in  Herrenklei- 
dern vollkommen  den  Eindruck  eines  verkleideten  Mädchens 
macht;  ich  überzeugte  mich  durch  eigenen  Augenschein,  dass 
fast  alle  Leute,  die  ihm  auf  der  Strasse  begegneten,  stehen 
blieben  und  sich  umschauten,  ln  Geschäften  und  Lokalen  bildet 
sich  um  ihn  ein  Kreis  Neugieriger.  Der  fein  empfindende 
junge  Mann  litt  so  sehr  darunter,  dass  er  sich  schliesslich 
kaum  noch,  vor  Einbruch  der  Dunkelheit  überhaupt  nicht 
inehr,  auf  die  Strasse  traute.  Könnte  er  sich  entschliessen. 
Frauenkleider  zu  tragen,  würde  sicherlich  weder  er  die 
Üeffentlichkeit  noch  diese  ihn  mehr  behelligen.  In  St.  Louis 
wurde  vor  einigen  Jahren  eine  junge  Dame,  die  einen  ernst- 
lichen Selbstmordversuch  ausgeführt  hatte,  in  das  Kranken- 
haus eingeliefert.  Ihr  Fall  hat  zu  einer  heftigen  Polemik 
zwischen  den  Aerzten  des  Hospitals  und  der  Justiz  von  St. 
Louis  Veranlassung  gegeben.  Die  Dame,  die  sich  Anna  Smith 
nennt,  erklärte,  sie  wolle  von  jetzt  an  Männerkleider  tragen, 
und  wenn  man  ihr  die  Erlaubnis  dazu  verweigert,  sei  sie 
entschlossen,  wieder  einen  neuen  Selbstmordversuch  zu  machen. 
„Fräulein  Smith  hatte  einen  dichten,  schwarzen  Backenbart. 
Sie  ist  aus  ihrer  Vaterstadt  St.  Paul  entflohen,  w'eil  man 
sie  dort  wegen  ihres  Bartes  und  ihrer  Männermanieren  ver- 
spottete. Sie  hat  sämtliche  Enthaarungsmittel  probiert,  aber 


der  Bart  wurde  immer  länger.  Deshalb  will  die  Smith  wie  ein 
Mann  gekleidet  sein  oder  sterben;  Frauenkleider  legt  sie, 
wie  sie  hoch  un.d  heilig  versichert,  nie  und  nimmermehr  an. 
Den  Behörden  wird  wohl  nichts  anderes  übrig  bleiben,  als 
sich  zu  fügen.“  (Jhb.  III.  p.  547.) 

In  einer  grösseren  Stadt  im  Norden  Schottlands  lebt  ein 
in  der  dortigen  G eschäftsw'elt  hochangesehener  Herr,  von  dem 
es  ortskundig  ist,  dass  er  kein  Mann,  sondern  eine  Dame 
ist.  Sie  erscheint  bei  allen  öffentlichen  Veranstaltungen, 
nimmt  am  öffentlichen  Leben  regsten  Anteil,  ihre  Kleidung 
und  ihre  Manieren  als  Mann  sind  tadellos;  ihr  Geschlecht 
lässt-  sich  umso  leichter  verheimlichen,  als  sie  nicht  nur  eine 
sonore  tiefe  Stimme,  sondern  auch  einen  respektablen  Schnurr- 
bart besitzt.  (Jhb.  V.  1187.) 

In  Deutschland  ist  es  wiederholt  vorgekommen,  dass 
Frauen  sistiert  w'urden,  weil  man  sie  für  verkleidete  Männer 
hielt.  Ich  wdll  einige  Fälle  herausgreifen,  die  ein  gewisses  Auf- 
sehen erregten.  In  Wiesbaden  wurde  eine 'Teilnehmerin  an  der 
fünften  Generalversammlung  des  Bundes  deutscher  Frauenvereine 
arretiert.  Der  in  Wiesbaden  erscheinende  Rhein.  Cour,  erzählt 
über  den  Vorfall  und  seine  Veranlassung  u.  a.  folgendes:  „Gestern 
Nachmittag  wuirde  uns  von  dem  Vorstande  des  Frauentages 
mitgeteilt,  eine  Delegierte  des  Frauenbundes  sei  auf  der 
Friedrichstrasse  verhaftet,  nach  dem  Revier  verbracht  und 
nach  Feststellung  ihrer  Personalien,  ohne  ein  Wort  der  Ent- 
schuldigung, entlassen  worden.  Da  uns  dieser  Vorgang  sehr 
unw'ahrscheinlich  vorkam.  erkundigten  w'ir  uns  und  konnten 
folgendes  feststellen:  Gestern  Naclimittag  bemerkte  ein 

Schutzmann  in  der  Friedrichstrasse  einen  Mann,  der, 
von  etwa  300  Personen  umgeben,  langsam  die  Strasse  ent- 
lang schritt.  Der  Schutzmann  hegte  die  Befürchtung,  es  sei 
etwas  Ungebührliches  vorgefallen,  eilte  hinzu  und  ersuchte 
den  Herrn,  ihm  auf  die  Polizeidirektion  zu  folgen.  Hier  bat 
der  Vertreter  der  heiligen  Herinandad  um  den  Namen  des 
Betreffenden  und  erfuhr  zu  seinem  grössten  Erstaunen,  dass 
er  es  mit  einer  Dame  zu  tun  habe,  die  sich  ihm  als  eine 
Berliner  Delegierte  zum  Frauentage  legitimierte.  Der  Schutz- 
mann sorgte  zuerst  dafür,  dass  die  schaulustige  Menge  von 


dannen  zog,  und  entliess  dann  die  sehr  entrüstete  Dame,  in- 
liem  er  ihr.  immer  noch  zweifelnd,  bis  nach  dem  Zivilkasino 
folgte. 

Wie  des  näheren  berichtet  wird,  trug  Frau  H.  v.  D.  zu 
ihrer  Reformkleidung  einen  Herrenhut  und  unter  diesem  kurz- 
geschnittene Haare,  und  dieses' ganze  Ensemble  hat  in  dem 
Schutzmanne  die  seltsame  Meinung  entstehen  lassen,  e r 
habe  es  nicht  mit  einer  Frau  zu  tun,  die 
ähnlich  wie  ein  Mann,  sondern  mit  einem 
Mann,  der  ähnlich  wie  eine  Frau  gekleidet 
sei.“  (Jhb.  V.  1226.) 

Fräulein  Dr.  Katharine  F.,  Assistenzärztin  an  der  Uni- 
versitätsklinik in  Bonn,  schreibt  dem  B.  T.  (15.  12.  06); 
-Ich  fuhr  gestern  die  Strecke  Köln — Hamburg.  Da  wurde  ich 
auf  einmal  in  Hamburg  von  der  Polizei  festge- 
nommen, mit  der  Begründung,  der  Stätions- 
vorstandin  Bremen  habe  es  gewünscht, 
weil  ich  ein  verkleideter  !Mann  sei.  Ich  füge 
hinzu,  dass  ich  ein  gut  gearbeitetes  Jackenkleid  trug,  in 
dem  ich  im  Kraiikenhause  tagtäglich  Dienst  tue.  Das  genügt 
doch  wohl  für  seine  Korrektheit.  Ich  betone  ferner,  dass  ich 
auch  nicht  kurzgeschnittene  Haare  trage.  Wenn  der  Urheber 
der  Anzeige  etwas  genau  hingesehen  hätte,  wäre  das  Ganze 
unmöglich  gewesen.  Es  war  auch  kein  Beamter  im  Coupe, 
nur  ein  Schaffner  in  Osnabrück.  Ich  habe  das  Coupe  auch 
nicht  verlassen.  Es  muss  also  der  Stationsvorstand  in  Bremen 
entweder  vielleicht  auf  Aussage  des  Schaffners  hin  die  Polizei 
gegen  mich  alarmiert  oder  auf  sein  eigenes,  aus  der  Ent- 
fernung gebildetes  Urteil  hin  gehandelt  haben.  Ich  füge 
ausserdem  hinzu,  dass  die  Polizei  in  Hamburg  zugab,  sie 
verstehe  nicht,  wie  die  Bremer  darauf  gekommen  seien.  Eine 
Legitimation  hatte  ich  nicht  bei  mir,  ich  bestand  nur  auf 
telephonische  Anfrage  in  Bonn  bei  der  Universitätsbehörde. 
Ich  weiss  nicht,  ob  die  Vernehmung  in  Hamburg  sich  so  ein- 
fach gestaltet  hätte,  wenn  es  sich  nicht  um  eine  Dame  ge- 
handelt hätte,  die  an  einer  königlichen  Klinik  fest  ange- 
stellt ist.  Dem  Minister  habe  ich  den  Vorfall  berichtet.“ 
(Mb.  06.  p.  19.) 


349 


„Im  Februar  1907  wandte  sich  eine  Schriftstellerin 
namens  K.  an  die  Oeffentlichkeit,  die  bereits  siebenmal  von 
deutschen  Sicherheitsbeamten  sistiert  war,  weil  man  sie  für 
einen  „verkappten“  Mann  gehalten  hatte.  Jetzt  war  sie 
wiederum  von  einem  Berliner  Schutzmann  verhaftet  worden 
und  trotz  ihrer  Versicherung,  sie  sei  in  einem  benachbarten 
Cafe,  in  das  sie  gerade  gehen  wollte,  bekannt,  sodass  man 
sie  dort  legitimieren  könne,  nach  der  Wache  in  der  Ober- 
baumstrasse  gebracht.  Dort  angelangt,  wurde  sie  aufge- 
fordert, Papiere  vorzuzeigen.  Sie  war  so  glücklich,  welche 
bei  sich  zu  haben,  nämlich;  ihre  Staatsangehörigkeitsaus- 
weisung und  Heiratsurkunde.  Beide  lauteten  auf  denselben 
Namen.  Man  hielt  es  zunächst  nicht  für  ausgeschlossen,  dass 
sie  irgendwo  gestohlen  sein  konnten.  Aber  die  Dame  wies 
einen  dritten  Schein  vor,  der,  sollte  man  meinen,  jedes  Miss- 
trauen hätte  beseitigen  müssen:  Es  war  die  doppelte  Be- 
scheinigung des  Bürgermeisters  und  des  Polizeiarztes  von 
Bingerbrück  am  Rhein,  dass  Frau  K.  geh.  C.  daselbst  unter 
dem  Verdacht,  sich  verkleidet  zu  haben,  angehalten,  vom 
Polizeiarzt  untersucht  und  als  Weib  festgestellt  sei.  Der 
Beamte  konnte  sich  trot-z  alledem  nicht  entschliessen,  sie  als 
Weib  anzuerkennen.  Er  stellte  in  Vergleichung  mit  den 
Legitimationspapieren  ein  peinliches  Verhör  an.  Diesen 
Szenen  wohnten  acht  Polizisten  und  ein  Wachtmeister  bei. 
In  Anbetracht  ihres  Tituskopfes  riet  ihr  einer  wohlwollend: 
„Tragen  Sie  doch  eine  Perücke.“  Eine  Berliner  Zeitung  fügt 
diesem  Bericht  hinzu: 

„Das  Schicksal  der  Dame,  dass  sich  nun  zum  siebenten 
Male,  aber  diesmal  in  einer  für  sie  besonders  peinlichen  Form 
wiederholt,  hat  grundsätzliche  Bedeutung.  Ohne  weiteres 

geben  wir  zu,  dass  Frau  K.  ein  Aeusseres  hat,  dass  einem 

Mann  ähnlicher  als  einer  Frau  sieht.  Sie  würde  es  aber 

unter  der  üppigsten  Perücke  und  unter  dem  schönsten 

Frauen-Hut  behalten.  Unverdächtig  wäre  ihr  Aussehen  erst 
dann,  wenn  sie  sich  als  Mann  verkleidete.  Damit  begänge 
sie  aber  gerade  den  Gesetzesverstoss,  unter  dessen  Verdacht 
sie  jezt  zum  siebenten  Male  unschuldig  gestanden  hat.  Was 
soll  sie  tun?  Wenn  man  das  Verbot,  sich  anders  zu  kleiden, 


alß  dem  CreschlcTht  entspredieiid.  nicht  ganz  auilieben  will, 
.-^0  müssten  sich  die  ßehürdon  wenigstens  zu  Ausnahmen  ver- 
stehen. Dieser  Frau  z.  B.  müsste  es  erlaubt  sein,  Herren- 
tracht zu  tragen.  Sie  selbst  würde  sich  wohler  fühlen,  und 
die  Polizei  auch."  (Hb.  06.  p.  74.) 

In  einem  weiteren  Beispiel  stellen  wir  die  Darstellungen 
gegenüber,  wie  sie  von  der  sistierten  Dame  und  der  Behörde 
gegeben  wurden.  Diese  schilderte  den  Vorfall  nach  einem 
Bericht  der  Zeitschrift:  _Die  Frauenbewegung“  wie  folgt; 

..Fräulein  Dr.  juris  A.,  die  sich  in  Weimar  aufgehalten 
hatte,  befand  sich  auf  dem  Wege  zum  Bahnhofe  und  ging  in 
ganz  unauffälliger  Weise  die  Strasse  hinauf,  als  sie  sich  zu 
ihrem  Erstaunen  plötzlich  von  einem  Polizeibe- 
amten  a n g e h a 1 t e n sah,  der  ihr  eine  lange  Strecke  zu- 
vor begegnet  war.  sie  demnach  schon  etwa  drei  bis  fünf 
Minuten  verfolgt  hatte.  Der  Schutzmann  forderte  von  der 
Dame  im  Unteroffizierston  Auskunft  über  die  Zeit  ihrer  An- 
wesenheit in  Weimar.  Der  wahrheitsgemäss  erteilten  Ant- 
vort  legte  der  Beamte  keine  Bedeutung  bei.  Auf  seine  weitere 
Frage:  „Was  sind  Sie  denn?“  erhielt  er  die  ihm  ebenfalls 
ungeheuerlich  klingende  Auskunft;  ..Doktor  juris“,  was  ihn 
besonders  heiter  zu  stimmen  schien.  Nun  verlegte  sich  Fräu- 
lein Dr.  A.  aufs  Inquirieren:  Sie  fragte;  „Ist  ihnen  etwas 

an  meiner  Persönlichkeit  nicht  recht?  Wünschen  Sie  mich 
etwa  zu  verhaften?“  Der  Beamte  erklärte,  dass  er  allerdings 
diese  Absicht  habe,  worauf  Fräulein  Dr.  A.  sofort  mit  ihm 
der  Stadt  zu  umkehrte,  nicht  ohne  ihn  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  dass  die  Sache,  da  er  sich  in  einem  Irrtum 
befinde,  für  ihn  unangenehme  Folgen  haben  könne. 
Er  beharrte  jedoch  bei  seinem  Verlangen,  und  der  Marsch  zur 
Wache  wurde  angetreten,  natürlich  nicht,  ohne  dass  sich 
auf  dem  etwa  viertelstündigem  Wege  ein  Schwarm  von  40 
bis  50  Schaulustigen  angeschlossen  hätte.  Auf  der 
Polizeiwache  sah  der  dort  anwesende  höhere  Beamte  sofort 
das  völlig  Unhaltbare  dieser  Arretierung  ein.  Fräulein  Dr. 
jur.  A.  erhielt  bereits  ein  amtliches  Schreiben,  welches  das 
Vorkommnis  bedauert  und  bestätigt,  dass  der  Schutzmann 
unvorsichtig  gehandelt  habe  und  entsprechend  „rektifiziert“ 


sei.“  Da  diese  Darstellung  zu  heftigen  Angriffen  in  der 
Presse  Anlass  gab.  veröffentlichte  der  Weimarer  Oberbürger- 
meister als  Vorstand  der  Weimarer  Polizei  bald  darauf  fol- 
gende „Bekanntmachung“:  „Die  Berichte  in  den  Zeitungen 

über  das  Vorkommnis  mit  Fräulein  Dr.  jur.  A.  veranlassen 
mich,  den  Vorgang,  wie  er  amtlich  festgestellt  worden  ist, 
bekannt  zu  geben:  Dem  Schutzmann  Haldrich  — und  nach 
dessen  Angaben  auch  den  beiden  Bahnsteigschaffiiern  — war 
die  betr.  Dame  nach  Stimme,  Gesicht,  Haartracht, 
Hut  und  Gesten  (wie  sie  den  Hut  abnahm  und  durch 
die  Haare  strich)  aufgefallen.  Der  Schutzmann  schöpfte  den 
Verdacht,  dass  ein  Mann  sich  verkleidet  und 
die  Verkleidung  gewählt  habe,  um  sich 
einer  etwaigenErkennung  undEntdeckung 
aus  gewichtigen  Gründen  zu  entziehen. 
Deshalb  sprach  er,  da  die  Schutzleute  wegen  der  jetzt  so 
häufigen  Schwindeleien,  Betrügereien  und  Diebstähle  zur 
strengen  Vigilanz,  insbesondere  während  der  Abend-  und 
Nachtzeit,  angewiesen  sind,  die  betreffende  Person  auf  der 
Strasse  an  und  fragte,  wann  sie  zugereist  sei,  welche  Frage 
sie  nicht  beantwortete  und,  bevor  Haldrich  imstande  war, 
weitere  Fragen  zu  stellen,  hinziifügte:  „Sie  wollen  mich  doch 
mit  auf  die  Wache  nehmen,  da  nehmen  Sie  mich  nur  gleich 
mit,  ich  will  Ihre  Behörde  sprechen  und  ein  Protokoll  auf- 
nehmen lassen,  die  Frechheit  geht  noch  über  Wiesbaden.“ 
Des  Schutzmanns  Einwand,  die  Befugnis  um  Auskunft  über 
ihre  Person  zu  bitten,  stehe  ihm  doch  zu,  fertigte  die  Dame 
mit  der  Erklärung  ab:  „Dieses  Recht  wollen  wir  Ihnen  eben 
nehmen“,  und  wiederholte  auf  das  bestimmteste  das  Ver- 
langen, der  Polizeibehörde  vorgeführt  zu  werden,  ohne  dass 
sie  ihren  Namen  und  Stand  dem  Schutzmann  nannte.  Diesem 
Verlangen  entsprach  der  Schutzmann  Haldrich,  ohne  dass  die 
Aufmerksamkeit  anderer  erregt  wurde.  Schutzmann  Schulz, 
der  Dienst  auf  der  Polizeiwache  hatte,  bezeugt,  dass  pp. 
Haldrich  nach  Ankunft  mit  der  Dame  im  Rathause  letztere 
nochmals  trug.  „Wollen  Sie  mir  nun  Ihren  Namen  nennen?“ 
worauf  dieselbe  antwortete:  „Nein,  Ihnen  sage  ich  meinen 
Namen  nicht,  ich  verlange  einen  höheren  Beamten.“  Dem  an- 


wesenden  Krinünalschutzmann  C^iehl,  dem  die  Dame  dann 
ihren  Namen  nannte  und  der  mit  ihr  über  den  Vorfall  ver- 
handelte. erklärte  Fräulein  Dr.  A.  unter  anderem:  .,Eigent- 
lich  habe  sie  den  Schutzmann  mit  hergebracht  und  nicht  der 
Schutzmann  sie,  der  Vorfall  komme  ihr  gerade  recht,  sie 
brauche  solches  Material,  damit  der  Paragraph  (sie  nannte 
einen  Paragraphen  des  Strafgesetzbuches)  falle,  sie  gehe  an 
den  Reichstag,  ihr  Name  sei  kein  unbekannter,  ihr  stünden 
fast  alle  Zeitungen  zur  Verfügung;  wir  hätten  einen  Fall 
Berlin,  Köln,  München.  Wiesbaden  gehabt  und  nun  hätten 
wir  noch  einen  Fall  Weimar.“  Weimar,  den  30.  Oktober  1902. 
Der  Gemeindevorstand  Grossh.  Residenzstadt.  Der  Ober- 
bürgermeister. Pabst,  Geheimer  Regierungsrat.“ 

Das  gemeinsame  und  für  unsere  Darlegung  wesentliche 
in  diesen  und  ähnlichen  Fällen  ist,  dass  Beamte  Personen, 
die  in  Wirklichkeit  Frauen  waren  und  sich  als  solche  klei- 
deten — denn  sie  trugen  das  Hauptattribut  des  w'eiblichen 
Anzuges,  den  Kleiderrock  — irrtümlicherweise  für  verkleidete 
Männer  hielten  und  in  dieser  Vorstellung  an  ihnen  Anstoss 
nahmen. 

Um  zu  zeigen,  dass  deutsche  Gerichte  sich  in  Fällen 
wirklicher  Verkleidung  bereits  wiederholt  auf  den  Standpunkt 
stellten,  den  Dr.  jur.  Wilhelm  als  den  einzig  vernünftigen 
ansieht,  will  ich  noch  einige  Berichte  von  Gerichtsverhand- 
lungen bringen,  von  denen  der  erste  eine  als  Mann  ver- 
kleidete Frau,  der  zweite  einen  als  Frau  verkleideten  Mann 
betrifft. 

„Einen  seltsamen  Fang  (wir  zitieren  den  Bericht  der  Münch. 
N.  N.  Jhb.  V.  1179)  machte  vor  kurzer  Zeit  der  Gendarm 
Katzbichler  von  Pasing  auf  seinem  Pätrouillengange  nach 
HolzapFelkreut.  Schon  seit  längerer  Zeit  bemerkte  er  einen 
jungen,  mittelgrossen,  bartlosen  Mann,  in  einen  schwarzen 
Sackanzug  gekleidet,  mit  schwarzem,  steifem  Hut,  Steh- 
kragen und  schwarzer  Kravatte  angetan,  der  sich  Tag  für 
Tag  bei  Holzapfelkreut  herumtrieb.  Als  der  Gendarm  kon- 
trollieren wollte,  wer  er  sei,  gab  der  Bursche  an,  er  heisse 
Max  Berr,  sei  Schneidergeselle  und  zurzeit,  da  ausser  Stelle, 
bei  seinen  Eltern  in  Haidhausen.  Der  Gendarm  sah  sich  den 


353 


Kunden  genauest  an  und  stutzte.  Nach  eindringlichem  Be- 
fragen gab  der  Bursche  auch  zu,  kein  ]\Iann,  sondern  die 
stellenlose  19  Jahre  alte  Kellnerin  Sophie  Berr  von  hier  zu 
sein.  Sie  wurde  verhaftet  und  stand  vor  dem  Schöffenge- 
richte, angeklagt  einer  Verübung  des  groben  Unfugs,  be- 
gangen durch  Tragen  von  Männerkleidern,  eines  Weiteren  der 
falschen  Namensangabe  und  der  Arbeitsscheu.  Die  Ange- 
klagte erscheint  im  Frauenstrafgewande  und  macht  genau  den 
Eindruck,  als  wenn  man  einen  Mann  in  Frauenkleider  ge- 
steckt hätte.  Die  Berr  hat  männliche  Gesichtszüge,  männ- 
lichen Gang  und  Bewegungen.  Ihr  Kopfhaar  ist  ä la  Fiesco 
kurz  geschnitten,  hinter  den  Ohren  abrasiert  und  verläuft 
nach  vorne  zu  einem  kleinen  Scheitel,  den  zu  beiden  Seiten, 
,,Sechser“  umrahmen.  Sie  fühlt  sich,  wie  sie  sagt,  in  der 
Frauenkleidung  sehr  unbequem,  da  die  Röcke  keine  Hosen- 
taschen haben,  und  sie  die  Gewohnheit  hat,  die  Hände  in 
die  Tasche  zu  stecken.  Unumwunden  gesteht  sie 
zu,  seit  längerer  Zeit  auch  bei  Tage, 
meistens  aber  zur  Nachtzeit,  in  Männer- 
kleidung in  und  ausserhalb  der  Stadt  her- 
umspaziert zu  sein,  und  will  auf  diesen  Einfall  da- 
durch gekommen  sein,  dass  ihr  der  Friseur  den  „Tituskopf“ 
zu  kurz  geschnitten  hätte.  In  Wirklichkeit  hatte  die  Berr 
von  der  Polizeibehörde  wiederholt  Arbeitsauftrag  bekommen, 
den  sie  nicht  befolgte,  und  wollte  auf  diese  Weise  der  be- 
vorstehenden Strafe  entgehen.  Charakteristisch  bei 
der  ganzen  Sache  ist,  dass  niemand  der 
Berr,  selbst  auf  offener  Strasse  ansah, 
dass  sie  ein  Weib  sei.  Nach  längerer  Verhandlung 
wird  die  Berr  wegen  der  genannten  Uebertretungen  zu  einer 
SOtägigen  Haftstrafe  verurteilt ; von  der  Anschuldi- 
gung ein  er  Verübung  des  groben  Unfugs, 
begangen  durch  Tragen  von  Männerklei- 
dern auf  Strassen  und  öffentlichenPlätzen, 
wird  die  Berr  freigesprochen.  Das  Ge- 
richt ging  hierbei  von  der  Erwägung  aus, 
dass  es  überhaupt  fraglich  ist,  ob  das 
Tragen  von  Männerkleidern  durch  Frauen- 

H i r s c h f e I d , Die  Transvestiterf.  23 


Zimmer  unter  den  i Vi  r a g r a p h e n des  groben 
Unfugs  fällt  und  strafbar  sei;  man  könne 
höchstens  einen  groben  Unfug  dann  für 
gegeben  erachten,  wenn  die  betreffende 
Person  öffentliches  Aergernis  durch  ihre 
Handlungsweise  hervorgerufen  habe.  Dies 
sei  aber  bei  der  Angeklagten,  die  man 
allgemein  für  einen  Mann  hielt,  nicht  zu- 
treffend, es  fehle  deshalb  das  ^loment  des 
§ 360.  Z i f f.  11  des  R.-Str.-G.-B.,  das  eine  Be- 
straf ungbedingt,  und  sei  deshalb  die 
Angeklagte  von  diesem  Reate  freizu- 
sprechen gewesen.“ 

Ueber  eine  andere  Gerichtsverhandlung  heisst  es  im 
Vorwärts  (Jhb.  V.  1195); 

„Weil  er  sich  in  Frauenkleidern  nächtlicher  "Weise  auf 
den  Strassen  herumzutreiben  liebt,  kam  der  Artist  W.  wieder- 
holt mit  der  Polizei  in  Konflikt.  Vorgestern  stand  er  aus 
derselben  Veranlassung  wegen  groben  Unfugs  vor  der  achten 
Strafkammer  des  Berliner  Landgerichts  I.  Der  Ge- 
richtshof stellte  sich  auf  den  Stand- 
punkt, dass  das  Tragen  von  Frauenklei- 
dern durch  Männer  nicht  ohne  Weiteres, 
s 0 n-d  ern  nur  dann  als  grober  Unfug  anzu- 
sehen  sei,  wenn  den  Strassenpassanten 
leicht  erkennbar  sei.  dass  in  der  weib- 
lichen Kleiderhülle  ein  Mann  stecke.  Dies 
sei  bei  dem  Angeklagten  allerdings  nicht  der  Fall,  viel- 
mehr habe  dessen  Figur  und  Gesicht  etwas  weibliches  an 
sich.  Erwiesen  sei  aber  durch  Beobachtungen  eines  Schutz- 
manns, dass  der  Angeklagte  auf  der  Strasse  sich  genau  so 
geriert  habe  wie  eine  öffentliche  Dirne,  er  auch  mit  männ- 
licher Begleitung  in  den  Tiergarten  hineingegangen  sei,  was 
den  Kontrolldirnen  bekanntlich  überhaupt  verboten  ist.  Bei 
dieser  Sachlage  verurteilte  der  Gerichtshof  den  Angeklagten 
zu  sechs  Wochen  Haft.“ 

Unter  den  Berliner  Gerichtsverhandlungen  vom  9.  Februar 
1904  findet  sich  folgender  Bericht:  „Ein  kleiner  Scherz  wäre 


dem  Schauspieler  Albert  B.  aus  Stettin  beinahe  verhängnisvoll 
geworden.  Im  verflossenen  Herbst  fand  in  der  Wohnung  seiner 
Nichte  deren  Verlobungsfeier  statt.  Behrens  hielt,  als  Dame 
verkleidet,  einen  komischen  Vortrag.  Er  gefiel  allen  und  auch 
sich  selbst  derartig  in  der  Damenrolle,  dass  ihn  die  Lust  an- 
wandelte, sein  Talent  einer  weiteren  Probe  zu  uuterwerfen. 
Er  beschloss,  in  Begleitung  eines  Herrn  einen  Spaziergang 
durch  die  Strassen  Berlins  als  Dame  zu  machen.  Als  beide  in 
der  Schumannstrasse  einbogen  — es  war  gerade  um  die  Zeit 
des  Theaterschlusses  und  es  herrschte  ein  starker  Verkehr  — , 
wurde  das  Pärchen  von  einem  Schutzmann,  welcher  Behrens 
als  Mann  kannte,  bemerkt.  Dieser  nahm  die  falsche  Dame  beim 
Kragen  und  führte  sie  auf  die  nächste  Polizeiwache.  Behrens 
erhielt  eine  Anklage  wegen  groben  Unfugs  und  wurde 
vom  Schöffengericht  zu  6 Wochen  Haft 
verurteilt.  Er  legte  Berufung  ein.  Die  achte  Straf- 
kammer stellte  gestern  zu  Gunsten  des  Angeklagten  fest,  dass 
die  Strassenpassanten  in  der  vermeint- 
lichen Dame  den  verkleideten  Mann  nicht 
erkannt  hätten  und  dass  der  Schutzmann  nur  aus  zu- 
fälliger Kenntnis  der  Geschlechtszugehörigkeit  des  Angeklagten 
dessen  Sistierung  bewirkt  habe.  Es  sei  deshalb  anzunehmen, 
dass  dem  Angeklagten  nicht  die  Absicht  innegewohnt  habe, 
groben  LInfug  zu  verüben,  und  er  sei  deshalb  unter  Aufhebung 
des  schöffengerichtlichen  Urteils  kostenlos  freizu- 
sprechen. 

Aehnlich  liegt  der  folgende  Fall: 

„Ist  das  Anlegen  von  IMännerkleidung  durch  junge  Damen 
grober  Unfug?  Diese  Frage  hatte  am  15.  Dezember 
1886  die  Danziger  Strafkammer  zu  entscheiden.  Die  als  extra- 
vagante Dame  bekannte  Frau  Martha  Pieske,  welche  sich  seit 
längerer  Zeit  in  Danzig  aufhält  und  gegenwärtig  als  Hand- 
lungsgehilfin fungiert,  war  vom  Danziger  Schöffengericht  wegen 
groben  Unfugs  zu  30  Mark  Geldstrafe  verurteilt  worden,  weil 
sie  wiederholt  auf  der  Strasse  und,  auch  bei  öffentlichen  \ er- 
handlungen  in  den  Gerichtssälen  in  Männerkleidung  erschienen 
ist.  Die  Verurteilte  hatte  gegen  dieses  Urteil  Berufung  einge- 
legt und  präsentierte  sich  am  Donnerstag  in  dem  inkrimi- 

23* 


liierten  Kostüm  auch  dem  Gerichtshöfe,  behauptend,  dass  sie 
schon  im  Elternhause  oft  solche  Kleidung  getragen  habe,  die- 
selbe ihr  bequemer  sei  und  ihr  den  Erwerb  ira  Handelsgeschäft 
erleichtere.  Der  Gerichtshof  konnte  in  dem  Jünglingskostüm, 
das  die  Angeklagte  trug,  nichts  Anstössiges  finden,  hob 
das  Urteil  des  Schöffengerichts  auf  und 
erkannte  auf  völlige  Freisprechung.“ 

Dass  aber  nicht  alle  Gerichte  auf  demselben  Standpunkt 
stehen,  zeigen  folgende  beiden  besonders  bemerkenswerten  Ver- 
handlungen gegen  denselben  Angeklagten: 

„Das  Berliner  Tageblatt  schreibt  unterm  22.  März  1881; 
„Eine  Dame,  welche  sich  auffallend  benahm,  die  vorübergehen- 
den Herren  anlächelte  und  ihnen  Kussfinger  zuwarf,  wurde  vor 
einigen  Tagen  Abends  durch  einen  Kriminalkommissarius  am 
Potsdamer  Tor  verhaftet  und  nach  der  nächsten  Polizeiwache 
gebracht.  Hier  verweigerte  sie  jedoch  jede  Auskunft  über  ihre 
Person  und  wurde  deshalb  mit  dem  Polizeiwagen  nach  dem 
Molkenmarkt  befördert,  wo  sie  im  Frauengewahrsam  bis  zu 
ihrer  Voriühnmg  untorgcbracht  wurde.  Doch  wurde  durch 
Verrat  bekannt,  dass  die  geheimnisvolle  Dame  ein  Mann  sei, 
nämlich  der  18jährige  frühere  Schuhmacherlehrling  Paul  Man- 
delwirth  aus  Trier.  Am  jüngsten  Sonnabend  wurde  der  Jüng- 
ling dem  Einzelrichter  vorgeführt,  und  da  man  ihn  weder  in 
der  Detentionszelle  für  Frauen,  noch  in  der  für  Männer  unter- 
bringen konnte,  so  wurde  er  bis  zum  Beginne  der  Verhandlung 
im  Gerichtssaale  plaziert.  In  dem  ganzen  Auf- 
treten des  Verhafteten  w'ar  auch  nicht 
eine  Spur  von  unweiblichem  zu  entdecken. 
Sowohl  seine  Stimme  wie  seine  sorgsam  gepflegte  Damen- 
koiffüre,  sein  mädchenhaftes  Aussehen,  die  kleinen  zierlichen 
Hände  mit  den  feinen  Handschuhen  bekleidet,  seine  elegante 
Robe,  dazu  ein  mit  Pelz  besetzter  Damenmantel  und  eine 
Nerzmütze  täuschten  über  sein  Geschlecht 
vollständig.  Mandelwirth  ist  wiegen  ähnlicher  Sachen 
schon  viermal  vorbestraft  und  der  Anwalt  bean- 
tragte deshalb  6 Wochen  Haft.  Der  Angeklagte,  der  hier  in 
Berlin  eine  elegant  eingerichtete  Wohnung  hat,  bat  tun  mil 
dernde  Umstände,  da  er  sich  nur  einen  Scherz  gemacht  habe. 


357 


und  beantragte  einstweilige  Entlassung  aus  der  Haft,  da  er  am 
Abend  Gesellscbaft  bei  sich  habe.  Der  Einzelrichter  erkannte 
jedoch  auf  6 Wochen  und  lehnte  die  Entlassung  ab.  Der  An- 
geklagte wurde  hierauf  in  Isolierhaft  abgeführt,  wobei  er  sich 
mit  den  höflichen  Worten  empfahl:  „Ich  hatte  die  Ehre,  meine 
Herren!“  Dieselbe  Zeitung  berichtet  unterm  11.  Mai  desselben 
Jahres:  „Der  bekannte  18]ährige  Schuhmacherlehrling  Petrus 
Paul  Mandelwirth  aus  Trier  stand  am  Donnerstag  abermals 
vor  dem  Einzelrichter  am  Molkenmarkt.  Derselbe  hatte  die 
am  19.  März  über  ihn  verhängte  sechswöchige  Haft  abgebüsst, 
erschien  aber  schon  wieder  vor  dem  Richter,  weil  er  die 
Damentracht  beibehalten  hatte.  Nach  Ver- 
büssung  der  Strafe  am  30.  April  musste  der  Angeklagte,  da 
er  Männerkleidung  nicht  besass,  in  dem  Damenkostüm, 
in  welchem  er  eingeliefert  war,  wieder 
entlassen  werden.  In  diesem  Kostüm  sass  Mandel- 
wirth in  der  Nacht  zum  Donnerstag  in  einem  unserer  elegan- 
testen Wuener  Cafes,  als  der  Kriminalkommissar  Weien  das 
Lokal  betrat  und  den  ihn  wohlbekannten  Mandelwirth  verhaf- 
tete. Der  Angeklagte  gibt  den  Tatbestand  der  Anklage  zu 
und  beteuert  unter  vielen  Tränen , dass  er  keine 
Männerkleidung  besitze  und  auch  nicht 
imstande  sei,  sich  solche  anzuschaffen. 
Der  Richter  gibt  ihm  den  Rat,  die  gut  erhaltene  Damengarde- 
robe zu  verkaufen  und  sich  Herrenkleider  dafür  anzuschaffen, 
ein  Vorschlag,  den  der  Angeschuldigte  zurückweist,  weil  er 
die  Damengarderobe  gegen  wöchentliche  Abzahlungen  ent- 
nommen habe  und  diese  erst  sein  Eigentum  werde,  w'enn  sie 
vollständig  bezahlt  sei.  Als  der  Amtsanwalt  den  Antrag 
stellte,  den  Angeklagten  wegen  Unfugs  mit  6 Wochen  Haft 
zu  bestrafen  und  der  Einzelrichter  an  den  Mandelwirth  die 
Frage  richtete,  ob  er  noch  etwas  anziiführen  habe,  liess  der  im 
Gefängnis  jetzt  weiter  geschulte  eine  gut  einstudierte  Vertei- 
digungsrede vom  Stapel.  Er  führte  an,  dass  durch 
das  einfache  Gehen  in  D a m e n k 1 e i d e r n 
durch  ihn  kein  Unfug  verübt  sei.  Nie- 
mand habe  ein  Aergernis  an  seiner  Toi- 
lette genommen,  niemand  ihn  erkannt.  Die 


- 3.=.8  - 


Möglichkeit,  dass  ein  solcher  Fall  hätte  eiutreten  können,  gibt 
er  zu,  solange  aber  dies  nicht  nachgewie- 
s e n sei,  müsse  er  straflos  bleiben,  denn  der  Versuch.  Unfug 
zu  verüben,  bleibe  straflos.  Wenn  jemand  bestraft  werden 
müsse,  so  sei  es  der  Beamte,  der  ihn  verhaftet  habe,  denn 
dieser  habe  dadurch,  dass  er  dies  getan,  ganz  allein  eine  Stö- 
rung verursacht,  nicht  er.  Es  gelang  dem  Ange- 
klagten aber  nicht,  den  Richter  zu  seiner 
Auffassung  der  Sache  zu  bekehren,  viel- 
mehr diktierte  ihm  der  Amtsgerichtsrat 
Holzapfel  wiederum  6 Wochen  zu.“ 

Dieselbe  Auffassung,  eher  noch  eine  liberalere  wie  zur  Zeit 
die  meisten  deutschen  Behörden,  bekunden  die  französischen. 
Als  dort  vor  einigen  Jahren  die  Gattin  des  Forschungsreisen- 
den  Dieulafoy,  die  diesen  in  Männerkleidung  nach  Persien  usw. 
begleitete,  auch  nachher  bei  amtlichen  Festlichkeiten  im  Kreise 
der  Akademiker  im  Zylinder  und  mit  dem  Bande  der  Ehren- 
legion im  Knopfloche  ihres  Fracks  erschien,  zog  die  Zeitung 
„Petit  Parisien“  an  zuständigen  Stellen  Erkundigungen  ein, 
ob  und  inwieweit  derartige  „Vermummungen“  gestattet  seien. 
Wie  die  Kölnische  Zeitung  mitteilt  (Jhb.  V,  1188),  erklärte 
ein  höherer  Präfekturbeamter,  „dass  in  dieser  Beziehung  eigent- 
lich nur  die  jährlich  zum  Kanieval  erneuerte  Polizeiverordnung 
über  dieStunden  in  Betracht  käme,  während  deren  die  Verkleidung 
auf  offener  Strasse  erlaubt  sei.  Wenn  aber  eine  Person  versichere, 
dass  sie  einen  Anzug  alltäglich  trage,  und  wenn  dieser 
der  landläufigen  Tracht  entspreche,  sei  nicht  einzusehen,  wes- 
halb man  sie  verhindern  könne,  sich  nach  ihrer  Art 
und  nach  den  Bedürfnissen  des  Standes  zu  kleiden.  Andernfalls 
müsste  man  auch  das  geistliche  Gewand  verbieten,  meinte  der 
Präfekturbeamte,  weil  sieh  darin  womöglich  eine  Aehnlichkeit 
mit  einem  weiblichen  finden  lasse.  Es  gäbe  Fälle,  wo  Frauen 
in  der  Tracht  von  Maurern.  Fuhrleuten  usw.  arbeiteten,  imd 
in  solchen  Fällen  drücke  die  Polizei  ein  Auge  zu.  Im  Ka- 
binett des  Präfekten  gab  man  die  Ant- 
wort, dass  die  vorliegende  Frage  streng 
genommen  nur  noch  durch  eine  Polizei- 
verordnung vom  16.  Brumaire  de.s  Jahres 


359 


IX  (7.  Movember  1800)  entschieden  werden  könne, 
welche  die  Genehmigung  zu  den  damals 
häufigen  Vermummungen  von  einem  ärzt- 
lichen Zeugnis  abhängig  macht,  das  der 
Bewerber  oder  die  Bewerberin  der  beson- 
deren Tracht  aus  Gesundheitsrücksich- 
ten bedürfe.  Mit  der  Zeit  habe  man  aber  Ausnahmen 
hiervon  gemacht,  so  bei  Aurore  Dupin  (George  Sand).  Rosa 
Bonheur  und  Marguerite  Bellanger,  der  Margot  Napoleons  III., 
die  die  Eifersucht  der  Kaiserin  erregt  habe.  Früher  seien  die 
Gesuche  um  die  Erlaubnis  zum  Tragen  von  Männerkleidern 
häufiger  gewesen;  seit  Einführung  der  an  das  stärkere  Ge- 
schlecht erinnernden  Kleidung  für  Radfahrerinnen  aber  scheine 
die  Sucht  der  Frauen  nach  sonstigen  männlichen  Trach- 
ten immer  mehr  abgenommen  zu  haben.“ 

Am  rigorosesten  geht  man  gegen  die  Verkleideten  in  Eng- 
land, den  englischen  Kolonien  und  den  Vereinigten  Staaten  von 
Nordamerika  vor.  ln  'sdelen  Fällen  haben  hier  die  Richter  die 
Verkleidung  kurzweg  als  Betrug  erklärt  und  als  solchen  be- 
straft. Ein  solcher  könnte  nach  unserer  Auffassung  doch  nur 
in  Frage  kommen,  wenn  die  Betreffenden  mit  der  Verkleidung 
die  Absicht  haben,  sich  einen  rechtswidrigen  Gewinn  zu  ver- 
schaffen, wobei  dann  dieses  Verbrechen  gegen  das  Vermögen, 
nicht  aber  die  Verkleidung  als  solche,  die  in  das  Recht  des 
l^Ienschen  über  seinen  eigenen  Körper  fällt,  die  Straftat  dar- 
stellt. Das  im  Lande  der  streitbaren  Suffragettes  geübte  Ver- 
fahren ist  um  so  befremdlicher,  als,  wie  aus  der  Art,  in  der  in 
der  Presse  über  solche  Vorkommnisse  berichtet  wird,  hervor- 
geht, das  Volk  dazu  neigt,  derartige  Verkleidungen  als  drollige 
Kuriositäten  aufzufassen.  Einige  Beispiele  aus  der  englischen 
Rechtspraxis  dienen  zur  Illustration  dos  Gesagten:  „Grosses 
Aufsehen  — so  berichtet  die  Londoner  Presse  (Jhb.  II,  S.  453) 
— erregte  in  dem  Kriminalgerichtshof  in  Clerkenwell,  Alt- 
London,  ein  in  Untersuchungshaft  befindlicher  junger  Mann, 
der  als  elegant  gekleidete  Dame  auf  der  An- 
klagebank erschien.  Er  trug  ein  tadellos  sitzendes  schwarzes 
Kostüm,  das  nach  neuester  Mode  speziell  für  ihn  gearbeitet 
zu  sein  schien.  Um  seinen  Hals  schmiegte  sich  eine  graue 


360 


Federboa,  die  in  der  Farbe  mit  einem  kokett  garnierten  Ma- 
trosenhut aus  Seident'ilz  harmonierte.  Die  in  perlgrauen  Gla- 
cees steckenden  Hände  in  einem  fashionablcn  Astrachanmuff 
verbergend,  lehnte  sich  das  merkwürdige  Individuum  in 
graziöser  Haltung  an  die  Barriere,  die  es  von  den  Geschwore- 
nen und  dem  Untersuchungsrichter  trennte.  Wie  sich  aus  dem 
Verhör  und  den  Zeugenaussagen  ergab,  hatte  der  in  so  sonder- 
barem Aufzuge  sich  zeigende  Angeklagte,  ein  bis  vor  kurzem 
in  einem  vornehmen  Hause  in  Gresse  Street  angestellter 
Kammerdiener,  am  Abend  vorher  in  Eustonroad  in  dersel- 
ben Verkleidung  die  Aufmerksamkeit  der  Passanten  auf  sich 
gelenkt.  Der  Abenteuerlustige  hatte  sich,  wie  er  angibt,  einen 
Scherz  machen  wollen.  Ein  Geheimpolizist  war  der  sich  ver- 
dächtig benehmenden  Person  schon  einige  Zeit  gefolgt;  da 
wandte  diese  sich  plötzlich  um  und  legte  ihren  Arm  in  den  des 
Beamten.  Zu  ihrer  wohl  nicht  sehr  angenehmen  Ueberraschung 
erfasste  der  vermeintliche  Verehrer  die  auf  seinem  Arm  liegende 
Hand  mit  weniger  zärtlichem  als  energischem  Griff  und  sagte 
laut:  „Ich  bin  Detektiv  und  habe  Ursache,  Sie  für  einen  Mann 
zu  halten.“  Darauf  suchte  die  „Dame“  ihren  Arm  zu  befreien 
und  rief  im  Tone  der  Entrüstung:  „Sie  Elender,  ich  bin  eine 
Lady!“  Als  der  Beamte  jedoch  keine  iMiene  machte,  sich  seinen 
Fang  entschlüpfen  zu  lassen,  führte  die  Person,  ehe  er  es  ver- 
hindern konnte,  mit  der  geballten  Faust  einen  derben  Stoss 
gegen  seinen  Mund  aus.  „Ihnen  allein  soll  es  nicht  gelingen, 
mich  mitzunehmen!“  schrie  der  Verkleidete  wütend  und  zer- 
kratzte mit  der  rechten  Hand  das  Gesicht  des  Gegners.  In 
dem  nun  entstehenden  Ringkampf  wiude  die  „Lady“  zu  Boden 
geworfen,  riss  aber  im  Fallen  den  Detektiv  mit  und  biss  ihm 
in  die  Finger.  Einige  inzwischen  herbeigeeilte  Polizisten  be- 
wältigten das  um  sich  stossende,  kratzende  und  heissende  In- 
dividuum und  schleppten  es  zur  Polizeistation.  Der  An- 
geklagte wurde  wegen  öffentlichen  Tra- 
gens weiblicher  Kleidung  zu  drei  Mona- 
ten und  wegen  Körperverletzung  und  Beanitenbeleidigung  zu 
weiteren  drei  Monaten  Gefängnis  verurteilt.“ 

Am  13.  November  1908  wnirde  in  London  ein  Mann, 
Julius  Walters,  38  Jahre  alt,  der  sich  „Klara  M y e r“ 


361 


nannte,  zu  5 Monaten  verurteilt  und  ausgewiesen.  Dieser 
hatte  bereits  1895  3 Monate  .bekommen  „for  masquerading  as 
a female“;  1896  erhielt  er  dieselbe  Strafe  für  das  gleiche 
Vergehen.  1899  wurde  er  zu  6 Monaten,  1900  zu  12  Monaten 
verurteilt,  1904  zu  „12  months  and  12  strokes  for  masquera- 
ding as  a woman  and  frequenting  streets.“  1906  und  1907 
erhielt  er  kleinere  Strafen. 

lieber  eine  Gerichtsverhandlung,  die  sich  in  Durban  ab- 
spielte, berichtet  die  „Natal  Mercury“  (citiert  nach  der  Ber- 
liner Nationalzeitung  v.  1.  VIII.  05):  Dem  Richter  Stuart 
wurde  ein  leidlich  hübsches  „Kaffernmädchen“  wegen  groben 
Unfugs ' vorgeführt.  „Was  hat  sie  denn  verbrochen?“  fragte 
der  Richter  den  Polizisten.  „Sie  hat  gar  nichts  getan  — aber 
er  — das  Mädel  ist  nämlich  ein  Mann!“  berichtet  der  Beamte. 
Verdutzt  schaute  der  Richter  sich  die  nur  mit  einem  weissen 
Musselinrock,  einen  um  den  Oberkörper  geschlungenen  schweren 
Schal  bekleidete  und  den  gewöhnlichen  Kopfputz 
der  Kaf  fern  f rauen  tragende  Gestalt  an.  „Ein  Mann?“ 
fragte  er  dann  ungläubig.  „Jawohl,  ein  ganzer  Mann,  Ew. 
Ehren“,  erwiderte  der  Polizist.  „Zweimal  ist  dieses  männlich- 
weibliche Wesen  bereits  früher  wegen  seiner  Maskerade  bestraft 
worden.  Aber  immer  wieder  läuft  sie  — er,  w'ollte  ich  sagen, 
in  dem  Musselinröckchen  herum.“  „Wie  heissen  Sie  denn?“ 
fragte  der  Richter  die  falsche  Schöne.  „Mariechen!“  lautete 
die  Antwort.  Nun  war  es  auch  mit  dem  richterlichen  Ernst 
vorbei  und  er  stimmte  in  die  allgemeine  Heiterkeit  ein,  die 
diese  Antwort  im  Saale  entfesselte!  Als  die  Ruhe  wieder  her- 
gestellt war,  fragte  der  Richter  das  männliche  „Mariechen“, 
warum  „es“  denn  in  Frauenkleidern  herumlaufe?  „Ja,  darin 
fühle  ich  mich  bequem“,  erwiderte  das  „Mannweib“. 
„Mariechen“  wurde  zu  einer  Geldstrafe  von  200  Mark  verur- 
teilt. Da  sie  diese  Summe  in  ihrem  Kleide  nicht  finden  konnte, 
musste  sie  auf  3 Monate  hinter  schwedische  Gardinen 
spazieren.  „Wenn  ich  herauskomme,  ziehe  ich  meinen  Musse- 
linrock doch  wieder  an“,  meinte  lachend  die  „Schöne“,  als  sie 
abgeführt  wurde.“ 

Sehr  wenig  einheitlich  ist  die  Rechtsprechung  in  Nord- 


;imerika,  wo  in  den  tnnzolnen  Bundesstaaten  ganz  verschiedene 
Bestimmungen  massgebend  sind.  Nicht  überall  verfahrt  man 
so  milde  wie  im  Staate  Ohio,  von  wo  im  April  1906  folgender 
Vorfall  gemeldet  wurde:  „Randolph  Milburn.  der  in  Washing- 
ton (Ohio)  als  Musiklehrer  seit  langem  tätig  ist,  wurde  .jüngst 
festgenommen,  weil  er  in  F r a u e n k 1 e i d u n g in  den 
Strassen  erschien.  Als  man  ihn  fragte,  warum  er  ein  solches 
Kostüm  bevorzuge,  erklärte  er,  wenn  es  einem  „gewissen  Fräu- 
lein Mary  Walker  erlaubt  sei,  in  Männerkleidung  daherzu- 
gehen, so  müsse  er  auch  ein  Recht  dazu  haben,  Röcke  zu 
tragen.”  Damit  war  die  schwierige  Frage  nacli  der  gesetz- 
lichen Erlaubnis  einer  solchen  Kleidung  angeregt,  und  als  man 
nun  die  Gesetze  von  Ohio  befragte,  so  ergab  es  sich,  dass  das 
Recht  von  Ohio  einem  Mann  gestattete,  anzuziehen,  was  ihm 
beliebte,  vorausgesetzt,  „er  beabsichtigt  keinen 
Versuch,  bezüglich  seines  Geschlechtes 
eine  Täuschung  herbeizuführen“,  wie  das 
Gesetz  sich  ausdrückt.  Um  also  ferneren  Belästigungen  vor- 
zubeugen und  den  Gesetzen  seines  Staates  gemäss  zu  handeln, 
trägt  Milburn,  w'enn  er  jetzt  in  Frauenkleidern  spazieren  geht, 
ein  grosses  silbernes  Schild  auf  der  Brust,  auf  dem  geschrieben 
steht:  „Randolph  Milburn.  Ich  bin  ein  Mann.“  Mit  dieser  In- 
schrift erklärte  sich  die  Polizei  befriedigt. 

Nicht  nur  fast  alle  Staaten,  sondern  beinahe  jede  grössere 
Stadt  besitzt  in  Amerika  Polizeivorschriften,  die  das  Tragen 
der  Kleider  des  anderen  Geschlechts  ausser  in  der  eigeneni  Woh- 
nung und  im  Karneval  verbieten.  Californien  beispielsw^eise 
hat  zwar  kein  Staatsgesetz  darüber,  dafür  haben  aber  die 
meisten  stärker  bewohnten  Plätze  Paragraphen,  die  für  Ge- 
schlcchtsmaskierungen  Strafen  von  fünf  bis  hundert  Dollars 
festsetzen.  1890  wurde  aus  diesem  Grunde  ein  ziemlich  be- 
kannter Politiker  L.,  der  später  sogar  Kongressmitglied  in 
Washington  wurde,  verhaftet  und  für  Anlegen  von  Frauenklei- 
dern mit  lOO  Dollars  Geldstrafe  belegt;,  natürlich  wurde  in  dem 
Wahlkampf  diese  Tatsache  nicht  wenig  gegen  ihn  au.sgemünzt. 
In  der  Stadt  New  York  wurde  1904  ein  Mann  namens  Becker 
wegen  Gehens  in  Frauenkleidern  zu  6 Monaten  Gefängnis  ver- 
urteilt; er  war  von  einer  Frau  der  Polizei  angezeigt  worden. 


363 


In  einer  New  Yorker  Zeitung  vom  6.  7.  07  findet  sich  folgen- 
der Bericht:  „Weil  er  keine  Stellung  zu  finden  vermochte,  zog 
sich  John  Becht  ein  elegantes  Tailormadekostüm  an,  versah 
sich  mit  einer  blonden  Perücke,  einem  malerischen  Hute  und 
fragte  in  dieser  Verkleidung  um  Arbeit  an.  Er  erhielt  solche 
als  Köchin  in  verschiedenen  Haushalten.  Donnerstag  nacht  fiel 
er  in  die  Hände  der  Polizei.  Er  wurde  wegen  Gefährdung  der 
öffentlichen  Sittlichkeit  durch  seine  Maskierung  als  Weib  zu 
neun  Monaten  Gefängnis  verurteilt.“  Die  Ver- 
kleidung wird  im  „freien“  England  und  Amerika  auch,  wenn 
durch  sie  kein  öffentliches  Aergernis  erregt  wird,  als 
öffentliches  Aergernis  angesehen;  im  allgemeinen  werden 
dort  allerdings  nur  ertappte  Männer  bestraft,  als  Männer 
auftretende  Frauen  kommen  meist  mit  einem  Verweis  oder 
einer  Warnung  davon. 

Das  einzige  Land,  in  dem  es  ausdrücklich  verboten  ist, 
eine  andere  als  die  dem  Geschlecht  entsprechende  Kleidung  zu 
tragen,  ist  Japan;  wenigstens  teilt  Dr.  Suyewo  Iwaya 
aus  Tokio  in  seiner  interessanten  Studie  ,,Nan-sho-k’“ 

im  IV.  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen  mit,  dass  die  ja- 
panischen Schauspieler,  welche  nur  in  Frauenrollen  auftreten, 
„früher  auch  ausserhalb  der  Bühne  weiblichen  Anzug  trugen, 
aber  jetzt  nicht  mehr,  weil  es  gesetz  lieh 
verboten  ist,  dass  der  Mann  eibliche 

oder  die  Frau  männliche  Kleider  trägt.“ 

Die  zutreffendste  Lösung  der  wie  wir  sehen  in  den 
verschiedenen  Ländern  recht  verschieden  behandelten  Frage 
scheint  uns  die  zu  sein,  dass  man  die  Erlaubnis,  die  Tracht  des 
anderen  Geschlechts  öffentlich  anlegen  zu  dürfen,  von  einem 
Gesuch  abhängig  macht,  das  die  Personen,  welche  dies  wün- 
schen, der  Polizei  einzureichen  haben,  ähnlich  wie  es  die  er- 
wähnte Polizeiverordnung  aus  der  Zeit  der  französischen  Re- 
volution vorschreibt.  Das  Ansuchen  müsste  die  Gründe  ent- 
halten, auf  die  sich  die  Forderung  stützt;  in  den  meisten 
Fällen  wird  sich  die  Beifügung  eines  ärztlichen  Attestes  un(J 
einer  Photographie  in  männlicher  und  weiblicher  Kleidung  em- 
pfehlen. Im  Prinzip  müsste  die  Erlaubnis  erteilt  w'erden,  mit 


dem  Vorbehalt,  dass  sie  zurückgezogen  wird,  wenn  die  betreften- 
den  Personen  durch  die  Verkleidung  die  öffentliche  Ordnung 
stören  oder  in  ihr  strafbare  Handlungen  begehen  sollten. 


Verkleidung  und  Kriminalität. 

Das  letztere  kommt  in  nicht  ganz  seltenen  Fällen  vor, 
sei  es,  dass  die  Straftaten  eine  direkte  Folge  des  Verkleidungs- 
triebes sind  — wie  es  gelegentlich  bei  Falschmeldungen,  F ahnen- 
flucht, Diebstählen  festgestellt  wurde  — sei  es,  dass  die  Ver- 
mummung benutzt  wird,  um  sich  die  Ausführung  von  Vergehen 
und  Verbrechen  zu  erleichtern  oder  um  die  Spur  auf  eine  falsche 
Fährte  zu  lenken.  Natürlich  braucht  dann  kein  Verkleidungs- 
trieb  vorzuliegen.  Und  selbst  wenn  er  vorhanden  ist  — 
manchmal  hat  es  allerdings  fast  den  Anschein,  als  ob  es  sich 
um  eine  Ausnutzung  der  primären  Neigung  handelt  — , so  ist 
dadurch  die  freie  Willensbestimmung  in  Bezug  auf  die  ausser- 
halb des  Verkleidungstriebes  liegenden  kriminellen  Handlungen 
in  keiner  Weise  beeinflusst;  auch  der  ausgesprochenste  Trans- 
vestit ist  dann  genau  so  verantwortlich  und  strafbar  wie  jeder 
andere  geistig  gesunde  Mensch;  höchstens  kann  bei  Delikten, 
die  unmittelbar  aus  dem  Verkleidungstrieb  hervorgehen,  in 
Frage  kommen,  ob  nicht  die  freie  Willensbestimmung  im  Sinne 
des  dem  jetzigen  § 51  entsprechenden  § 63  des  Vorontwurfs 
zum  neuen  deutschen  Strafgesetz  zwar  nicht  ausgeschlossen, 
aber  doch  in  hohem  Grade  „vermindert  ist'*. 

Von  solchen  strafbaren  Handlungen,  die  im  direktesten 
Zusammenhang  mit  der  Geschlechtsverkleidung  ausgefülirt  wer- 
den, sind  hauptsächlich  folgende  zu  nennen;  Einmal  die  Füh- 
rung eines  falschen  Namens.  Es  liegt  sehr  nahe,  dass  eine  als 
Frau  auftretendc  Person  sich  auch  mit  weiblichem  Namen  an- 
meldct  und  dass  eine  Frau,  die  als  Mann  arbeitet,  sich  auch 
eines  männlichen  Namens  bedient.  Täten  sie  es  nicht,  würden 
sie  ja  damit  bald  ihr  meist  ängstlich  behütetes  Geheimnis  preis- 
geben. Einige  charakteristische  Beispiele  von  hierher  gehörigen 
Falschmeldungen,  die  die  Behörden  beschäftigten, 
mögen  die  angeführten  Vorkommnisse  illustrieren. 


365 


Das  Landgericht  zu  Dresden  verurteilte  den  angeb- 
lichen Dienst  knecht  Ernst  Schulze,  der 
angeblich  am  12.  Mai  1881  zu  Burg  bei  Hoyerswerda  geboren 
ist;  wegen  Unterschlagung,  Urkundenfälschung  und  Betruges 
zu  sechs  Monaten  Gefängnis.  Als  der  Verurteilte  zur  V e r - 
büssung  der  Strafe  eingeliefert  wurde, 
stellte  der  Gerichtsarzt  Medizinalrat  Dr.  Donau  fest,  dass 
Schulze  ein  Mädchen  sei.  Die  weitere  Untersuchung  ergab, 
dass  es  sich  um  die  am  6.  April  1875  zu  Neudorf  bei  Hoyers- 
werda geborene  Dienstmagd  Johanna  Casper  handelte.  Sie  hat, 
ohne  dass  jemand  hinter  das  Geheimnis  gekommen  wäre,  eine 
ganze  Eeihe  von  Jahren  Mähnerkleidung  getragen,  als  Dienst- 
knecht gearbeitet  und  ist  auch,  wie  bemerkt,  als  solcher  ver- 
urteilt worden.  Weil  sie  sich  einesihr  nicht 
zukommenden  Namens  einem  zuständigen 
Beamten  gegenüber  bedient  hatte,  wurde 
sie  des  weiteren  z.u  einem  Monat  Haft 
verurteilt.  fJhb.  III,  560.) 

In  Lemberg  wurde  ein  in  einem  Hotel  bediensteter  Kellner, 
der  auf  den  Namen  Michael  hörte,  wegen  Führung 
eines  falschen  Dienstbuches  mit  3 Tagen 
Arrest  bestraft.  Es  stellte  sich  nämlich  heraus,  dass 
Michael  ein  verkleidetes  Mädchen  war.  Als  zehnjähriges  Kind 
war  Michaeline  aus  dem  Elternhaus  entflohen  und  hatte  als 
Bursche  verkleidet  eine  Stellung  angenommen.  (Jhb.  V,  1247.) 

Noch  zwei  weitere  Fälle  aus  Oesterreich-Ungarn,  wo  sich 
übrigens  hinsichtlich  der  Beurteilung  der  Verkleidung  selbst  im 
allgemeinen  eine  ähnliche  Rechtspraxis  herausgebildet  hat  wie  in 
Deutschland.  Aus  Wien  meldet  man:  In  der  Zirkusgasse  in 
der  Leopoldstadt  vmrde  Sonntag  auf  offener  Strasse  ein  dürftig 
gekleideter  Mann  in  tiefstem  Schlafe  gemächlich  hingestreckt 
aufgefunden,  und  es  bedurfte  nicht  erst  langer  Beobachtung, 
um  zu  erkennen,  dass  der  Schläfer  einen  Kapitalrausch  hatte. 
Der  Wachmann,  der  den  Mann  wecken  wollte,  hatte  nicht  ge- 
ringe Mühe,  denselben  auf  die  Beine  zu  stellen  und  auf  das 
Kommissariat  zu  eskortieren;  dort  musste  der  Betrunkene 
vorerst  in  eine  Zelle  gebracht  werden,  damit  er  sich  ernüchtere. 
Ueber  Nacht  war  von  dem  Häftling  der  Rausch  einigermassen 


— ;]6G  — 

gewichen,  und  mm  hognnn  die  polizeiübliche  Prozedur:  ürzr- 
liche  Visitation,  Ahnalime  der  Generalien  usw.  Der  Arzt 
machte  bald  an  dem  Manne  eine  Entdeckung,  die  ihn  nicht 
wenig  verdutzt  machte;  er  konstatierte  nämlich,  dass  der 
Arrestant  keineswegs  ein  Mann,  sondern  ein  Weib  war.  Im 
Verlaufe  des  unmittelbar  nach  dieser  überraschenden  Feststel- 
lung aufgenommenen  Verhörs  gab  diese  merkwürdige  Frau  offen 
zu,  dass  sie  schon  seit  30  Jahren  in  Männerkleidern  her- 
umgehe . . . Die  Frau  nannte  sich  P.  E.,  ist  gegenwärtig 
53  Jahre  alt,  wohnt  in  der  Haidgasse  Nr.  10  bei  einem  Schuh- 
macher und  brachte  sich  kümmerlich  als  Harfenist 
fort.  Sie  ist  angeblich  die  Tochter  eines  höheren  Offiziers,  nach 
dessen  Tode  sie  ins  Waisenhaus  gebracht  wurde,  welches  sie 
noch  im  jugendlichen  Alter  verliess.  Nun  war  sie,  da  ihr  die 
Mutter  fehlte  und  sie  weder  Mittel  noch  an  Verwandten  eine 
Stütze  besass,  darauf  angewiesen,  sich  einen  Erwerb  zu  suchon. 
Da  kam  ihr,  der  von  aller  Welt  Verlassenen  und  über  ihre  Häss- 
lichkeit Verbittert-en,  der  sonderbare  Einfall,  die  Frauenklcider 
abzulegen.  So  wurde  aus  dem  Fräulein  Paula 
ein  Paul  E.  Da  sie  das  Violinspielen  gelernt  hatte,  blieb 
sie  bei  der  Musik  und  zog  nun  von  Lokal  zu  Lokal,  bald  allein, 
bald  in  Gesellschaft,  von  dem  Erträgnisse  ihrer  „Kunst“  stets 
kümmerlich  genug  lebend  . . . Die  Polizeibehörde  wird  nach 
dieser  Sachlage  gegen  P.  E.  die  Anzeige  wegen  Falsch- 
meldung an  das  Bezirksgericht  leiten.  (Jhb.  III,  531.) 
Ein  weiterer  Fall  ebenfalls  aus  Wien  ist  noch  aus  einem 
anderen  Grunde  — wegen  eines  mit  dem  Verkleidungstriebe 
zu.sammenhängenden  Erbschaftsstreites  — von  forensischem 
Interesse. 

Vor  längerer  Zeit  wurd  in  Wien  die  damals  45jährigc 
Anna  Drexelsberger  wegen  Falschmeldung  verurteilt.  Sie  hatte 
30  Jahre  Männerkleidung  getragen  und  sich  polizeilich  a 1 s 
Anton  Horner,  „Hausknech  t“,  gemeldet.  Als  es 
durch  die  Verhandlungsberichte  bekannt  geworden  war,  dass 
Anna  Drexelsberger  — so  teilte  sie  wenigstens  mit  — nur  des- 
halb Männerkleidung  getragen  habe,  „weil  sie  nur  als  Manu 
die  Stellung  eines  Hausknechtes  habe  erhalten  können“,  wandte 
sich  die  Aufmerksamkeit  dieser  Frau  zu.  Von  verschiedenen 


367 


Seiten  wurde  ihr  Arbeit  und  Beschäftigung  angetragen,  damit 
sie  nicht  mehr  gezwungen  sei,  ihr  Geschlecht  zu  verleugnen. 
Sie  entschloss  sich  endlich,  als  Gesellschafterin  zu  einer  alten 
Dame  zu  gehen.  Am  Ende  des  vorigen  Jahres  starb  Anna 
Drexelsberger  in  London,  nachdem  sie  kurz  vorher  von  ihrer 
Dienstgeberin  50  000  fl.  geerbt  hatte.  Von  diesem  Gelde  ver- 
machte sie  30  000  fl.  einem  Mädchen  in  Wien,  von  wel- 
chem sie  als  Mann  verehrt  worden  war“, 
und  zwar  (wie  es  in  dem  Testament  hiess)  „als  Genugtuung  da- 
für, dass  sie  das  arme  Mädchen  in  ihrem  Irrtum  belassen  und 
genarrt  hatte“.  Die  Erblasserin  wurde  von  den  prozessführen- 
den Verwandten  als  geistig  nicht  normal  be- 
zeichnet. Gestern  entschied  das  zuständige  Gericht  in  Wien, 
dass  das  Testament  als  giltig  anerkannt 
werde.  Es  hätte  sich  keine  Veranlassung  ergeben,  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit der  Erblasserin  zur  Zeit  der  Testaments- 
legung zu  bezweifeln,  die  Verlassenschaftsbehörde  hatte  viel- 
mehr die  angefochtene  Verfügung  als  „ganz  plausibel“  befun- 
den. (Jhb.  II,  p.  451.) 

Es  wäre  zu  erwägen,  ob  man  nicht  Personen,  die  im  Ge- 
wände des  anderen  Geschlechts  arbeiten  oder  Beschäftigung 
suchen,  folgerichtig  auch  gestatten  sollte,  ausser  der  zum 
Amtsgeheimnis  verpflichteten  Polizeibehörde  gegenüber  ein 
Pseudonjun,  zum  mindesten  einen  Vornamen  zu  führen, 
der  mit  der  gewählten  Kleidung  übereinstimmt.  Wenn  man  den 
Petenten  dies  verweigert  — wie  in  dem  oben  Kap.  II.  p.  198 
von  uns  gutachtlich  mitgeteilten  Fall,  so  erschwert  man  ihnen 
ganz  ausserordentlich,  eine  soziale  Stellung  zu  finden  und  för- 
dert leicht  das  Aufsehen,  welches  man  vermindern  möchte. 

Ein  weiteres  Verbrechen,  das  mit  dem  Verkleidungstrieb  in 
engen  Beziehungen  stehen  kann,  ist  die  F ahnenflucht , wie 
folgende  Beispiele  beweisen:  Ein  Deserteur  in  Frauenkleidern  ist 
kürzlich,  wie  die  „Nat.-Ztg.“  imSept.  1900  meldet,  in  Troppau 
(Oesterr.  Schles.)  gefasst  worden.  Der  Infanterist  Jaskulsky 
vom  1.  Oesterreichischen  Infanterie  - Regiment  war  wegen  De- 
sertion steckbrieflich  verfolgt.  Seine  Auffindung  war  deshalb 
erschwert,  weil  der  Infanterist  als  Dienst- 
mädchen in  Beschäftigung  stand.  Sein  mädchenhaftes 


368 


Aussehen  und  der  Umstand,  dass  er  in  früheren  Jahren  als 
Damen-Iinitator  sich  produziert  und  daher  seine  Stimm-Mittel 
entsprechend  inodulationsfähig  gemacht  hatte,  begünstigten 
die  Täuschung.  Auf  einer  Tanzunterhaltung,  die  er  als  Dienst- 
mädchen besucht  hatte,  wurde  er  trotz  seiner  Frauenkleider 
von  einem  Soldaten  erkannt,  der  ihn  auf  dem  Heimwege  arre- 
tieren liess.  Der  Deserteur  wurde  dem  Garnisonsge- 
richt eingeliefert,  nachdem  er  seiner  Frauenkleider  entledigt 
und  in  eine  männliche  Zivilkleidung  gesteckt  worden  war. 
(Jhb.  III.  554.) 

„Am  8.  März  1896  wurde  in  dem  von  Oldenburg  in  Leer 
eintreffenden  Zuge  im  Damenkoupe  ein  Fräulein  bemerkt,  wel- 
ches durch  seine  tiefe  Bassstimme  dem  Bahnpersonal  verdächtig 
vorkam.  Der  herbeigerufene  Polizeisergeant,  der  neben  dem 
Fräulein  Platz  nahm,  erkannte  bald,  dass  er  einen  Mann  vor 
sich  habe.  Zur  Rede  gestellt,  erwiderte  der  verkleidete  Passa- 
gier, dass  er  zu  seinem  Vergnügen  in  Frauenkleidern  nach 
Holland  reisen  wolle.  Der  Beamte  brachte  nun  den  Verdäch- 
tigen nach  dem  Amtsgerichtsgefängnis,  wo  er  endlich  ein- 
gestand. aus  Oldenburg . desertiert  zu  sein.“ 

Am  16.  April  1897  wurde  ein  Deserteur  in  Frauenkleidern 
in  Weissenburg  festgenommen.  In  der  Umgebung  daselbst 
trieb  sich  seit  einiger  Zeit  eine  verdächtige  Frauensperson  um- 
her. Der  ziemlich  beträchtliche  Schnurrbart-Anflug  und  einige 
andere  wenig  weibliche  Eigenschaften  an  dieser  Person  veran- 
lassten  einen  Einwohner,  die  Polizei  auf  die  sonderbare  Dame 
aufmerksam  zu  machen.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  die  Si- 
stierte  unter  ihren  Kleidern  Uniformstücke  des  in  Landau 
garnisonierenden  23.  Infanterie-Regimentes  trug.  Der  Deser- 
teur stammt  aus  Kaiserslautern  und  hat  schon  5 Jahre  bei  der 
Fremdenlegion  gedient. 

„Am  8.  Juni  1895  erschienen  im  Hause  des  Advokaten  Po- 
telli  in  Mantua  ein  Wachtmeister  und  zwei  Mann,  um  einen 
im  Hause  angeblich  verborgenen  Deserteur  zu  verhaften.  .Jeder 
Protest,  dass  es  sich  um  ein  Missverständnis  handeln  müsse, 
war  vergeblich.  Das  Haus  vuirde  durchsucht  — umsonst.  Da 
trat  plötzlich  das  erst  seit  6 Tagen  im  Dienste  stehende 
Kammermädchen  der  gnädigen  Frau  ein.  Den  Wachtmeister 


369 


sehen  und  auf  und  davon  gehen,  war  eins;  der  Wachtmeister 
und  die  Soldaten  stürmten  hinterher.  Das  Kammermädchen 
wurde  erwischt  und  entpuppte  sich  als  der  gesuchte  De- 
serteur, der  sofort  wie  er  ist  in  seinen  Weiberkleidern  in 
Garnisonarrest  geführt  wird.  ^ladame  Poteili  soll  geschworen 
haben,  nie  wieder  ein  Kammermädchen  aufzunehmen,  ehe  sie 
nicht  genau  weiss,  ob  es  auch  ein  Kammermädchen  ist.“ 

Es  ist  ohne  weiteres  klar,  dass  das  Anlegen  von  Weiber- 
kleidern auch  von  einem  völlig  normalen  Soldaten  angewandt 
werden  kann,  um  die  Spur  zu  vertuschen.  Zahlreicher  übrigens, 
wie  die  weiblich  gearteten  Männer,  die  vom  Militär  fliehen, 
sind  — wie  wir  noch  hören  w'erden  — die  männlich  gearteten 
Frauen,  die  sich  verkleiden,  um  Soldaten  zu  werden. 

Wie  in  dem  letztgenannten  Beispiel,  so  kann  auch  bei  Ver- 
brechen und  Vergehen  gegen  das  Eigentum  die  Ver- 
kleidung sowohl  die  Ursache  als  auch  — und 

das  dürfte  häufiger  Vorkommen  — ein  Mittel  zur 
Erleichterung  der  Tat  sein.  Für  beides  wiederum  einige 
Vorgänge  aus  dem  Leben;  „Eineo  ’ schweren  Vertrauens- 
bruchs hat  sich  der  Diener  Eugen  B.  schuldig  gemacht,  der 
sich  unter  der  Anklage  des  Diebstahls  vor  der  ersten  Ferien- 
strafkaramer  des  Landgerichts  I zu  verantworten  hatte.  B; 
stand  seit  kurzer  Zeit  in  den  Diensten  des  Kommerzienrats 
B.,  als  dieser  mit  seiner  Familie  eine  Reise  nach  dem  Süden 
■unternahm,  ohne  den  Angeklagten  mitzunehmen.  Er  verlebte 
nun  beschauliche  Tage,  von  häufigen  Vergnügungen  unterbrochen. 
Am  7.  März  sollte  ein  Maskenball  in  einem  Hotel  statt- 
finden. Der  Angeklagte  hatte  das  Verlangen,  daran  teilzu- 
nehmen, aber  keine  Mittel,  sich  eine  so  kostbare  Maskengarde- 
robe leihen  zu  können,  wie  er  sie  zu  haben  wünschte.  Da  kam 
er  auf  eine  verwegene  Idee.  Die  Hausdame,  die  in  Abwesen- 
heit der  Frau  Kommerzienrätin  den  Hausstand  führte,  hatte 
den  Schlüssel  zum  Kleiderschrank  in  Verwahrung.  Der  Ange- 
klagte wollte  auf  dom  Maskenball  als  elegante  Dame  auftreten. 
In  Abwesenheit  der  Hausdame  nahm  er  den  zum  Kleiderschrank 
gehörigen  Schlüssel  fort,  öffnete  den  Schrank  und  nahm  unter 
dem  Inhalt  eine  Auslese  vor.  Es  waren  nicht  die  schlechtesten 


Uirschleld,  Die  Transvestiten. 


24 


Stücke,  die  er  aussuchte  und  mit  auf  sein  Zimmer  nahm.  Als 
er  einen  der  kostbaren  Spitzenröcke  anprobierte,  zerriss  dieser. 
Der  Angeklagte  brachte  ihn  nach  dem  Aufbewahrungsort  zu- 
rück, die  übrigen  Sachen  brachte  er  nach  der  Wohnung  eines 
Freundes,  des  Masseurs  D.,  wo  er  sich  auch  am  Abend  des 
Maskenballes  ankleidete.  Nach  durchschwärmter  Nacht  zog  er 
sich  wieder  in  der  Wohnung  seines  Freundes  um  und  Hess  die 
Damenkleider  dort.  Nach  einigen  Tagen  entdeckte  die  Haus- 
dame, dass  die  Kleider  fehlten.  Sie  machte  der  Kriminalpolizei 
Anzeige.  Als  ein  Beamter  den  Angeklagten  verhörte,  gab 
dieser  an,  wo  er  die  Kleider  gelassen  und  wozu  er  sie  benutzt 
hatte.  Man  liess  die  Garderobe  holen.  Die  Kleider  sahen  bös 
aus,  sie  waren  teilweise  zerrissen  und  be- 
schmutzt. Der  Angeklagte  entschuldigte  sich  vor  Gericht 
damit,  dass  er  auf  dem  Maskenball  angetrunken  gewesen  sei 
und  in  diesem  Zustande  die  Kleider  nicht  so  habe  in  Acht 
nehmen  können,  wie  er  es  gewollt.  Durch  die  Beweisaufnahme 
wurde  festgestellt,  dass  die  Sachen  einen  Wert  von  über  2000 
Mark  gehabt  hatten  und  nun  fast  wertlos  geworden  waren. 
Als  der  Staatsanwalt  eine  Gefängnisstrafe  von  drei  Wochen 
wegen  Diebstahls  beantragt  hatte,  erhob  der  Angeklagte  den 
Einwand,  dass  er  doch  unmöglich  wegen  Diebstahls  verurteilt 
werden  könne,  denn  er  habe  doch  nicht  die  Absicht  gehabt,  die 
Kleider  zu  behalten.  Nur  aus  Nachlässigkeit  habe  er  verab- 
säumt, diese  rechtzeitig  wieder  an  Ort  und  Stelle  zu  bringen. 
Seiner  Ansicht  nach  könne  er  nur  wegen  Sachlic- 
schädigung  verurteilt  werden.  Der  Gerichtshof  trat 
dieser  Ansicht  bei.  Es  liege  kein  Diebstahl,  sondern  Sachbe- 
schädigung vor  und  deshalb  sei  der  Angeklagte  mit  einer  Ge- 
fängnisstrafe von  4 Monaten  zu  belegen,  denn  seine  Hand- 
lungsweise erfordere  eine  strenge  Sühne.  (Jhb.  V,  1196.) 

„Der  19  Jahre  alte  Kellner  Wilhelm  Hans  Julius  Sch.  ist 
wmgen  Diebstahls  angeklagt;  er  räumte  die  ihm  zur  Last  ge- 
legten Straftaten  reumütig  ein  und  bittet  um  milde  Strafe. 
Der  Staatsanwalt  beantragt  wegen  dreier  einfacher  Diebstähle 
10  Monate  Gefängnis  und  2 Jahre  Ehrverlust;  der  Gerichtshof 
erkennt  auf  8 Monate  Gefängnis,  rechnet  dem  Angeklagten  aber 
6 Wochen  auf  die  erlittene  Untersuchungshaft  an.  Der  Ange- 


371 


klagte  kielt  sich  im  Oktober  vorigen  Jahres  in  Hamburg  auf, 
um  sich  eine  Stelle  auf  einem  Schiffe  zu  suchen;  er  logiert  bei 
Leuten,  zu  denen  ihn  sein  auswärts  wohnender  Vater  gebracht 
hatte,  der  auch  sein  Logisgeld  bezahlte.  Eines  Tages  fand  Sch. 
in  einem  Schranke,  der  in  seinem  Zimmer  stand,  zwei  Spar- 
kassenbücher über  2700  Mk. ; er  nahm  diese  Bücher  heraus  und 
hob  in  mehreren  Raten  eine  Summe  von  ungefähr  500  Mk.  bei 
der  Sparkasse.  Für  dieses  Geld  kaufte  er  sich 
Frauenkostüme,  die  er  anzog  und  damit 
auf  die  Strasse  ging.  Der  Angeklagte  ist  anschei- 
nend ein  abnorm  veranlagter  Mensch,  der  die  eigentümliche 
Neigung  hat,  sich  wie  ein  Frauenzimmer  zu  kleiden  und  in 
dieser  Kleidung  umherzustreifen.“  (Jhb.  V,  1185.) 

Von  einem  weiblichen  Seitenstück  zu  diesen  Männern  ist 
in  folgendem  Bericht  aus  dem  Jahre  1898  die  Rede:  „Eine  Ver- 
lobung, die  in  ihrer  Art  vereinzelt  dastehen  dürfte,  hat  eine 
Beamtenfamilie  in  grosse  Bestürzung  versetzt.  Vor  kurzem 
machte  die  17jährige  Tochter  auf  einem  Balle  die  Bekannt- 
schaft eines  jungen  Seemannes,  der  durch  seine  schmucke  Uni- 
form und  seine  angenehmen  Manieren  sofort  ihr  Herz  gewann. 
Der  hübsche  Matrose  war,  wie  er  erzählte,  auf  längere  Zeit 
beurlaubt.  Nach  einigen  Wochen  schon  willigten  die  Eltern 
in  eine  Verlobung,  die  auch  regelrecht  bei  Musik  und 
Tanz  gefeiert  wurde.  Eines  Tages  war  der  Seemann  verschwun- 
den. Als  sich  die  verlassene  Braut  an  Verwandte  wendete,  von 
denen  der  Bräutigam  früher  gelegentlich  gesprochen  hatte,  er- 
fuhr sie  zu  ihrer  grenzenlosen  Ueberraschung,  dass  der  Auser- 
wählte ihres  Herzens  gar  kein  Mann,  sondern  weiblichen  Ge- 
schlechts sei.  Da  das  junge  ^lädchen  hieran  nicht  glauben 
wollte,  wurde  ein  Zusammentreffen  mit  dem  Bräutigam,  der 
Berlin  noch  gar  nicht  verlassen  hatte,  ermöglicht.  Hier  er- 
schien der  Bräutigam,  der  keine  Ahnung  hatte,  wer  ihn  er- 
wartete, in  weiblicher  Kleidung.  Wie  sich  jetzt  herausgestellt 
hat,  ist  der  Verlobte  derselbe  weibliche  Matrose,  der,  wie 
jüngst  berichtet  wurde,  einen  Schneidermeister  im  Norden 
mit  zwei  Matrosen  - Anzügen  prellte.  Der 
Person  sieht  man  allerdings  kaum  an,  dass  sie  zu  Evas  Ge- 
schlecht gehört.  Männliche  Gesichtszüge,  kurzgeschnittenes 

24* 


Haar  erleichtern  die  Maskerade  ganz  bedeutend.  Die  Eltern 
sind  dem  Treiben  ihrer  Tochter  gegenüber  völlig  machtlos." 

Von  Verbrechern  a 1 1 e r A r t , die  in  Frauenkleidern  aui- 
treten,  um  leichter  an  ihi-  Ziel  zu  gelangen,  sind  in  der  Krimi- 
nalgeschichte eine  ganze  Heihe  verzeichnet.  Schon  Ilarmodius 
und  Aristogeiton  verkleideten  sich  als  Tänzerinnen  und  er- 
dolchten so  den  Tyrannen  Hipparchos.  Im  Jahre  1807  erregte 
in  England  ein  Gauner  grosses  Aufsehen,  der  sich  in  Damen- 
kleidung  bewegte  und  insbesondere  in  Postwagen  bei 
vornehmen  Herren  Diebstähle  ausführte,  nachdem  er  die -be- 
treffenden Opfer  zu  allerlei  Liebenswürdigkeiten  und  zärtlichen 
Annäherungen  veranlasst  hatte.  Vor  einigen  Jahren  wurde  aus 
Kopenhagen  folgendes  Vorkommnis  mitgeteilt:  „In  einem  hie- 
sigen Verein  wurde  dieser  Tage  ein  grosser  Maskenball  veran- 
staltet. Unter  den  Anwesenden  zeichnete  sich  besonders  eine 
als  Pierette  kostümierte  deutsche  Dame  durch  ihre  Schönheit 
und  Anmut  aus.  Die  Herren  wetteiferten  um  einen  Tanz  mit 
der  entzückenden  Dame.  Prüde  war  die  schöne  Pierrette  nicht, 
denn  sie  erwiderte  ^ede  Liebkosung  und  drückte  ihre  Tänzer 
sehr  zärtlich  an  sich.  Die  vielen  Eroberungen  der  Pierrette  er- 
regten jedoch  die  Eifersucht  der  anderen  Damen,  von  denen 
eine,  die  das  Treiben  jener  scharf  beobachtete,  bald  die  unlieb- 
same Entdeckung  machte,  dass  die  deutsche  Dame  während  de> 
Tanzes  die  Brusttaschen  der  Herren  unter- 
suchte und  sich  ihre  Brieftaschen  an- 
eignete.  Ueber  diese  Frechheit  entrüstet,  machte  sie  einen 
Polizeiagenten  auf  ihre  Entdeckung  aufmerksam.  Xaclidem 
dieser  sich  von  der  Richtigkeit  der  Sache  überzeugt,  führte  er 
die  junge  Dame  auf  die  Wache,  wo  Pierrette  untersucht  wurde. 
Gross  aber  war  das  Erstaunen  der  Polizei,  als  die  schöne 
Deutsche  sich  als  ein  Mann,  ein  Buchbindergesellc  namens  Alois 
Embusch  entpuppte.  Man  fand  in  seinem  Besitz  mehrere  Port».'- 
monnaies.  Er  gestand,  eine  ganze  Reihe  Taschendieb 
stähle  verübt  zu  haben.  Der  junge  Mann  wird  sich  nun 
wohl  auf  eine  längere  Gefängnisstrafe  gefasst  machen  müssen.“ 
(Jhb.  V,  1191.) 

In  der  Berliner  Gerichtskorrespondenz  vom  2.  Febru.ir 
1892  findet  sicL  folgender  Bericht:  Wegen  Diebstahls  unil 


373 


Körperverletzung  stand  gestern  der  Hausdiener  Franz  Fröhlich 
vor  der  zweiten  Strafkammer  hiesigen  Landgerichts  I.  Der  An- 
geklagte, dessen  Gesicht  ganz  weibliche  Züge  zeigt  und  dessen 
Haar  auch  in  langen  Locken  auf  die  Schulter  fällt,  macht  ein 
Gewerbe  daraus,  in  Frauenkleidern  die  Strassen  Berlins  zu 
durchstreifen  und  in  dieser  Verkleidung  Ge- 
legenheit zu  Diebstählen  und  anderen 
Straftaten  zu  suchen.  Eines  Abends  hatte  er  sich 
wieder  als  Dame  kostümiert  und  seine  schöne  Gestalt  erregte 
die  Aufmerksamkeit  eines  Schiffers,  der  sich  an  die  Dame  her- 
anschlängelte imd  ihr  seine  Begleitung  anbot.  Der  Angeklagte 
fand  nun  Gelegenheit,  dem  freundlichen  Begleiter  das  Porte- 
monnaie zu  stehlen,  und  als  dieser  den  Verlust  bemerkte  und 
seiner  Begleiterin  den  Diebstahl  auf  den  Kopf  zusagte,  schlug 
dieselbe  mit  solcher  Wucht  auf  den  armen  Schiffersmann  ein, 
dass  dieser  schon  durch  die  Gewalt  solcher  Fäuste  die  Ueber- 
zeugung  gewann,  dass  hier  keine  Vertreterin  des  zarten  Ge- 
schlechts vor  ihm  stände.  A.uf  sein  Hilfegeschrei  wurde  der 
Angeklagte  festgenommen  und  der  Gerichtshof  verurteilte  ihn 
gestern  zu  zwei  Jahren  sechs  Monaten  Zuchthaus. 

Am  8.  Mai  1908  wurde  aus  Paris  folgender  Vorfall  gemeh 
det:  „Seit  einiger  Zeit  war  der  Pariser  Kriminalpolizei  ein 
merkwürdiges  Paar  aufgefallen.  Eine  sehr  elegant  gekleidete 
Dame  besuchte  täglich  in  den  Mittagsstunden  in  Begleitung 
einer  Amme,  die  ein  Baby  auf  dem  Arme  trug,  die  grossen  Ge- 
schäfte und  Warenhäuser.  Nach  einiger  Zeit  betraten  beide 
wieder  die  Strasse,  ohne  etwas  gekauft  zu  haben.-  Da  gerade 
in  den  letzten  Wochen  in  Paris  Ladendiebstähle  mit  grösstem 
Raffinement  ausgeführt  wmden,  ordnete  der  Chef  der  Pariser 
Kriminalpolizei  an,  die  Verdächtigen  nicht  aus  den  Augen  zu 
lassen.  Die  Beamten  taten  ihre  Schuldigkeit  und  die  Beobach- 
timgen  ergaben  ein  überraschendes  Resultat.  Die  Beamten  be- 
merkten, wie  die  Dame  mit  der  Amme  in  einem  Hause  der 
Rue  Frangois  I.  verschwand.  Man  kundschaftete  die  Wohnung 
aus,  in  die  sie  sich  begeben  hatten  und  verschaffte  sich  bald 
darauf  gewaltsam  Zutritt  zu  dem  Quartier.  In  der  kleinen 
und  dürftig  möblierten  Wohnung  fanden  die  Geheimpolizisten 
zwar  die  Dame  wieder,  aber  statt  der  Amme  einen 


374 


Mann.  Die  Verdächtigen  wurden  verhaftet;,  im  Polizeiprä- 
sidium konstatierte  man,  dass  die  elegant  gekleidete  Dame 
eine  mehrfach  wegen  Diebstahls  bestrafte  Frau  Hortense  Zelter 
ist.  Ihr  Partner,  der  in  Verkleidung  als  Amme  auf  Diebes- 
imd  Beutezüge  ausging,  wurde  als  ein  Arbeiter  L.  Fenerand 
rekognosziert,  der  ebenfalls  bereits  mehrere  Male  mit  dem  Ge- 
fängnis Bekanntschaft  gemacht  hatte.  Bei  einer  eingehenden 
Untersuchung  der  Wohnung  des  diebischen  Paares  wurde  auch 
das  Baby  entdeckt.  Dieses  Baby  bestand  aus  einer  kleinen 
Holzkiste,  deren  abnehmbarer  Deckel  mit  dem  gemalten  Ge- 
sicht eines  kleinen  Kindes  versehen  war.  In  dieser  Kiste  be- 
fanden sich  die  mannigfaltigsten  Diebeswerkzeuge  und  ver- 
schiedene Gegenstände,  die  von  Ladendiebstählen  herrührton. 
Die  beiden  hatten  in  folgender  Weise  operiert:  während  die 
Dame  die  Käuferin  markierte  und  sich  diese  und  jene  Waren 
vorlegen  liess,  benutzte  die  neben  ihr  stehende  männliche  Amme 
die  Gelegenheit,  Diebstähle  auszuführen.“ 

Auch  die  weiblichen  Analoga,  die  ihre  verbrecherischen 
Handlungen  in  Männerkleidern  ausführen,  fehlen  nicht.  In  der 
Familie  des  Medizinalrats  E.  in  Charlottenburg  verkehrte  seit 
einigen  Monaten  ein  junger  Student  der  Medizin,  der  sich  von 
Kaminski  nannte  und  angab,  gebürtiger  Pole  zu  sein.  Vor 
etlichen  Wochen  machte  nun  der  Medizinalrat  die  unangenehme 
Entdeckung,  dass  ihm  mehrere  teure  chirurgische  Instrumente 
sowie  einige  Schmuckgegenstände  von  Wert  abhanden  gekommen 
waren,  und  sein  Verdacht  lenkte  sich  auf  den  jungen  Polen. 
Um  sich  darüber  Gewissheit  zu  verschaffen,  betraute  er  ein 
Privatdetektivbureau  mit  der  Beobachtung,  des  jungen  Studenten. 
Schon  nach  wenigen  Tagen  teilte  ein  Detektiv  dem  erstaunten 
Medizinalrat  mit,  dass  der  angebliche  Pole  eine  Polin  sei  und 
bei  einer  Frau  in  der  Knesebeckstrasse  möbliert  wohne.  In 
Begleitung  des  Medizinalrats  begaben  sich  zwei  Detektivs 
gestern  vormittag  zu  dem  Pseudo-Studenten  und  entlarvten 
ihn  als  Betrügerin.  Von  den  gestohlenen  Schmuck- 
sachen fand  man  nichts  mehr  vor,  wohl  aber  sämtliche  Instru- 
mente. Die  Hochstaplerin,  welche  sich  unter  falschem  Namen 
in  Ch.  aufhielt,  verkehrte  in  Männerkleidung  in  der  besten  Ge- 
sellschaft. (Jhb.  V,  1230.) 


Schon  Whitehead  berichtet  in  den  „Leben,  Taten  und 
Schicksalen  der  merkwürdigsten  englischen  Räuber  und  Pi- 
raten'“*)  von  Räuberinnen,  die  als  Männer  verkleidet  ihre  Ver- , 
brechen  verübten;  so  von  der  unter  Karl  I.  lebenden  Moll  Cut- 
purse,  die  ihre  Diebereien  in  der  Xähe  von  London  ausführte 
und  von  einer  anderen,  die  einst  mit  dem  berüchtigten,  1689 
hingerichteten  Räuber  Thomas  Rumbold  zusammentraf.  Als 
Mann  gekleidet  forderte  sie  seine  Börse.  Es  entspann  sich  — 
so  wird  erzählt  — ein  Kampf,  in  dem  Rumbold  Sieger  blieb. 
Als  er  den  Gegner  an  Händen  und  Füssen  gefesselt  hatte,  um 
seine  Taschen  zu  untersuchen,  war  er  bei  Oeffnung  seines 
Rockes  erstaunt,  in  dem  angeblichen  Manne  ein  Weib  zu  fin- 
den. Die  Virago  erzählte  ihm,  dass  sie  die  Tochter  eines 
Waffenschmiedes  sei.  „In  meiner  Jugend  wollte  mich  meine 
Mutter  zur  Nadel  anhalten,  aber  alle  ihre  Ermahnungen  schei- 
terten an  meinem  kriegerischen  Sinn.  Mit  der  Küche  mochte 
ich  mir  nie  etwas  zu  schaffen  machen,  sondern  hielt  mich  be- 
ständig in  dem  Laden  meines  Vaters  auf  und  freute  mich,  die 
kriegerischen  Instrumente,  welche  er  verfertigte,  zu  handhaben; 
mein  Hauptergötzen  aber  war  es,  wenn  ich  ein  scharfes,  schönes 
Schwert  schwingen  konnte.“  Mit  12  Jahren  nahm  sie  heimlich 
Fechtunterricht,  verheiratete  sich  mit  15  Jahren  mit  einem 
Gastwirte,  lebte  aber  in  unglücklicher  Ehe.  Von  Zeit  zu  Zeit 
unternahm  sie  als  Mann  verkleidet  von  ihrem  Gasthause  aus 
Ausflüge,  um  auf  der  Landstrasse  zu  rauben. 

Viel  zu  schaffen  machte  den  Gerichten  in  West- 
preussen  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  bereits  kurz 
erwähnte  Schwindlerin,  die  sich  Martin  Pieske  nannte, 
in  Wirklichkeit  aber  Martha  Pieske  hiess.  Sie  war 
1860  als  Tochter  des  Rittergutsbesitzers  G.  zu  Gellnitz 
(Kreis  Berent)  geboren;  sie  erklärte,  von  ihren  Eltern  als 
Knabe  erzogen  zu  sein.  Die  Eltern  und  der  Ehemann,  von 
dem  sie  geschieden  war,  sind  tot.  Sie  war  die  Frau  eines 
Offiziers  und  Grossgrundbesitzers,  der  früher  im  Kreise  Pr.- 
Stargard  ansässig  war,  aber  durch  die  tollen  Streiche  seiner 
Frau  von  der  Scholle  vertrieben  wurde.  Frau  Pieske  hatte 

•)  Deutsch  V.  Sporschil,  Leipzig  1834.  Teil  I,  p.  93—96  u.  p.  18^ 
bis  189.  Vgl.  auch  Dühreu-Bloch,  England  p.  59  ff. 


von  jeher  eine  besondere  Vorliebe,  als  Mann  zu  gehen.  Ihre 
Abenteuer  haben  in  Danzig  und  in  der  Provinz  viel  Ge- 
sprächsstorf  geliefert,  aber  sie  auch  sehr  oft  mit  dem  Straf- 
gesetz in  Widerspruch  gebracht.  Als  schliesslich  ihr  Ver- 
mögen verbraucht  war,  sank  sie  mehr  und  mehr  und  kam 
ins  Gefängnis,  später  ins  Zuchthaus  und  kaum  entlassen, 
immer  wieder  ins  Zuchthaus.  Nach  einem  schwer  bewegten 
Leben  fand  man  sie  auf  einem  Dorfe  wieder.  Sie  war  einem 
Bauern  monatelang  ein  treu  ergebener  und  fleissiger  Knecht 
gewesen,  als  sie  es  sich  gelüsten  Hess,  ihre  Kunstfertigkeit 
auf  dem  Klavier  zum  besten  zu  geben.  Dadurch  erweckte  sie 
Verdacht,  und  die  Folge  war  ein  weiteres  Umherirren 
Ihre  Verbrechen  waren  Diebstähle.  Betrügereien  und  Schwin- 
deleien. Einer  der  letzten  Fälle  war  der  folgende;  „Herr 
Pieske".  das  bekannte  Mannweib  — wir  geben  den  Go- 
richtsverhandlungsbericht  — stellte  sich  heute  wieder 
einmal  in  Männerkleidern  und  Schirmmütze  der  Elbinger 
Strafkammer  vor.  Sie  hat  vdele  Tage  ihres  Lebens  Gefängnis- 
und  Zuchthauskost  genossen.  Zuletzt  ist  Frau  Pieske  von 
der  Danziger  Strafkammer  wegen  verschiedener  Betrügereien, 
die  sie  in  Danzig  und  Pr.-Stargard  verübt  hat.  wieder  zu 
3 Jahren  Zuchthaus  verurteilt  worden.  Wir  haben  damals 
über  „Herrn  Pieske“  und  seinen  abwechslungsreichen  Leliens- 
lauf  Näheres  erzählt.  Bevor  „Herr  Pieske“  nach  Eli)ing 
kam.  war  er  vom  16.  September  bis  Januar  d.  Js.  bei  Hrrrn 
Fabian  in  Kalthof  als  Knecht  tätig  gewesen.  Weil  dc''t'n 
Besitzung  niederbrannte,  verlor  „Herr  Pieske"  seine  Stellung 
und  geriet  aus.  Not  wieder  auf  die  Bahn  des  Verbrechens. 
Vielen  Lesern  sind  die  Taten  des  „Herrn  Pieske",  der  sieli 
unter  allerlei  märchenhaften  Erzählungen  bei  dem  Schuh- 
macher Friedrich  Mater  Unterkunft  zu  verschaffen  wusste, 
gewiss  noch  in  Erinnerung.  Am  21.  Januar  besuchte  Pieske 
den  Schuhmacher  Franz  Hoffmann. . um  auch  diesen  mit  B«s 
zug  auf  die  vermeintliche  reiche  Erbschaft  zur  Hergabe  von 
Essen  und  Nachtquartier  zu  bestimmen.  Hoffm.ann  hat  sich 
dann  über  den  Verbleib  der  Erbschaft  abgemüht  und  schliess- 
lich stellte  sich  alles  wieder  als  Schwindel  heraus.  „Herr 
Pieske“  bekam  eine  Zusatzstrafe  von  1 Jahr  Zuchthaus  und 


150  Mark  Geldstrafe  oder  20  weitere  Tag  Zuchthaus  zu- 
diktiert.“ (Jhb.  V.  1206.) 

Die  letzte  Notiz,  die  ich  über  die  Pieske  gefunden,  ist 
aus  dem  Konitzer  Tageblatt  vom  18.  Oktober  09,  in  der 
es  heisst;  .,Als  Frau  entpuppt  hat  sich  der  angebliche  Ver- 
walter Martin  Pieske  aus  Seilinen,  Kr.  Labiau  (Ostpr.),  der 
wegen  Zechprellereien  festgenommeii  wurde.  Martin  ver- 
wandelte sich  bei  näherer  Feststellung  in  eine  Marta,  und 
diese  gab  an,  schon  seit  ihrer  Jugend  mit  behördlicher  Er- 
laubnis stets  5Iännerkleidung  getragen  zu  haben.  Sie  hat 
auch  ein  männliches  Aussehen  und  ist  50  Jahre  alt.“ 

Ein  Seitenstück  zur  Pieske  ist  in  Süddeutschland  die 
Notburga  Kerndl.  Ueber  ihren  letzten  Termin,  der  im  Juni 
1909  stattfand,  heisst  es  in  einem  Gerichtsbericht: 

,,Auf  der  Sitzungsliste  des  Landgerichts  II  in  München 
war  zu  lesen:  Notburga  Kerndl  von  Wörnsmühle  wegen  Be- 
trugs. Der  Angeklagte  der  eben  beendeten  Sache  wird  durch 
einen  Schutzmann  abgeführt  und  der  Gerichtsdiener  ruft; 
,.Notburga  Kerndl  eintreton!“  Festen  Schrittes  kommt  ein 
stämmiger  Kamerad  zur  Tür  herein.  Die  Notburga  erscheint 
nämlich  in  grauer  Lodenhose  und  brauner  Joppe,  das  grüne 
Jägerhütl  hält  sie  in  der  Hand.  In  der  Brusttasche  steckt 
eine  Tabakspfeife  und  aus  dem  Hosensack  schaut  das  Schmei- 
Glasl  heraus.  ..Sie  sind  die  Notburga  Kerndl?“  fragt  der 
Vorsitzende.  ..Jawohl“,  anwortete  die  Angeklagte  und  nimmt 
auf  der  Anklagebank  Platz.  Dem  Gericht  fällt  die  Tracht 
der  Angeklagten  nicht  weiter  auf.  Die  Notburga,  die 
nun  50  Lenze  zählt,  ist  vor  Gericht  schon 
13  m a 1 erschienen.  Seit  ihrem  20.  Lebensjahre  treibt 
Notburga  sich  in  IMännerkleidung  im  ba5’rischen  Oberlande 
umher.  Sie  verdingte  sich  nie  als  Dienstmagd,  sondern  immer 
als  Knecht  und  arbeitet,  wie  die  Bauern  sagen,  für  zwei. 
Sie  nennt  sich  nicht  Notburga,  sondern  Jakob  Kerndl, 
in  der  Miesbacher  Gegend  ist  sie  unter  dem  Namen  „der 
Hackl“  bekannt,  alle  Männergewohnheiten  sind  ihr  eigen. 
Sie  ist  sehr  trinkfest.  15  bis  18  ‘Glas  Bier  sind  ihr  ein  Spass; 
sie  stellt  ihren  Mann  beim  Kartenspiel  wie  auf  der  Kegel- 
bahn. Auch  beim  Fingerhakeln  hat  sie  schon  manchen  Sieg 


378 


über  den  Gegner  davongetragen;  das  Schmalzlerglasl  und 
die  Tabakspfeife  sind  ihr  unentbehrlich.  Am  „Kammer- 
fenstcrl“  stellt  Notburga  zur  rechten  Zeit  sich  ein  und  in 
früheren  .Jahren  hat  sie  mancher  Dorfschönen  ewige  Treue 
geschworen.  .Jetzt  stand  Notburga  wieder  wegen  Zech- 
prellerei vor  Gericht.  Am  19.  Februar  kehrte  *feie  im  Gast- 
hause zum  Wendelstein  in  Miesbach  ein,  trank  neun  Halbe 
Bier,  liess  sich  Geräuchertes  und  Würste  vorsetzen  und 
schmauchte  zum  Schlüsse  einige  Zigarren.  Als  die  Kellnerin 
um  die  Polizeistunde  herum  die  Bezahlung  verlangte,  meinte 
die  Maid:  „Heut  is  a Tag,  wo  ma  koa  Geld  hat,  es  gibt 
aber  a Tag,  wo  ma  a Geld  hat!“  Am  anderen  Tage  wollte 
Notburga  zahlen,  sie  liess  auch  als  Pfand  eine  wertlose  Uhr- 
kette zurück.  Notburga  ging  und  kam  nicht  mehr,  sie  liess 
die  Kellnerin  mit  2,17  Mk.  aufsitzen.  Auf  die  Frage  des 
Vorsitzenden,  warum  sie  dmmer  noch  in  Männerkleidung  gehe, 
erzählte  die  Notburga  Kerndl,  das  Mannsbilderhütl  mit  dem 
Spielhahnstoss  zwischen  den  Händen  drehend:  „Dös  tua 
i scho  sitta  mehr  als  dreissig  Jahr,".  Wia  i no  a 
jungs  Madl  gwest  bin,  hat  amal  a Bursch  von  mir  w'as 
woll’n;  kinnas  Eahna  scho  denka,  was.  I hab  eahm  abblitz’n 
lass’n,  gibt  mir  der  Loder  a Datz’n  (Schlag  ins  Gesicht), 
dass  mia  ’s  Fuia  vor  dö  Aug’n  ummagflog’n  is.  Seit  dera 
Zeit  mag  i koa  Mannsbild  mehr.  Dass  i von  dena  a Ruah 
hab,  desw'eg’n  hab  i dö  ganz  Zeit  her,  is  scho  mehr  wia 
dreissg  Jahr,  nix  wia  Maimsbildergwand  trag’n.“  Wegen  Be- 
trugs im  Rückfalle  wmrde  die  tapfere  Notburga  diesmal  zu 
drei  Monaten  Gefängnis  verurteilt.  Sie  will  die 
Strafe  gleich  antreten,  „um  die  Hoamroas  zu  sparen“. 

Gefährlicher  wie  die  beiden  letztgenannten  ist  eine 
Schwindlerin,  die  in  Melbourne  ihr  Unwesen  treibt.  In  einem 
Bericht  vom  20.  VI.  09  wird  mitgeteilt:  „Amy  Bock,  die 
schon  unzähligemal  in  Australien  und  Neuseeland  des 
truges  überführt  ist,  wurde  jetzt  wieder  in  Port  Molyneux 
in  Neuseeland  verhaftet.  Unter  dem  Namen  „Perey  Carol 
Redwüod“  hielt  sie  sich  in  einer  Pension  in  Port  Molyneux 
auf,  und  da  sie  den  Leuten  in  dieser  Pension  zu  verstehen 
zu  geben  wusste,  dass  sie  ein  „Neffe  des  Erzbischofs  JUhI- 


379 


wood“  sei,  wurde  sie  natürlich  mit  der  grössten  Zuvor- 
kommenheit behandelt.  „Redwood“  verlor  keine  Zeit,  seine 
Gunstbezeugungen  Miss  Ottaway,  der  Tochter  der  Pensions- 
besitzerin, zuzuwenden;  schliesslich  machte  er  ihr  einen 
Heiratsantrag  und  wurde  auch  als  Freier  angenommen.  Die 
Eltern  der  glücklichen  Braut  erhielten  wenige  Tage  nach  der 
Verlobung  einen  Brief,  der  anscheinend  von  der  Mutter  des 
„Bräutigams“  kam,  und  in  dem  diese  schrieb,  dass  ihr  Sohn 
reichliche  Mittel  besässe  die  sie  an  seinem  Hochzeitstage 
noch  verdoppeln  werde,  und  dass  bei  ihrem  Tode  noch 
einiges  mehr  folgen  würde.  Ein  anderer  Brief,  der  auf  dem 
Briefpapier  einer  Behörde  von  Auckland  geschrieben  war, 
teilte  den  Brauteltern  mit,  dass  „Redwmod“  als  Sekretär 
mit  einem  Gehalt  von  140  M.  pro  Woche  angestellt  worden 
sei.  Dann  fuhr  „Redwood“  mit  der  Braut  nach  Dunedin  und 
kaufte  ihr  dort  Schmuck  im  Werte  von  3400  M. ; um  hierfür  be- 
zahlen zu  können,  verpfändete  „er“  ein  „Gut  im  Norden“, 
über  dessen  Besitz  er  sich  durch  Dokumente  auszuwmisen  ver- 
mochte. Kurz  darauf  fand  die  Hochzeit  statt  — ein  glän- 
zendes Fest,  über  das  lauge  Berichte  in  den  Zeitungen  er- 
schienen. Indessen  hatte  sich  doch  ein  leiser  Verdacht  gegen 
den  so  höflichen  „Bräutigam“  erhoben,  ein  Familienrat  wurde 
abgehalten,  dann  wurde  ein  Detektiv  hinzugezogen,  und 
dieser  brachte  dann  Licht  in  die  Sache.  „Ah“,  sagte  er,  als 
er  „Redwood“  erblickte,  ..ich  habe  mir  das  gleich  gedacht, 
Amy  Bock!  Das  Spiel  ist  aus,  Amy!“  „All  right“,  er- 
widerte der  falsche  Bräutigam  gleichgültig.  Zu  denjenigen, 
die  an  die  Verhaftete  noch  finanzielle  Ansprüche  haben,  ge- 
hören ausser  den  Juwelieren,  den  Personen,  denen  das  „Gut 
im  Norden“  verpfändet  wmrde  und  den  Eltern  der  „Braut“ 
auch  noch  eine  junge  Dame,  die  Tochter  einer  früheren 
Wirtin,  die  „Redwood“  über  800  M.  vorgeschossen  hatte, 
um  einen  Taucher,  der  die  von  „Redwood“  beim  Bootfahren 
in  der  See  verlorenen  Gegenstände,  wie  ein  Portemonnaie, 
Schmucksachen  und  Banknoten,  wiederentdecken  sollte,  zu  be- 
zahlen.“ 

Der  Heir  atsschw'indel  ist  ein  Verbrechen,  auf  das  sich 
Frauen  in  Männergestalt  besonders  gern  verlegen.  In  den  Ge- 


380 


richtsarchiven  von  Taunton.  der  Hauptstadt  der  englischen 
Grafschaft  Somerset,  findet  sich  ein  Bericht  aus  dem  No- 
vember 1746,  demzufolge  eine  Frau  Namens  Mary  Hamilton 
angeklagt  war,  weil  sie  sich  mit  vierzehn  verschiedenen 
Frauen  hatte  trauen  lassen.  Ihre  letzte  „Gattin"  war  Mary 
Price,  die,  nachdem  sie  die  gegen  sie  verübte  Täuschung  ent- 
deckt hatte,  ihren  weiblichen  Gatten  verhaften  liess; 
sie  legte  gegen  ihn  vor  Gericht  Zeugnis  ab.  Der  Fall  war 
so  ungewöhnlich,  dass  die  richterlichen  Beamten  kaum 
wussten,  welche  Strafe  sie  verhängen  sollten.  Sie  waren  je- 
doch einstimmig  der  Meinung,  dass  die  Gefangene  „eine 

ungewöhnlich  ruchlose  Schwindlerin“  wäre.  Als  solche  wurde 
sie  dazu  verurteilt,  „öffentlich  in  Taunton  Glastonbury,  Wells 
und  Shipton  Mailet  gepeitscht  und  sechs  Monate  eingekerkert 
zu  werden“,  was  eine  relativ  mässige  Strafe  für  jene  Zeit 
strenger  Urteile  bei  den  leichtesten  Vergehen  war.  (Jhb.  V. 
1189.)  Mantegazza*)  erzählt,  dass  am  5.  Juli  1777  in 

London  eine  Frau  zu  6 Monaten  Kerker  verurteilt  wurde,  die 
sich  als  Mann  verkleidet  d r e i m a 1 mit  versoiiieiieneu 
Frauen  verheiratet  hatte.  Ein  gleichfalls  hierher  gehöriger 
Fall  von  Heiratsschwindel  entstammt  einer  Zeitung  in 
Baltimore;  „Bekleidet  mit  einem  schwarzen  llerrenanzug, 
zierlichen  Halbschuhen  und  einem  modischni  Strobhut 
wurde  heut  Morgen  ..Herr  Herrnan  S.  Mood“,  ('ig('ii1  licli 
Fräulein  Lola  A.  Sawyer.  im  Polizeigericht  vorgefiihrf . Sie 
soll  unter  Vorspiegelung  falscher  Tatsachen  sich  Geld  ver- 
schafft haben.  Sechs  .Jahre  lang  w u s s t e F r ä u - 

lein  Sawyer  s i c h als  M a n ii  a u s z u g e b ('  n.  Sie 

spielte  ihre  Rolle  ausgezeichnet,  rauchte  Zigaretten,  bi'- 
teiligte  sich  an  männlichem  Sport,  kurz  Niemand  ahnte,  dass 
sich  uitter  den  Herrenkleidern  ein  weiblichi's  Wo'sen  verbarg. 
Erst  durch  ihre  Heirat  mit  Frau  Ernestine  L.  Ilauck,  einer 
35  Jahre  alten  AVitwe  mit  zwei  Kindern,  wurch'  ihr  wirk- 
liches Geschlecht  ruchbar.  ..Herr  Wood"  hatte  bei  lier 
Witwe  mehrere  Monate  gewohnt  und  vor  einer  Woche  fand 

•)  Anthropologisch-kulturhibtorische  Studien  über  die  Geschlechta- 
verhältnisse  der  Menschen.  Jena.  p.  98. 


381 


die  Hochzeit  des  sonderbaren  Paares  statt.  Letzte  Nacht  er- 
schien die  jung  verheiratete  Frau  ganz  bestürzt  bei  dem  Rev. 
Anthony  Bilkousky,  welcher  die  Trauung  vor  einer  Woche 
vollzogen  hatte  und  erzählte  dem  Geistlichen,  dass  ihr 
Gatte  nicht  „der  Artikel“  sei,  den  sie  gesucht  habe.  Der 
angebliche  Mann  sei  entweder  geschlechtslos  oder  ebenfalls 
eine  Frau,  jedenfalls  nicht  so  beschaffen,  wie  ihr  verstorbener 
Erster.  Der  Geistliche  setzte  den  Polizeikapitän  McGee  in 
Kenntnis,  welcher  heute  die  Wohnung  des  Paares,  Nr.  719N. 
Eutaw  Str.,  besuchte.  Der  Pseudo-Gatte  behauptete  anfangs 
steif  und  fest,  dass  er  ein  Mann  sei,  seine  Frau  wisse  nicht, 
was  sie  schwätze,  als  aber  der  Polizeikapitän  weitere  ver- 
fängliche Fragen  an  „Herrn  Wood“  richtete,  brach  er  zu- 
sammen und  legte  das  Geständnis  ab,  dass  er  eine  Frau 
sei  und  Lola  A.  Sawyer  heisse.  Sie  stammt  aus  North 
Carolina  und  ist  22  Jahr  alt.  Vor  sechs  Jahren  will  sie  an- 
geblich vergewaltigt  worden  sein.  Sie  gab  einem  Kinde  das 
Leben,  das  jetzt  ihre  Mutter  in  North  Carolina  in  Gewahr- 
sam hat.  Um  ihre  Schande  zu  verbergen,  legte  sie  Männer- 
kleider an  imd  kam  nach  Baltimore.  Hier  hat  sie  in  ver- 
schiedenen Berufen  als  „Mann“  gearbeitet,  ohne  dass  in  be- 
zug auf  ihr  Geschlecht  Verdacht  geschöpft  worden  wäre.  D a 
sie  der  Witwe  während  der  Brautzeit  100 
Strl.  entlockt  hat,  erfolgte  auf  Grund 
dessen  ihre  Verhaftung.“ 

Mehr  um  Erbschafts-  als  um  Heiratsschwindel  handelte 
es  sich  im  Fall  der  Amerikanerin  Alice  Brown.  Der- 
selben war  ein  Legat  von  180  000  Kronen  hinter- 
lassen worden,  das  jedoch  nur  im  Falle  ihrer  Heirat  aus- 
bezahlt werden  sollte.  Obgleich  sie  das  Geld  sehr  gern  in 
ihren  Besitz  bekommen  wollte,  konnte  sie  sich  nicht  ent- 
schliessen,  einen  Gatten  zu  nehmen,  und  sie  traf  mit  einem 
befreundeten  Mädchen  das  Abkommen,  dass  dieses  das  ent- 
gegengesetzte Geschlecht  vorstellen  und  sie  heiraten  sollte. 
Die  Trauung  wurde  richtig  in  New-York  vollzogen,  und  nach 
Vorzeigung  des  Trauscheins  wurde  das  Vermächtnis  ausge- 
zahlt. Die  Täuschung  wurde  erst  entdeckt,  als  die 
Erbin  starb. 


Die  Annahme  liegt  nahe,  dass  diejenigen  Frauen,  die 
sich  das ' Ansehen  von  Männern  geben,  um  sich  an  Frauen 
heranzumachen,  Transvestitinnen  auf  homosexueller  Grund- 
lage sind;  doch  trifft  dies  keineswegs  immer  zu,  so  wenig 
wie  die  ungleich  grössere  Gruppe  von  Männern,  die  sich 
Herren  gegenüber  als  Frauen  gerieren,  stets  gleichgeschlecht- 
lich veranlagt  sind.  Es  wird  dies  namentlich  in  bezug  auf 
diejenigen,  w'elche  sich  für  weibliche  Prostituierte  ausgeben, 
fast  allgemein  angenommen,  doch  kann  es  sich  hier  auch 
ebenso  gut  um  einfache  Transvestiten  oder  — wenn  auch 
wohl  seltener  — um  völlig  normale  Männer  handeln.  In 
Paris  lebte  \iele  Jahre  lang  eine  sehr  bekannte  Kokotte. 
Auf  der  Strasse  von  einem  schweren  Unfall  betroffen,  wmrde 
sie  eines  Tages  in  ein  Krankenhaus  gebracht.  Dort  entdeckte 
man  zu  aller  Ueberraschung,  dass  man  einen  normal  ge- 
bauten Mann  vor  sich  hatte.  Die  Person  hatte  wegen  ihres 
sprudelnden  Temperaments  und  ihrer  rassigen  Schönheit  viele 
Verehrer.  Direkte  Kohabitation  lehnte  sie  stets  mit  der 
Vorgabe  ab,  sie  hätte  die  Menstruation  oder  eine  Entzün- 
dung an  den  Genitalien  oder  aus  irgend  einem  anderen 
Grunde,  wie  dies  als  Prostituierte  verkleidete  Männer  fast  stets 
zu  tun  pflegen.  Diese  Kokotte  lebte  mit  einer  Freundin  zu- 
sammen; beide  waren  unzertrennlich.  In  den  Kreisen  ihrer 
Kolleginnen  und  der  Lebewelt  hielt  man  sie  deshalb  für  eine 
homesexmelle  Frau,  in  Wirklichkeit  war  sie  aber  ein  wcib- 
li ebender  transvestitischer  Mann. 

Zu  eigentlichen  Heiratsschwindeleien,  wie  sie  als  Männer 
verkleidete  Frauen  verüben,  haben  als  Frauen  sich 
gebende  ^länner  weniger  Gelegenheit,  doch  kommt 
auch  dies  gelegentlich  vor,  wie  folgender  Fall,  der  aus  Nord- 
hausen  berichtet  wurde,  zeigt: 

„Auf  ein  durch  die  Zeitung  veröffentlichtes  Heiratsgesuch 
meldeie  sich  eine  junge  heiratslustige  Dame  aus  Dresden,  welche 
ihrer  Angabe  nach  über  ein  Vermögen  von  24  000  Mark  zu 
verfügen  hatte.  Sie  kam  auf  Einladung  nach  B.  und  stellte 
sich  dem  heiratslustigen  jungen  Manne  und  seinen  Eltern 
vor,  präsentierte  auch  die  Wertpapiere  in  Höhe  von  24  000 
Mark.  Sie  blieb  4 Wochen  auf  Besuch  im  Hause  der  zu- 


383 


künftigen  Schwiegereltern  und  gewann  sich  nicht  nur  die 
Liebe  des  Bräutigams,  sondern  auch  durch  ihr  herz  gewinnen- 
des und  doch  dabei  zurückhaltendes  Wesen,  welches  sie  ihrem 
Bräutigam  gegenüber  beobachtete,  die  ganz  besondere  Hoch- 
achtung der  Frau  Schwiegermutter.  Nach  Ablauf  der  vier 
Besuchswochen  wmrde  das  Brautpaar  einig,  das  Aufgebot 
zur  Hochzeit  zu  bestellen;  sie  reisten  zusammen  nach 
Dresden,  der  angeblichen  Heimat  der  Braut,  um  die  zur 
Heirat  erforderlichen  Papiere  zu  besorgen.  Auf  der  Reise 
nach  Dresden  machte  die  Braut  dem  Bräutigam  den  Vor- 
schlag, in  Dresden  die  Wertpapiere  in  Geld  umzusetzen, 
womit  der  Bräutigam  einverstanden  war.  Der  erste  Gang 
in  Dresden  war  denn  auch  der  zu  einem  Bankier,  der  nach 
Durchsicht  der  Wertpapiere  sich  bereit  erklärte,  dieselben  zu 
kaufen.  Der  Bankier  bereitete  die  Zahlungen  und  betrat  da- 
bei auf  kurze  Zeit  das  Nebenzimmer,  was  nicht  besonders 
auffiel.  Bald  darauf  ging  die  Tür  auf,  es  erschienen  mehrere 
Kriminalpolizisten,  welche  das  überraschte  Brautpaar  mit- 
nahmen.  Die  Wertpapiere  rührten  nach  Ausweis  ihrer 
Nummern  von  einem  Diebstahle  her.  Der  beteiligte  Bräuti- 
gam konnte  seine  Unschuld  nachweisen  und  wurde  auf  freien 
Fuss  gesetzt;  die  Braut  aber  wurde  festge- 
halten und  entpuppte  sich  als  verkleidete 
Mannsperson,  welche,  wie  vermutet  wird,  im  Auf- 
träge einer  Diebesbande  versucht  hat,  möglichst  ohne  Auf- 
sehen die  gestohlenen  Wertpapiere  in  Geld  umzusetzen.“ 
Auch  ein  Gerichtsbericht,  den  wür  dem  Echo  de  Chine  in 
Shanghai  vom  25.  II.  07  entnehmen,  gehört  in  diese  Kategorie: 
„Hiu-A-mei,  ein  chinesischer  Taugenichts  aus  Poutong,  26  Jahre 
alt,  wmr  wegen  mehrerer  Verbrechen  in  kontumatiam  zu  einer 
sehr  strengen  Strafe  verurteilt  worden.  Um  sich  dieser  zu  ent- 
ziehen, zog  er  Frauenkleider  an  und  ging  als  Frau.  Doch 
nicht  lange,  so  erkannte  er,  dass  seine  Verkleidung  auch  ein 
vortreffliches  Mittel  sei,  um  einfältige  Gimpel  zu  fangen.  Im 
Einverständnis  mit  seiner  Mutter,  liess  er  sich  einem  chine- 
sischen Schneider,  der  zu  heiraten  wünschte,  als  Gattin  an- 
bieten. Die  Hochzeit  fand  statt.  Damit  der  Betrug  nicht 
schon  in  der  ersten  Hochzeitsnacht  entdeckt  werde,  schützte 


384 


Hiu-A-mei  Krankheit  und  Schmerzen  vor.  Auch  noch  den 
folgenden  Tag  wusste  er  den  Gatten  auf  diese  Weise  hin- 
zuhalten. Länger  jedoch  wollte  sich  der  stürmische  Ver- 
liebte nicht  hinhalten  lassen  und  so  musste  er  in  der 
dritten  Xacht  die  Entdeckung  machen,  dass  seine  Gattin  ein 
Mann  sei.  Der  Schneider  liess  den  Betrüger  verhaften.  Vor 
dem  Unterpräfekten  von  Shanghai  gestand  dieser:  „Als  ich 

fünfzehn  Jahre  war,  lehrten  mich  meine  Eltern  obscöne  Lieder, 
befahlen  mir  die  Haare  wachsen  zu  lassen  und  zu  frisieren. 
Dann  verheirateten  sie  mich  an  einen  gewissen  Sino-tang, 
Koiffeur  zu  Poutong,  mit  dem  ich  während  dreier  Jahre  lebte. 
Darauf  nahm  ich  den  Schneider  zum  Gatten  und  den  Rest 
wisst  Ihr.  Ich  bitte  Euch,  mir  zu  verzeihen,  denn  ich  habe 
in  Unkenntnis  des  Gesetzes  gehandelt  und  der  Fehler  ist 
nicht  auf  meiner  Seite.  Der  Präfekt  bestimmte  als  Strafe 
für  die  Pseudogattin  500  Schläge  auf  die  Fusssohlen,  für 
deren  Mutter  100  Schläge  ins  Gesicht  und  ausserdem  musste 
diese  dem  betrogenen  Gatten  Ming-A-hon  40  Dollars  Busse 
zahlen.  Auch  der  erste  Gatte  von  Hiu-A-mei  vcurde  ver- 
haftet und  ebenfalls  mit  300  Schlägen  auf  die  Fusssohlen 
bestraft.*' 

Sehr  weit  häufiger  kommt  es  vor,  dass  Männer  in  der 
Maske  von  Dirnen  auf  ^lännerfang  ausgehen.  Die  Berliner 
Kriminalpolizei  bewahrt  im  Verbrecheralbum  ungefähr  zwan- 
zig Photographien  von  Individuen  auf,  die  dies  gewerbs- 
mässig tun.  Sie  begnügen  sich  häufig  nicht  mit  dem  ilmeu 
freiwillig  gespendeten  Lohn,  sondern  begehen  Handlungen, 
die  in  das  Gebiet  dessen  fallen  was  in  der  kriminalistischen 
Terminologie  als  Beischlafsdiebstähle  bezeichnet 
wird.  Auch  hier  einige  Beispiele  aus  dem  Leben. 

„Ein  junger  Mann  in  Frauenkleidern 
wurde  in  das  Moabiter  Untersuchungsgefängnis  eingoliefert. 
Der  19jährige  Kellner  Franz  W.  aus  Berlin  liebte  es,  des 
Abends  stets  in  Frauenkleidern  auszugehen.  In  dieser  Ver- 
kleidung lockte  er  Männer  an  und  benutzte  derartige  Ge- 
legenheiten, um  Diebstähle,  Erpressungen  und  dgl.  auszu- 
führen. Am  Freitag  fiel  er  der  Kriminalpolizei  in  die 
Hände.  Im  Polizeipalast  am  Alexanderplatz  wurde  er  zwar 


385 


als  männliches  Individuum  erkannt,  da  es  dort  aber  keine 
besondere  Garderobe  für  Untersuchungsgefangene  gibt,  wurde 
er  in  seinen  Frauenkleidern  nach  Moabit  überführt,  woselbst 
er  sein  Kostüm  natürlich  sofort  mit  einem  Gefangenen- An- 
zuge vertauschen  musste.“  (Jhb.  III.  543.) 

In  Berlin  wurde  ein  Damenimitator,  welcher  sich  nicht 
nur  auf  der  Bühne,  sondern  auch  auf  der  Strasse  in 
Frauenkleidern  zu  bewegen  pflegt,  als  Dieb  verhaftet.  Er 
hatte,  als -Frau  verkleidet,  einen  Herrn  nach  dessen  Wohnung 
begleitet;  dort  klagte  er  über  plötzliches  Unwohlsein,  ver- 
fiel in  Weinkrämpfe  und  entfernte  sich  nach  kurzem  Aufent- 
halt. Unmittelbar  darauf  vermisste  der  Herr  seine  goldne 
Uhr  nebst  Kette  im  Werte  von  mehreren  hundert  Mark. 
Der  Verdacht  der  in  Kenntnis  gesetzten  Kriminalpolizei  war 
durch  die  Umstände,  unter  welchen  der  Diebstahl  ausge- 
führt war,  sofort  auf  die  richtige  Spur  geleitet  worden. 

Ein  junger  Bursche  aus  Mainz,  dessen  Vater  Wein- 
wirt ist,  verschaffte  sich  nach  seiner  Entlassung  aus  der 
Schule  Frauenkleider.  Er  hatte  eine  weibliche  Stimme  und 
seine  Erscheinung  stand  der  Verkleidung  nicht  im  Weg.  Als 
Frau  ging  er  auf  Abenteuer  aus.  Er  richtete  die  über- 
schwenglichsten Liebesbriefe  an  Persönlichkeiten,  die  er  nur 
dem  Nanien  nach  kannte,  besonders  an  Offiziere.  Als  er 
älter  geworden  war,  wuirde  er  noch  dreister.  Er  machte, 
wie  die  „Kl.  Presse“  berichtet,  in  Frankfurt  die  Bekannt- 
schaft eines  reichen  Barons  von  E.,  dem  gegenüber  er  sich 
als  eine  verarmte  Komtesse  v.  S.  ausgab.  Er  spielte  seine 
Rolle  so  vorzüglich,  dass  er  den  Baron  vollständig  be- 
herrschte und  dass  dieser  ihn  auch  reichlich  unterstützte. 
Allen  Annäherungen  des  Barons  wusste  er  geschickt  aus  dem 
AVege  zu  gehen:  er  sei  ein  „anständiges  Mädchen“.  Da  er 
fiber  dem  Baron  gegenüber  auch  sehr  zurückhaltend  in  bezug 
auf  seine  Familienverhältnisse  war,  so  suchte  sich  dieser 
von  anderer  Seite  Klarheit  zu  verschaffen.  Dadurch  wurde 
der  Schwindel  aufgedeckt.  Eines  Tages  verschwand  der  junge 
Mann  wieder  aus  Frankfurt,  ohne  dass  man  wusste,  wohin. 
Sechs  AVochen  später  vuirde  in  Darmstadt  eine  Kellnerin 
wegen  Diebstahls  verhaftet.  Es  war  der  junge  Mann,  der 

Hirschleld,  IMe  Transvestiten.  25 


386 


die  gc\nze  Zeit  in  der  Wirtschaft  bedienstet  war  und  mit 

einem  Unteroffizier  angebandelt  hatte,  der  sich  nun  ver- 

setzen lassen  musste,  weil  der  Spott  seiner  Kameraden  zu 
gross  war.  Seine  letzte  Rolle  spielte  er  in  einem  Prozess, 
dessen  Schauplatz  die  Husarenkaserne  war.  Auch  damals 
stand  der  junge  Mann  mit  Offizieren  auf  einem  sehr  guten 
Fuss;  einem  von  ihnen,  dem  gegenüber  er  sich  als  adelige 
Dame  ausgegeben  hatte,  stahl  er  eine  wertvolle  Brieftasche. 
Keiner  der  Herren  wollte  glauben,  dass  die  Dame,  die  so 
glühende  Liebesbriefe  schreiben  konnte  und  die  sich  bewegte 
wie  eine  Dame  von  Welt,  ein  gewöhnlicher  Schwindler  sei. 
Man  brachte  ihn  für  einige  Zeit  in  die  Irrenanstalt.  Dort 

behielt  man  ihn  aber  nicht,  weil  er  nicht  gefährlich  schien 

und  nur  durch  kleine  Diebstähle  sich  bemerkbar  machte. 
Kaum  war  er  frei,  als  er  sein  altes  Metier  wieder  be- 
gann. Nun  hat  sich  das  Gericht  seiner  angenommen,  in- 
dem es  ihn  verhaften  liess.“  (Mb.  06  p.  198.)  Im  Sommer 
1907  passierte  in  Berlin  folgendes:  „Ein  älterer  wohlsitu- 
ierter Herr  hatte  eine  Reise  nach  Berlin  unternommen,  um 
das  Leben  und  Treiben  der  Gressstadt  zu  studieren.  Ge- 
führt von  seinem  Neffen,  einfem  flotten  Studenten  begab  er 
sich  auf  den  Weg,  um  zunächst  seinen  Wissensdurst  zu  be- 
friedigen und  Stoff  für  die  Berichte  in  der  Heimat  zu 
sammeln,  welche  nun  einmal  von  Frau  und  Kindern,  von 
Freunden  und  Kegelbrüdern  als  ein  unveräusserliches  Recht 
gefordert  werden.  Nachdem  man  die  Museen,  sowie  die 
meisten  anderen  Sehenswürdigkeiten  besichtigt  hatte,  be- 
gab man  sich  in  ein  Weinrestaurant,  um  sich  zu  erfrischen. 
Da  es  gerade  zu  regnen  begann,  betrat  gleichzeitig  mit  ihnen 
eine  feine  junge  Dame  den  Hauseingang,  der  zu  dem 
Restaurant  führt,  um  dort  kurzen  Unterschlupf  zu  finden. 
Graziös  schürzte  die  rotblonde  Schöne  die  Sommerrobe,  unter 
der  sich  dezent  ein  seidener  Volant  hervorstahl  und  dabei  fiel 
ihr  zufällig  der  Schirm  zur  Erde.  Der  biedere  Herr  aus  der 
Provinz  war  einem  kleinen  Abenteuer  durchaus  nicht  ab- 
geneigt. Als  Kavalier  hob  er  schnell  den  Schirm  auf  und 
übergab  ihn  mit  einer  höflichen  Verbeugung  der  Berlinerin. 
Damit  war  die  Bekanntschaft  angeknupft.  Nach  kurzer 


387 


Unterhaltung  kam  man  überein, . den  Tag  durch  ein  kleines 
Souper  zu  beschliessen.  Ein  Auto  führte  die  kleine  Gesell- 
schaft in  ein  vornehmes  Weinrestaurant,  wo  bald  die 
Sektpfropfen  in  einem  verschwiegenen  Separe  knallten.  Die 
Schwüle  in  dem  engen,  dichtverhangenen  Raume  veranlasste 
die  junge  Dame,  ihr  Capothütchen  abzunehmen.  Da  die 
Stimmung  allmählich  recht  hoch  gestiegen  und  man  recht 
nahe  zusammengerückt  war,  wollte  es  das  Unglück,  dass 
sich  eine  Strähne  der  goldblonden  Gretchenfrisur  der  Dame 
in  das  Pincenez  des  älteren  Herrn  verwickelte.  Das  wurde 
zum  Verhängnis.  Denn  beim  Versuch,  sich  loszuhäkeln,  blieb 
zur  grossen  Bestürzung  aller  Beteiligten  die  „ganze  Frisur“ 
an  dem  Glase  des  alten  Herrn  hängen  und  das  lockenge- 
schmückte Haupt  der  Dame  war  plötzlich  in  den  kahl  ge- 
schorenen Kopf  eines  jungen  Mannes  verwandelt.  Darauf  kam 
es  zu  einer  kleinen  Auseinandersetzung,  die  der  Oberkellner 
schlichten  musste.  Dann  einigte  man  sich  schliesslich  dahin, 
den  Damenimprovisator  bis  zur  Strasse  zu  geleiten  und  ihn 
mit  dem  hinreichenden  Fahrgeld  zu  versehen,  damit  er  so 
schnell  wie  möglich  in  einer  Droschke  verschwinden  konnte. 
(Z.  f.  S.  p.  55.)“ 

Selbst  in  Bordellen  sind  solche  Geschlechtsvor- 
6 p i e g e 1 u n g e n festgestellt  w'orden;  so  berichtet  die  Rhei- 
nische Zeitung  (vom  12.  12.  07)  dass  bei  einer  Revision  eines 
solchen  „in  der  Elstergasse  Beamte  der  Sittenpolizei  eine 
elegant  gekleidete  Frauensperson  fanden,  die  seidene  Kleider 
trug,  und  im  Verdacht  stand,  der  gewerbsmässigen  Un- 
zucht nachzugehen.  Die  Beamten  führten  die  Dame  zur 
Wache,  wo  sich  herausstellte,  dass  man  es  mit  einem 

jungen  Manne  in  Damenkleidern  zu  tun  hatte.  Man  stellte 
fest,  dass  es  ein  etwa  zwanzig  Jahre  alter  Kellner  war, 
der  bereits  seit  zwei  Jahren  hier  in  Damenkleidern  sich  aui- 
hält  und  mit  einem  Handtäschchen  versehen  spazieren  ging. 
Der  Kellner  ist  bereits  wegen  Diebstahls  vorbestraft.  Er 
gab  an,  keine  Herrenkleider  tragen  zu  können.“  Im  Oktbr. 
1904  wurde  in  Genua  ein  internationaler  Hochstapler  Renato 
Rivolta  aus  Venedig  dingfest  gemacht,  der  unter  dem 
Namen  und  in  der  eleganten  brillantengeschmückten  Toilette 

25* 


388 


einer  Gräfin  Neri  in  Paris,  Brüssel  und  den  Sammelplätzen 
der  grossen  Welt  Kavaliere,  namentlich  Offiziere  in  sich  ver- 
liebt  gemacht  hatte,  die  er  dann  mit  vielem  Raffinemenx 
ausnützte  und  betrog.  (Mb.  III.  05,  p.  8.) 

Viel  weniger  häufig  kommt  es  vor.  dass  Frauen  männ- 
liche Prostituierte  Vortäuschen,  dass  es  aber  auch  vorkommt, 
dafür  liegen  historische  Belege  vor,  so  erzählte  Seneca  (Contr. 
1.  2)  und  Juvenal  (III.  135)  dass  in  Rom  weibliche  Prostitu- 
ierte als  Jünglinge  verkleidet,  ^länner  anlockten  und  ganz 
dasselbe  berichtet  Dühren-Bloch  aus  der  Sittengeschichte  des 
18.  Jahrhunderts  in  seinen:  „Neuen  Forschungen  über  den 
Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit.“  (Jhb.  VII.  p.  825.)  Auch 
jetzt  sollen  Pariser  Grisetten  in  Männerkleidern  keine  Selten- 
heit sein;  besonders  während  des  Karnerais  tragen  viele 
Herrenanzüge,  so  sah  ich  am  Mardi  gras  (Fastnachtsdienstag) 
1910  mehrere  als  „Apachen“  verkleidet  in  den  Lokalen  von 
Montmartre. 

Um  das  Kapitel  von  den  Beziehungen  zwischen  Ge- 
ichlechtsverkleidung  und  Kriminalität  hier  gleich  zu  er- 
schöpfen. sei  endlich  noch  erwähnt,  dass  auch  bei  allen 
anderen  Straftaten  Verkleidungen  zur  Verdeckung  der  Täter- 
schaft Vorkommen,  sei  es,  dass  das  Verbrochen  selbst  in 
den  Kleidern  des  anderen  Geschlechts  begangen  wird,  oder 
dass  diese,  was  viel  häufiger  ist,  erst  nach  Vollbringung 
der  Tat  angelegt  werden.  Erst  in  dtun  Aufst'lion  errogon- 
den  Prozess  Steinheil  in  Paris  trat  ein  ,iung<'r  SchauspioliT 
auf,  der  an  den  Präsidenten  folgendes  gesclirb'bcn  liattr. 
„Ich  kann  die  Last  der  Verantwortung  niclit  mehr  tragen 
und  tvill  ein  Geständnis  ablegen.  Ich  bin  die  „rote  Frau", 
die  am  Verbrechen  teilnahm.  Ich  hatte  mich  mit  einer 
Perücke  versehen,  die  ich  beim  Verl)rechen  trug.  Jean 
Lefebvre“,  eine  Selbstbezichtigung,  die  sich  allerdings  in 
diesem  Falle  als  Phantasieprodukt  erwies.  Dass  Flüchtlinge 
und  Ausreisser  aller  Art,  stec.kbrieflich  e:esuchte  Verbrecher, 
auch  Spione,  sich  — ähnlich  ?.ie  wir  dies  von  den  Deser- 
teuren berichteten  — in  Frauenkleider  stecken,  ist  oft  ge- 
schehen. Natürlich  ist  es  in  .allen  diesen  Fällen  sehr 
zweifelhaft,  ob  es  sich  dabei  um  von  dem  sexuellen  Voll- 


389 


typus  abweichende  Personen  handelt.  So  floh,  um  seine 
Verfolger  zu  täuschen,  der  bekannte  holländische  Gelehrte 
und  Staatsmann  Hugo  Grotius  im  Jahre  1621  in  den  Klei- 
dern seiner  hochherzigen  Frau  aus  dem  Gefängnis  und 
rettete  sich  nach  Frankreich.  Ein  Fall,  der  neuerdings 

(29.  X.  09)  durch  die  Presse  ging,  ist  der  folgende: 
.,Seit  längerer  Zeit  polizeilich  gesucht  wurde  der  schon 
vielfach,  zuletzt  mit  Zuchthaus  vorbestrafte  Arbeiter  Artur 
Müller,  welcher  bei  zahlreichen  schweren  Einbrüchen  beteiligt 
war,  sich  jedoch  seiner  Festnahme  stets  zu  entziehen  wusste. 
Jetzt  erhielt  die  Polizei  Kenntnis,  dass  M.  in  Nauen  eine 
Braut  habe  und  sich  bei  dieser  aufhalte.  Mehrere  Beamte 
begaben  sich  nach  der  Wohnung,  in  der  ihnen  ein  Mädchen 
entgegenkam,  welches  ohne  weiteres  zugab,  dass  Müller  zwar 
öfter  dorthin  komme,  der  Gesuchte  aber  jetzt  schon  seit 
längerer  Zeit  sich  nicht  habe  sehen  lassen.  Einem  der  Be- 
amten fielen  die  etwas  sehr  derben  Hände  der  Wohnungsin- 
haberin' auf  und  eine  weitere  Untersuchung  ergab  dann, 
dass  die  angebliche  Braut  des  M.  ein  Mann  und  zwar  der 
gesuchte  Zuchthäusler  selbst  war.  Die  richtige  Braut  er- 
schien bald  darauf,  während  sich  die  Polizeibeamten  noch 
in  der  Wohnung  befanden.  Müller  ■ft'urde  sofort  nach  Berlin 
überführt  und  in  das  Untersuchungsgefängnis  eingeliefert.“ 
Ein  Fall,  der  seinerzeit  grösste  Sensation  erregte, 
ereignete  sich  im  Jahre  1887  in  Oesterreich.  Damals  hatte 
in  Wien  ein  Postassistent  Zalewski,  recht  hohe  Geldbeträge 
unterschlagen.  Er  wurde  erfolglos  steckbrieflich  verfolgt  und 
in  allen  grossen  Städten  der  neuen  und  alten  Welt  ge- 
sucht, während  er  sich  als  Frau  verkleidet  Monate  lang 
am  Tatorte  selbst  aufhielt.  Er  war  sogar  mit  seinem 
Bruder,  einem  Feldwebel,  ungeniert  spazieren  gegangen,  der 
Defraudant  in  Fraucnkleidern,  der  Bruder  in  Uniform,  so- 
dass  sie  jedermann,  der  sie  Arm  in  Arm  promenieren 

sah,  für  ein  Liebespaar  hielt.  Eines  Tages  meldete  ein 

Dienstmädchen  namens  Cäcilie  Zwicker  der  Polizeidirektion, 
dass  sie  ihrem  Geliebten,  dem  Feldwebel  Zalewski,  auf  sein 
Bitten  ihr  Dienstbuch  mit  Reisebewilligung  gegeben  habe, 
es  seien  ihr  aber  Bedenken  gekommen,  ob  sie  damit 


390 


nicht  eine  ungesetzliche  Handlung  begangen  habe.  Dieses 
brachte  die  Polizei  auf  die  richtige  Fährte  und  es  stellte 
sich  schliesslich  heraus,  dass  Zalewskd  mit  seiner  Geliebten, 
einem  gewissen  Fräulein  Nathanson,  deren  Reisebe- 
g 1 e i t e r i n er  markierte,  nach  Paris  gereist  war.  Als 
Reisedokument  hatte  er  den  Pass  des  Dienstmädchens 
Zwicker,  welchen  ihm  sein  Bruder,  der  Feldwebel,  verschafft 
hatte.  Als  die  Polizei  dies  ermittelt  hatte,  hatte  Zalewski 
bereits  von  Havre  aus  die  Reise  nach  New-York  angetreten. 
Man  verständigte  die  amerikanische  Polizeibehörde  und  wäh- 
rend der  Defraudant  auf  hoher  See  darüber  nachdachte, 
welches  Leben  er  in  Amerika  mit  dem  unterschlagenen 
Gelde  führen  wolle,  wmrden  in  New-York  alle  Anstalten 
zu  seiner  Verhaftung  getroffen.  Bei  seiner  Landung  vmrde 
er  unter  Intervention  des  österreichischen  Konsuls  ver- 
haftet. Man  fand  bei  ihm  noch  100  000  Gulden 

Es  seien  noch  einige  ■weitere  analoge  Beispiele  aus  unserer 
Sammlung  angeführt: 

„In  Mädchenkleidern  meldete  sich  am  31.  Oktober  1894 
in  Hamburg  bei  der  Polizei  der  ISjährige  Knabe  Georg  Sch. 
aus  Nürnberg,  der  sich  dem  Beamten  gegenüber  Maria  nannte 
und,  da  er  mittellos  sei  und  eine  angeblich  in  Hamburg 
wohnende  Schwester  nicht  auffinden  könne,  freie  Rückbe- 
förderung nach  Nürnberg  verlangte.  Bei  der  Untersuchung 
im  Polizeigewahrsam  wurde  das  Geschlecht  des  Knaben  fest- 
gestellt, der  dann  folgendes  Geständnis  ablegte;  Er  sei 
seinem  Lehrherrn,  einem  Barbier  in  Nürnberg,  nachdem  er 
ihm  35  Mark  gestohlen  habe,  durchgebrannt,  habe  sich,  u m 
sich  vor  Entdeckung  zu  schützen,  Mäd- 
chenkleider gekauft  und  in  diesen  die  Reise  nach 
Hamburg  unternommen.  Unterwegs  habe  er  die  Bekannt- 
schaft einer  in  Hamburg  wohnhaften  Frau  gemacht,  die  dem 
vermeintlichen  Mädchen  Unterkunft  angeboten  habe.  Bei 
dieser  Frau  habe  er  die  letzten  10  Tage  zugebracht  und  für 
Kost  und  Logis  sich  als  Dienstmädchen  zu  schaffen  gemacht, 
Angaben,  die  von  der  Frau  bestätigt  wurden.“ 

Aus  Budapest  wird  am  29.  Mai  1907  berichtet:  Bei  dem 
hauptstädtischen  Zuckerbäcker  Lukacs  war  seit  drei  Monaten 


391 


ein  Stubenmiidchen  angestellt,  mit  dem  L.  um  so  mehr  zu- 
frieden war,  als  es  keine  Männerbekanntschaften  anknüpfte. 
Dieser  Tage  nun  erschienen  Polizisten  bei  L.  und  erklärten 
sein  Stubenmädchen  für  verhaftet,  da  es  gar 
kein  Mädchen,  sondern  ein  19jähriger  Kammachergehilfe  sei, 
dessen  Name  ebenfalls  Lukacs  Alexander  lautete.  Es  war 
festgestellt  worden,  dass  er  einer  Diebesbande  angehörte  und 
sich,  um  den  Nachforschungen  der  Polizei 
zu  entgehen,  mit  einem  gestohlenen  Dienstbuch  ver- 
dingt hatte. 

Wie  verschiedene  Berliner  Zeitungen  vom  8.  Februar 
1886  meldeten,  hatte  sich  in  einer  Familie  im  Westen 
Berlins  ein  Hausmädchen,  das  sich  Rosa  nannte,  in  der 
kurzen  Zeit  ihres  Dienstes  das  volle  Vertrauen  ihrer  Herr- 
schaft erworben,  als  eines  Tages  ein  Herr  erschien  und  sich 
nach  dem  neuen  Mädchen  erkundigte,  und  natürlich  die  beste 
Auskunft  erhielt.  Wer  beschreibt  nun  den  Schreck  der  Haus- 
frau, als  am  anderen  Tage  zwei  Herren  erschienen  und  so- 
fort dem  Mädchen,  das  ihnen  die  Salontür  geöffnet  hat,  zu- 
riefen: „Perücke  herunter!“  Und  was  ereignete  sich?  Rosa 
präsentierte  sich  unter  der  schönen  blonden  Frauenperücke 
als  ein  Mann  mit  kurzen  Haaren,  der  nach  den  Angaben  der 
beiden  Kriminalbeamten  gesucht  wurde  und  so  manches  auf 
dem  Kerbholz  hatte.  Es  war  nicht  das  erste  Debüt  des  ver- 
schlagenen Gauners,  sich  als  Hausmädchen  zu 
vermieten,  die  Herrschaften  zu  bestehlen  um  dann 
plötzlich  auf  Nimmerwiedersehen  zu  verschwinden. 

Dasselbe  Motiv,  das  die  Verbrecher  anwenden,  um  die 
Kriminalbeamten  und  Detektivs  hinters  Licht  zu  führen,  be- 
nutzen gelegentlich  auch  die  letzteren,  um  die  Verbrecher  zu 
täuschen.  Auf  der  internationalen  photographischen  Aus- 
stellung zu  Dresden  fand  sich  in  der  Kriminalabteilung  eine 
Photographie,  auf  der  wir  einen  als  Dame  verkleideten 
Polizisten  sehen,  wie  er  unauffällig  Glücksspieler  beobachtet.*) 

Ein  höherer  Polizeibeamter  in  Amsterdam  hatte  sich 
in  Ausübung  kriminalistischer  Beobachtungen  wiederholt  als 

*)  Vergl.  Die  Photographie  im  Dienste  der  Kriminalpolizei  von  Staats- 
anwalt Dr.  Erich  Wulffen.  „Die  Woche“  Nr.  34,  1909. 


S t r e i c h h 0 1 z h ä n d 1 e r i n verkleidet,  was  übrigens 
zu  satirischen  Bemerkungen  der  Witzblätter  gegen  ihn  Anlass 
gegeben  hat.  Die  Verkleidung  wurde  dadurch  sehr  er- 
leichtert, als  er,  wie  ich  mich  selbst  überzeugte,  vollkommen 
die  Gesichtszüge  und  Stimme  einer  alten  Frau  hat. 

In  Paterson  (Nord-Amerika)  hatte  im  Jahre  1909  ein 
Mann  zahlreiche  Frauen  in  der  Weise  belästigt,  dass  er  sie 
abends  an  verborgenen  Stellen  überfiel,  sie  abküsste  und 
kniff.  Der  Polizei  war  es  lange  Zeit  nicht  möglich,  des 
Menschen  habhaft  zu  werden,  bis  man  schliesslich,  als  die 
eigenartigen  Ueberfälle  immer  grössere  Dimensionen  an- 
nahmen,  auf  den  Gedanken  kam,  eine  Anzahl  Polizisten  als 
Frauen  zu  verkleiden.  Dies  führte  in  der  Tat  rasch  zur  Fest- 
nahme des  küss  wütigen  Patersoner  Bürgers  Edward  1\I.,  der 
nun  zur  Strafe  für  seine  Handlungen  auf  6 l\Ionate  in  die 
Patersoner  Bastille  kam. 

Das  Motiv  zu  diesen  Verkleidungen  von  Frauen  in 
Männer-  und  von  Männern  in  Frauentracht  zum  Zwecke  be- 
wusster Vortäuschung  des  anderen  Geschlechts  ist  vielfaca 
dasselbe,  was  in  der  Tierwelt  unbewusst  und  in- 
stinktiv als  Mimikry  auftritt. 


Dauer  der  Geschlechtsverkleidiing. 

Es  wäre  ein  Fehler,  wollte  man  aus  der  Häufigkeit, 
mit  der  Verbrecher  und  Verbrecherinnen  in  der  Tracht  des 
anderen  Geschlechts  attrapiert  worden  sind,  einen  Scldiu-s 
ziehen  auf  die  Kriminalität  der  Transvestiten  otler  auf  ihre 
Anzahl  im  allgemeinen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  \ er- 
kleidete,  die  sich  unauffällig  benehmen  und  siel»  niclits  zu 
schulden  kommen  lassen,  verhältnismässig  selten  die  Behörden 
beschäftigen.  Viele  Transvestiten  beschränken  sich  ja  — wie 
wir  sahen  — darauf,  nur  in  ihrer  Behausung  Frauenkleidr-r 
zu  tragen,  ja  manche  begnügen  sich  nur  mit  Surrogaten, 
die  sie  durch  ihre  lebhafte  Phantasie  zu  vervollständigen 
wissen.  So  schrieb  uns  kürzlich  Fall  IV.  in  Ergänzung 
seiner  früheren  Mitteilungen: 


393 


„Ich  sehe  alles,  ausser  wenn  ich  in  meiner  geschäftlichen 
Praxis  bin,  mit  den  Augen  eines  Weibes,  zunächst  rein 
äusserlich,  wenn  ich  stundenlang  in  Warenhäusern  und  vor 
Schaufenstern  mich  ausschliesslich  an  weiblichen  Ausstellungs- 
gegenständen erfreue,  gern  elegantes  Schuhwerk,  feine 
Wäsche,  moderne  Hüte,  Frisuren  usw.  sehe,  aber  noch  viel- 
mehr in  Kleidern,  Korsetts  und  weiblichen  Schmuckstücken 
einen  Kult  treibe,  leider  dies  alles  grösstenteils  nur  im  Ge- 
dächtnis meiner  Seele,  aber  heiss  empfunden,  als  besässe  ich 
es  in  Wirklichkeit.  Mein  Seelenleben  fülle  ich  aus,  mir  das 
i d e e 1 1 e W e i b zu  malen;  zu  forschen  und  zu  trachten,  so 
zu  werden,  wie  die  schönsten  Gestalten, 
die  mein  Auge  je  gesehen  und  deren  Bild  sich  mir 
so  einprägt,  dass  ich  in  Wahrheit  mit  diesen  in  einem  har- 
monischen Ganzen  zu  leben  mir  einbilde.  Wachend  träume 
ich  von  süssen  Stunden  mit  schönen  Frauen  und  Mädchen, 
wobei  ich  selbst  glaube,  eine  der  ihren  zu  sein,  oder  ich 
denke  an  schöne  Männer,  die  mir  mit  der  Kraft  des  besitzen- 
den Geldes  die  Möglichkeit  verstatten  würden,  ihr  Weib  zu 
werden.  So  denke  ich  es  mir  herrlich,  ganz 
AVeib  zu  sein,  ohne  auch  nur  ein  Manko  an  den  unerläss- 
lich weiblichen  Attributen.  Der  Wunsch  gebiert  und  er  ge- 
bar, wie  er  nun  einmal  vorhanden  und  wie  er  täglich 
mächtiger  wird,  wenigstens  einige  weibliche  Gegenstände.  So 
trage  ich  gern  lange  Strümpfe,  zart  durchbrochen  oder  in 
lichten  Farben,  oder  Strumpfbänder  mit  rosa  seidenen 
Schleifen,  Damenschuhe  mit  hohen  Absätzen,  früher  eine  Zeit- 
lang  sogar  ein  Korsett.  Beim  Alleinsein  habe  ich  schon  des 
öfteren  mit  feinen  dünnen  Nähnadeln  mir  durch  die  Ohr- 
läppchen Löcher  gestochen,  wobei  nur  der  Mangel  an  edlem 
Ohrgeschmeide  Schuld  war,  dass  ich  diese  angenehmen 
schmerzlichen  Stiche  öfter  wiederholen  musste.  Ich  bin  nun 
einmal  nur  auf  gute  Sachen  aus  und  versage  mir  die  Ohr- 
ringe wie  auch  die  Kleider  usw.,  bis  ich  mir  dies  alles  ein- 
mal ganz  nach  meinen  Ideen  selbst  anschaffen  kann.  Ich 
verkehre  geschlechtlich  ausschliesslich  mit  meiner 
Frau  und  bedarf  zur  Anregung  dieses  Verkehrs  nur  der 
Phantasie.  In  derselben  stelle  ich  mich  als  Weib  vor,  denke 


394 


mir  die  schönsten  Toiletten  aus  und  variiere  darin  von  dem 
Extrem  eines  weiblichen  Mannes,  wo  ich  aus  gesellschaftlichen 
Gründen  mein  Geschlecht  nicht  abzulegen  imstande,  aber 
dies  so  zart  weiblich  hinübergeneigt  mir  ausmale,  als  dies 
irgend  nur  zulässig  erscheint  — am.  liebsten  in  Rococco  — 
bis  zu  einem  vollkommenen  Mädchen  im  Brautstaat  mit 
Kranz  und  Schleier  und  darauf  folgender  Hochzeitsnacht. 
Ich  bin  zwar  in  meinen  Phantasien  glücklich,  da  ich  ihnen 
nach  Belieben  eine  Richtung  geben  kann,  aber  unglücklich, 
dass  es  mir  nicht  vergönnt  ist,  wenigstens  jede  Woche  ein- 
mal wirklich  das  letzte  Männerhemd  abstreifen  und  mich 
von  der  absoluten  Nacktheit  bis  zu  einer  ^lodedame  wandeln 
zu  können. ‘‘ 

Das  andere  Extrem  zu  diesen  blossen  Illusions-Trans- 
vestiten bilden  diejenigen,  die  jahrein  jahraus  oft  viele  Jahr- 
zehnte die  Tracht  des  anderen  Geschlechts  tragen  und  sich 
ihr  so  angepasst  haben,  dass  niemand  ihr  Geheimnis  ahnt, 
das  oft  genug  erst  nach  ihrem  Tode  offenbar  wird.  Ja  es 
kommt  vor,  dass  es  auch  dann  noch  verborgen  bleibt.  Das 
ist  nicht  so  verwunderlich,  wenn  man  berücksichtigt,  dass 
ärztliche  Leichenbeschauer  sich  vielfach  damit  begnügen, 
die  Augen  und  den  Puls  der  Verstorbenen  zu  kontrollieren, 
ohne  den  übrigen  Körper,  namentlich  die  Genitalien,  einer  In- 
spektion zu  unterziehen.  Ein  in  dieser  Hinsicht  lehrreicher 
Fall  passierte  vor  mehreren  Jahren  in  Riga  (Jhb.  II.  456). 
Dort  reichte  die  Witwe  eines  achtbaren  Mannes  bei  der  Be- 
hörde ein  Gesuch  ein,  wieder  ihren  Mädchennamen  führen  zu 
dürfen,  da  ihr  verstorbener  Gatte,  mit  dem  sie  zwanzig 
Jahre  vermählt  war,  eine  Frau  gewesen  sei.  Auf  die  Frage 
warum  sie  den  Fall  nicht  früher  zur  Anzeige  gebracht  habe, 
erklärte  die  Witwe,  dass  sie  sich  geschämt  habe,  die  ganze 
Angelegenheit  bekannt  zu  geben. 

Am  ehesten  laufen  noch  diejenigen  Transvestiten  Ge- 
fahr, dass  ihr  Geschlecht  entdeckt  wird,  die,  durch  ihren 
Beruf  gezwungen  Männerkleider  zu  tragen,  von  Zeit  zu  Zeit 
der  Versuchung  nicht  widerstehen  können,  in  Frauenkleidern 
auszugehen.  Die  Angst  und  Erregung,  mit  der  solche  Per- 
sonen dies  manchmal  tun,  spiegelt  sich  in  der  Schilderung 


395 


wieder,  die  uns  ein  als  Frau  gekleideter  Polizeisekretär  (unser 
Fall  VII.)  von  einem  Ausgang  im  Berliner  Norden  entwirft. 
Wir  geben  seine  durch  den  Berliner  Lokalton  um  so  an- 
schaulicher wirkende  Erzählung  fast  wörtlich  wieder: 

„Am  17.  August  1909,  einem  zwar  trockenen,  aber  nicht  gerade  sehr 
schönen  Tage,  zog  ich  mich  Nachmittags  als  Dame  an  und  verliess  zwischen 
4 und  5 Uhr  meine  Wohnung.  Folgendermassen  war  ich  gekleidet;  Damen- 
homd,  Damenhose,  durchbrochene,  braune  Strümpfe,  blaue  Strumpfbänder, 
weisser  Stickerei-Unterrock,  graues  Korsett,  weisser  Korsettschoner,  weisse, 
durchbrochene  Bluse,  ein  blaues  Cheviotkleid  mit  dunkelblauen,  breiten  Samt- 
streifen und  mit  Knöpfen  besetzt,  schwarzes  Samtbändchen  um  den  Hals, 
silbernes  Armband,  weisse  Handschuhe,  hellblaue,  lederne  Handtasche  mit 
Damentaschentuch  etc.,  weisser  Sonnenschirm,  Damenstiefel,  goldblonde  Pe- 
rücke, weisser  Strohhut  mit  Vergissmeinnicht  und  Rosen  und  eingeklemmte 
Ohrringe.  Mehrere  Tage  vorher  hatte  mich  meine  junge  Aufwärterin,  die 
mich  so  angekleidet  gesehen  hatte,  noch  gewarnt,  die  Strasse  nicht  so  zu 
betreten.  Meine  Perücke,  meinte  sie,  wäre  zu  auffällig  in  der  Farbe;  ausser- 
dem stände  mir  meine  Bluse  nicht  recht,  eine  Taille  würde  besser  sein.  Man 
würde  mich  vielleicht  doch  nicht  für  eine  richtige  Dame  halten,  sondern  mel- 
leicht für  einen  Zwitter.  Kenner,  meinte  sie,  würden  jedenfalls  herausmerken, 
dass  etwas  nicht  stimme.  Ich  liess  aber  ihre  Warnungen  unbeachtet  luid 
verliess  meine  Wohnung.  Auf  der  Treppe  begegnete  mir  niemand,  und  auch 
vor  der  Haustür,  wo  sonst  immer  4 bis  5 Kinder  zu  spielen  pflegen,  war 
kein  Mensch  zu  sehen.  Ich  war  glücklich  zum  Hause  heraus.  Auf  der 
Strasse  sahen  mir  wohl  ab  und  zu  Männer  und  auch  Frauen  nach,  jedoch 
anscheinend  nicht  anders,  als  sie  sonst  vielleicht  Personen  nachschauen,  die 
ihre  Aufmerksamkeit  erregen.  Meist  gingen  Männer,  Frauen,  Mädchen  und 
Knaben  ganz  achtlos  an  mir  vorüber.  Sehr  belebt  ist  die  W . . .- 
Strasse  nun  überhaupt  nicht  und  sie  war  es  zu  jener  Nachmittagsstunde  erst 
recht  nicht.  Als  ich  über  den  Strassendamm  ging,  schienen  drei  Schüler,  die 
ihren  bunten  Mützen  nach  vermutlich  einer  höheren  Lehranstalt  angehörten, 
sich  über  mich  lustig  zu  machen.  Ich  tat,  als  ob  ich  das  nicht  beachtete 
und  ging  ruhig  weiter.  Nun  betrat  ich  das  Spezial- Wäsche-Geschäft  einer 
.Jüdin  in  der  W . . . strasse,  bei  der  ich  schon  wiederholt  Damenwäsche  ge- 
kauft hatte  und  die  meine  Neigungen  kannte.  Ich  habe  Freundschaft  mit 

ihr  geschlossen  und  kaufe  ganz  gern  bei  ihr.  Ich  hatte  ihr  schon  vorher 
gesagt,  dass  ich  sie  einmal  als  Dame  besuchen  würde  und  sie  hatte  damals 
gemeint:  „Na  ja,  ziehen  sie  sich  doch  einmal  recht  schneidig  an  und  kommen 
Sie  zu  mir."  Als  ich  sie  nun  besuchte,  war  sie  doch  recht  erstaunt  über 
mich  und  meinte,  dass  es  doch  ein  grosses  Wagnis  von  mir  wäre,  so  zu  ihr 
zu  kommen;  denn  mein  Aussehen  wäre  doch  auffallend.  Sie  bewundere 

meinen  Mut,  sagte  sie.  Es  kamen  zu  ihr  nun  mehrere  Kundinnen  in  den 

Laden.  Niemand  aber  sagte  etwas  in  Bezug  auf  mich.  Es  ist  ein  ganz 
kleiner,  schmaler  Laden,  in  welchem  höchstens  8 Personen  Platz  haben. 
Ein  Fräulein  aus  einem  Schankgeschäft  nebenan  betrat  mit  einem  kleinen 


396 


Knaben  Jen  Laden  nnd  kaufte  etwas.  Dieser  .Junge  ist  der  Liebling  der 
Ladenbesitzerin  und  sie  spielte  mit  ilnn.  Das  Kind  streckte  auch  mir  die 
Häncichen  hin  und  ich  streichelte  sie;  es  merkte  sicher  nichts.  Die  Ladenin- 
haberin bestellte  bei  dem  Fräulein  eine  Limonade  und  auch  ich  bat  um  eine 
Citronen-Limonade,  da  es  sehr  heiss  war.  Bald  darauf  brachte  das  Fräulein 
die  beiden  Gläser  und  ich  zahlte  für  mein  Getränk,  indem  ich  meine  Le«ier-' 
tasche  öffnete  und  dem  Fräulein  das  Geld  hinreichte.  Sie  merkte  scheinbar 
absolut  nichts  Seltsames  an  mir.  Später  erzählte  mir  jedoch  die  Wäsche- 
geschäftsinhaberin, dass  dem  Fräulein  meine  etwas  rauhe  Stimme  aufgefallen 
wäre.  Darauf  hätte  sie  geantwortet,  dass  das  doch  zuweilen  bei  Frauen  vor- 
käme. Ich  sass  im  Laden  auf  einem  Sessel,  den  mir  die  Inhaberin  mit  den 
Worten:  .Bitte,  setzen  Sie  sich  doch,  Fräulein!“"  angeboten  hatte.  Sie 
Fragte  mich  nun,  ob  ich  einen  Bedarf  an  Wäsche  etc.  hätte.  Ich  sagte,  ich 
würde  einen  Herrenschlips  kaufen,  den  ich  sehr  nötig  hätte,  aber  es  sehe 
doch  so  seltsam  aus,  wenn  ich  jetzt  als  Dame  so  etwas  kaufen  würde.  Da 
meinte  sie  zu  mir.  das  könnte  ja  für  meinen  Bräutigam  sein.  Nun  stellte 
sie  auch  mehrere  Kästen  mit  Schlipsen  vor  mich  hin,  und  ich  wählte  einen 
aus.  Die  Verkäuferin  sah  unter  dem  Durchbruch  meiner  Bluse  mein  Damen- 
hemd, das  ich  s.  Z.  bei  ihr  gekauft  hatte,  und  sie  machte  mich  darauf  auf- 
merksam, dass  sie  es  als  aus  ihrem  Geschäft  stammend  erkenne.  Sie  wollte 
mich  gar  nicht  fortlassen,  da  sie  Besorgnis  um  mich  zu  haben  schien,  dass 
mir  etwas  passieren  könne,  zumal  ich  ihr  gesagt  hatte,  dass  ich  nach  dem 
Tiergarten  mit  der  Strassenbahn  fahren  wolle.  Sie  meinte  beständig,  meine 
Perücke  wäre  zu  goldblond  und  somit  zu  auffällig.  Endlich,  als  es  bald 
acht  Uhr  und  schon  dunkel  geworden  war,  meinte  sie  zu  mir,  nun  könnte 
ich  gehen,  im  Zwielicht  wäre  mein  Haar  nicht  mehr  so  auffällig.  Dass  sie 
ganz  recht  gehabt  hatte,  sollte  ich  tatsächlich  später  erleben.  In  Berlin 
sind  viel  rohe  Elemente  vertreten  und  es  ist  hier  ganz  anders  als  im  Riesen- 
gebirge, wo  ich  ganz  ungehindert  als  Dame  gehen  konnte.  Ich  verliess  also 
das  Geschäft  in  der  W . . . strasse  und  ging  nun  zwischen  den  jetzt  ziem- 
lich dichten  Menschenmassen  hindurch  nach  der  Weinmeisterstrasse,  wo  ich 
eine  Masseuse  besuchte.  Im  Hausflur  stand  ein  Mädchen  von  etwa  zwölf 
Jahren,  die  mich  ansah.  Ich  war  das  Treppensteigen  in  Frauenkleidern  un- 
gewohnt und  stolperte  schon  bei  den  ersten  Stufen.  Ich  raffte  mein  Kleid 
und  es  ging  etwas  besser,  aber  doch  sehr  unbeholfen.  Wie  eine  Frau,  ohne 
ihr  Kleid  zu  raffen,  Treppen  steigen,  in  die  Strassenbahn  einsteigen  etc. 

kann,  ist  mir  bis  auf  weiteres  noch  ganz  unklar.  Zu  lang  ist  mein  Kostüm- 
rock nicht,  er  ist  so  lang  wie  er  sein  muss.  Die  Masseuse  erkannte  mich 

sofort  wieder,  als  sie  die  Tür  geöffnet  hatte  und  liess  mich  eintreten.  Sie 

freute  sich  sehr  über  meinen  Anblick  und  untersuchte  mein  nobles  Exterieur. 
Ich  zeigte  ihr  alles.  Massieren  liess  ich  mich  aber  nicht,  da  ich  hierzu  kein 
Geld  hatte.  Wie  gern  hätte  ich  mich  als  Mädchen,  als  das  ich  mich  doch 
jetzt  fühlte,  von  ihr  massieren  lassen!  Nach  einiger  Zeit  verliess  ich  die 

Masseuse.  Auf  der  Treppe  stand  eine  feine  Dame,  die  einem  kleinen 

Mädchen,  wohl  ihrer  Tochter,  Aufträge  erteilte,  was  sie  einholen  sollte. 

Ich  ging  an  beiden  unauffällig  vorbei.  An  der  Tür  standen  ein  Mann 


397 


und  eine  Frau,  an  denen  ich  vorbei  huschte.  Jetzt  war  ich  also 
wieder  auf  der  Strasse,  mitten  im  Menschengewühl,  das  jetzt  beinahe 
so  stark  wie  in  der  Friedrichstrasse  war.  Ich  ging  nach  dem  Rosen- 

thaler  Tor,  vorbei  an  Männlein  und  Fräulein,  sogar  an  meinen  Kol- 

legen der  „heiligen  Hermandad“,  und  von  da  nach  der  Elsasser- 
strasse,  wo  ich  wieder  eine  Masseuse  besuchte.  Auch  hier  fiel  mir  das 

Treppensteigen  in  den  Frauenkleidern  recht  schwer.  „Na,  bist  Du  auch  mal 
wieder  da,  Gretchen!  Das  ist  recht  von  Dir,  Gretchen,  dass  Du  Dich  wieder 
einmal  sehen  lässt.“  Dies  waren  die  Worte,  mit  denen  mich  die  Masseuse 
die  mich  sofort  wiedererkannt  hatte,  empfing.  Sie  nötigte  mich  nun  in  ihren 
Massage-Salon  und  musterte  mich  ebenfalls  von  oben  bis  unten.  Ich  zeigte 
ihr  meine  Strümpfe,  meine  Höschen,  meine  ünterröckchen  usw.  Jeder  Ge- 
genstand an  mir  wurde  besprochen.  Ich  sagte  ihr  ebenfalls,  dass  ich  nur 
gekommen  wäre,  um  mich  ihr  als  Dame  zu  zeigen,  dass  ich  mich  heute  aber 
nicht  massieren  Hesse.  Sie  nahm  das  weiter  gar  nicht  übel,  sondern  blieb 
sehr  freundlich,  setzte  sich  auf  eine  Ottomane  und  bedeutete  mir,  dass  ich 
mich  neben  sie  setzen  solle.  Nun  erzählten  wir  uns  alles  mögliche  wie  zwei 
Frauen,  zwei  richtige  Freundinnen  sich  miteinander  aussprechen.  Natürlich 
bildete  die  Liebe  den  Punkt,  um  den  sich  alles  drehte.  Bei  dem  Aufenthalte 
bei  dieser  Masseuse  und  den  Erzählungen  mit  ihr  war  jede  Männlichkeit  in 
mir  80  gut  wie  erlcschen.  Ich  fühlte  mich  ganz  Weib  und 
betrachtete  die  Masseuse  wie  meine  Mitschwester. 
Es  war  schon  fast  10  Uhr  abends,  als  ich  von  ihr  ging.  In  der  L . . . strasse 
sah  ein  älterer  Herr  mir  nach.  Ebenfalls  in  dieser  Strasse  standen  vor 
einem  Hause  einige  junge  Mädchen.  Dienstmädchen  usw.  Sie  lachten  mir 
nach  und  ich  hörte  ganz  deutlich  die  Worte  hinter  mir:  „Das  ist  doch  ein 
Mann,  dem  wollen  wir  nachgehen!“  Ich  bewahrte  aber  meine  Ruhe  und  die 
Frauenzimmer  führten  ihren  Vorsatz  nicht  aus.  Trotzdem  überkam  mich 
plötzlich  eine  kolossale  Angst  und  ich  wünschte  innerlich  sehr,  dass  ich 
nur  erst  wi^er  zu  Hause  wäre.  Als  ich  in  der  Nähe  der  Pfefferberg- 
Brauerei  war,  kamen  mir  zwei  junge  Männer  entgegen,  die  anscheinend  dem 
Arbeiterstande  angehörten.  Der  eine  von  ihnen  nahm  seinen  Hut  tief  vor 
mir  ab,  behielt  ihn  in  der  Hand  und  machte,  ohne  etwas  dabei  zu  sagen, 
vor  mir  Front.  Ich  tat  so,  als  wenn  ich  es  gar  nicht  bemerkt  hätte  und 
ging  ungehindert  weiter.  Am  W . . . platz  standen  etwa  4 bis  5 halb- 
wüchsige Burschen,  die  liinter  mir  herlachten.  Einer  von  ihnen  gebrauchto 
wiederholt  die  Redensart:  „Ach.  seht  doch  mal  den-  ollen  Kuhkopp!  Nee, 
so’n  Kuhkopp!  Is  det  nich  een  richtiger  Kuhkopp?“  Diese  Burschen  ahnten 
nicht,  dass  es  sich  in  Wahrheit  bei  mir  um  einen  Ochsenkopf  handelte.  Kurz 
darauf  kam  mir  eine  ganze  Gesellschaft  entgegen;  anscheinend  Vater,  Mutter, 
Onkel.  Tante  sowie  etwa  .3  bis  4 Kinder.  Ein  Mann  oder  eine  Frau  von 
dieser  Gesellschaft  sagte:  „Hat  der  Mensch  Worte?“,  aber  ich  weiss  nicht, 
ob  sich  die  Worte  auf  mich  bezogen.  Trotzdem  bekam  ich  es  immer  mehr 
mit  der  Angst  zu  tun.  Jedoch  jetzt  waren  es  nur  noch  einige  Häuser  und 
ich  stand  vor  meiner  Haustüre.  Es  war  inzwischen  10^  Uhr  geworden. 
Ich  entnahm  schnell  meiner  Handtasche  den  Hausschlüssel  und  öffnete  das 


398 


Haus.  Es  war  stockdunkel  auf  den  Treppen  und  so  wurde  mir  Jas  Herauf- 
gehen noch  viel  schwerer.  Zum  Glücke  begegnete  mir  niemand  auf  der 
Treppe.  Schnell  schloss  ich  die  Korridortür  auf  und  war  nun  wieder  bei 
meinen  heimischen  Penaten.  Ach,  wie  glücklich  war  ich!  Ich  fühlte 
mich  wie  gerettet.  Ich  warf  mich  tatsächlich  in  meinen  Frauen- 
kleidem  auf  die  Knie  nieder  und  dankte  Gott,  dass  er  mich  vor  Unheil  b(^ 
wahrt  hatte;  die  ausgestandene  Angst  und  das  Treppensteigen  hatten  mir 
fast  den  Atem  benommen.  Ich  zog  mich  aus  und  legte  mich  zu  Bett.  Gleich 
am  anderen  Morgen  begab  ich  mich  aber  zu  einem  Perückenmacher  und  lies,s 
meine  goldblonde  Perücke  brünett  färben.“ 

Zu  denjenigen  Transvestiten,  die  in  der  Tracht  des 
anderen  Geschlechts  niemals  die  Strasse  betreten,  die  es 
nur  ausnahmsweise  und  die  es  ständig  tun, 
kommt  eine  vierte  Gruppe,  die  in  der  Kasuistik  des 
ersten  Kapitels  dieses  Buchs  besonders  häufig  vertreten  ist, 
Personen,  denen  es  gelingt,  für  längere  oder  kürzere  Zeit 
das  ersehnte  Leben  in  dem  anderen  Geschlecht  zu  führen, 
um  dann  wieder,  durch  äussere  Verhältnisse  gezwungen,  in 
ihr  eigentliches  Geschlecht  zurückznkehren.  Es  ist  erstaun- 
lich, wie  solche  Menschen  selbst  auf  die  Dauer  oft  diejenigen 
täuschen,  die  mit  ihnen  täglich  zusammen  sind,  ihre 
Arbeits-  und  Zimmerkollegen,  ihre  Vorgesetzten,  ihre  Dienst- 
herrschaften, ja,  so  ungeheuerlich  und  abenteuerlich  es  klingen 
mag,  vorübergehend  selbst  ihre  Ehegatten.  Ich  will  zunächst 
zwei  Personen  anführen,  deren  Geschlecht  über  40  Jahre  ver- 
borgen blieb,  einen  Engländer  und  eine  Amerikanerin.  Im 
Jahre  1904  hatte  sich  vor  dem  Polizeigericht  in  Westminster- 
London  ein  kleiner  alter  Mann  zu  verantworten,  der  auf  der 
Liste  des  Angeklagten  als  Charlie  Wilson  bezeichnet  war, 
in  Wirklichkeit  aber  Katherine  Coombe  hiess.  46  Jahre  lang, 
vom  23.  bis  68.  Lebensjahr  war  sie  unbeargwohnt  und  un- 
entdeckt  in  Männerkleidung  gegangen.  Mit  16  Jahren  hatte 
sie  einen  Schulmeister  geheiratet,  der  sie  schlecht  be- 
handelte. Sie  lief  ihm  schliesslich  fort  und  ging  zu  ihrem 
Bruder,  der  ein  Flach-  und  Schildermaler  war.  Sie  erlernte 
dasselbe  Gewerbe;  zog  Männerkleider  an,  nannte  sich  Charlie 
Wilson  und  nahm  Dienste  auf  einem  Schiff  als  Anstreicher 
und  Verzierer.  Viele  Jahre  trieb  sie  sich  auf  dem  Meere 
herum,  kehrte  dann  nach  London  zurück  und  verheiratete  sich, 


399 


imd  zwar  diesmal  als  Mann  mit  einem  Dienstmädchen  vor  dem 
Zivilstandsbeamten  in  Westminster,  und  die  beiden  lebten  15 
Jahre  zusammen  in  „glücklicher  Ehe".  Dann  starb  die  Frau; 
der  weibliche  Witwer  verdingte  sich  wieder  als  An- 
streicher bei  einer  der  grössten  Schiffsgesellschatten  Londons 
und  verdiente  in  dieser  Stellung  einen  Wochenlohn  von 
40  Mk. 

lieber  ihr  Liebesieben  erzählt  sie  einem  Berichterstatter; 
„Auf  meiner  ersten  Reise  mit  Kapitän  Peiannie  und  seiner 
Frau  erlebte  ich  meinen  ersten  Roman.  An  Bord  befand 
sich  eine  Freundin  der  Pciannies,  eine  schöne  und  berühmte 
Schauspielerin,  und  dieses  schöne  Geschöpf,  die  das  Idol 
mehrerer  Londoner  Saisons  gewesen  war,  verliebte  sich  bis 
über  beide  Ohren  in  den  kleinen  lockigen  Schiffsschreiber. 
Knieend  bat  sie  mich,  sic  zu  heiraten.  Ich  war  kaum  an 
das  Tragen  von  Hosen  gewöhnt  und  so  beschämt,  dass  ich 
ihr  sagte,  ich  wäre  nur  ein  Mädchen.  Ihre  Liebe  verwandelte 
sich  in  Freundschaft,  und  sie  ist  bis  zu  ihrem  Tode  meine 
Freundin  geblieben.  Ich  fand  nicht  nur  in  jedem  Hafen, 

sondern  überall,  wohin  ich  kam,  Mädchen,  die  sich  in  mich 
verliebten.  Eine  sagte  mir,  das  käme  daher,  weil  ich  so 
gütig,  freundlich  und  anders  wie  die  Männer  sonst  wäre. 
Als  ich  dann  ein  eigenes  Heim  hatte,  wünschte  ich  es  recht 
nett  zu  haben,  und  suchte  die  Kameradschaft  einer  guten 
Frau.  Ich  wollte  mich  verheiraten  wie  die  Männer,  die 
wie  ich  arbeiten,  und  so  heiratete  ich  schliesslich  meine  erste 
Frau,  Annie  Ridgeway  in  St.  Margarets  Church,  Westminster. 
Annie  liebte  mich  zärtlich  und  selbstlos.  Unsere  Ehe  war 
sehr  glücklich,  aber  nach  vier  Jahren  starb  sie  zu  meinem 
grossen  Kummer.  Schmerzlich  vermisste  ich  die  Gemütlich- 
keit, die  ein  echtes  Weib  dem  Hause  gibt,  und  deshalb 
heiratete  ich  nach  einiger  Zeit  wieder.  Meine  zweite  Frau 
war  mir  so  treu  wie  die  erste,  und  vierundzwanzig  Jahre 
lebten  wir  glücklich  zusammen,  bis  der  Töd  sie  von  mir 
nahm.“ 

Von  da  ab  scheint  sie  das  Glück  verlassen  zu  haben,  sie 
ergab  sich  dem  Trünke,  wurde  wiederholt  in  Piccadilly  be- 
rauscht aufgegriffen,  kam  immer  mehr  herunter,  bis  sie  zu- 


400 


letzt  in  einem  Armenhause  Unterkunft  suchte,  wo  sie,  be- 
vor sie  das  vorgeschriebene  Bad  nahm,  ihr  Geheimnis  der 
Verwaltung  selbst  enthüllte.  (Jhb.  V.  p.  1130.) 

Auf  einem  Landgute  in  der  Nähe  der  Stadt  Oswego,  am 
östlichen  Ende  des  Ontario-Sees,  lebt  der  in  dem  ganzen 
Bezirke  wohlbekannte  Herr  Ur.  Mary  Walker,  eine  Frau, 
die  seit  40  Jahren  nur  Männerkleidung  getragen  hat.  Vor 
einiger  Zeit  wurde  durch  Zufall  das  Geheimnis  verraten, 
aber  sie  kümmert  sich  nicht  darum,  sondern  führt  das  ge- 
wohnte Herrenleben,  das  ihr  sehr  zusagt,  ruhig  wmiter,  ohne 
dass  irgend  jemand  daran  Anstoss  nimmt.  Sie  liebt  es  zu 
reiten,  schiessen,  fischen  und  zu  pflügen,  und  ist  ein  leiden- 
schaftlicher Raucher. 

Verhältnismässig  lange  verstand  auch  im  folgenden  Fall 
eine  Frau  ihre  Umgebung  zu  täuschen:  Das  Berliner  Tage- 
blatt vom  30.  März  1881  teilt  mit:  „Eine  fast  unglaublich 
klingende  Geschichte,  die  uns  indess  von  sicherer  Seite  als 
wahr  verbürgt  wdrd,  hat  man  uns  in  Folgendem  aus  der 
Umgegend  Berlins  berichtet.  Vor  etwa  einem  Jahre  hat  sich 
in  dem  bei  Weissensee  gelegenen  Dorfe  Marzahn  ein  Dienst- 
mädchen, welches  mit  einem  im  Dorfe  in  Dienst  stehenden 
Knechte  ein  Liebesverhältnis  unterhalten  hatte,  das  Leben 
genommen.  Allgemein  wurde  damals  angenommen,  dass  das 
Mädchen  deshalb  Hand  an  sich  gelegt  hatte,  weil  sein  etwa 
40  Jahre  alter  Bräutigam  trotz  fortgesetzten  Drängens 
keine  Anstalten  treffen  wollte,  das  Liebesverhältnis  durch 
die  Hochzeit  zu  krönen.  Im  Laufe  voriger  Woche  erschien 
nun  in  M.  ein  Arbeiter  namens  K.,  um  sich  nach  seiner 
Schwester  zu  erkundigen,  die  er  seit  20  Jahren  nicht  ge- 
sehen und  die  in  dem  Orte  dienen  sollte.  Eine  Dienst- 
magd des  angebenen  Namens  existiert  aber  dort  nicht, 
wohl  aber  führte  der  Knecht  diesen  Namen,  dessen  Braut, 
wie  oben  erwähnt,  sich  vor  Jahresfrist  das  Leben  genommen 
hatte.  Schon  wollte  der  fremde  Arbeiter  unverrichteter 
Sache  den  Hof  des  Schulzen,  bei  dem  er  die  Erkundigung 
eingezogen,  verlassen,  als  zufällig  der  erwähnte  Knecht  K. 
dort  vorüberging.  „Da  geht  ja  meine  Schwester“,  rief  der 
Fremde  aus  und  der  Schulze  glaubte,  dass  es  in  dem 


401 


Oberstübchen  des  Mannes  nicht  richtig  sei,  da  jener  K. 
schon  seit  etwa  20  Jahren  in  Malchow,  Marzahn  und  an- 
deren Dörfern  der  Umgegend  als  Knecht  gearbeitet  hatte, 
also  unmöglich  eine  „Schwester“  sein  könne.  Der  Knecht 
wird  herangerufen  und  dem  Fremden  gegenübergestellt;  er 
behauptet  jedoch,  dass  er  diesen  nicht  kenne  und  meint 
ebenfalls,  dass  derselbe  „bestrampelt“  sein  müsse.  Bei  der 
entschiedenen  Behauptung  des  Fremden,  dass  er  ganz  be- 
stimmt seine  Schwester  vor  sich  habe,  fand  der  Schulze 
sich  doch  veranlasst,  eine  nähere  Untersuchung  einzuleiten 
und  es  ergab  sich,  dass  der  vermeintliche  Knecht  in  der  Tat 
ein  Mädchen  war.  Mehr  als  20  Jahre  lang  war  -es  ihm 
gelungen,  die  Leute  über  sein  Geschlecht  zu  täuschen,  es 
hatte  stets  als  Knecht  gearbeitet  und  als  solcher  die  härtesten 
Arbeiten  verrichtet.  Nun  war  guter  Rat  teuer.  Man  wusste 
nicht,  was  man  mit  dem  Mannweib  anfangen  sollte.  Der 
Schulze  behielt  dasselbe  2 Tage  in  Gewahrsam  und  liess 
dasselbe  dann  auf  höhere  Weisung  laufen.  Am  letzten  Sonntag 
soll  die  „unverehelichte  K.“  sich  in  einem  anderen  Dorfe 
als  Magd  verdungen  haben.“ 

Geschlechtsentdeckung  nach  dem  Tode. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  sind  aber  die  recht 
zahlreichen  Männer  und  Frauen,  deren  wahres  Geschlecht 
sich  erst  nach  ihi’em  Verscheiden  oder  auf  dem  Totenbette 
ergab.  Trotzdem  ich  fürchte,  dass  die  Menge 
verwandter  Einzelfälle  die  Leser  etwas 
ermüden  wird,  halte  ich  eine  grössere 
Zusammenstellung  doch  auch  hier  für  un- 
erlässlich, weil  sich  erst  aus  der  Ordnung 
der  voneinander  so  völlig  unabhängigen 
Ereignisse  die  entsprechenden  Schlüsse 
auf  die  Eigenart,  Häufigkeit  und  Gesetz- 
mässigkeit der  Erscheinung  ziehen  lassen. 

Das  „Echo  der  Gegenwart“  vom  9.  März  05  bringt  unter 
dem  Titel  „Der  Engländer  von  Ligneuville“  ein  Feuilleton 
von  Fre  Pascal,  dem  wir  die  folgende  Stelle  entnehmen; 

Elrscbfeld,  Die  Tranavestilen.  26 


402 


„Es  dürfte  wohl  selten  Vorkommen,  dass  Damen  lange 
Jahre  hindurch  in  IleiTenkleidern  unbehelligt  im  Leben  aus- 
harren, ohne  wieder  zu  den  Kleidern  des  w^eiblichen  Ge- 
schlechtes zurfickgreifen  zu  müssen.  In  der  manchem 
Aachener  w'ohlbekannten  Sommerfrische  Ligneuville  bei  Mal- 
raedy kam  vor  ca.  60  Jahren  ein  junger,  etwm  30  Jahre 
alter  Engländer  an,  ein  hübscher  Bursche  von  sehr  vor- 
nehmen Allüren.  Er  stieg  in  dem  kleinen  Gasthofe  des 
Ortes  ab,  und  da  Land  und  Leute  ihm  gefielen,  kaufte  er 
bald  das  kleine  Wohnhaus  eines  Bauern  von  Pont  (dicht 
bei  Ligneu\ille)  und  liess  dasselbe  umbauen  und  nach 
seinem  Geschmack  möblieren.  Der  junge  Mann  lebte  sehr 
zurückgezogen,  ein  einziges  Dienstmädchen  besorgte  den 
Haushalt  und  Herr  de  Hawmrden,  wie  er  sich  nannte, 
schloss  mit  Niemandem  weder  Bekanntschaft  noch  Freund- 
schaft. Er  w'ar  ein  grosser  Hundeliebhaber  und  schien  ein 
besonderes  Faible  für  Spaziergänge  im  Walde  bei  hellem 
Mondschein  zu  haben.  Auch  ward  erzählt,  dass  er  oft  wie 
in  Träummrei  versunken  mit  Vorliebe  an  den  Ufern  der 
Arael  auf  und  ab  spazierte.  Korrespondenzen  erhielt  Herr  de 
Haw’arden  keine,  nur  ein  einziges  Mal  im  Jahre  erhielt  der 
Landbriefträger  ins  einsame  Haus  Zutritt,  nämlich  wenn 
er  Herrn  de  Hawmrden  seine  Renten  brachte.  Ab  und  zu 
ging  de  Hawarden  nach  Malmedy,  um  Einkäufe  zu  machen, 
sprach  in  den  Geschäften  nicht  viel,  aber  in  einem  der 
besseren  Manufaktur-  und  Luxuswarengeschäfte  war  es 
öfters  aufgefallen,  dass  der  Engländer  sich  so  sehr  wie 

eine  Dame  benahm  und  als  einst  die  Inhaberin  des  Ge- 

schäftes eine  entsprechende  Bemerkung  wmgte,  lächelte  der 
Engländer,  lenkte  aber  bald  das  Gespräch  auf  einen 

anderen  Gegenstand.  Von  der  Bevölkerung  blieb  er  stets 
unbehelligt.  So  lebte  Herr  de  Hawarden  bald  20  Jahre  in 
Ligneuville-Pont,  als  er  plötzlich  erkrankte  und  ehe  der 
aus  Malmedy  gerufene  Dr.  Closet  erschien,  war  der  geheim- 
nisvolle Fremde  gestorben.  Erst  als  der  Arzt  die 
Leiche  untersuchte,  soll  er  entdeckt 

haben,  dass  der  vermeintliche  Herr  de 

Hawarden  eine  Dame  war,  zur  nicht  geringen 


403 


Ueberraschung  des  DienstmädcheiiB.  Nach  einer  anderen 
Version  soll  de  Hawarden  schon  bei  einem  früheren  Krank- 
heitsfall dem  Dr.  Closet  unter  dem  Siegel  des  ärztlichen 
Geheimnisses  die  \Vahrheit  über  sein  Geschlecht  an  vertraut 
haben.  In  seinen  hinterlassenen  Papieren  bekannte  .,Herr  de 
Hawarden“  seinen  richtigen  Namen,  mehr  aber  erfuhr  man 
nicht;  er  bestimmte  als  seinen  letzten  Willen,  in  Ligneu- 
ville  begraben  zu  werden  und  hinterliess  für  die  Grab- 
steinschrift nur  folgende,  in  französischer  Sprache  abge- 
fasste Notizen:  „Ici  repose  dans  l’esperance  le  corps  de  Made- 
moiselle Meriora  Gillibrand,  decM4e  ä Ligneuville  le  1.  mars 
1863  ä Tage  de  58  ans,  munie  des  sacrements  de  l’eglise.“ 
Welcher  Roman  barg  sich  in  dieser  Existenz?  Fräulein  Gilli- 
brand teilte  vor  ihrem  Tode  weder  genau  Geburtsdatum 
noch  Geburtsort  mit,  und  niemand  hat  je  Interesse  daran 
gehabt,  danach  zu  forschen;  hoffentlich  geben  auch  diese 
Zeilen  niemandem  Anlass,  jetzt  noch  danach  zu  forschen  und 
das  Geheimnis  der  Toten  kann  fernerhin  in  Frieden  ruhen. 
Ohne  Zweifel  trug  die  Dame  ein  Geheimnis  im  Herzen  und 
davor  haben  auch  die  kleinen  Bauern  Achtung  empfunden;  wenn 
auch  sie  Miss  Gillibrand  nur  als  „Herr  de  Hawarden“  kannten.“ 
„Im  Kloster  von  Tzibucani  in  Rumänien  starb  im  Juni  05 
im  hohen  Alter  von  90  Jahren  der  Mönch  Vasili 
Popovici,  nachdem  er  ein  Vierteljahrhundert  in  den  stillen 
Klosterräumen  ein  beschauliches  Leben  geführt  hatte.  Von 
weit  und  breit  strömten  die  Gläubigen  in  hellen  Scharen 
zusammen,  um  dem  Toten,  der  im  Gerüche  der  Heiligkeit 
stand,  die  letzten  Ehren  zu  erweisen.  Wie  gross  war  aber 
das  Erstaunen  aller,  als  man  beim  Waschen  der  Leiche 
die  Wahrnehmung  machte,  dass  der  l^Iönch  Vasili  Popovici 
eine  Frau  war.  Die  Klosterbrüder  meldeten  den  Vorfall 
ihrem  Vorgesetzten.  Man  hat  absolut  keine  Erklärung  da- 
für, wie  es  dieser  Frau  möglich  war,  25  Jahre  lang  un- 
erkannt als  Mann  in  dem  Kloster  zu  leben.  Die  Verstorbene 
trug  zwar  nicht  den  bei  den  orthodoxen  ^lönchen  üblichen 
Bart,  hatte  aber  sonst  ganz  männliche  Gesichtszüge,  und 
nichts  in  ihrem  Gehaben  deutete  das  Geschlecht  des  eigen- 
tümlichen Klosterinsassen  an.  Der  Bürgermeister  der  Ge- 

2G* 


404 


meinde  Tzibucani  hat  den  Fall  zur  Kenntnis  des  Staats- 
anwalts gebracht,  und  man  ist  jetzt  allgemein  gespannt 
darauf,  ob  es  gelingen  wird,  des  Rätsels  Lösung  zu  finden 
und  das  Geheimnis  zu  entschleiern,  das  sich  hinter  dem 
merkwürdigen  Fall  verbirgt.“  (Mb.  05.  VII.  12.)*) 

Grosses  Aufsehen  erregte  vor  einigen  Jahren  ein  Fall, 
über  den  italienische  und  deutsche  Zeitungen  folgende  Mit- 
teilungen veröffentlichten: 

„In  dem  Städtchen  Sori  an  der  genuesischen  Riviera, 
w'enige  Kilometer  östlich  von  Nervi  starb  im  Mai  des  Jahres 
1906  ein  älterer  deutscher  Herr,  der  sich  Professor 
Anton  Herrmann  nannte.  Zur  allgemeinen  Ueber- 
raschung  stellte  es  sich  nach  seinem  Tode  heraus,  dass 
dieser  Herr  die  49jährige  Wiener  Malerin  Hermine  Hermann, 
die  Schwester  eines  Universitätsprofessors  ins  Innsbruck,  war, 
die  sich  seit  1889  in  Sori  aufhielt.  Sie  trug  gewöhnlich 
einen  grossen,  schwarzen  Schnurrbart,  doch  wollten  Per- 
sonen sie  ohne  Bart  im  Garten  beim  Ballspiel  gesehen 
haben  und  ein  jMädchen  behauptete,  in  der  Kirche  beobachtet 
zu  haben,  dass  ihr  einmal  der  schwarze  Schnurrbart  abge- 
fallen  sei.  Sie  verkehrte  in  Sori  viel  mit  einem  dort  an- 
sässigen Deutschen  Ehepaar,  dem  Oberst  a.  D.  Dr.  Z.  und 
Frau.  Besonders  nach  dem  Tode  des  Obersten  sah  man  den 
kleinen  schmächtigen  Professor  sehr  viel  in  der  von  seiner 
Freundin  angekauften  und  geschmackvoll  ausgestatteten 

*)  Eine  im  Mittelalter  weit  verbreitete  Legende  von  der  hei- 
ligen Marina  erzählt,  dass  diese,  als  ihr  Vater  Eugenius  Mönch  wird, 
selbst  Männerkleider  anlegt,  um  Mönch  zu  werden  und  mit  ihm  zu  gehen. 
Sie  wird  als  solcher  (ihren  Namen  hatte  sie  in  Marius  umgewandelt)  be- 
schuldigt, ein  Kind  gezeugt  zu  haben  und  verstossen.  Sie  verteidigt  sich 
nicht  und  nimmt  sich  des  Kindes  an.  Erst  nach  ihrem  Tode 
kommt  ihr  Geschlecht  zu  Tage.  Bayle,  Dictionnaire  histo- 
rique  et  critique  Bd.  IV,  110b,  erwähnt  einen  Mönch,  der  schwanger  ge- 
worden sei  und  ein  Kind  geboren  habe,  und  von  dem,  nach  einem  Gedicht 
von  Jehan  Molinet,  es  geheissen,  er  habe  die  Geschlechtsteile  beider  Ge- 
schlechter besessen  und  sich  selbst  geschwängert.  Bayle  selbst  hält  ihn  für 
einen  Hermaphroditen,  glaubt  aber  nicht  au  die  Selbstschwängerung.  Nach 
der  „Chronique  scandaleuse  de  Louis  XI.“  wurde  dieser  schwangere  Mönch 
ins  Gefängnis  geworfen;  nach  Robert  Gaguin  ereignete  sich  der  Fall  in 
einem  Kloster  zu  Issoire  en  Auvergne, 


405 


Villa  „Wilhelmine'‘.  Später  zog  Professor  Herrmaiin  in  die 
von  Frau  Z.  gemietete  Adlla  „Moresko“,  wo  im  Jatire 
1904  die  Prinzessin  Alice  vor  Bourbon,  Tochter  von 
Don  Carlos,  mit  ihrem  Bruder  Jaime  eine  Zeit  lang 
wohnte.  Der  Name  „la  viila  misteriosa"'  — so  wurde  die 
Villa  seit  langer  Zeit  im  Volksmund  genannt  — sollte  bald 
eine  neue  Bestätigung  erfahren.  Vor  einigen  Monaten 
erkrankte  Prof.  Herrmann  und  es  wurden  verschiedene  Aerzte 
befragt,  denen  aber  nicht  gestattet  wurde,  eine  körperliche 
Untersuchung  vörzunehmen.  Am  Tage  vor  Ostern  wurde  der 
Zustand,  es  scheint  sich  um  Krebs  gehandelt  zu  haben,  so 
bedenklich,  dass  der  Priester  gerufen  wurde.  Als  er  zur 
letzten  Oelung  schreiten  wollte,  bestand  Frau  Z.  darauf, 
dass  die  Brust  nicht  geöffnet  würde,  was  den  Geistlichen 
nicht  wenig  befremdete.  Nach  dem  am  Montag  erfolgten 
Tode  des  Kranken  erschien  der  telegraphisch  herbeigerufene 
Bruder  der  Verschiedenen  beim  Pfarrer  und  auf  dem  Zivil- 
standesamt und  meldete  das  49jährige  Fräulein  Hermine 
Herrmann  aus  Wien  als  verstorben  an.  Der  Gemeindearzt 
bestätigte  darauf  die  Wahrheit  und  das  bis  dahin  ver- 
borgen gebliebene  Geschlecht  der  Tote  n.“ 
(Mb.  05.  VI.  p.  13.) 

„Im  November  1906  wurde  in  dem  Oertchen  Colombes  in 
Frankreich  ein  Fuhrmann  durch  ein  Automobil  vom  Wagen 
geschleudert  und  starb  darauf.  Als  sein  Leib  begraben 
werden  sollte,  fand  man.  dass  es  eine  Frau  war.  Auf 
weitere  Nachforschungen  hin  ergab  sich,  dass  sich  hinter 
diesem  merkwürdigen  Fuhrmann  ein  Mädchen  aus  guter 
Familie  namens  Klotilde  Filly,  verbarg,  die  vor  dreissig 
Jahren  nach  einem  Zwist  mit  den  Ihrigen  ihre  Heimat  ver- 
lassen und  seitdem  in  Männer  kleidung  gelebt  hatte. 
Von  ihren  Kollegen  hatte  sie  wegen  ihrer  grossen  Körper- 
kräfte den  Beinamen  „Eisenarm“  erhalten.  Sie  war  wegen 
ihres  hitzigen  Temperaments  und  ihrer  schnellen  Kampfes- 
bereitschaft von  allen  Fuhrleuten  gefürchtet,  die  hinter  dem 
kräftigen  Boxer,  der  so  empfindliche  Schläge  aus- 
teilen konnte,  nie  und  nimmer  eine  Frau  geahnt  hätten.“ 

„In  Paris  hat  im  Jahre  1903  ein  Original  das  Zeitliche 


406 


gesegnet,  nicht  ohne,  seinem  sonderbaren  Charakter  ent- 
sprechend, der  Welt  eine  originelle  Ueberraschnng  zu  hinter- 
lassen. Der  Bureaudiener  Marius  war  eine  bescheidene 
witzige  und  allen  Pariser  Journalisten  bekannte  Persönlich- 
keit gewesen,  die  in  den  meisten  Zeitungsredaktionen  der 
Hauptstadt  ein-  und  ausging.  Marius  war  klein  und  bart- 
los; man  war  stets  über  sein  Alter  im  Zweifel,  wenn  man 
ihn  sah.  Der  ehemalige  Kammerpräsident  Burdeau  brachte 
ihn  in  der  Redaktion  des  „Soir“  als  Bureaudiener  unter. 
Dann  war  er  an  mehreren  anderen  Zeitungen.  Zuletzt  diente 
Marius  bei  der  Sportzeitung  Auteuil-Longchamps.  Gestern 
fand  man  ihn  tot  in  seinem  Bette.  Man  glaubte  erst  an 
einen  Selbstmord,  aber  der  Gerichtsarzt  stellte  fest,  dass 
Marius  im  Alter  von  62  Jahren  eines  ganz  natürlichen  Todes 
gestorben  sei,  und  hierbei  kam  er  auf  die  unerwartete  Ent- 
deckung; Marius  war  eine  Frau.“  (Jhb.  V.  p.  1203.) 

Ende  November  1909  erstattete  Professor  C.  S u n d - 
berg  in  Stockholm  in  der  schwedischen  ärztlichen  Ge- 
sellschaft über  einen  Aufsehen  erregenden  Pall  Bericht.  Ein 
dort  im  50.  Jahre  an  der  Schwindsucht  verstorbener  Mann 
mit  Vornamen  Emil  Kristian  hatte  eine  letztwillige  Ver- 
fügung hinterlassen,  worin  er  bestimmte,  dass  seine  Leiche 
von  dem  bekannten  Professor  Sundberg  obduziert  werden 
sollte,  damit  die  Frage  seines  Geschlechts  endlich  einwands- 
frei fest  gestellt  werden  könnte.  Professor  Sundberg  nahm 
die  Obduktion  vor,  und  cs  stellte  sich  heraus,  dass  Emil 
Kristian  ein  Weib  war.  Wie  mir  Professor  Sundberg 
selbst  nützuteilen  die  Güte  hatte,  war  die  Person  bis  zu 
ihrem  25.  Jahre  als  Weib  betrachtet  worden.  Sie  ging 
in  die  Mädchenschule,  entwickelte  sich  körperlich  ausgezeichnet, 
besuchte  das  Lehrerinnen-Seminar,  bestand  ihr  Examen  und 
wurde  Volksschullehrerin.  Als  solche  fing  sie  allmählich  an 
wegen  ihrer  eigenartigen  Manieren  peinlich  aufzufallen.  Sie 
hatte  einen  kleinen  Grundbesitz  auf  dem  Lande,  erledigte 
dort  die  gröbste  landwirtschaftliche  Arbeit  eigenhändig, 
trank  und  rauchte  „wie  ein  Mann“,  und  die  Eltern  ihrer 
Schülerinnen  nahmen  immer  mehr  an  ihrem  Benehmen  An- 
stoss,  bis  ihr  schliesslich  nichts  weiter  übrig  blieb,  als 


407 


weg^n  der  vielen  Beschwerden  um  ihre  Entlassung  aus  dem 
Lehrerinnen- Amte  einzukommen.  In  der  Folgezeit  ernährte 
sie  sich  ausschliesslich  durch  die  Landwirtschaft.  Ihre  land- 
wirtschaftlichen Produkte  verkaufte  sie  selbst  in  der  nächst- 
liegenden  Stadt.  Auf  ihren  Reisen  nach  und  von  der  Stadt 
war  sie  wegen  ihrer  eigentümlichen  rauhen  und  tiefen  Stimme 
und  wegen  ihres  robusten  Wesens  oft  abenteuerlichen  Er- 
lebnissen ausgesetzt.  Einmal  nahm  sie  auf  einer  längeren 
Eisenbahnreise  Schlafwagenbillett  und  erhielt  auf  ihr  An- 
suchen Platz  in  einem  Abteil  für  Damen  angewiesen.  Als 
sie  hier  ihre  Toilette  machte,  wurde  die  mitreisende  Dame 
wegen  ihres  „robusten  Wesens“  und  ihrer  „männlichen  Ma- 
nieren“ besorgt.  Sie  rief  den  Schaffner,  welcher  der  mann- 
haft aussehenden  Dame  befahl,  den  Wagen  zu  verlassen.  Als 
sie  sich  dieser  Anordnung  nicht  gutwillig  fügen  wollte,  musste 
sie  auf  der  nächsten  Station  auf  Anordnung  der  Bahnhofspolizei 
den  Zug  verlassen.  Sie  verlangte  nun,  zu  einem  Arzt  ge- 
führt zu  werden.  Ihrem  Verlangen  wurde  stattgegeben,  der 
Arzt  konstatierte  ihr  weibliches  Geschlecht  und  sie  durfte 
die  Reise  mit  dem  nächsten  Zug  im  Damenabteil  fortsetzen. 
Durch  diese  und  ähnliche  Vorkommnisse  verbittert,  gelang  es 
ihr  schliesslich  einen  Arzt  zu  finden,  der  ein  Attest  aus- 
stellte, dass  sie  ein  Mann  sei.  Prof.  Sundberg 
schreibt  mir  darüber;  „Ich  bedauere  aussprechen  zu  müssen, 
dass  ein  Arzt  eine  so  leichtsinnige  Diagnose  machen  konnte, 
ohne  einen  Spezialisten  oder  einen  mehr  kritischen  Kollegen 
zu  konsultieren.“  Allerdings  hatte  sie  keine  Menstruation, 
keine  Brusteutwickluiig,  Uterus  und  Ovarien  waren  im  Leben 
nicht  palpabel;  die  äusseren  Genitalien  dagegen  rein  weib- 
lich, aber  atrophische  dünne  labia  majora  und  beinahe  keine 
labia  minora,  die  Clitoris  nicht  gross,'  Vagina  kurz  und  eng. 
Durch  die  Vermittelung  eines  Arztes  und  eines  hervorragen- 
den Juristen,  mit  dem  „sie“  sich  über  den  Fall  besprach,  er- 
hielt .,sie“  durch  königliche  Verfügung  die  Erlaubnis,  künftig 
als  Mann  betrachtet  zu  werden.  Der  zuständige  Pfarrer 
führte  demgemäss  in  das  betreffende  Geburts-  und  Sterbe- 
register einen  dementsprechenden  Vermerk  folgenden  Wort- 
lauts ein;  „Die  Schullehrerin  Emma  Kristiana  . . . soll 


408 


künftig  als  Manu  gelten  und  mit  dem  Landwirt  Emil  Kristian 
. . . identisch  sein.“  Emil  Kristian  fühlte  sich  in  der 
Mannestracht  und  als  „Manu“  sehr  wohl,  „er“  kümmerte  sich 
um  seine  Landwirtschaft,  und  „sein“  Leben  verfloss  in  der 
Folgezeit  ohne  abenteuerliche  Geschehnisse.  „Emil  Kristian“ 
wurde  nach  einigen  Jahren  Bierkutscher  in  der  Nachbarstadt. 
Als  solcher  besuchte  er  einige  Male  den  Professor  Sundberg, 
dem  „er“  „seine“  eigentümlichen  Lebensschicksale  niitteilte. 
„Er“  liess  sich  auf  Wunsch  des  Professors  von  ihm  unter- 
suchen; der  Professor  hatte  berechtigte  Zweifel,  ob  „er“ 
denn  doch  nicht  ein  Weib  sei.  Er  setzte  sich  aber  jedem 
Versuch,  sein  Geschlecht  nochmals  zu  ändern,  energisch  ent- 
gegen. Die  königliche  Verfügung  über  sein  männliches  Ge- 
schlecht trug  Emil  Kristian  immer  in  der  Tasche  bei  sich. 

Wie  mir  Professor  Sundberg  berichtet,  war  die  Person 
„nicht  homosexuell“ ; denn  sie  hatte,  nachdem  sie  als  Mann 
erklärt  war,  nur  Umgang  mit  Männern;  nur  in  einem  Fall 
hatte  sie  sich  mit  einer  Frau  abgegeben. 

Aus  Trinidad,  Colorado,  teilt  die  „Newjmrker  Staats- 
zeitung“ vom  12.  November  1907  mit;  „In  einem  hiesigen 
Hospital  ist  heute  Frl.  Catharine  Vosbaugh  gestorben,  die 
sich  sechzig  Jahrelang  für  einen  Mann  aus- 
gegeben hat.  Vor  83  Jahren  in  Frankreich  geboren, 
fand  sie  es,  ihres  Geschlechtes  wegen,  schwierig,  ihr  Fort- 
kommen in  der  Welt  zu  finden,  weshalb  sie  Männerkleider 
anlegte  und  eine  Stellung  als  Buchhalter  in  Joplin,  Mo.,  an- 
nahm. Nachdem  sie  diese  neun  Jahre  lang  inne  gehabt, 
nahm  sie  eine  Stellung  in  einer  Bank  in  St.  Joseph,  Mo., 
an.  In  letzterer  Stadt  heiratete  sie  ein  Mädchen,  mit  dem 
sie  30  Jahre  lang  unter  dem  Namen  Charles  Vosbaugh  zu- 
sammenlebte. Vor  zwei  Jahren  kamen  die  beiden  als  Mann 
und  Weib  nach  Trinidad.  Nach  dem  Tode  der 
Frau  war  Frl.  Vosbaugh  in  verschiedenen  Berufsarten 
tätig,  bis  sie  letztes  Jahr  so  hinfällig  wurde,  dass  sie  nach 
einem  Hospital  gebracht  werden  musste.  Dort 
wurde  ihr  wirkliches  Geschlecht  erkannt. 
Aber  selbst  dann  weigerte  sie  sich,  Frauenkleidung  anzulegen, 
und  trug  bis  zu  ihrem  Tode  Männerkleidung.“  (Z.  f.  S.  59.) 


409 


In  Amerika  scheinen  die  Fälle  von  Geschlechtsverklei- 
dungen besonders  oft  vorzukommen;  dass  sie  sich  aber  keines- 
wegs erst  mit  der  modernen  Frauenemancipation  einge- 
stellt haben,  zeigt  das,  was  wir  oben  über  ganz  ähnliche 
Vorkommnisse  bei  amerikanischen  Naturvölkern  berichteten. 
Ein  Fall,  der  in  neuerer  Zeit  ganz  besonders  viel  beachtet 
und  besprochen  wurde,  war  der  des  bekannten  Politikers 
Murray-Hall.  Der  Arzt  Dr.  Galager,  der  ihn  in  seiner 
Todeskrankheit,  Brustkrebs,  behandelte,  machte  nach  dem 
Hinscheiden  Mr.  Murray-Halls  dem  Leichenbeschauer  die  An- 
zeige, der  Verstorbene  sei  eine  Frau  gewesen.  Er  hatte 
ein  bartloses  Gesicht  und  machte  den  Eindruck,  eines  gut- 
mütigen alten  Herrn;  die  Stimme,  ein  tiefer  Alt,  konnte 
ganz  gut  als  Männerstimme  gelten.  Er  war  dreissig  Jahre 
lang  in  Männerkleidung  umhergegangen,  ohne  dass  auch  nur 
„ihre“  nächste  Umgebung  eine  Ahnung  davon  hatte.  Er  starb 
im  Alter  von  sechzig  Jahren,  imd  als  nach  seinem  Tode  das 
Geheimnis  bekannt  wurde,  war  ganz  Newyork  erstaunt,  zu 
hören,  dass  der  wohlbekannte  Bürger  und  eifrige  Tammany- 
Politiker  „Mr.“  Murray  Hall  ein  Weib  war.  Selbst  seine 
adoptierte  Tochter  war  auf  das  höchste  überrascht,  ihren 
Vater  nach  seinem  Tode  von  einer  so  gänzlich  neuen  Seite 
kennen  zu  lernen.  Das  Sonderbarste  aber  ist,  dass  „Mr.“  Murray 
Hall  zweimal  verheiratet  war  und  mit  beiden  Frauen  sehr 
glücklich  gelebt  haben  soll.  Er  war  der  erste  Teilhaber  einer 
grossen  Newyorker  Firma  und  hinterliess  ein  Vermögen  von 
250  000  Mark,  nachdem  er  grosse  Summen  bereits  bei 
Lebzeiten  für  wohltätige  und  politische  Zwecke  geopfert 
hatte.  Bei  Wahlen  war  er  einer  der  eifrigsten  Agitatoren, 
und  soll  bei  der  Niederlage  des  Tammany-„Boss“  ganz  un- 
tröstlich gewesen  sein.  Auf  ihrem  Sterbebette  bekannte  sie, 
dass  sie  die  Verkleidung  aus  dem  Grunde  getragen  habe, 
um  besser  Geld  verdienen  zu  können,  und  der  Erfolg  hat 
ihr  Recht  gegeben.“  (Jhb.  III.  583). 

Die  bekannte  Duplizität  der  Ereignisse,  die  sich  dieses 
Mal  sogar  bis  auf  den  Namen  erstreckte,  fügte  es,  dass  sich 
nicht  lange  darauf  folgender  FaU  zutrug: 

„Miss  Karoline  Hall,  die  Tochter  eines  Bostoner  Milli- 


410 


onärs  und  Architekten,  hatte  im  Auslande  Malerei  studiert 
und  in  ihrem  Fach  einen  gewissen  Ruf  erworben.  Schliess- 
lich schlug  sie  ihren  Wohnsitz  in  Mailand  auf,  wo  sie 
Josephine  B.  kennen  lernte,  die  dort  an  der  Kunstschule 
war.  Beide  Frauen  wurden  intim  befreundet,  und  als  Miss 
Hall  später  männliche  Kleidung  anlegte,  galt  Signorina  B. 
als  Frau  Hall.  Bewunderung  für  ihre  grosse  Kollegin  Rosa 
Bonheur  hatte  Karoline  angeblich  dazu  geführt,  männliche 
Kleidung  und  Gewohnheiten  anzunehmen.  Sie  galt  überall  als  ein 
rechter  Bonvivant  und  guter  Kerl.  Als  Graf  Cassini  war  sie  in 
der  besten  Pariser  und  Londoner  Gesellschaft  bekannt.  Sie 
jagte  und  spielte  Golf  in  England,  besuchte  die  Cafes  in 
Paris,  rauchte,  schoss,  trank  viel  und  benahm  sich  voll- 
kommen wie  ein  Mann.  Als  sie  sich  mit  Signorina  Boriani 
auf  der  „citta  di  Torino“  als  Mr.  und  Mrs.  Hall  von  Genua 
nach  New-York  einschiffte,  wurde  sie  während  der  Reise 
krank,  sodass  der  Arzt  gerufen  werden  musste,  der  ihr  Ge- 
heimnis entdeckte.  Sie  räumte  ein,  dass  sie  eine  Frau  wäre, 
bat  ihn  aber  darum,  es  vor  den  Mitreisenden  zu  verheim- 
lichen, was  der  Arzt  ihr  versprach.  Die  Krankheit  ver- 
schlimmerte sich  aber  schnell,  und  als  das  Schiff  sich  dem 
New-Yorker  Hafen  näherte,  starb  sie.“  (Jhb.  Y.  11S2). 

Auch  hei  einem  Fischer  aus  der  Bretagne  fand 
man  nach  seinem  Tode,  dass  er  dem  weiblichen  Geschlecht 
angehört  hatte.  Es  ging  ihm  sehr  gut,  er  besass  eine 
kleine  Bootflotte  und  hatte  eine  beträchtliche  Summe  als 
Notgroschen  zurückgelegt.  Er  genoss  aller  Achtung  und 
war  bei  seinem  Tode  Witwer.  Er  war  tatsächlich  zweimal 
verheiratet  gewesen  und  hatte  ein  halbes  Jahrhundert  sein 
wirkliches  Geschlecht  verbergen  können.  Niemand  hatte  ge- 
ahnt, dass  er  eine  Frau  war,  noch  dazu  eine,  die  Frauen 
geheiratet  hatte.  (Jhb.  V.  1190.) 

Aus  Spanien  wurde  ira  November  1906  folgendes  ge- 
meldet: „Eine  nette  Enttäuschung  musste  die  Siadtver- 

waltung  von  Sevilla  mit  ihrem  ältesten  Polizeiagenten  er- 
leben. Dreissig  Jahre  lang -hat  Fernando  Marqueuse  seine 
Vorgesetzten  Behörden  in  ganz  unglaublicher  Weise  hinters 
Licht  geführt.  Vor  einigen  Tagen  nämlich  tat  der  Sieb- 


411 


zigjährige  einen  unglücklichen  Sturz  und 
wurde  in  das  Krankenhaus  geschafft.  Wer 
aber  beschreibt  die  verblüfften  Gesichter  der  Aerzte,  als  sie 
am  1.  Nov.  entdeckten,  dass  der  Alte  zeitlebens  eine  Frau 
gewesen.  Der  Gouverneur  wollte  die  Nachricht  von  der 
späten  Metamorphose  des  Wärters  der  öffentlichen  Ordnung 
und  dass  dieser  eigentlich  eine  Wärterin  sei,  zuerst  gar- 
nicht  glauben  und  er  ordnete  sofort  eine  zweite  gründliche 
Untersuchung  an.  Die  bestätigte  aber  nur  unwiderleglich 
die  Wirklichkeit  des  Phänomens.“ 

Ueber  eine  Geschlechtsvorspiegelung,  die  ebenfalls  erst 
im  Krankenhause  bemerkbar  wurde,  berichteten  im 

Juni  1902  die  Pariser  Zeitungen  wie  folgt:  „Das  Spital 
Lariboisiere  in  Paris  beherbergt  augenblicklich  einen 
Patienten,  der  in  Männerkleidern  sich  zur  Auf- 
nahme meldete,  als  Monsieur  Paul  ins  Aufnahme- 
register eingetragen  wurde,  sich  aber  alsbald  als  Weib  ent- 
puppte. Monsieur  Paul  ist  von  Beruf  Fuhrmann.  Seit  Jahren 
übt  er  dieses  Handwerk  aus.,  ohne  dass  je  irgend  jemand 
hinter  ihm  ein  Weib  vermutet  hätte.  Seine  Kollegen  ver- 
sicherten, dass  er  die  Peitsche  schwingen  kann,  wie  jeder 
richtige  Fuhrmann,  und  auch  Fluchen  und  Schimpfen  wie  ein 
solcher.  Und  doch  ist  Monsieur  Paul  ein  Weib 

von  riesigen  Körperformen,  gross  und  stark  wie  ein  Mann 
und  in  jeder  Beziehung  von  männlichem  Charakter.  Ihre  ganze 
Person  zeigt  männlichen  Habitus,  breite  ausgearbeitete 
Hände,  kräftigen  Biceps  und  einen  scharfgeschnittenen,  trotz 
des  Fehlens  des  Bartes  durchaus  männlichen  Gesichtsausdruck. 
Monsieur  Paul  ist  ein  Findelkind.  Von  braven  Fuhrleuten 
gefunden  und  angenommen,  hat  sie  ihre  ganze  Kindheit 
— sie  ist  25  Jahre  alt  — bei  den  Pferden  zugebracht.  Da 
ihr  der  Beruf  ihres  Adopti\waters  gefiel,  hat  sie.  als  sie  ins 
reife  Alter  trat,  Männerkleider  angelegt  und  die  Peitsche  in 
die  Hand  genommen.  Ke' in  Mensch  ahnte,  dass 
der  junge  Fuhrmann  ein  Weib  sei.  Im  Augen- 
blick, wo  sie  ins  Spital  eintreten  musste,  war  sie  bei  einem 
der  grössten  Pariser  Rollfuhrwerkunternehmer  bedienstet. 
Seitdem  ihr  wirkliches  Geschlecht  entdeckt  ist,  lebt  sie  in 


412 


steter  Angst,  ihr  Lohnherr  werde  sie  nicht  mehr  zurück- 
nehmen wollen.“ 

Die  umgekehrten  Fälle,  in  denen  Frauen  sich  bei  ihrem 
Tode  oder  in  schwerer  Krankheit  als  Männer  erweisen,  scheinen 
seltener  zu  sein.  Vielleicht  besitzt  die  männlich  geartete 
Frau  zur  Durchführung  dieser  immerhin  nicht  leichten 
Aufgabe  mehr  Energie  als  der  weiblich  geartete  Mann. 
Von  einer  69]ährigen  Einsammlerin  in  Thüringen,  deren  Ge- 
schlecht sich  nach  ihrem  Tode  als  männlich  erwies,  war  oben 
bereits  die  Rede.  Tarnowsky*)  berichtet  von  einer  be- 
rühmten englischen  Schauspielerin  Elisa  Edwards,  „qui  apres 
sa  mort  fut  reconnue  pour  avoir  ete  un  homme  deguise!“  In 
Petersburg  ereignete  sich  im  .Januar  1907  ein  Fall,  der  dort 
in  weiten  Kreisen  Aufsehen  henmrrief.  Vor  Jahren  war  eine 
junge  Dame  in  Petersburg  erschienen,  die  sich  als  Lehrerin 
betätigen  wollte  und  ein  Mädchengymnasium  gründete.  Durch 
ihr  energisches  Wesen,  ihr  schlichtes,  ernstes  Auftreten  und 
ihre  Kunst,  Kinder  zu  behandeln,  gewann  ihr  Unternehmen 
bald  grossen  Zuspruch,  und  sie  zählte  die  jungen  Mädchen 
aus  den  ersten  Gesellschaftskreisen  zu  ihren  Schülerinnen. 
Die  Eltern  selbst  hatten  keinen  Verdacht,  wohl  aber 
merkwürdigerweise  manche  der  Zöglinge,  die  eines  Tages 
Zeugen  waren,  wie  eine  blinde  Bettlerin,  der  die  Lehrerin 
einst  in  Begleitung  ihrer  Schülerinnen  mit  ein  paar  freund- 
lichen W”orten  einige  Kopeken  zugeworfen  hatte,  ihr  ant- 
wortete: „Danke,  Herr  Oberst!“  Seitdem  fiel  ihnen  vieles 

auf,  ihre  männlich  klingende  Sprache,  ihr  Gang,  ihre  Klei- 
dung, die  stets  in  einem  seltsamen  langen  Rock  und 

einem  Jakett  bestand.  Erst,  als  die  Leiterin  der 
Schule  plötzlich  starb,  wurde  der  Verdacht  zur  Ge- 
wissheit. Man  fand  in  der  Wohnung  der  Lehrerin,  die 
sonst  niemand  betreten  hatte,  da  sie  sehr  zurückgezogen 
lebte,  sehr  viele  Gebrauchsgegenstände  eines  Mannes,  vie  z.  B. 
Rasierzeuge,  halbvolle  und  leere  Zigarrenkisten,  Tabakpfeifen 
und  vieles  andere.  Und  aus  den  Schriftstücken  und  Nachlass- 

*)  L’instinct  se.\uel  et  ses  manifestations  morbides.  Au  double  poinb 
de  la  Jurisprudence  et  de  la  Psychiatrie.  Pariß  1904.  p.  27. 


413 


papieren,  die  jetzt  an  die  Oeffentlichkeit  kamen,  ging  auch  der 
angebliche  Grund  der  seltsamen  Lebensweise  dieses  Mannes  her- 
vor. Er  benutzte  die  Verkleidung  als  Schutz  gegen  polizei- 
liche Verfolgungen.  Er  war  nämlich  vor  vielen  Jahren  wegen 
politischer  Vergehen  zu  schwerer  Zwangsarbeit  verurteilt 
worden,  entfloh  auf  demi  Transporte,  und  da  er  sich  nur 
einen  Frauenpass  verschaffen  konnte,  lebte  er  als  Weib  und 
führte  diese  kühne  Idee  während  seines  ganzen 
Av  eiteren  Lebens  mit  Glück  durch. 

Die  „Grenzboten“  (Leipzig,  v.  22.  März  1906)  enthielten 
eine  längere  Abhandlung  von  Ch.  Freiherrn  v.  Fa- 
hr i c e , welche  den  Titel  „Eine  unheimliche  Per- 
sönlichkeit“ führt,  und  über  einen  unter  dem  Namen 
eines  Fräulein  Henriette-  Jenny  Savalette  de  Langes  lebenden 
Abenteurer  berichtet,  „der  sein  keckes  und  geschicktes  Spiel  mit 
den  höchsten  Kreisen  der  Aristokratie  trieb.  Er  hatte  sich 
in  jene  exklusiven  Sphären  einzudrängen  und  darin  b i s z u 
seinemTode  zu  erhalten  gewusst.  Zweifel  an  seinem  Ge- 
schlechts waren,  obwohl  einige  um  den  richtigen  Tatbestand 
gewusst  haben  dürften,  nie  laut  geworden,  verstand  es  doch 
Henriette- Jenny,  (seinen  wahren  Namen  gibt  der  Autor  des 
bezeichneten  Aufsatzes  nicht),  meisterhaft  die  Gewohnheiten 
eines  alten  Fräuleins  zur  Schau  zu  tragen,  auch  soll  er 
Spitzenhauben,  Häkel-  und  Tapisseriearbeiten  mit  Geschmack 
verfertigt  haben,  seine  Küche  war  berühmt  und  seine  Koch- 
rezepte fanden  viel  Beifall.  In  Haltung,  Sprache,  Geberden 
und  Gewohnheiten  soll  er  gänzlich  zum  Weibe  geworden 
sein,  doch  nannten  ihn  die  Kinder  der  gräflich  S.  R. 'sehen 
Familie,  in  der  er  oder  sie  viel  verkehrte,  „tante  Barbe“, 
weil  sie  das  Gesicht  der  „Tante“  beim  Küssen  so  rauh 
fanden.“  Die  Entdeckung,  dass  Henriette-Jenny  ein  Mann, 
ward  erst  nach  ihrem  Tode  durch  den  Gerichtsarzt 
gemacht.  Als  dann  an  dem  Hause,  dass  das  angebliche  Fräu- 
lein Savalette  de  Langes  in  Versailles  bewohnt  hatte, 
ein  Schild  angebracht  wurde,  auf  dem  stand:  „Zu  ver- 
kaufen wegen  Todesfalles  des  Mannes,  der  zu  seinen  Leb- 
zeiten Mademoiselle  Henriette-Jeanne  Savalette  de  Langes 
hiess“,  tauchte  die  Vermutung  auf,  das  geheimnis- 


414 


volle  Weib  öei  niemand,  anders  gewesen,  als  Ludwig  XVII., 
der  arme  Dauphin  von  Frankreich,  an  dessen  Sterben  im 
Temple  schon  damals  viele  nicht  glaubten.*) 

lieber  eine  bei  der  Aufnahme  in  die  Irrenanstalt  fest- 
gestellte Geschlechtsverkleidung  eines  Mannes  berichtete 
man  im  März  1903  aus  Budapest:  „Vor  einigen  Jahren  wurde 
bei  der  königlichen  Oper  eine  junge  Tänzerin  aufgenommen, 
die  sich  bald  ob  ihrer  Anmut  und  Bescheidenheit  allgemeine 
Sympathien  erwarb.  Die  Tänzerin  zeigte  vor  wenigen  Tagen 
Spuren  von  Geistesstörung  und  musste  deshalb  in  die 
Leopoldifelder  Irrenanstalt  gebracht  werden.  Bei  der  Unter- 
suchung durch  Professor  Salgo  stellte  es  sich  heraus,  dass 
die  junge  Tänzerin  männlichen  Geschlechts  sei.  Die  Anzeige 
über  den  Vorfall  wurde  an  die  Behörden  erstattet.“ 


Selbstmörder  in  Geschlechts  Verkleidung. 

Es  stimmt  mit  unserer  obigen  Annahme,  dass  transves- 
titische  Frauen  zur  Durchführung  ihrer  Rolle  eine  grössere 
Energie  zu  besitzen  scheinen,  als  zur  W^eibvortäuschung 
neigende  Männer,  überein,  dass,  soweit  sich  dies  durch  die 
bisherigen  Beobachtungen  eruieren  lässt,  diese  relativ 
häufiger  ihrem  Leben  ein  Ende  bereiten,  als  jene.  Von 
Selbstmördern  in  Frauenkleidern  habe  ich  eine  ganze  Anzahl 
ermitteln  können,  während  ich  von  Selbstmörderinnen  in 
Männerkleidern  nur  ein  Beispiel  anführen  kann.  In  Königs- 
berg i.  Pr.  erhängte  sich  vor  einigen  Jahren  in  eleganter 
Prauentoilette  der  durch  seine  Kunstsammlungen  weitbekannte 
Grossgrundbesitzer  und  Millionär  v.  F.,  der  in  glücklicher 
Ehe  lebte.  Auf  der  Insel  Wight  wurde  vor  nicht  langer  Zeit 
eine  weiblich  gekleidete  Leiche  angeschwemmt,  die  sich  als 
die  eines  vermissten  angesehenen  Londoner  Advokaten  erwies. 
Wie  das  Berl.  T.  vom  19.  April  04  mitteilt,  führte  eine 
Leichenschau  in  Staten  Island  zu  einer  merkwürdigen  Ent- 

•)  Vgl.  zu  diesem  Fall  auch  das  Feuilleton  von  Dr.  A.  v.  Wilke: 
„Das  Mannweib  von  Versailles,  ein  Rätsel“  im  Berl.  Tagebl.  1906,  Nr.  438. 


415 


deckung.  „Ein  Kapitän  Tweed,  der  lange  Jahre  als 
Kapitän  den  Atlantischen  Ozean  durchkreuzt  hatte,  war  in 
ein  Seemannsheim  aufgenommen  worden.  Kapitän  Tweed 
schien  schwermütig  geworden  zu  sein,  denn  er  verkehrte  mit 
den  anderen  Insassen  des  Heims  nicht  und  wurde  schliesslich 
ernstlich  krank.  Am  Montag  fand  man  seine  Leiche  m i t 
durchschnittenem  Halse.  Es  war  nicht  daran  zu 
zweifeln,  dass  der  Lebensmüde  sich  selbst  entleibt 
hatte.  Als  der  Arzt  die  für  die  Leichenschau  vorgeschriebene 
Untersuchung  vornahm,  entdeckte  er,  dass  Kapitän  Tweed 
eine  Frau  war.  Man  hatte  sich  zwar  häufig  über  die  voll- 
ständige Bartlosigkeit  des  Kapitäns  gewundert,  aber  niemals 
einen  derartigen  Verdacht  geschöpft.“ 

Am  27.  Mai  1891  wurde  in  Berlin  gegenüber  dem  Hause 
Waterloo-Ufer  17  aus  dem  Landwehrkanal  ein  Mann  in 
Frauenkleidern  aufgefischt,  dessen  Identität  nicht  festgestellt 
worden  konnte.  „Der  Tote,  ein  kräftiger  Mann  in  der  Mitte 
der  dreissiger  Jahre,  mit  einem  leichten  Anhauch  von  blondem 
Schnurr bärtchen,  war  vollständig  wie  eine  Dame  gekleidet,  an 
seinen  Fingern  befanden  sich  eine  Anzahl  zierlicher 

Ringe,  welche  sich  jedoch  später  zumeist  als  unecht  er- 
wiesen. Unter  den  Ringen  befand  sich  einer  mit  blauem 
Stein,  ein  Trauring,  gez.  0.  J.,  ein  silberner,  glatter  Ring, 
gez.  M.  S.,  ein  ähnlicher  Ring  und  ein  unechter  Trauring 
ohne  Zeichen.  Ein  weisses  Taschentuch  wies  die  Zeichen 
H.  J.  7 auf.“ 

Unter  eigenartigen  Umständen  hat  ein  von  Dortmund 
nach  Bochum  zugereister  junger  Mann  in  einer  dortigen  Gast- 
wirtschaft am  5.  Nov.  1903  Selbstmord  verübt.  Als  der 
Fremde  am  IMorgen  nicht  zum  Vorschein  kam,  wurde  sein 
Zimmer  gewultsam  geöffnet.  Den  Eintretenden  bot  sich  nun 
ein  merkwürdiger  Anblick  dar.  Auf  seinem  Bette  hin- 
gestreckt. angetan  mit  einem  weissen  Braut- 
kleid und  Schleier,  auf  dem  Haupte  einen 
Myrthenkranz,  fand  man  den  jungen  Mann 
a 1 s L e i c h e a u f.  Er  hatte  sich  eine  Revolverkugel  durch 
die  Brust  gejagt.  Bei  der  Leiche  fand  man  2 Zettel,  von 
dem  der  eine  die  Worte  enthält:  Liebe  Frau  B.  . . .!  während 


416 


der  Lebensmüde  auf  dem  zweiten  Zettel  bittet,  i h n i m 
Brautstaat  beerdigen  zu  lassen.  Der  Tote 
wurde  später  als  der  32jährige  Arbeiter  Pompluhn  aus  Gerez 
im  Kreise  Köslin  rekognosziert. 

Einen  weiteren  Fall,  über  den  vor  kurzem  die  Berliner 
Zeitungen  berichteten,  hatte  ich  durch  die  Güte  des  Chef- 
arztes der  inneren  Abteilung  des  Urbankrankenhauses  näher 
zu  verfolgen  Gelegenheit.  Die  Notiz  der  Zeitungskorrespon- 
denz lautete;  „Ueber  eine  geheimnisvolle  Selbstmordaffaire 
wird  uns  aus  der  Friedrichstadt  berichtet.  In  einem  Hotel 
in  der  Schützenstrasse  dicht  an  der  Friedrichstrasse  stieg 
gestern  nachmittag  eine  junge,  elegant  gekleidete  Dame  ab. 
Sie  liess  sich  ein  teures  Zimmer  geben  und  wünschte  nicht 
gestört  zu  werden.  Einige  Zeit  darauf  wurde  das  Dienst- 
personal durch  ein  seltsames  Geräusch,  das  aus  dem  Zimmer 
des  neuangekommenen  Gastes  drang,  aufmerksam  gemacht. 
Man  öffnete  schliesslich  die  Tür  und  fand  nun  das  angebliche 
Mädchen  im  Blute  schwimmend  auf  dem  Erdboden  vor.  Auf 
dem  Tisch  lag  ein  scharfes  Messer,  mit  dem  die  Lebensmüde 
die  Pulsadern  der  rechten  Hand  aufgeschnitten  hatte.  Es 
wurde  dann  die  überraschende  Entdeckung  gemacht,  dass  sich 
hinter  der  eleganten  Dame  nicht  ein  junges  Mädchen,  son- 
dern eine  männliche  Person,  der  siebzehn  Jahre  alte  P.,  der 
bei  seinen  Eltern  in  Spandau  wohnte,  verbarg.  Auf  dem 
Tisch  wurde  ein  Abschiedsbrief  des  jungen  Lebensmüden  auf- 
gefunden, in  dem  P.  schreibt,  dass  er  sich  in  den  letzten 
Tagen  seines  Lebens  wirklich  als  Mensch  gefühlt  und  die 
schönen  Seiten  des  Daseins  durchkostet  habe.  In  bedenk- 
lichem Zustande  wurde  der  jugendliche  Selbstmörder  nach  dem 
Krankenhause  am  Urban  gebracht.“ 

Als  ich  P.  am  dritten  Tage  nach  seiner  Einlieferung  be- 
suchte, war  er  kurz  zuvor  aus  der  Bewusstlosigkeit  und  Ver- 
wirrtheit, die  infolge  des  schweren  Blutverlustes  eingetreten 
war,  zu  sich  gekommen.  Er  war  vollkommen  klar  und  freute 
sich,  als  ich  ihn  auf  die  heile  Sonne  aufmerksam  machte,  die 
in  sein  Krankenzimmer  strahlte,  darüber,  dass  er  mit  dem 
Leben  davongekommen  war. 

Ich  fand  einen  sehr  blassen,  seinem  Alter  von  17  Jahren 


417 


ziemlich  entsprechend  aussehenden  jungen  Menschen  mit  feinen, 
etwas  femininen  Gesichtszügen,  zarter  Haut  und  weichen 
Haaren.  Allmählich  gelang  es  mir,  sein  Vertrauen  Zu  ge- 
winnen. Er  erzählte  dann  folgendes:  Seit  früher  Jugend 

hätte  er  an  weiblicher  Kleidung  grossen  Gefallen  gehabt. 
Nachdem  er  vor  einigen  Jahren  auf  einer  Berliner  VarietA 
Bühne  einen  als  Frau  auf  tretenden  Mann  gesehen  hatte,  sei 
in  ihm  die  immer  stärker  werdende  Sehnsucht  erwacht,  auch 
als  Weib  im  Zirkus  oder  Spezialitäten-Theater  aufzutreten. 
Seine  Eltern  — der  Vater  hat  eine  Pantinenfabrik,  die 
l\Iutter  ist  Schneiderin  — hätten  diesen  Wunsch,  der  ihn  im 
Wachen  und  Träumen  verfolgte,  anfangs  nicht  ernst  ge- 
nommen und  ihn  dann,  als  er  immer  wieder  damit  kam, 
energisch  zurückgewiesen;  sie  hätten  ihn  dann  bei  einem 
Maler  in  die  Lehre  gegeben.  Trotzdem  sein  Meister  gut  sei, 
fühle  er  sich  doch  nicht  glücklich,  weil  er  immer  seine  männ- 
liche Kleidung  tragen  müsse.  Kürzlich  las  er  in  einer  Ar- 
tisten-Zeitung,  dass  ein  Mädchen  in  Hamburg,  die  als  Mann 
auftreten  wollte,  für  London  einen  Partner  suche,  der  eine 
weibliche  Rolle  übernehmen  solle.  Er  hätte  sich  darauf  ge- 
meldet und  seinen  Eltern  300  Mark  entwendet,  um  selbst 
nach  Hamburg  zu  fahren,  wo  er  sich  zunächst  von  dem 
Gelde  Frauenkleider  gekauft  habe.  Aus  dem  Engagement  sei 
nichts  geworden,  da  der  Geliebte  des  Mädchens,  ein  Graf, 
darauf  bestand,  dass  sie  keinen  männlichen  Partner  nehme. 
Seine  Barmittel  seien  bald  erschöpft  gewesen.  Er  hätte  sich 
von  Hamburg  nach  Stettin  und  von  da  nach  Berlin  begeben, 
immer  in  Frauenkleidern,  und  sei  nirgends  als  Mann  erkannt 
worden,  weder  auf  der  Eisenbahn,  wo  er  im  Frauenabteil 
fuhr,  noch  in  den  Hotels,  wo  er  sich  als  Selma  Brügge  ein- 
schrmb.  Da  er  sich  nicht  zu  seinen  Eltern  zurückzukehren 
getraute  und  diese  ihm  auch  nicht  in  dem  Wunsche  nachgeben 
wollten,  ohne  dessen  Erfüllung  sein  Leben  für  ihn  nur  eine 
geringe  Bedeutung  habe,  hätte  er  beschlossen,  sich  die  Puls- 
adern aufzuschneiden.  Auf  Befragen  erzählte  er  weiter,  dass 
er  eine  Braut,  Emmy  Sch.,  habe,  mit  der  er  schon  seit  einem 
Jahre  gelegentlich  auch  intim  verkehre;  er  liebe  sie  sehr,  wie  er 
sich  überhaupt  zu  dunkelhaarigen  jungen  Mädchen  hingezogen 

H i r 8 c h f e 1 d , Die  Transvestiten.  27 


418 


fühle.  Er  hätte  beabsichtigt,  das  Mädchen  später  zu  heiraten, 
zumal  seine  Eltern  ihr  Verhältnis  billigten.  Neigung  zu 
Männern  hätte  er  nie  verspürt,  könnte  es  sich  auch  nicht 
vorstellen,  dass  das  je  möglich  wäre;  er  habe  zwar  einen 
sehr  guten  Freund,  den  er  veranlasst  hätte,  mit  ihm,  und 
zwar  auch  in  Frauenkleidern,  Maskenbälle  zu  besuchen;  aber 
der  sei  nur  sein  guter  Kamerad  und  seine  Braut  liebe  er  ganz 
anders.  Sehr  unangenehm  sei  es  ihm  gewesen,  als  er 
merkte,  dass  sein  Schnurrbart  zu  wachsen  begann;  er  hätte 
schon  verschiedene  Enthaarungsmittel  angewandt.  Seine 
Stimme,  die  allerdings  ziemlich  hoch  ist,  brauche  er  beim 
Auftreten  als  Dame  (er  habe  sich  schon  oft  heimlich  darin 
geübt)  nicht  verändern. 

Ich  Hess  mir  auch  die  Eltern  des  jungen  lebensmüden 
Mannes  kommen,  die  seine  Au.ssagen  teils  bestätigten,  teils 
ergänzten.  Beide  Eltern  sind  gesund,  Willy  ist  ihr  einziges 
Kind,  zwei  Kinder  sind  früh  gestorben.  Die  Mutter  erzählte, 
dass  Willy  schon  als  Kind  gesagt  hätte,  er  wolle  kein  Junge 
sein  und  als  er  den  ersten  Knabenanzug  bekam,  habe  er  "viel 
geweint.  Er  habe  sich  immer  bei  ihr  in  der  Schneiderstube 
zu  schaffen  gemacht,  besonders  an  der  Nähmaschine,  die  er 
vollkommen  handhaben  könne;  sie  habe  ihm  schon  als  Kind 
oft  verboten,  sich  nicht  immer  die  Frauenkleider  anzuhalten. 
Sein  Hauptvergnügen  waren  immer  Puppen  und  Puppen- 
kleider, auch  hätte  er  gern  gestrickt  und  vor  allem  Hüte 
garniert;  gespielt  habe  er  bis  zu  seiner  Einsegnung  nur  mit 
Mädchen.  Die  Mutter  hatte  dem  allen  keine  Bedeutung  bei- 
gelegt. Der  Vater  sagt,  dass  ihm  der  Junge  immer  sehr 
.phantastisch“  vorgekommen  sei,  der  Meister  sei  mit  ihm 
zufrieden,  er  male  mit  Vorliebe  „recht  romantische  Bilder“ 
und  vor  allem  Damengestalten.  Er  sei  leicht  aufgeregt,  habe 
viel  im  Schlaf  gesprochen  und  oft  über  Kopfschmerz  ge- 
klagt. Beide  Eltern  sagten,  dass  er  ein  recht  braves,  folg- 
sames Kind  gewesen  sei,  von  dem  sie  nie  erwartet  hätten, 
dass  es  ihnen  „das  antun  würde“;  sie  hätten  doch  nur  sein 
Bestes  gewollt,  als  sie  ihn  das  "^vlalerhandwerk  ergreifen 
liessen  und  ihm  die  „dummen  Gedanken“,  Damenkomiker 
werden  zu  wollen,  ausgeredet  hätten.  Sie  sähen  jetzt  aller- 


419 


dings  ein,  dass  sie  schliesslich  seinem  Drängen  doch  werden 
nachgeben  müssen. 

Es  ist  natürlich  nicht  immer  der  Fall,  dass  transvesti- 
tisch  veranlagte  Selbstmörder  sich  direkt  in  der  Tracht 
des  anderen  Geschlechts  töten.  Am  1.  März  05  ging  folgende 
Mitteilung  durch  die  Berliner  Presse:  „Erschossen  hat  sich 
gelegentlich  eines  Besuches  bei  Verwandten  der  18  Jahre  alte 
Handlungsgehilfe  Willibald  Grothe,  der  Sohn  einer  Offiziers- 
witwe aus  Halberstadt.  Der  junge  Mann  hatte  schon  vor 
etwa  Jahresfrist  seine  Heimat  verlassen.  Damals  war  er 
nach  Berlin  gekommen,  trieb  sich  in  Frauenklei- 
dern umher  und  wurde  aufgegriffen.  Jetzt  ist  er  wiederum 
seit  acht  Tagen  unterwegs  und  kam  am  Montag  nachmittag 
bei  Verwandten  in  der  Mariendorfer  Strasse  16  an.  Seine 
Tante  empfing  ihn  freundlich,  liess  aber  einen  leisen  Vorwurf 
durchklingen.  Darauf  suchte  der  junge  Grothe  einen  ent- 
legenen Ort  auf,  von  wo  alsbald  zwei  Schüsse  ertönten.  Er  hatte 
sich  mit  einem  Revolver  in  die  rechte  Schläfe  geschossen.“ 
lieber  den  Selbstmord  einer  als  Zählkellner  verkleideten 
1"'  r a u wird  am  19.  Februar  09  aus  Czernowitz  berichtet: 
Gestern  ist  hier  der  Oberkellner  eines  der  ersten  Restau- 
rants, der  sich  Michael  Semeniuk  nannte,  gestorben.  Diens- 
tag mietete  er  ein  Zimmer  beim  Hausverwalter  Sturm  in  der 
Rotkirchgasse,  wo  er  gestern  schwer  erkrankte.  Der  herbei- 
gerufene Arzt  wollte  eine  Untersuchung  vornehmen,  doch 
der  Patient  gab  dies  nicht  zu.  Dem  Arzt  kam  dieses  Ver- 
halten um  so  merkwürdiger  vor,  als  Semeniuks  Zustand 
höchst  besorgniserregend  war.  Der  Arzt  setzte  nunmehr  das 
Thermometer  an,  um  die  Temperatur  zu  bestimmen.  Bei 
dieser  Gelegenheit  nahm  er  wahr,  dass  Semeniuks  Körperbil- 
dung weiblich  sei.  Ohne  eine  Diagnose  festgestellt  zu  haben, 
ging  der  Arzt  fort.  Am  Morgen  wurde  ihm  mitgeteilt,  dass 
der  Patient  gestorben  sei.  Er  begab  sich  nunmehr  ins  Sterbe- 
gemach und  konstatierte  mit  zweifelloser  Bestimmtheit,  dass 
Michael  Semeniuk,  der  ungefähr  26  Jahre  zählte,  ein  Weib 
sei,  das  seit  zwölf  Jahren  in  Czernowitz  Männer- 
kleider trug  und  überall  als  Zählkellner  bekannt  war.  Die 
Todesursache  war  Vergiftung. 


27* 


420 


Anlässe  der  G e s c h 1 e c h t s e u 1 1 a r v u n g. 

Es  ist  recht  bemerkenswert,  dass  alle  diese  Personen 
selbst  dem  Arzt  gegenüber  so  grosse  Zurück- 
haltung zeigen  und  schwer  dazu  zu  bewegen  sind.  ihm 
über  ihr  zur  Verkleidung  führendes  Seelenleben  Aufschluss  zu 
geben.  Wenn  es  sich  nicht,  wie  in  den  geschilderten  Fällen 
um  sehr  schwere  Krankheiten  oder  plötzliche  Unglücksfälle 
handelt,  pflegen  sie.  falls  sich  die  Xotweydigkeit  ergibt, 
krankheitshalber  einen  Arzt  zu  konsultieren,  vorher  sorgsam 
alles  in  der  Kleidung  namentlich  auch  in  der  Unterkleidung 
zu  entfernen.  was  mit  ihrem  eigentlichen  Geschlecht  in 
Widerspruch  steht.  Der  Grund  ist  nicht  nur  die  oben  er- 
wähnte Schamhaftigkeit,  sondern  der  Umstand,  dass  sie  ihre 
Neigung  und  deren  Befolgung  selbst  mehr  für  etwas  sehr 
Sonderbares  als  für  etwas  Krankhaftes  erachten  und  ausser- 
dem glauben  — bisher  auch  wohl  nicht  ganz  ohne  Ursache 
— dass  auch  der  Arzt  ihnen  nicht  das  Verständnis  für  ihre 
Eigenart  entgegenbringen  wird,  das  für  die  richtige  Beur- 
teilung, namentlich  ihrer  nervösen  und  psychischen  Be- 
schwerden unerlässlich  ist.  Durch  dieses  mangelnde  Vertrauen 
erklärt  es  sich  wohl  auch,  dass  wir  selbst  in  der  engeren 
Fachliteratur  bisher  so  wenige  Schilderungen  und  Fälle  von 
reinem  Transvestitismus  haben.  Unter  den  zahlreichen 
Lebensbeschreibungen  von  Moll  finden  sich  zwar  eine  Reihe  von 
Beispielen,  in  denen  die  Homosexualität  mit  Effemination 
und  Verkleidungstrieb  vergesellschaftet  ist.  aber  kein  in  das 
Spezialgebiet  dieser  Monographie  gehöriger  Fall.  Auf 
die  von  Krafft-Ebing  und  J.  Bloch  besprochenen  Biographieen 
ging  ich  bereits  im  vorigen  Kapitel*)  ein.  Ganz  beiläufig 
erwähnt  Prof.  Cesare  Taruffi,**)  dass  er  sich  aus  seiner 
Studentenzeit  des  Falles  eines  Prozessrichters  erinnere,  der. 
wenn  er  in  seinem  Hause  allein  war.  sich  vie  eine  elegante 
Frau  kleidete.  Eine  gleichfalls  nur  kurze  aber  recht  inter- 

*)  pag.  116  ff.  und  238  ff. 

**)  Taruffi:  Hermaphrodismus  und  Zeugungsfähigkeit.  Deutsch  v.  Dr. 
Teuscher.  1903  bei  Barsdorf.  Berlin,  pag.  197. 


essante  Schilderung  findet  sich  hei  F o r e 1.  Aus  der  Be- 
schreibung ist  leider  nicht  klar  ersichtlich,  ob  der  Be- 
treffende sich  tatsächlich  für  ein  Mädchen  hält  oder  nur 
den  intensiven  Drang  hat,  ein  solches  zu  sein  — ein  für 
die  Differentialdiagnose  entscheidender  Punkt.  Der  Fall,  den 
Forel  selbst  als  „eine  rein  psychische  Umkehrung  der  sexu- 
ellen Persönlichkeit,  oder  wenn  man  will,  als  rein  psy- 
chischen Hermaphroditismus  bei  sexueller  Anästhesie“  be- 
zeichnet, lautet; 

,,A.  M.,  22  Jahre  alt,  Dorfbewohner,  Sohn  eines  Trinkers, 
hat  eine  schwachsinnige  Schwester.  Von  jeher  zart,  aber 
sehr  intelligent  und  geweckt,  mit  vollständig  normal 
gebauten  männlichen  Geschlechtsorganen,  die  sich  auch  zur 
Pubertätzeit  durchaus  normal  entwickelten,  fühlt  ersieh 
V 0 11  K i n d h e i t an  als  Mädchen.  Er  hasst  den 
Umgang  mit  Knaben  ebenso  wie  jede  männliche  Arbeit,  be- 
schäftigt sich  dagegen  leidenschaftlich  mit  Kochen,  Nähen, 
Flicken,  Waschen,  Bügeln,  Sticken,  überhaupt  mit  weib- 
lichen Hausarbeiten.  Ein  unwiderstehliche!'  Drang  treibt  ihn 
dazu,  Weiberkleider  anzuziehen.  Hohn  und  Strafen  nützen 
nichts.  Er  behauptet  einfach,  er  sei  ein  Mäd- 
chen und  wolle  einen  weiblichen  Beruf  an- 
nehme  n.  Der  Versuch,  ihn  an  einem  grosseren  Ort  männ- 
lich zu  beschäftigen,  scheiterte  vollständig.  Sein  weibliches 
Benehmen  wurde  so  verdächtig,  dass  die  Polizei  ihn  f ü r 
ein  als  Mann  verkleidetes  Weib  hielt  und  ihn 
mit  Verhaftung  bedrohte.  Gezwungen,  Männerkleider  anzu- 
ziehen. zieht  er  unter  denselben  weibliche  Unterkleider,  so- 
gar ein  Korsett  an." 

Forel  hat  den  Fall  genau  untersucht.  Er  schreibt:  ..Das  In- 
teressante dabei  ist,  dass  A.  M.  sexuell  vollständig  anästhe- 
tisch ist.  Alles,  was  mit  dem  Geschlcchtstrieb  zusammenhängt, 
ist  ihm  ein  Greuel.  Der  Gedanke  an  den  sexuellen  Umgang 
mit  Männern,  die  er  fürchtet,  ist  ihm  womöglich  noch 
schrecklicher,  als  derjenige  an  den  nor- 
malen Beischlaf  mit  Frauen.  Er  hat  niemals 
Erektionen,  obwohl,  wie  gesagt,  die  Hoden  und  der  Penis 
vollständig  normal  entwickelt  sind.  Seine  Stimme  ist  aller- 


422 


dings  eine  hohe,  und  sein  ganzes  Wesen  erinnert  an  das 
eines  Eunuchen.  Es  handelt  sich  hier  offenbar  um  eine  sexu- 
elle Anästhesie  verbunden  mit  rein  psychischer  Inversion  der 
sexuellen  Irradiationen  des  Ichs.  Dieser  sehr  lehrreiche  Fall 
zeigt,  wie  die  psycho-sexuelle  Persönlich- 
keit unabhängig  von  den  Geschlechtsor- 
ganen, rein  im  Gehirn,  hereditär  prädeterminiert  sein  und 
sogar  ohne  jedwede  sexuelle  Empfindung  und  ohne  jeden 
Sexualtrieb  funktionieren  kann.“ 

Die  dritthäufigste  Gelegenheitsursache,  bei  der  ausser  in 
Kriminal-  und  Krankheitsfällen  die  Verkleidung  des  Ge- 
schlechts zutage  tritt,  wird  durch  den  Trunk  gegeben.  Es 
kommt  von  Zeit  zu  Zeit  bald  hier,  bald  dort  vor,  dass  eine 
im  Rausch  aufgegriffene  Person  sich  als  weiblich  verkleideter 
Mann  oder  männlich  verkleidete  Frau  erweist,  und  zwar 
scheinen  zu  dieser  Kategorie  beide  Geschlechter  ein  gleich 
grosses  Kontingent  zu  liefern.  Auch  hier  noch  einige  Bei- 
spiele. Im  Berliner  Polizeibericht  vom  12.  Oktober  1900 
heisst  es  i 

^Ein  Mann  in  Frauenkleidung  wurde  in  der  letzten  Nacht 
um  3 Uhr  vor  dem  Hause  Luisenstrasse  14  sinnlosbe- 
trunken  aufgefunden.  Die  vermeintliche  Frauensperson, 
die  langes,  blondes  Haar  hatte,  und  einen  grossen  Federhut 
trug,  wurde  von  einem  Schutzmann  und  einem  Wächter  in 
die  benachbarte  Charite  gebracht.  Als  man  sie  hier  betten 
wollte,  stellte  sich  heraus,  dass  man  es  mit  einem  Mann 
zu  tun  hatte.  Der  Betrunkene  wurde  nun  nach  dem  Ge- 
wahrsam des  Polizeipräsidiums  gebracht.“ 

Die  Geraer  Zeitung  schreibt  im  Januar  1903:  „Am  Sil- 
vesterabend gegen  7 Uhr  erregte  in  Altenburg  unterm  Schloss 
ein  Frauenzimmer  in  "Männerkleidern  berechtigtes  Aufsehen 
und  Aergernis,  die  total  betrunken  war.  Ein  hinzugerufener 
Schutzmann  brachte  das  Frauenzimmer  in  sicheren  Gewahr- 
sam.“ 

In  Mount  Vernon,  einer  Vorstadt  von  New-York,  wurde 
im  September  1904  ein  Individuum,  das  unter  dem  Namen 
Emma  mehrere  Jahre  lang  Köchin  beim  Präsidenten  Roose- 
velt  war,  vom  Polizeirichter  zu  4 Monaten  Gefängnis  ver- 


423 


urteilt.  „Emma  Becker  ist  schon  etwa  60  Jahre  alt  und 
trotzdem  noch  immer  nicht  von  der  Leidenschaft  kuriert,  sich 
gelegentlich  zu  betrinken.  Nachdem  sie  in  einer  AVirtschaft 
durch  den  Rausch  völlig  bewusstlos  geworden  war,  ergab  die 
Untersuchung  der  auf  der  Polizei  eingelieierten  Person,  dass 
Emma  kein  Frauenzimmer,  sondern  ein  Alann  war.  Bei  der 
Untersuchung  des  Falles  stellte  sich  heraus,  dass  Becker 
in  seiner  Jugend  als  Knabe  erzogen  wuirde.  Er  gab  an, 
dass  sein  hohes  Organ  dazu  führte,  dass  man  ihn  immer 
damit  neckte,  er  müsse  wohl  ein  verkleidetes  Frauenzimmer 
sein.  Das  bestimmte  ihn  schliesslich  zu  seiner  Umwandlung 
in  Emma,  der  jetzt  die  Polizei  ein  etwas  rigoroses  Ende 
bereitet  hat.  Emma  B.  ist  in  jungen  Jahren  von  Deutsch- 
land eingewandert.“ 

„Am  22.  Juni  1906  bemerkte  ein  Londoner  Schutzmann 
unweit  einer  Eisenbahnstation  im  Westen  eine  fashionabel  ange- 
zogene augenscheinlich  angetrunkene  Dame,  deren  auffälliges  Be- 
nehmen ihn  veranlasste,  an  sie  heranzutreten  und ' sie  zu 
ersuchen,  sich  nach  Hause  zu  begeben.  Die  Dame  anwortete 
mit  rauher  Stimme,  wobei  sie  sich  einer  nichts  weniger  als 
salonfähigen  Sprache  bediente.  Der  Schutzmann  drohte 
ihr  mit  Verhaftung  und  erhielt  als  Antwort  einen  Faust- 
schlag  ins  Gesicht;  er  versuchte  dann  die  Dame  zu  fassen, 
die  ihn  aber  alsbald  mit  einem  neuen  Schlage  zu  Boden 
streckte.  Andere  Schutzleute  kamen  herbeigeeilt  und  ver- 
suchten, sich  der  betrunkenen  Dame  zu  versichern,  die  aber 
alle  Versuche  erfolgreich  abwehrte  und  sich  durch  den  Bei- 
fallsjubel einer  rasch  zusammengeströmten  Alenschenmenge  in 
ihrem  AViderstaiide  ermutigt  sah.  Zwei  Polizisten  wurden 
mit  blutigen  Nasen  und  geschwollenen  Augen  ausser  Ge- 
fecht gesetzt,  und  es  mussten  schliesslich  sieben  Schutzleute 
in  Aktion  treten,  um  die  Dame  zu  überwältigen  und  nach 
der  Polizeiwache  zu  bringen.  In  dem  Kampfe  hatte  sie  ihr 
Haupthaar,  eine  schöne,  goldhaarige  Perücke,  verloren,  und 
auch  ihr  Seidenkleid  war  in  Stücke  gerissen  worden,  wobei 
es  sich  herausstellte,  dass  man  es  nicht  mit  einem  Mitglied 
des  zarten  Geschlechts,  sondern  mit  einem  herkulisch  ge- 
bauten Manne  zu  tun  hatte.  Es  war  ein  Matrose,  der  von 


424 


seinem  Kriegsschiff  auf  einige  Tage  beurlaubt,  nach  London 
gekommen  war.  um  seinem  Vergnügen  nachzugehen,  das  ihm 
durch  >iie  dreimonatige  Zwangshaft,  zu  der  er  jetzt  wegen 
Widerstands  und  Körperverletzung  verurteilt  wurde,  teuer  zu 
stehen  gekommen  ist.“ 

Uebrigens  lässt  schon  in  einem  alten  englischen  Lustspiel 
(aus  d.  J.  1697)  „the  provoked  wife“  John  Vonbrugh 
einen  betrunkenen  Mann  Sir  John  Brüte  in  Frauenkleidern 
auftreten.  Von  den  Polizeiwächtern  ergriffen  und  vor  den 
Friedensrichter  gebracht,  schildert  er  das  Leben  seiner 
Frau,  als  ob  es  sein  eigenes  wäre  in  sehr  amüsanter  Weise. 

Alle  anderen  Gründe  der  Geschlechts  ent  deckung  treten 
hinter  den  genannten  Veranlassungen  weit  zurück.  Verhält- 
nismässig selten  kommen  Denunziationen  vor.  Vor  längerer 
Zeit  erstattete  in  einer  kleinen  englischen  Stadt  eine  Zimmer- 
vermieterin bei  der  Polizei  Anzeige;  sie  vermute,  dass  ein 
seit  mehreren  Jahren  bei  ihr  wohnendes  Mädchen  ein  Mann 
sei  und  zwar  schlösse  sie  das  aus  ihrer  Wäsche,  die  ihr 
in  negativer  Hinsicht  schon  lange  zu  denken  gäbe;  tatsäch- 
lich stellte  sich  dieser  Verdacht  als  begründet  heraus. 
Ebenfalls  in  England  trug  sich  der  Fall  zu,  dass  eine  als 
Mann  verkleidete  Frau  sich  selbst  denunzierte,  um  sich  aus 
Erpresserhänden  zu  befreien.  Die  seltsame  Lebensgeschichte 
dieser  Frau  — sie  hiess  Mary  East  — erregte  in  London 
in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  grosses  Aufsehen.  Sie 
hatte  mit  16  Jahren  einen  jungen  Mann  geheiratet,  der  sich 
als  schwerer  Verbrecher  erwies  und  gehängt  wurde.  Seitdem 
wollte  sie  „nichts  mehr  von  den  ^lännern  wissen“;  sie  schloss 
sich  an  eine  Freundin  an  und  beide  kamen  eines  Tages  über- 
ein, als  Mann  und  Frau  zusammenzuleben.  „Sie  losten,  wer 
von  ihnen  die  Rolle  des  Gatten  übernehmen  sollte,  und  da 

das  Los  Mary  East  traf,  nahm  sie  sofort  Männerkleidung 

an  und  die  Heirat  wurde  wie  üblich  gefeiert.  Das  Paar 
lebte  sehr  glücklich  zusammen,  und  da  sie  in  einem 
Rechtsstreit  zehn  Tausend  Kronen  gewannen,  wagten  sie 
es,  ein  Gasthaus  zu  begründen.  Dieses  gedieh  unter 

ihrer  Leitung  sehr  gut.  Erst  nach  dreissig  Jahren  wurde  „die 
Frau“  krank  und  starb.  In  dieser  Zeit  brauchte  eine 


425 


skrupellose  Frau,  die  das  Paar  in  seiner  Jugend  gekannt 
hatte,  ihre  Kenntnis,  um  von  dem  „Gatten"  viel  Geld  zu 
erpressen.  Gegen  die  Erpresserin  wurde  ein  A’’ erfahren  an- 
geordnet, in  dessen  Verlauf  die  erwähnten  Einzelheiten  ans 
Licht  kamen  und  grosses  Aufsehen  erregten."  Mary  East, 
deren  Männername  James  How  war,  starb  im  Jahre  1781  im 
Alter  von  64  Jahren. 

Auf  eigentümliche  Weise  wurde  folgender  Fall  entdeckt: 
„Auf  Grund  der  deponierten  Aussagen  Dr.  Toeppens  wurde 
in  St.  Louis  die  Verhaftung  des  Schriftsetzers  Johann  Burgers 
angeordnet.  Burger  war  vor  zwei  Jahren  mit  einem  jüngeren 
Alädchen  Hedwig  Lutze  aus  Leipzig  nach  St.  Louis  einge- 
wandert und  hatte  Stellung  als  Setzer  in  der  Druckerei  des 
deutschen  Blattes:  „Die  Tribüne“  genommen.  Er  hatte  sich 
mit  seiner  angeblichen  Stiefschwester,  für  die  er  Hedwig 
Lutze  ausgab,  bei  dem  Juwelier  Gammater,  einem  Berner 
Eingewanderten,  eingemietet  und  alsbald  mit  der  Tochter 
seines  Hauswirtes,  Martha,  ein  Liebesverhältnis  begonnen. 
Gammater,  der  die  Leidenschaft  seiner  Tochter  für  Burger 
von  Tag  zu  Tag  wachsen  sah.  holte  bei  dem  früheren  Brot- 
herrn desselben,  einem  der  grössten  Drucker  Leipzigs,  Er- 
kundigungen ein.  In  der  betreffenden  Druckerei  war  niemals 
ein  Johann  Burger  beschäftigt  gewesen.  Wohl  aber  war  an 
dem,  durch  das  Datum  des  Zeugnisses  ersichtlichen  Tage 
eine  Setzerin  Anna  Mattersteig  entlassen  worden.  Die- 
selbe war  in  Begleitung  eines  Mädchens  Hedwig  Lutze 
aus  Leipzig  nach  Amerika  ausgewandert  und  hatte 
bereits  in  Leipzig  wiederholt  bedauert,  dass  sie  kein  Mann 
sei,  drüben  aber  ganz  gewiss  nur  Alänner- 
kleider  tragen  werde.  Anna  !Mattersteig  sei  am 
26.  Dezember  1863  in  Sellerhausen  geboren  und  von  1880 — 
1893  in  der  Druckerei  beschäftigt  gewesen.  Diese  Auskunft 
liess  keinen  Zweifel  darüber,  dass  Anna  Mattersteig  und 
Johann  Burger  ein  und  dieselbe  Person  sei.  Vor  Gericht  gab 
Anna  Mattersteig  an,  sie  sei  sich  keines  Unrechtes  bewusst. 
Sie  fühle,  dass  sie  ein  Mann  sei  und  nur 
durch  einen  Irrtum  der  Natur  sei  sie  als 
Weib  zur  Welt  gekommen.  Einen  solchen  Irrtum 


426 


aber  anzuerkennen  und  gar  noch  weiter  danach  zu  leben, 
fiele  ihr  garnicht  ein.  Glaube  man,  dass  sie  sich  eines  Ver- 
gehens schuldig  gemacht  habe,  so  nehme  sie  gerne  jede  Strafe 
an,  einem  Verbote  Männerkleidung  zu  tragen,  würde  sie  aber 
nie  nachkommen.  Da  müsse  man  sie  schon  zeitlebens  ein- 

sperren." (Jhb.  II.  p.  452.) 

Mit  einem  höchst  sonderbaren  Ansuchen  wandte  sich  im 
Jahre  1903  ein  russischer  Bauer  aus  dem  Kreise  Kologriw 
an  die  Kostromatische  Gouvernements-Medizinalverwaltung. 
Er  zeigte  an,  dass  seine  Frau  ein  Mann  sei  und  verlangte, 
dass  sie  als  solcher  erklärt  wmrden  solle.  Wie  die  Zeitung 
„Russkoje  Slowo“  berichtet,  glich  die  vor  die  Behörde  ge- 
ladene Frau  tatsächlich  einem  Manne:  „sie  trug  Männer- 

hosen, ein  Männerhemd,  hohe  Wasserstiefel  und  war  auch 
wie  ein  Mann  frisiert.  Nach  der  ärztlichen  Besichtigung  der 
jungen,  einem  hübschen  Jüngling  gleichenden  Frau,  ver- 
mochte die  ^lediziiial-Verwaltung  das  Gesuch  des  Bauern 
nicht  zu  erfüllen  und  erklärte,  dass  seine  Frau  wirklich 
eine  Frau  sei.  T'.Iit  diesem  Bescheid  wollte  sich  das  Bäuerlein 
indessen  nicht  zufrieden  geben  und  behauptete  eigensinnig, 
dass  er  es  wohl  am  besten  wissen  müsse,  wie  es  mit  seiner 
Frau  bestellt  sei.  Weiter  erzählte  er,  dass  seine  Frau  trotz 

vierjähriger  Ehe  kinderlos  sei  und.  wie  die  Dinge  lägen,  auch 

kinderlos  bleiben  werde.  Des  Zeugnisses  bedurfte  der  Bauer, 
wie  er  sagte,  um  beim  Konsistorium  eine  Trennung  seiner 
Ehe  beantragen  zu  können.“ 

Wir  haben  uns  bereits  oben  über  die  Ehen  transves- 
titischer  Männer  und  Frauen  ausgesprochen.  Hat  ein  in 
dieser  Weise  veranlagter  Ehepartner  den  andern  Teil  nicht 
vorher  über  sich  informiert,  besteht  er  auf  der  Verkleidung 
des  Geschlechts,  ist  sie  für  ihn  gar  zur  Vollziehung  der 
Cohabitation  eine  conditio  sine  qua  non,  so  kann  dem  an- 
dern Ehepartner,  falls  er  sich  nicht  nachträglich  einverstanden 
erklärt,  die  Fortsetzung  der  Ehe  nicht  zugemutet  werden. 
Es  kommen  dann  dieselben  Erwägungen  in  Betracht,  welche 
bereits  in  dem  Gutachten  pag.  211  über  den  an  Korsettfeti- 
schismus leidenden  Ehemann  R.  angestellt  wurden.  Ich  be- 
tonte aber  auch  schon  bereits  früher  bei  der  Besprechung 


427 


meiner  Kasuistik  — und  viele  der  hier  kurz  referierten  sonstigen 
Beispiele  scheinen  dies  zu  bestätigen.  — dass  die  der  Ge- 
schlechtsverkleidung sich  ergebenden  Menschen  oft  in  glück- 
licher Ehe  leben  und  zwar  gilt  dies  sowohl  für  diejenigen, 
die  i n der  Verkleidung  einer  Person  desselben  Geschlechts 
als  für  die,  die  ohne  solche  eine  Person  des  anderen  Ge- 
schlechts geheiratet  haben.  Beides  kommt,  wie  wir  sahen, 
vor.  Welchem  von  beiden  Geschlechtern  der  Vorzug  gegeben 
wird,  dürfte  in  erster  Linie,  wenn  auch  nicht  ausschliess- 
lich, von  der  Richtung  des  Geschlechtstriebes  abhängen.  Es 
ist  ungemein  schwierig,  sich  aus  den  kurzen  Notizen,  die  in 
den  meisten  Fällen  von  Verkleidung  an  die  Oeffentlichkeit 
dringen,  im  Einzelfall  ein  Urteil  zu  bilden,  wie  die 
Triebrichtung  beschaffen  ist.  Können  wir  doch  aus  dem 

wenigen,  was  bekannt  wird,  meist  nicht  einmal  sicher  ent- 
scheiden, ob  eine  wirkliche  transvestitische  Neigung 
vorliegt  oder  ob  rein  äussere  Motive  zur  Verklei- 
dung führten.  Erstere  ist  anzunehmen.  wenn  die  Verkleidung 
ständig,  sehr  lange  oder  nach  kurzen  Zwischenräumen  immer 
wieder  angelegt  wird.  Spielt  beispielsweise  ein  Schau- 
spieler auf  der  Bühne  gelegentlich  nach  vielen 
anderen  auch  einmal  eine  Frauenrolle,  so  ist  es  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  ihn  diese  lediglich  als  schauspielerische 
Aufgabe  gereizt  hat,  stellt  er  aber  stets  und 
ausschliesslich  nur  Frauen  dar,  namentlich  auch 
noch  heute,  wo  nicht  mehr  wie  in  Shakespeare’s  Zeiten 
den  Frauen  die  Bühne  verschlossen  ist  (siehe  später),  trägt 
er  auch  ausserhalb  des  Theaters  F rauenkleider,  so  ist  der 
Schluss  auf  wirklichen  Effeminationsdrang  viel  wahrschein- 
licher. Ebenso  ist  es,  w'enn  ein  Weib  in  Männerkleidern 
arbeitet  oder  Sport  treibt.  Geschieht  dies  nur  bei  diesen 
Gelegenheiten,  so  braucht  durchaus  kein  Verkleidungstrieb 
vorzuliegen,  dessen  Annahme  aber  näher  liegt,  wenn  die 
Frauen,  die  angaben,  sie  tragen  Männertracht,  um  besser 
arbeiten  zu  können,  eich  auch  stets  ausserhalb 
der  genannten  Tätigkeiten  solcher  bedienen.  Für  Ge- 
schlechtsverkleidungs  trieb  spricht  es  ferner,  wenn  die  von 
den  Verkleideten  angeführten  Gründe  sehr  wenig  stichhaltig 


428 


oder  so  beschaffen  sind,  dass  sie  auf  das  engste  mit  dem 
Wunsche  nach  Verkleidung  Zusammenhängen,  beispielsweise, 
wenn  Frauen  erklären,  sie  hätten  sich  verkleidet,  um  Soldat 
zu  werden.  Es  soll  damit  keineswegs  gesagt  sein,  dass  die 
Betreffenden  ihre  Handlungen  absichtlich  falsch  motivieren, 
meist  tun  sie  es  vollkommen  unwissentlich,  indem  sie 
sich  selbst  über  die  eigentliche  Ursache  nicht  klar  sind  oder 
wesentliches  und  unwesentliches,  innere  Gründe  und  äussere 
Anlässe,  die  verschieden  miteinander  konkurrierenden  aber 
eng  verknüpften  Ideen  durch  einander  werfen.  Dass 
allerdings  oft  auch  absichtlich  die  Unwahrheit  gesagt  wird, 
zeigen  folgende  Beispiele: 

,,Ein  Schutzmann  in  New  York  bemerkte  bei  seinem  Rund- 
gang, wie  eine  Person  in  Männerkleidern  aus  einem  Restaurant 
herausstürzte  und  um  Hilfe  schrie.  Die  Schreie  hörten  sich  wie 
die  einer  Frau  an,  und  als  der  Schutzmann  näher  kam,  sah 
er,  dass  er  tatsächlich  eine  Frau  in  Männerkleidern,  ungefähr 
27  Jahre  alt,  vor  sich  hatte.  Sie  wurde  auf  das  Polizeibureau 
mitgenommen,  wo  sich  herausstellte,  dass  sie  in  dem  betreffen- 
den Restaurant  mit  einem  Italiener  Streit  bekommen  und 
diesem  ein  Glas  Bier  ins  Gesicht  geworfen  hatte,  wofür  ihr 
dieser  eine  stark  blutende  Wunde  auf  der  Stirn  beibrachte.  Auf 
dem  Bureau  wurde  dem  Weib  ein  vollgeladener  Gläufiger  Re- 
volver, den  sie  in  der  Tasche  trug,  abgenommen.  Sie  erzählte, 
als  sie  nach  der  Ursache  ihrer  Verkleidung 
gefragt  wurde,  dass  sie  gehofft  hätte,  in  diesem  Kostüm  ihre 
Schwester,  die  im  Gefängnis  sässe,  befreien  zu  können.  Die 
Untersuchung  hat  diese  Geschichte  als  unwahr  erwiesen. 
Die  Frau  ist  vielmehr  an  einen  40  Jahre  alten  I\Iann  verhei- 
ratet, der  sich  dahin  äusserte,  dass  seine  Frau  schon  lange 
,, wunderbare"  Neigungen  an  den  Tag  gelegt  hätte;  sie  hätte 
immer  den  Wunsch  geäussert,  ein  ^lann  zu  sein  und  sich  als 
solcher  herumtreiben  zu  können.  "M  ä n n e r k 1 e i d e r 
hätte  sie  bei  jeder  Gelegenheit  angelegt, 
und  als  er  mit  ihr  darüber  in  Streit  geraten  wäre,  hätte  sie 
ihm  erklärt,  sie  würde  ihn  verlassen  und  dahin  gehen,  wo 
sie  leben  könnte,  wie  sie  wollte;  das  hätte  sie  denn  auch 
getan!“  (Mb.  April  05  p.  II.) 


429 


Auch  die  folgenden  Angaben  eines  anscheinend  homo- 
sexuellen Mannes  tragen  den  Stempel  der  Unglaubwürdigkeit 
(Jhb.  V,  p.  1204): 

„Eine  merkwürdige,  aber  wahre  Geschichte  hat  sich  im 
Südwesten  Berlins  zugetragen.  Die  dort  wohnende  Witwe  R. 
suchte  eine  Aufwärterin.  Noch  am  selben  Tage  stellte  sich  ein 
junges  Mädchen  vor,  die,  obwohl  sie  sogenannte  Titusfrisur 
trug,  w'egen  ihres  angenehmen  Auftretens  angenommen  wurde. 
Sie  Hess  sich  „Rieke“  rufen,  machte  alles,  selbst  die  Wäsche, 
zur  vollsten  Zufriedenheit  und  hatte  nur  den  einen  Fehler, 
dass  sie  mit  Zimmerherren  der  Frau  R.  anbändelte.  So  ging 
das  mehrere  Wochen  weiter,  bis  der  eine  Mieter  vertraulich 
erklärte,  dass  er  bestimmt  glaube,  überhaupt  kein  Mädchen  vor 
sich  zu  haben.  Ein  Zufall  kam  der  Enthüllung  des  Geheimnisses 
zu  Hilfe.  „Rieke",  die  nicht  bei  Frau  R.  schlief,  erzählte  näm- 
lich, dass  sie  zum  Maskenball  gehen  wolle,  und  w'ar  auf  aus- 
gesprochenen Wunsch  bereit,  sich  in  ihrem  Kostüm  zu  präsen- 
tieren. Als  das  in  ziemlich  leicht  geschürztem  Kleide  geschah, 
sagte  man  ihr  auf  den  Kopf  zu,  dass  sie  gar  kein  Mädchen  sei. 
So  war  es  in  der  Tat.  Der  verkappte  junge  Mann  tat  gar 
nicht  beleidigt,  gab  lachend  sein  Geheimnis  preis  und  meinte, 
dass  er  das  Experiment  nur  unternommen  habe,  weil  er 
in  seinem  Berufe  als^Ialer  keine  Arbeit 
finden  konnte.  Natürlich  wurde  der  Jüngling  in  Wei- 
berkleidern sofort  aus  dem  Dienst  entlassen. 


Geschlechtsverkleidung  aus  normalsexu- 
eller Liebe  und  Eifersucht. 

Es  ist  oft  kaum  möglich,  in  den  nicht  sorgfältig  analy- 
sierten Fällen  aus  den  Erzählungen,  wie  sie  durch  die  Ge- 
schichte und  von  der  Tagespresse  überliefert  werden,  zu  unter- 
scheiden, ob  die  Verkleidung  als  eine  Teilerscheinung  ev. 
Folge  homosexueller  Veranlagung  zu  gelten  hat  oder  als  das 
Hauptsächliche  und  Primäre,  zumal  wenn  wir  berücksichtigen, 
dass,  wie  wir  sahen,  bei  sehr  vielen  Transvestiten  das  eigentlich 
sexuelle  Moment  ausserordentlich  stark  hinter  dem  Geschlechts- 


430 


verkleidungs wünsch  zurücktritt,  so  dass  die  Personen  — man 
erinnere  sich  des  Forelschen  Falles  p.  421  — fast  asexuell 
erscheinen.  Nicht  selten  allerdings  liegen  die  Nebenumstände 
so,  dass  über  die  heterose.xuelle  Trieb- 
richtung kaum  ein  Zweifel  herrschen  kann,  so, 
wenn  Frauen  sich  als  Männer  verkleiden,  um  sich 
auch  während  der  Tagesarbeit  nicht  von  dem  geliebten 

Manne  trennen  zu  brauchen.  So  wurde  vor  einiger  Zeit  in 

einem  amerikanischen  Kohlenbergwerk  ein  Weib  entdeckt,  die 
an  der  Seite  ihres  Mannes  die  schwere  Bergmannsarbeit  ver- 
richtete, um  ständig  bei  ihm  bleiben  zu 
können.  In  einem  grossen  deutschen  Warenhause 
befand  sich  längere  Zeit  eine  Rayonchefin,  die  sich 
durch  ihren  Eifer  und  ihr  energisches  Auftreten  aus- 
zeichnete. Sie  wohnte  mit  einer  Kollegin  aus  dem- 
selben Warenhause  zusammen.  Eines  Tages  wollten  beide 

sich  von  einer  dritten  Kollegin  zu  einem  Spaziergang  abholen 
lassen.  Diese  Besucherin  fand  sich  aber  eine  Stunde  früher  ein, 
als  verabredet  war.  Die  Folge  davon  war  eine  überraschende 
Entdeckung.  Die  Rayonchefin  war  gerade  beim  — Rasieren. 
Der  Anblick  der  herumliegenden  Requisiten  liess  keinerlei 
Zweifel,  dass  sie  ein  Mann  sei.  Er  hatte  sich  ein 

anderes  Geschlecht  beigelegt,  um  mit  dem  andern  Mäd- 
chen, das  er  abgöttisch  liebte  und  eifer- 
süchtig bewachte,  ungestört  zusammen  wmhnen 
und  arbeiten  zu  können.  Eine  recht  kuriose  Verkleidungsge- 
Bchichte  passierte  vor  mehreren  Jahren  in  Lübeck.  Dort  war 
in  der  vom  Bahnhof  in  die  Stadt  führenden  Holstenstrasse 
einem  Schutzmann  ein  sonderbares  Pärchen  aufgefallen,  ein 
Landmann  und  ein  wie  ein  junger  Künstler  gekleideter  Jüng- 
ling, der  sich  etw'.as  auffällig  benahm.  „Der  Schutzmann  ver- 
mutete in  dem  Jüngling  eine  Dame  in  Männerkleidung,  folgte 
den  beiden  Gesellen  und  forderte  sie,  als  sie  in  der  Nähe  der 
Polizeihauptwache  angelangt,  aufi  einzutreten.  Hier  w'urde 
der  Jüngling  ersucht,  seine  Kopfbedeckung  und  Perücke  sowie 
seinen  blauen  Kneifer  abzunehmen.  Zeigte  sich  der  Landmann 
während  der  Einleitung  zu  dieser  Entkleidung  sehr  ungehalten, 
dass  man  seinen  „Freund“,  der  auf  der  Reise  nach  Lübeck  zu 


431 


ihm  ins  Coupe  gestiegen  war,  so  energisch  anfasste,  so  sollte 
er  bald  eine  ungeahnte  Ueberraschung  erleben.  Aus  der  Ent- 
kleidung erstand  niemand  anders  als  — seine  eigene  Frau, 
die  ihrem  Glemahl,  der  die  Freuden  des  Weihnachts trubeis 
in  Lübeck  allein  geniessen  wollte,  unbekannt  gefolgt  war.“ 

Es  ist  dies  nicht  der  einzige  Fall,  in  dem  eifersüchtige 
und  neugierige  Frauen  ihren  Männern  in  Herrenklei- 
dung folgten,  um  herauszubekommen,  ob  sie  ihnen 
treu  sind,  ein  Motiv,  das  übrigens  vielfach  literarische 
Verwendung  gefunden  hat.  Mir  ist  in  Berlin  ein  Ehe- 
scheidungsfall bekannt,  in  dem  die  Gattin  sich  des- 
selben Mittels  bediente,  um  ihren  Mann  des  Ehebruchs  zu 
überführen. 

Auch  bei  einer  Begebenheit,  die  sich  im  August  1890 
in  der  Umgebung  von  Berlin  zutrug  — ein  als  Mädchen 
verkleideter  Mann  suchte  ein  Mädchen,  das  er  auf  dem  Tanz- 
boden kennen  gelernt  hatte,  auf  offenem  Felde  zu  vergewaltigen 
— , kann  wohl  kaum  ein  Zweifel  über  die  heterosexuelle 
Natur  des  Verkleideten  bestehen.  „Beide  Mädchen  waren  über- 
eingekommen, den  weiten  Rückweg  vom  Ballokal  nach  Berlin 
zu  Fuss  zurückzulegen,  als  plötzlich  die  eine  die  andere  mit 
grosser  Gewalt  zu  Boden  warf  und  sie  zu  notzüchtigen  suchte. 
Jetzt  erst  erkannte  die  Berlinerin  zu  ihrem  Schrecken,  dass  sie 
es  mit  einem  in  Frauenkleidern  steckenden  jungen  Alanne  zu 
tun  hatte.  Sie  schrie  laut  um  Hilfe,  ihr  Gegner  suchte  ihr  den 
Mund  zuzuhalten  und  nun  entspann  sich  ein  heftiger  Kampf, 
der  wohl  eine  Viertelstunde  dauerte.  Schliesslich  erschien 
aus  einem  benachbarten  Ort  ein  Mann  mit  einem  Neufoimd- 
länder,  der  das  Mädchen  aus  den  Händen  des  Burschen  befreite, 
dem  sein  in  der  Verkleidung  begangenes  Verbrechen  teuer  zu 
stehen  kommen  wird.“ 

Die  Liebe  zu  den  Frauen  bewog  auch  -den  berühmten  Ritter 
und  Minnesänger 

Ulrich  von  Lichtenstein, 

Frauenkleider  anzulegen.  Aus  seiner  von  ihm  selbst  ver- 
fassten Lebensbeschreibung:  „Frauendienst  oder  Geschichte 
und  Liebe  des  Ritters  und  Sängers  Ulrich  von 


432 


Lichtensteiu",*)  schildert  er  ausführlich,  „wie  er  sich 
zu  Venedig  Frauenkleider  schneidern  liess,  12  Röcke 
und  30  Frauenermel  an  Hemden  und  drei  weisse 

Mäntel  von  Samt  und  einen  klaren  Hut  mit  weissen  Perlen 
bestreut,  und  wie  er  dazu  zwei  grosse  und  lange  braune  Zöpfe 
gewann,  die  bis  über  den  Gürtel  schwenkten,  dazu  auch  sei- 
dene Handschuh. ‘‘  So  ritt  er  in  der  Weise  einer  Königin  mit 
Ritterschaft  durch  die  Lande  von  Venedig  bis  Wien  und 
,,neigte  sich  züchtiglich  Gelen  schönen  Frauen,  zu  küssen  ihren 
rosenfarbenen  i\Iund.“  Hören  wir  seine  eigenen  Worte: 

..Am  anderen  Morgen  als  der  Tag  erschien  und  ich  noch  in 
meinem  Bette  lag,  waren  wohl  200  Frauen  vor  meine  Herberge 
gekommen,  um  zu  erfahren,  wann  ich  in  die  Kirche  gehn  würde. 
Einer  meiner  Knechte  sah  die  Frauen  und  sprach  zu  mir  mit 
Züchten;  viel  liebe  Fraue,  ich  meine  euch  edle  Königinn,  ich 
weiss  nicht,  ob  ihr  wisst,  alle  Frauen  aus  der  Stadt  sind  da- 
hergekommen, ihr  lieget  allzulange.  La  ich  das  hörte, 
legte  ich  schnell  Kleider  an  meinen  Leib,  wie  sie 
ein  werthes  Weib  wohl  mit  Ehren 
tragen  mag,  ein  blankes,  kleines  Hemde,  zu  Maassen 
laug,  daran  zwei  schöne  Ermel  waren,  darnach  ein 
Röckel,  das  war  klein  und  weiss  wie  ein  Schwan,  und  einen 
weissen  Mantel  von  Sammet,  darin  von  Gold  manch  schönes 
Tier  gewirkt  war,  meine  Haube  war  auch  gut,  aus  der  meine 
Zöpfe  hingen,  die  zum  Teil  mit  Perlen  bewunden  waren,  mit 
einem  guten  Risen  verband  ich  mich,  damit  Niemand  etwas  von 
mir  sehn  sollte,  als  meine  Augen.  Ich  setzte  einen  Pfauenhut 
auf,  zween  Handschuhe  trug  ich  an  meinen  Händen,  und  so 
ging  ich  in  hohen  Mute  hin,  wo  mich  mancher  rote  Mund  mit 
Gruss  empfing,  sie  sprachen:  Gott  willkommen,  Königinn 
Venus!“ 

Im  12.  Kapitel  berichtet  er:  „In  der  Nacht  hatte  ich  zu 
Villach  gut  Gemach,  am  andern  Tage  hörte  ich  eine  schöne 
Messe,  ich  hatte  wonnigliche  Frauenkleider  an  mich  gelegt, 


•)  Von  ihm  selbst  beschrieben.  Nach  einer  alten  Handschrift  bear- 
beitet und  herausgegeben  von  Ludwig  Tieck.  Stuttgart  u.  Tübingen  in  der 
J.  G.  Cottaschen  Buchhandlung  1812. 


433 


und  so  ging  ich  nach  der  Kirche,  worüber  mancher  Mann  lachte. 
Nachher  wollte  ich  mich  zut  zimiren,  und  so  schaute  ich  alle 
meine  Röcke  an  und  fand  einen  fremden  Rock  darunter.  Da 
sprach  ich  zu  meinem  Kämmerer:  Wer  hat  Dir  dies  gegeben? 
Er  sprach:  Fraue,  das  weiss  ich  nicht.  — Das  wäre  eine  wun- 
derliche Geschieht,  wenn  dir  einer  dies  Röcklein  ohne  dein 
Wissen  gegeben  hätte. 

Ich  band  das  Röckel  auf  und  fand  einen  Gürtel  drinn,  ein 
Schapel  und  ein  Heftlein,  die  alle  drei  sehr  schöne  waren,  auch 
lag  ein  deutscher  Brief  dabei.  Darüber  wurde  ich  sehr  zornig, 
ich  sprach:  glaube  mir,  dies  Kleinod  bringt  Unheil!  Er  sprach: 
liebe  Fraue,  lasst  euer  Zürnen  sein,  weiss  ich,  wer  es  mir  gege- 
ben hat,  so  lasst  es  an  mein  Leben  gehn.  Ich  liess  mir  den 
Brief  schnell  lesen,  welcher  so  sprach: 

Venus,  viel  edle  Königinn, 

Gruss  und  all  den  Dienst  mein 
Entbieth  ich  euch;  gar  sonder  Wank, 

Euch  sollen  alle  Frauen  wissen  Dank, 

Dass  ihr  durch  unsre  Würdigkeit 

An  euch  gelegt  habt  Frauenkleid 

Und  damit  ehret  alle  Weib, 

Des  wird  geteuert  euer  Leib. 

Ihr  sollt  von  mir  empfahen 
Mein  Kleinod  sonder  schmähen 
Das  ich  zu  Lieb  hab  euch  gesandt. 

Ich  will  euch  bleiben  unbekannt.“ 

Besonders  stolz  war  Ulrich  darauf,  dass  er  sich 
so  ganz  natürlich  wie  eine  Frau  bewegen 
konnte.  Im  17.  Kapitel  erzählt  er;  „Ich  legte 

schöne  Kleid  an  und  ritt  im  hohen  Mute  auf  die  Burg, 
wo  man  mich  willig  empfing;  der  Wirth  und  seine 

Hausfrau  gingen  mir  entgegen,  und  viele  Frauen  folgten 
ihnen  eine  Stiege  herab,  deren  Kleider  fielen  manchen  Fall  ab 
der  Stiege  nach  dem  Tritt,  ihre  gute  Geberde,  ihre  sanften 
Sitten,  ihr  minniglicher  Schein  thaten  meinem  Herzen  wohl. 
Da  sie  gegen  mich  kamen,  wollte  ich  durch  Zucht  auch  .nicht 
länger  stehen,  ich  ging  ihnen  entgegen,  dessen  lächelten  alle 
Frauen,  dass  ich  es  so  frei  anfing  und  Weibskleider  trug  und 

Hirschfeld  Die  Transvestiten.  28 


434 


so  schöne  Zöpfe,  darüber  ward  da  viel  gelacht.  Der  Hauswirth 
sprach:  Frau  Königinn,  seid  mir  willkommen.  Ich  neigte  ihm 
mit  Züchten:  die  Frauen  grüssten  mich  auch  und  ihrer  einer 
bot  ich  meinen  Kuss,  darüber  wurde  sie  rosenroth,  dann  ging 
ieh  zu  einer  anderen,  die  auch  vor  Scham  roth  wurde.  Die 
Hausfrau  nahm  mich  bei  der  Hand  und  führte  mich  in  eine 
schöne  Kirche,  eine  Messe  sang  man  Gott  zu  Ehren  und  bei 
mir  standen  viele  Frauen;  ich  muss  gestehn,  dass  Gott  da 
nicht  viel  gedient  ward.  Fast  hätte  mich  da  das  Netz  der 
Minne  und  mancher  süsse  Blick  gefangen,  der  von  lichten 
Augen  ging,  und  nur  meine  Treue  wandte  es  ab,  dass  ich  da 
nicht  von  der  Minne  gefangen  wimde,  fast  hätte  es  eine  von 
den  Frauen  gethan,  ihre  gute  Geberde  und  ihr  lichter  Schein 
brach  durch  meine  Augen  bis  in  den  Grund  meines  Herzens, 
und  ihr  rosenfarbener  Mund,  den  ich  gegen  mich  lachen  sah 
und  der  so  süss  zu  mir  sprach;  ei,  wäre  mir  nicht  da  meine 
Treue  zu  Hilfe  gekommen,  so  hätte  sie  meineSinne  bezwungen.“ 

Und  weiter  fährt  er  fort:  „So  stand  ich  in  Gedanken,  wie 
die  wohl  thun,  die  sich  an  Weib  verdenken,  ich  wusste  nicht 
mehr,  wo  ich  war,  bis  man  das  Evangelium  las;  da  das  ein 
andrer  Pfaffe  anhub,  da  besann  ich  mich  zuerst  wieder.  Da 
man  zum  Opfer  gehn  wollte,  bat  ich  die  Hausfrau  voran  zu 
gehn,  die  sprach:  dessen  sollt  ihr  mich  erlassen,  wie  litte  doch 
meine  Zucht,  dass  ich  vor  einer  Königinn  ginge?  Da  ging  ich 
zum  Opfer,  und  nach  mir  manche  schöne  Fraue,  man  lachte 
sehr  darüber,  dass  ich  so  ganz  in  Frauensitte 
ging  und  mich  bewegte,  mein  Tritt  war  kaum 
händebreit:  wie  langsam  und  sanfte  ich  ging,  so  kam 

ich  doch  wieder  an  die  Stelle,  wo  ich  erst  gestanden  hatte, 
da  trug  man  das  Pace  her  in  einem  Buche,  das  nahm  ich 
so,  wie  die  Frauen  tun.“ 

Trotzdem  er  Frauenkleider  trug,  stach  er  sich  auf  seiner 
Fahrt  mit  mehr  als  100  Rittern  im  Speerkampf  und  verstach 
sie  ritterlich.*)  „Mancher  sprach:  ei!  wie  die  Königin 

*)  In  Kellers  „Erzählungen  aus  altdeutschen 
Handschriften“  findet  sich  auch  die  Geschichte  eines  Friedrich  von, 
Auchenfurt,  dem  seine  Dame  rerspricht,  sie  wolle  ihn  erhören  und  ihni  ange- 
hören, wenn  er  für  sie  in  Wciberkleidern  ohne  Harnisch, 
im  Tomier  kämpfe;  er  tut  es  und  uird  schwer  verwundet. 


435 


Venus 

die 

Ritter  niedersticht, 

ich 

habe 

bei 

meinen 

Zeiten 

nie 

gesehen,  dass  Frauen 

also 

die 

Männer 

fällen 

können.“  Einmal  kämpfte 

er 

sogar 

mit 

einem 

Ritter, 

d e 

r sich  auch  als 

Weib 

k 1 e i 

d e t e ; 

Otto  von  Buchawe,  weit  „durch  Zucht  und  Mannheit“  bekannt. 
Als  sein  Bote  ihn  forderte,  erwiderte  Ulrich:  „Herr  Bote,  ich 
will  euch  sagen,  vor  allen  Männern  bin  ich  Magd,  und  bin  den 
Weibern  mit  grossen  Freuden  beigelegen;  ist  euere  Frau  wirk- 
lich ein  Weib,  so  kann  ich  ohne  Harnisch  wohl  ihre  Huld  ver- 
dienen. Da  sprach  der  Bote:  so  sei  es  denn  euch  bekannt, 
meine  Frau  ist  ein  hochgemut  her  Ritter 
und  hat  sich  als  ein  Weib  gekleidet,  er  ist  ein  minne- 
begehrender Mann  und  hat  oft  sein  Leben  um  die 
minnigliche  Weib  gewagt.  Ich  sprach:  wenn 

eure  Frauen  ein  Mann  ist  und  mich  durch  seine 
AVürdigkeit  bestehen  will  und  Weibskleid  angelegt  hat,  so  bin 
ich  das  inniglich  froh,  und  sein  Tyost  wird  ihm  gewährt,  da 
er  ihn  auf  so  schöne  Weise  bittet.“ 

Nur  einem  versagte  Ulrich  von  Lichtenstein  sich  mit 
ihm  zu  messen  im  schönen  Ritterspiel,  Herrn  Hadmar  von 
Chunringe,  und  zwar,  weil  er  von  diesem  gehört  hatte,  „er 
minne  den  Mann“.  Genau  wie  wir  es  von  einigen  Trans- 
vestiten unserer  Tage  gehört  haben,  so  war  Ulrich,  obgleich 
er  in  Frauenkleidern  ging,  ein  grosser  Feind  der  Homo- 
sexuellen. In  seinem  Vrouwen-buoch  schilt  er  sie  wie  folgt: 

Stät  daz  wol, 
dass  nu  die  man 
mit  ein  ander  daz  begänt 
des  vogel  noch  tier  niht  willen  hänt. 

Und  alle  creatiure  dunket  ungehiure? 

Ir  wizzet  wol,  waz  ich  meine. 

Ez  ist  so  gar  unreine. 

Dass  ich  es  nicht  genennen  tar, 

Ir  leben  ist  verfluochet  gar.“ 


28' 


43ß 


Kritik  der  angeblichen  Verkleidungs- 

Tu  0 t i V e. 

Es  dürfte  sich  empfehlen,  die  für  die  Verkleidung  an- 
geführten äusseren  Anlässe  noch  näher  kennen  zu  lernen, 
soweit  solche  überhaupt  feststellbar  sind  oder  angegeben 
werden.  Sie  werden  uns  wesentliche  Anhaltspunkte  liefern 
für  die  Entscheidung,  wann  eine  rein  äusserliche  lilaskerade, 
w'ann  eine  triebhafte  Neigung  vorliegt. 

Die  Motive,  die  uns  hier  entgegentreten,  sind  sehr 
mannigfach  und  oft  höchst  eigenartig.  So  sollen  sich  früher 
auf  der  Insel  Madagaskar  oft  Männer  als  Frauen  verkleidet 
haben,  um  sich  der  Steuerpflicht  zu  ent- 
ziehen, von  der  die  w^eibliche  Bevölkerung  dort  be- 
freit ist.  Zahlreiche  Männer,  die  das  verdross,  liessen 
sich  — so  berichten  die  Reiseschriftsteller  — ihre  Haare 
lang  wachsen,  zogen  Frauenkleider  an,  ja,  sie  gingen  sogar 
so  weit,  dass  sie  sich  bei  den  Europäern  als  Kammerfrauen 
verdingten.  „Diese  weibischen  Männer  nannte  man  „Sharim- 
bary“,  und  vor  der  französischen  Eroberung  soll  es  auf  Mada- 
gaskar von  solchen  Individuen  geradezu  gewimmelt  haben.  In 
neuerer  Zeit  kam  die  Behörde  dahinter  und  machte  energisch. 
Front  gegen  diese  Art  der  Steuerhinterziehung,  und  so  kommt 
es,  dass  die  „Sharimbary“  viel  seltener  geworden  sind  und 
sich  nur  noch  vereinzelt  und  nicht  ungestraft,  und  zwar  am 
meisten  noch  in  Tananarivo  zeigen.“ 

Gewiss  mag  die  Annahme  der  französischen  Regierung, 
der  Zweck  der  Verkleidung  sei  die  Steuerhinterziehung,  in 
einigen  Fällen  zutreffen,  sicherlich  aber  nicht  in  allen;  haben 
wir  doch  gesehen,  wie  sehr  gerade  auch  in  der  mada- 
gassischen Bevölkerung  transvestitische  Neigungen  und  Ge- 
bräuche von  jeher  vorhanden  waren.  Es  würde  sich  das  ge- 
wiss leicht  erweisen,  wenn  man  anstatt  die  als  Frauen  ver- 
kleideten Männer  zu  bestrafen,  Frauen,  welche  einen  selb- 
ständigen Erwerb  haben,  ebenso  wie  die  >dänner  besteuern  würde. 

In  dem  kleinen  Ort  Freien  w' aide  in  Preussisch- 
Schlesien  lebte  bis  vor  kurzem  ein  hochbetagter  Mann  namens 
Clemens  Jung,  der  volle  70  Jahre  in  Frauenkleidern  gelebt 


437 


hatte,  angeblich,  um  das  hölzerne  Stelzbein  zu 
verdecken,  das  er  tragen  musste,  nachdem  ihm  in  seiner 
Jugend  infolge  eines  unglücklichen  Sturzes  das  rechte  Bein  am- 
putiert war.  Die  Ortsbewohner  nannten  ihn  die  alte  Clemen- 
tine. Er  spielte  ihnen  mit  seiner  Harmonika  auf  und  die  kleinen 
Geschenke,  die  er  dafür  erhielt,  reichten  hin,  seine  bescheidenen 
Lebensansprüche  zu  befriedigen.  Auf  einem  Bilde,  das  ihn 
neben  seinem  Spinnrocken  zeigt,  macht  er  einen  durchaus  weib- 
lichen Eindruck;  das  Holzbein  ist  deutlich  sichtbar  und  lässt 
den  Grund  für  sein  lediges  Frauenleben,  an  den  er  wohl  selbst 
geglaubt  haben  mag,  nicht  sehr  überzeugend  erscheinen; 
Hosen  hätten  das  künstliche  Bein  fast  ebenso  gut  bedeckt  und 
hätte  er  wohl  schwerlich  dauernd  auf  sie  verzichtet,  wenn  nicht 
die  weibliche  Kleidung  zugleich  seiner  seelischen  Eigenart  ent- 
sprochen hätte. 

Auch  der  Grund,  den  eine  männlich  gekleidete  Künstlerin, 
die  oben  erwähnte  Caroline  Hall  alias  Graf  Cassini,  für  ihre 
Verkleidung  anführte:  Bewunderung  für  Rosa  Bon- 
heur, kann  nicht  als  stichhaltig  angesehen  werden.  Man  geht 
wohl  kaum  fehl,  wenn  man  annimmt,  dass  sie  in  ihrem  Vorbild 
sich  selbst  liebte  oder  besser  die  seelischen  Eigenschaften,  die 
sie  erfüllten  und  in  ihr  nach  äusserer  Erfüllung  rangen.  Sehr 
viel  einleuchtender  ist  eine  Erklärung,  der  wir  bereits  wieder- 
holt begegnet  sind,  der  Wunsch,  die  Tracht  des  anderen  Ge- 
schlechts anzulegen,  weil  die  des  eigenen  den  sekundären  Ge- 
schlechtscharakteren des  Körpers  nicht  entspricht.  Ich  habe 
an  früherer  Stelle  eine  ganze  Reihe  von  Beispielen  gegeben,  in 
denen  von  Polizeibeamten  Frauen  für  verkleidete  Männer, 
Männer  für  Frauen  gehalten  wurden,  und  will  nur  nochmals 
kurz  an  jene  Frau  K.  erinnern,  die  siebenmal  sistiert  wurde  in 
dem  Verdacht,  sie  hätte  sich  als  AVeib  verkleidet.  Es  kann 
sich  in  diesen  Fällen  um  eine  Kombination  von  körper- 
licher Androgynie,  Homosexualität  und  Transvestitismus,  also 
um  eine  Zwischenstufe  zweiten,  dritten  und  vierten  Grades 
handeln,  es  ist  aber  auch  möglich,  dass  lediglich  eine  Zwischen- 
stufe zweiten  Grades,  also  nur  weibliche  Viraginität  bzw. 
männlicher  Feminismus  oder  aber  eine  Verbindung  von  An- 
drogynie mit  Transvestitismus  vorliegt. 


Zu  denen,  die  zunächst  durch  ihr  weibliches  Aussehen  be- 
wogen wurden,  Frauenkleidung  anzulegen,  gehört  einer  der  be- 
rühmtesten Transvestiten  aller  Zeiten,  der 

Chevalier  d’E  o n. 

Meine  Arbeit  würde  unvollständig  sein,  wenn  ich  nicht  dem 
eigenartigen  Lebenslauf  dieses  vielbesprochenen  Mannes  eine 
etwas  eingehendere  Betrachtung  widmen  würde.  Ich  stütze  mich 
dabei  in  erster  Linie  auf  die  an  Dokumenten  reiche  Aus- 
gabe seiner  Memoiren,  die  1836  Frederic  Gaillardet*)  veran- 
staltet hat. 

Von  seinen  83  Lebensjahren  verbrachte  d’Eon  49  als  Mann 
und  34  als  Weib.  Der  Streit,  welchem  Geschlecht  er  in  Wirk- 
lichkeit angehörte,  wurde  jahrzehntelang  mit  grösster  Lebhaf- 
tigkeit geführt;  namentlich  in  England  wirbelte  er  sehr  viel 
Staub  auf.  Es  wird  mitgeteilt,  dass  die  Wetten  auf  sein  Ge- 
schlecht in  England  mehr  als  200  000  Pfund  Sterling  betrugen, 
während  von  den  Franzosen  80000  Pfund  aus  demselben  Grunde 
verwettet  wurden.  Einige  behaupteten,  mit  grosser  Bestimmtheit 
zu  wissen,  er  sei  ein  Mann,  andere  reklamierten  ihn  mit  dem- 
selben Eifer  für  das  weibliche  Geschlecht,  wieder  andere  er- 
dere  erklärten  ihn  für  einen  Hermaphroditen.  D’Eon  wurde  am 
5.  Oktober  1728  zu  Tonnerre,  einem  Städtchen  der  Bourgogne 
geboren.  Wiederholt  wird  in  seinen  Biographien  berichtet,  dass 
er  in  der  Taufe  männliche  und  weibliche  Vornamen  erhielt.  So 
heisst  es  in  der  ,.Biographie  universelle“  von  Michaud:  „In  den 
Registern  der  Pfarrkirche  gab  man  ihm  die  Namen  Char- 
lotte, Genevieve,  Louise,  Auguste,  Andree, 
Timothee“.  Dies  ist  aber  nicht  richtig.  Der  rechte  Taufschein 
lautet:  „Am  7.  Okt.  1728  wurde  getauft  Charles 

Genevieve,  Louis,  Auguste,  Andre,  Timothee,  des  Edlen  Louis 
d’Eon  de  Beaumont,  Direktor  der  Königlichen  Domainen,  und 
der  Dame  Frangoise  de  Chavanson,  ehelicher  Sohn,  geboren  am 

*)  Memoiren  des  Chevalier  von  Eon.  Aus  de.ssen  Familienpapieren  und 
nach  authentischen  Quellen,  welche  in  den  Archiven  des  Ministeriums  der 
auswärtigen  Angelegenheiten  niedergelegt  sind,  zum  erstenmale  bearbeitet 
und  herausgegeben  von  FrMeric  Gaillardet.  Frei  nach  dem  Französischen 
von  Dr.  E.  Brinckmeier.  Braunschweig  1837,  verlegt  bei  C.  E.  Meyer  seu. 


439 


5.  d.  M.  Pathen  waren  Charles  Regnard,  Pariamentsadvocat. 
Baillif  von  Ausy,  Dame  G e n e v i e v e d’Eon,  Gemahlin  Herrn 
Maison’s,  Weinhändlers  in  Paris,  welche  auch  unterzeichnet 
haben.“  (Auszug  aus  den  Registern  der  Pfarrkirche  Notre- 
Dame  von  Tonnerre.) 

Es  finden  sich  in  diesem  Taufschein  nur  zwei  Namen  mit 
weiblichen  Endungen;  Genevieve  und  Timothee.  Letzterer  ist 
gewöhnlich  ein  Mannesname  und  wird,  ob  männlich  oder  weib- 
lich, gleich  geschrieben.  Ersterer  ist  an  sich  nicht  auffallen- 
der, als  die  Namen  Marie,  Sophie,  Eleonore,  welche  vielen  ka- 
tholischen Männern  in  Frankreich  gegeben  wurden  und  noch 
jetzt  gegeben  werden.  Man  kann  diese  Namen  ausserdem 
direkt  von  seiner  Patin  und  Tante  herleiten. 

Es  scheint  auch  nicht  richtig  zu  sein,  dass,  wie  manche 
erzählen,  er  bis  zu  seinem  10.  Jahre  als  Mädchen  erzogen 
wurde.  Er  soll  vielmehr  ein  ganz  munterer  Junge  gewesen  sein. 
Gaillardet  bezeichnet  ihn  als  einen  rechten  „Gamin“.  Dagegen 
heisst  es  bei  demselben  Autor:  „Der  Chevalier  d’Eon  hatte  von 
der  Natur  sehr  zarte  Formen  erhalten.  In  seinem  zehnten 
Jahre  zog  ihm  die  Mutter  gern  die  Kleider  seiner  Schwester 
an;  in  diesem  Kostüm  hätte  ihn  jeder  für  ein  kleines  Mädchen 
gehalten,  so  fein  war  seine  Taille,  so  zart  seine  Hand,  so  klein 
sein  Fuss;  aber  unter  der  äusseren  Form  des  jungen  Mädchens 
regte  sich  der  junge  Knabe;  beider  Naturen  teilhaftig,  besass 
er  männliche  Kraft  unter  einer  weiblichen  Hülle.  Noch  im 
zwanzigsten  Jahre  besass  er  alle  diese  Vorzüge,  lange  blonde 
Haare,  blaue,  zärtliche,  durchsichtige  Augen,  nicht  gross,  aber 
robust,  hatte  er  doch  sehnige  Kräfte.  Sein  Arm  war  äusserst 
zart  geblieben,  seine  Finger  schlank  und  dünn;  zogen  sich 
aber  die  Muskeln  dieser  Arme  zusammen,  so  war  seine  Hand 
so  stark,  dass  man  unter  dieser  rosigen  Haut  eiserne  Zangen 
versteckt  wähnte.  Seine  Taille  konnte  man  mit  zwei  Händen 
umspannen;  er  zog  einen  Frauenhandschuh  an,  hatte  keinen 
Bart,  kaum  zeigte  sich  ein  leichter  Flaum  um  das  Kinn.“  — - 

Sein  Geschlechtstrieb  scheint  noch  lange  Zeit  nach  der  Reife 
ein  ausserordentlich  geringer  gewesen  zu  sein,  besonders  wird 
darauf  hingewiesen,  dass  seine  „Herzensreinheit  sich  an 
der  Schwelle  der  Lupanare  empörte“.  Er  selbst  äussert  sich 


440 


noch  im  Jahre  1771,  also  43  Jahre  alt,  in  einem  Briefe  an  den 
Grafen  von  Brogiie:  „Es  peinigt  mich,  dass  ich  noch  so  bin, 
wie  mich  dieXatur  geschaffen  hat;  und  dass  mein  ruhiges  Tem- 
perament mich  nie  der  Wollust  zuJührte;  dies  hat  meinen 
Freunden  in  Frankreich,  Russland  und  England  den  Gedanken 
eingegeben,  ich  sei  weiblichen  Geschlechts.“  — 

Dafür,  dass  d’E  on  homosexuell  ge- 
wesen sei,  fehlen  alle  Anhaltspunkte. 
Man  sprach  zwar  einmal  zu  der  Zeit,  als  er  als  Frau 
lebte,  er  hätte  ein  Liebesverhältnis  mit  Beaumarchais, 
dem  berühmten  Verfasser  des  „Barbier  von  Sevilla”  und  „Fi- 
garos Hochzeit“,  aber  offenbar  handelt  es  sich  hier  nur  um 
ein  blosses  Gerede  der  Wettenden,  eine  Legende,  wie  sie  sich 
begreiflicherweise  um  seine  Person  in  Menge  bildeten.  Dagegen 
spielen  erotische  Zuneigungen  zu  schönen  Frauen,  wie  zu  der 
Gräfin  Marie  Rochefort  und  Milady  Ferrers,  vor  allem  zu  Xa- 
dege  Stein  und  anderen  in  seinem  Leben  eine  grosse  Rolle. 
Im  Jahre  1755  finden  wir  ihn  in  Paris  im  Hause  der  Gräfin 
Rochefort,  einer  jungen  W^itwe,  die  zu  ihrem  „Benjamin“,  wie 
sie  ihn  nannte,  eine  mehr  als  mütterliche  Zuneigung  gefasst 
hatte.  Er  selbst  schreibt  damals  in  seiner  Biographie;  „Die 
weissen  zarten  Finger  der  sorglosen  Gräfin  spielten  in  den 
blonden  Locken  meines  weichen  Haares,  als  ich  plötzlich  er- 
bebte und  bei  der  Berührung  dieser  weiblichen  Hand  mich  eine 
mir  bis  dahin  unbekannte  Empfindung  ergriff.“  Sie  führte  ihn 
anlässlich  eines  Kostümfestes  in  Versailles  bei  Hofe  ein.  Auf 
Anraten  der  Freunde  der  Gräfin  erscheint  der  feminine  Jüng- 
ling in  elegantem  Ballkleid,  das  sie  ihm  aus  ihren  Toiletten- 
schätzen zur  Verfügung  stellt.  D’Eon  bemerkt  hierzu:  „Schon 
der  Gedanke,  ein  Kleid  der  Gräfin  anzuziehn,  auf  meiner  Haut 
ein  Kleidungsstück  zu  fühlen,  welches  den  Busen  dieser  an- 
betungswürdigen Frau  umhüllt,  dessen  Stoff  diesen  schönen 
Körper  berührt  hatte,  erregte  in  mir  im  Voraus  ein  Schaudern 
unsäglicher  V’önne.  Dieses  Kleid  muss  mit  duftenden  Ema- 
nationen der  Frau,  welche  es  getragen  hat,  erfüllt  sein.  Es 
wird  mich  berauschen,  da  schon  der  Gedanke  daran  mich  be- 
rauscht. Ich  ging  schon  früh  hin;  ich  musste  mich  ankleiden, 
denn  Frauenzimmerkleider  machen  viel  zu  schaffen.  Man  über- 


gab  mich  einer  alten  Kammerfräu,  die  in  der  Toiletten-Diplü- 
matie  ergraut,  und  ausser  dem  Bereich  aller  \'erleumdung  vv^ar." 
— Aul  dem  Hofball  zieht  er  die  Augen  Ludwig  XV.  auf  sich, 
der  keine  Ahnung  hat.  dass  in  dem  schönen  Mädchen  ein 
Mann  steckte.  Es  folgt  eine  drollige  Episode.  Der  König  lässt 
Mademoiselle  D'Eon  zu  sich  bitten  und  zieht  sich  mit  ihr  in 
ein  Xebengemach  zurück.  Eben  klärt  dieser  den  galanten  Mon- 
archen über  seinen  Irrtum  bezw.  sein  wahres  Geschlecht  auf, 
als  die  Pompadour,  des  Königs  Favoritin,  die  sich  inzwischen 
über  d’Eon  informiert  hatte,  eintritt,  herzlich  lacht  und  — 
verzeiht. 

Der  König  erhielt  von  da  ab  dem  jungen  geistvollen  und 
geschickten  Chevalier  seine  Gunst  und  beschloss  bald  da- 
rauf, in  einer  diplomatischen  Mission  (es  war  die  politisch  so 
bewegte  Zeit  des  siebenjährigen  Krieges)  ihn  als  Dame  verklei- 
det nach  Russland  an  den  Hof  der  Kaiserin  Elisabeth  zu  sen- 
den,-um  diese  mit  Frankreich  zu  versöhnen.  Anfang  Juni  175-5 
empfing  der  Chevalier  d’Eon,  27  Jahre  alt.  aus  der  Hand  dec- 
Prinzen  von  Conti  eine  vollständige  Mädchenaussteuer  und 
reiste  in  dem  Kostüm  seines  erborgten  Geschlechts  mit  dem 
Chevalier  Douglas  ab.  Unterwegs  nahmen  die  Reisenden  län- 
geren Aufenthalt  in  Neu-Strelitz,  wo  die  junge,  interessante 
Französin,  wmlche  Chevalier  Douglas,  ihr  Begleiter,  für  seine 
Nichte  ausgab,  von  der  herzoglichen  Familie  aufs  freundlichste 
empfangen  wurde;  namentlich  eine  der  Töchter  des  ver- 
storbenen Herzogs,  die  junge  Sophie  Charlotte  von  Mecklen- 
burg-Strelitz  (spätere  Königin  von  England),  schloss  zärtliche 
Freundschaft  mit  dem  vermeintlichen  jungen  Mädchen  und  atta- 
chierte  sich  ihr  so  innig,  dass  dem  Chevalier  Douglas  angst 
und  bange  wmrde.  Er  beschleunigte  daher  die  Abreise,  bei  der 
die  Prinzessin  Mademoiselle  d’Eon  eine  Empfehlung  an  eine 
Petersburger  Freundin  Nadege  Stein,  '„Ehrenfräulein  ihrer 
Majestät  der  Kaiserin  aller  Reussen“,  mitgab.  Diese  Empfeh- 
lung sollte  für  d’Eon  von  grösster  Bedeutung  w^erden;  denn 
Nadege  wurde  die  überaus  treue  Geliebte  seines  Lebens,  die 
Stütze  seines  Alters.  Die  Kaiserin  Elisabeth  (vgl.  pag.  49U) 
war  von  der  schönen  Mademoiselle,  die  sie  bald  als  Vorleserin 
französischer  Schriften  engagierte,  entzückt,  noch  entzückter, 


442 


als  diese  ihr  schliesslich  anvertraute,  dass  sie  dein  männlichen 
Geschlechte  angehöre.  Die  Zarin  war  nicht  die  einzige,  die 
sich  in  Petersburg  in  sie  verliebte.  Noch  mehrere  andere  be- 
fanden sich  völlig  im  Bann  der  schönen  Französin.  Zu  ihnen 
gehörte  Mylord  Ferrers,  Pair  von  England,  Admiral,  berühmter 
Mathematiker  und  Physiognomiker  der  Lavaterschen  Schule, 
der  sich  rühmte,  die  symbolische  Geheimschrift  des  mensch- 
lichen Gesichts  fliessend  lesen  zu  können,  eine  Kunst,  die  je- 
doch im  Falle  d’Eon  Schiffbruch  erlitt;  denn  während  der  ver- 
liebte Mylord  mit  dem  vermeintlichen  Fräulein  seine  Gattin 
zu  hintergehen  gedachte  und  sie  veranlasste,  „da  es  doch  schon 
so  spät  sei,  die  Nacht  an  der  Seite  seiner  Gemahlin  zu  ver- 
bringen“, bestrafte  und  betrog  d’Eon  ihn  mit  Mylady. 

Es  gestattet  leider  nicht  der  Raum,  so  verlockend 
es  wäre,  die  äusserst  seltsamen  Lebensschicksale  des 
Ritters  d’Eon  hier  im  einzelnen  zu  erzählen.  Seiner 
Mission  in  Russland  entledigte  er  sich  mit  grossem  Ge- 
schick. Als  er  nach  Frankreich  zurückkehrte,  schreibt 
sein  Biograph:  „Triumphierend  reiste  der  Chevalier 

d’Eon  mit  kostbaren  Depeschen  nach  Versailles  ab,  doch  Herz 
und  Augen  blieben  nach  Russland  gekehrt.  Trotz  ihrer  schönen 
blassen  Stirn  und  ihres  schmachtenden  Auges  ist  es  nicht  ^ly- 
lady  Ferrers,  trotz  des  Glanzes  ihres  Thrones,  trotz  ihrer 
Gunstbezeugungen  nicht  die  Kaiserin  Elisabeth,  welche  er  be- 
trauert. Es  ist  Nadege!  die  arme  verlassene  Nadege.“  Noch 
zweimal  wurde  er,  allerdings  in  männlicher  Tracht  als  angeb- 
licher Bruder  des  Fräulein  d’Eon,  in  politischen  Angelegen- 
heiten nach  Russland  entsendet.  Bei  seinem  dritten  Aufent- 
halte gab  sich  die  Zarin  die  grösste  Mühe,  ihn  dauernd  an 
Russland  zu  fesseln,  doch  konnte  er  sich  nicht  entschliessen, 
dort  zu  bleiben.  Bevor  er  heimkehrte,  erledigte  er  noch  wich- 
tige Aufträge  in  Wien  und  besuchte  von  dort,  wiederum  in 
Frauenkleidern,  nochmals  Neu-Strelitz.  Hier  erkrankte  er  ernst- 
lich und  wrude  mit  grösster  Hingabe  und  Zärtlichkeit  von  der 
Herzogin  Sophie  Charlotte  gepflegt,  die  keine  Ahnung  von 
seinem  wahren  Geschlecht  hatte.  Wieder  genesen,  ging  er  nach 
Paris,  verweilte  aber  hier  nicht  lange,  sondern  begab  sich  zur 
oberrheinischen  Armee,  die  gegen  Friedrich  den  Grossen  im 


/ 


443 


Felde  stand.  Er  beteiligte  sich  unter  Marschall  Broglio  an  den 
schwierigen  Operationen  des  siebenjährigen  Krieges,  leitete  bei 
Höxter  den  Transport  der  Pulvervorräte  über  die  Weser,  wird 
im  Treffen  von  CJltropp  an  Hand  und  Kopf  verwundet,  zeichnet 
sich  bei  der  Belagerung  und  Eroberung  von  Wolffeubüttel  aus, 
wird  zum  Dragonerkapitän  und  Ritter  des  heiligen  Ludwig  er- 
nannt und  kehrt  nach  Beendigung  des  Feldzuges  nach  Frank- 
reich zurück,  um  alsbald  als  bevollmächtigter  Minister  an  den 
Hof  Von  St.  James  entsandt  zu  werden.  König  Ludwig  schrieb 
ihm  damals:  (Versailles  4.  Okt.  1763)  „S  i e h a b e n m i r 
ebenso  nützlich  unter  Frauenkleidern, 
als  in  denen  gedient,  welche  Sie  gegen- 
wärtig tragen“,  und  der  Marquis  von  l’Hopital  gratuliert 
ihm  mit  folgenden  Worten:  „Ich  wünsche  Ihnen  Glück  zu  dem 
neuen  Charakter  eines  bevollmächtigten  Ministers.  Sie  eignen 
sich  für  jede  hohe  Stellung  und  werden  ihr  Ehre  machen.  Sie 
haben  dasjenige  in  sich,  was  den  Menschen  erhebt,  Geist  und 
Mut,  und  verbinden  damit  die  Eigenschaften,  welche  stets  die 
beiden  ersten  begleiten,  Tugend  und  Ehre.  Sie  sind  also  jetzt 
als  ein  echter,  reiner  Mann,  Vir,  anerkannt!  Was  Ihnen  in 
physischer  Hinsicht  mangeln  möge:  die  ausgezeichnete  Wirksam- 
keit Ihrer  Eigenschaften  und  die  gute  Anwendung  Ihrer 
Zeit  steht  ausser  aller  Frage.“ 

Je  höher  sein  Ruhm  und  seine  Beliebtheit  stiegen,  je 
reicher  ihn  der  Monarch  ehrte  und  beschenkte,  um  so  mehr 
nimmt  die  Anzahl  seiner  Feinde,  an  deren  Spitze  der  Graf  von 
Guerchy  stand,  zu.  Sie  schrieben  Pasquille  und  Schmähschrif- 
ten gegen  ihn,  in  denen  natürlich  auch  immer  wieder  behauptet 
wurde,  er  sei  Hermaphrodit.  Er  wehrte  sich  dagegen  mit  der 
Veröffentlichung  seiner  Briefe  und  Memoiren.  Schon  vorher 
hatte  er  ein  zweibändiges  Buch  „Usages““  erscheinen  lassen, 
das  ihm  viele  Gegner  zugezogen  hatte,  und  schliesslich  bringen 
es  seine  Widersacher  so  weit,  dass  er  beim  König  Ludwig  in 
Ungnade  fällt.  Damals  schreibt  er  an  den  Herzog  von  Niver- 
nais: „Ich  schicke  Ihnen,  Herr  Herzog,  weinend  mein  politi- 
sches Testament;  es  ist  für  ein  Volk,  welches  ich,  trotz  seiner 
Fehler,  bis  zur  Raserei  liebe.  Mit  Schmerz  sehe  ich  mich  ge- 
zwungen. ihm  zuzurufen:  Ingrata  patria,  non  habebis  ossa! 


444 


Ich  schliesse  mit  der  Stelle  aus  Bacons  Testament:  „Meine 
Mitbürger  werden  mich  erst  nach  meinem  Tode  erkennen“.  — 
Inzwischen  verbreitete  in  England  sich  mehr  und  mehr  die 
Meinung,  dass  der  Chevalier  d’Eon  ein  verkleidetes  Weib  sei. 
Einmal  hatte  ihn  die  Königin  Sophie  Charlotte  rufen  lassen, 
um  wegen  ihres  erkrankten  Kindes  seinen  Rat  zu  hören,  da 
trat  Georg  III.,  ihr  Gemahl,  ins  Zimmer  und  es  spielte  sich 
nach  dem  Bericht  eines  Augenzeugen  folgender  Auftritt  ab; 
„Seit  wie  lange  kennen  Sie  diesen  Menschen?“  fragte  Georg  III. 

„Ich  sah  ihn  zum  ersten  Male  im  Jahre  1755  in  Neu- 
Strelitz,  wo  er  von  Frankreich  in  Begleitung  eines  Schotten  an- 
kam. Er  ging,  oder  vielmehr  sie  ging  an  den  Hof  der  Kaiserin 
Elisabeth,  denn  damals  war  er  ein  junges  Mädchen.“ 

„Ein  junges  Mädchen!  Haben  Sie  ihn  als  solches  gesehn?“ 
„Ja,  ich  und  meine  Familie,  denn  sie  verweilte  einige  Zeit 
im  Schloss«." 

,Und  niemand  vermutete,  dass  er  ein  Mann  sei?“ 
„Niemand,  weder  in  Neu-Strelitz  noch  in  Petersbürg,  wm 
sie  sechs  älonate  private  Vorleserin  der  Kaiserin  war.“ 

„Sonderbar!“  murmelte  der  König  und  schien  lebhaft  auf- 
geregt zu  sein.  — „Ich  will  sogleich  an  meinen  Gesandten  in 
Versailles  schreiben,  damit  er  Ludwig  XV.  um  Aufklärung 
dieses  Geheimnisses  ersucht.“ 

„Als  Ludwig  XV.  die  Anfrage  erhielt,  geriet  er  in  Ver- 
legenheit, und  „da  er  in  diesem  schwierigen  Falle  nicht  im 
Stande  war.  selber  einen  Entschluss  zu  fassen,  teilte  er 
seine  Verlegenheit  der  Dubarry.  Nachfolgerin  der  Pom- 
padour, mit,  und  diese  befragte  den  Herzog  von  Aiguillon, 
ihren  Günstling“.  „Nachdem  die  Hauptgründe,  welche  in  diesem 
geheimen  Conseil  über  mein  Loos  entscheiden'  sollten  — 
schreibt  d’Eon  in  seinem  Tagebuch  — , vielfach  erwogen  waren, 
beschloss  man  endlich,  mich  für  eine  Frau  gelten  zu  lassen. 
Die  Details  wurden  mir  später  von  der  Dubarry  selbst  erzählt. 
Ludwig  XV.  hatte  die  Aufmerksamkeit,  Georg  III.  die  For- 
schungen mitzuteilen,  welche  der  Herzog  von  Praslin  wegen 
meines  Gesc’nlechts  angestellt  hätte.  Damit  verband  er  die 
Briefe  und  Depeschen,  w^elche  während  meines  Aufenthalts  in 
St.  Petersburg  an  mich  adressiert  oder  von  mir  geschrieben 


445 


waren,  sowie  einige  Handbillcts  der  Kaiserin  an  ihre 
Vorleserin.  Sobald  Georg  III.  die  Antwort  Ludwig  XV. 
nebst  den  Documenten  erhalten  hatte,  eilte  er,  sie  seinem 
ganzen  Hofe  mitzuteilen.  Nach  einigen  Tagen  wusste  es 
ganz  London,  und  bald  ertönte  es  von  allen  Seiten;  der 
Chevalier  von  Eon  ist  ein  Frauenzimmer.  Die  Einen  läug- 
nen,  die  Andern  bejahen  es.  Man  geht  beträchtliche  Wetten 
ein,  und  das  Geschlecht  des  Chevalier  von  Eon  wird  eine 
Börsenspeculation.‘‘  — 

Wir  übergehen  die  Vorgänge  und  sensationellen  Erörte- 
rungen, die  sich  nun  jahrelang  über  sein  Geschlecht  in  der 
Londoner  Gesellschaft  abspielten,  auch  den  Briefwechsel,  der 
sich  an  die  Erklärung  Ludwigs  zwischen  d’Eon  und  den  Mi- 
nistern seines  Souveräns  anschloss.  Neben  der  Frage,  welchem 
Geschlecht  er  sich  in  Zukunft  beizählen  und  welches  Kleid  er 
tragen  solle,  spielt  in  diesen  Briefen  die  Gewährung  und  die 
Höhe  seiner  Pension,  auf  die  er  sehr  angewiesen  ist,  eine  grosse 
Bolle.  Schliesslich  intervenierte  Beaumarchais,  nachdem  in- 
zwischen der  allem  Skandale  abholde,  sehr  religiöse  Ludwig  XVI. 
den  französischen  Thron  bestiegen  hatte.  Der  Vertrag,  den 
Beaumarchais  mit  dem  nun  bald  50jährigen  d’Eon  eingeht,  be- 
ginnt mit  folgenden  bezeichnenden  Worten: 

„Wir  Unterzeichneten,  Pierre  Augustin  Caron  von  Beau- 
marchais, speciell  mit  den  Befehlen  des  Königs  v.  Frankreich, 
datiert  von  Versailles  25.  Aug.  1775,  für  den  Chevalier  von 
Eon  in  London  bestimmt,  betraut,  einerseits,  — und 
Fräulein  Charles,  Genevieve,  Luise,  Auguste,  Andree, 
Timothee  d’Eon  von  Beaumont,  ehemaliger  Capitain 
der  Dragoner,  Ritter  des  Königl.  und  Militairordens 
des  heiligen  Ludwig,  bevollmächtigter  Minister  von  Frank- 
reich bei  dem  Könige  von  Grossbritannien,  auch  Doktor  des 
bürgerlichen  und  kanonischen  Rechts,  Advocat  des  Pariser 
Parlaments,  königlicher  Censor  für  die  Geschichte  und  schönen 
Wissenschaften,  Envoye  in  Russland  mit  dem  Chevalier  Dou- 
glas zur  Aussöhnung  der  beiden  Höfe,  Gesandschaftssecretair 
des  Marquis  von  l’Hopital,  bevollmächtigter  Ambassadeur  bei 
Ihrer  Kaiserl.  Majestät  aller  Reussen,  und  Gesandschaftssecre- 
tair des  Herzogs  v.  Nivernais,  des  bevollmächtigten  Ge- 


446 


sandten  Frankreiclis  in  England  zum  Abschluss  des  letzten 
Friedens  andererseits,  sind  übe  reingekommen:  — 

Dieser  Vertrag,  in  dem  es  so  dargestellt  wurde,  als  ob  d’Eon 
bisher  als  Weib  in  männlicher  Kleidung  (nicht  etwa  umgekehrt  ) 
gelebt  hätte,  sicherte  ihm  eine  jälirliche  Pension  von  12  000 
livres  ausser  der  Bezahlung  seiner  Schulden  zu.  Er  selbst 
schreibt  in  der  Vereinbarung:  „So  willige  ich  ein,  mein  Ge- 
schlecht öffentlich  für  weiblich  zu  erklären,  meinen  Zustand 
ausser  allen  Zweifel  zu  stellen,  und  bis  zu  meinem  Tode  wiede- 
rum weibliche  Kleidung  zu  tragen,  falls  nicht  Se.  Majestät,  aus 
Nachsicht  gegen  meine  lange  Gewohnheit,  Militärkleider  zu 
tragen,  mir  Männerkleider  gestattet,  wenn  es  mir  etwa  unmög- 
lich sein  sollte,  die  Frauenkleider  auszuhalten,  nachdem  ich  ver- 
sucht habe,  mich  in  der  königl.  Abtei  der  Bernhardinerinnen  in 
Paris  oder  in  einem  andern  Jungfrauenkloster,  welches  ich 
wählen  und  wohin  ich  mich  nach  meiner  Ankunft  in  Frankreich 
auf  einige  Monate  zurückziehen  werde,  daran  zu  gewöhnen.“  — 

Er  bedingt  sich  aber  aus,  das  Kreuz  des  heiligen  Ludwig 
über  seiner  Frauenkleidung  tragen  zu  dürfen  unter  Hinzufügung 
folgender  Worte:  „Erwäge  ich,  dass  dieses  Kreuz  stets  und 
allein  für  eine  Belohnung  kriegerischer  Tapferkeit  gegolten  hat, 
imd  dass  mehrere  Offiziere,  nachdem  sie  Priester  oder  Staats- 
beamte geworden,  dieses  militärische  Zeichen  auf  ihrer  neuen 
Tracht  getragen  haben,  so  glaube  ich  nicht,  dass  man  dieses 
Recht  der  tapferen  Dame  streitig  machen  könne,  die 
von  ihren  Verwandten  in  männlicher  Kleidung  erzogen,  die 
gefährlichen  Pflichten  des  AVaffenhandwerks  auf  die  rühm- 
lichste AA'eise  erfüllt  hat.“  — 

Die  schliessliche  Ordre  des  Königs  lautet:  „Auf  Befehl  des 
Königs!  — Es  wird  Charles,  Genevieve,  Louise,  Auguste,  An- 
dree  Timothee  von  Eon  v.  Beaumont  aufgegeben,  die  gewöhn- 
lich von  ihm  getragene  Dragoneruniform  abzulegen  und  sich 
■wiederum  in  die  Tracht  seines  Geschlechts  zu  kleiden,  mit 
dem  Verbot,  in  andern  Kleidungsstücken,  als  weiblichen,  in 
dem  Königreiche  zu  erscheinen.  — Gegeben  zu  A'ersailles,  27. 
Aug.  1777.  gez.  Ludwig. 

Seine  neue  Aussteuer  besorgt  ihm  die  junge  Königin 
Maria-Antoinette  in  eigner  Person. 


447 


„An  einem  Novemberabend  1777“,  schreibt  Gaillardet,  „ver- 
schwand der  Chevalier  v.  Eon,  um  am  folgenden  Tage  mitten 
in  dem  erstaunten  Paris  und  Versailles  als  Chevalier e wieder 
zu  erscheinen.  Hof  und  Stadt  klatschten  bei  dieser  Art  sicht- 
barer Verwandlung  in  die  Hände.  Jeder  drängte  sich,  die  neue, 
in  einem  Dragoner  gefundene  Jeanne  d’Arc  in  der  Nähe  zu  be- 
trachten, die  von  ihrer  Uniform  nichts  behalten  hatte,  als  ein 
grosses,  schönes  Ludwigskreuz,  welches  stolz  auf  einem  Baum- 
wollenkissen ruhte,  das  bestimmt  war,  dem  natürlichen  Mangel 
eines  Busens  abzuhelfen.  Kupferstiche  stellten  sie  von  allen 
Seiten  und  in  jedem  Kostüm  den  Augen  des  begierigen  Publi- 
kums dar.  Auf  einem  derselben,  welches  in  London  graviert 
war,  war  sie  als  Pallas  dargestellt,  mit  dem  Helme  auf  dem 
Kopfe,  die  Lanze  in  der  rechten  Hand,  und  in  der  linken  mit 
einem  Schilde,  um  welches  die  Worte  geschrieben  waren;  At 
nunc  dura  dedit  discrimina  Pallas.  Zur  Seite  ihres  Bildes 
liegen  Fahnen  mit  der  Devise:  Impavidam  ferient  ruinae.“ 
Bald  nachdem  er  die  Frauenkleider  angenommen  hatte, 
um  sie  nicht  wieder  abzulegen,  hatte  er  die  grosso 
Freude,  seine  totgeglaubte,  in  Wirklichkeit  aber  nur  von 
der  Kaiserin  Elisabeth  verbannte  Jugendgeliebte  Nadege 
Stein,  wiederzusehen.  . Es  heisst  in  seinem  Tagebuchc 
darüber:  „Eines  Tages  öffnete  sich  die  Türe,  es  erschien  eine 
Frau,  in  die  Tracht  des  nördlichen  Russlands  gekleidet;  meine 
Augen  fallen  auf  ihr  Gesicht;  ich  schreie  laut  auf  und  stürze 
mich  rascher  als  ein  Blitz  in  ihre  Arme.  Nadege!  rief  ich; 
denn  sie  war  es.  Ich  erkannte  ihr  schönes,  männliches  Ge- 
sicht, trotz  der  Veränderungen,  welche  Leiden  und  Zeit  darin 
hervorgebracht  hatten  . . . Ich  hänge  an  ihrem  Halse,  um- 
schlinge sie,  bedecke,  ersticke  sie  mit  meinen  Küssen.“  — 
Beide  ziehen  nun  gemeinsam  nach  Tonnerre,  seiner  alten 
burgundischen  Heimat,  und  zwei  Jahre  später  nach  dem  Frie- 
densschluBS  zwischen  England  xmd  Frankreich  nach  London. 
Während  seines  Aufenthaltes  in  Tonnerre  empfing  er  einen 
Besuch,  der  für  den  Kenner  der  Geschichte  der  sexuellen  Zwi- 
schenstufen recht  interessant  ist:  den  des  Prinzen  Heinrich 
vonPreussen,  Bruder  des  grossen  Friedrich.  Als  d’ Eon  nach 
England  übersiedelte,  war  sein  erstes,  sich  der  Königin  Sophie 


448 


Charlotte,  die  ihn  bis  zu  diesem  Augenblicke  für  ein  AYeib  ge- 
halten hatte,  zu  entdecken  und  ihr  mitzuteilen,  dass  Nadege 
Stein,  die  Freundin  ihrer  Kindheit,  noch  lebe  und  dass  beide 
als  ein  glückliches  Paar  in  London  weilten;  d’Eon  schreibt; 
„Am  folgenden  Tage  kam  die  Königin  von  England,  als  ein- 
fache Bürgerfrau  der  City  von  London  gekleidet,  in  mein  Haus 
in  Brewer -Street.  Seit  28  Jahren  hatten  Nadege  und  sie  sich 
nicht  gesehn.  Als  sie  nach  dieser  Trennung  einander  gegen- 
überstanden, schauten  sie  sich  einen  Augenblick  mit  Rührung 
an;  dann  aber  flogen  sie  sich  in  die  xA.rme.  Ich  entfernte  mich, 
um  eine  Unterredung  nicht  zu  stören,  bei  welcher  meine  Ge- 
genwart lästig  sein  musste.“ 

„Noch  17  Jahre  hindurch  sah  man  in  London  zwei  alte 
Frauen,  welche  stets  zusammen  ausgingen  und  zurückkehrten: 
die  eine,  von  Jahren  gebeugt  und  stets  einen  kleinen  Rohrstock 
mit  elfenbeinernem  Knopfe  in  der  Hand,  trug  auf  der  Brust 
eine  grosse  schöne  Dekoration,  welche  sonst  nur  auf  der  Brust 
tapferer  Krieger  zu  glänzen  pflegte.  Die  andre,  nicht  so  alt, 
und  etwas  mehr  bei  Kräften,  gab  ihrer  80jährigen  Begleiterin 
den  Arm,  welche  sich  mit  Freude  darauf  zu  stützen  schien. 
Wenn  die  beiden  Greisinnen  bisweilen  langsamen  Schrittes  eben 
in  ihre  kleine  Wohnung  zurückgekehrt  waren,  sah  man  einen 
mit  dem  königlichen  Wappen  geschmückten  Wagen  vor  der 
Tür  ihres  Asyls  halten  und  die  nun  auch  schon  bejahrte 
Sophie  Charlotte  von  Mecklenburg-Strelitz,  Königin  von  Eng- 
land, stieg  aus,  um  an  die  Tür  dieser  bescheidenen  Einsiedelei 
d’Eons  und  der  Nadege  Stein  zu  klopfen.“  — 

Endlich  am  21.  Mai  1810  starb  der  Chevalier  von  Eon 
in  London,  New-Wilman-Strcet,  Nr.  26,  in  dem  Alter  von 
83  Jahren,  „ein  Zeitgenosse  zweier  Jahrhunderte,  sah  er  nach- 
einander die  beiden  Monarchien  Ludwig  XV.  und  Ludwig  XVL, 
die  Republik  und  das  Kaiserreich  an  seinen  Augen  vorüber- 
gehn, und  starb  in  dem  Augenblick,  als  Frankreichs  Ruhm  in 
höchster  Blüte  stand.“*) 

*)  Von  Romanen,  in  denen  auf  die  Lebensgeschichte  d'Eons  mit 
dichterischer  Freiheit  Bezug  genommen  ist,  verdient  „Die  Grossfürstin“ 
von  Gregor  Samarow  erwähnt  zu  werden. 


449 


Nach  seinem  Tode  wurden  folgende  Atteste  veröffentlicht: 

A:  Attestat  (aus  dem  englischen  Text  übersetzt): 

Ich  bescheinige  durch  Gegenwärtiges,  dass  ich  in  Gegen- 
wart der  Herren  Adair,  Wilson  und  des  Paters  Elysee  den 
Körper  des  Chevalier  von  Eon  untersucht  und  seziert  und  die 
männlichen  Zeugungsorgane  in  jeder  Hinsicht  vollkommen  aus- 
gebildet gefunden  habe. 

W ilman-Street,  23.  Mai  1810.  Tho.  Copeland,  Chirurg. 

Untenbenannte  Personen  waren  gleichfalls  gegenwärtig:  Sir 
Sidney  Smith;  der  Honourable  AV.  T.  Littleton  Douglas;  der 
Graf  von  Yarmouth;  Stoskins,  Procureur;  J.  M.  Richardson; 
King,  Chirurg;  Burton,  desgl. ; Joseph  Berger-Partney;  Joseph 
Bramble;  Jakob  Delannoy. 

B:  Erklärungen  zur  Unterstützung  (aus  dem  französi- 
schen Text): 

1.  Ich  erkläre,  das  sogenannte  Fräulein  von  Eon  in 
Frauenkleidern  gekannt  und  ihren  Körper  nach  dem  Tode 
gesehen  zu  haben.  Infolge  dessen  attestiere  ich,  dass  der 
Körper  alles  enthält,  was  einen  Mann  charakterisiert,  ohne 
irgend  eine  Geschlechtsvermischung. 

24.  Mai  1810.  Chevalier  Degeres. 

2.  Ich  erkläre,  dass  ich  mit  der  allgemein  unter  dem  Namen 
des  Fräulein  von  Eon  bekannten  Person  in  Verbindung  gestan- 
den, und  heute,  New-Wilman-Street  Nr.  26,  den  Körper  eines 
männlichen  Individuums  gesehen  habe,  welcher  mir  der  Körper 
der  nämlichen  Person  zu  sein  schien. 

von  Dostan\dlle. 

3.  Ich  erkläre,  das  sogenannts  Fräulein  von  Eon  in  Frank- 
reich und  England  gekannt  und  im  Regimente  Harcourt  als 
Dragnnerkapitän  gedient  zu  haben,  als  das  genannte  Fräulein 
im  Jahre  1757  als  Leutnant  im  Regiment  Caraman  stand,  und 
dass  ich,  als  man  mich  aufforderte,  den  Körper  nach  dem  Tode 
zu  besichtigen,  dieselbe  Person  des  Chevalier  von  Eon  er- 

Hirschleld,  Die  Transvestiten.  29 


450 


kannte,  sowie,  als  man  mir  den  Körper  nackt  gezeigt  hat, 
alles  an  ihm  sah,  was  die  männlichen  Zeugungsteile  bildet. 

London,  68  Deanstr.,  24.  Mai  1810 

Graf  von  Behague,  General-Leutnant. 

4.  Ich  erkläre,  dass  der  Chevalier  von  Eon  bei  mir  etwa 
drei  .Jahre  gewohnt  hat,  dass  ich  ihn  stets  für  eine  Frau  hielt, 
nach  seinem  Tode  aber  bei  Untersuchung  des  Leichnams  ge- 
funden habe,  dass  er  ein  Mann  war.  Meine  Frau  erklärt  das 
Nämliche. 

New-lVilman-Street,  26.  William  Bouning. 

Ueberschauen  wir  dieses  Lebensbild,  das  an  Seltsamkeit 
wohl  schwerlich  in  der  Weltgeschichte  seines  Gleichen  haben 
dürfte,  so  ist  das  Rätsel,  welches  der  Ritter  von  Eon  seinen 
Zeitgenossen  und  vielen  späteren  Psychologen  und  Histo- 
rikern aufgegeben  hat,  nach  dem  heutigen  Stand  der  Wissen- 
schaft nicht  mehr  schwer  zu  lösen.  Sicherlich  war 
er,  der  dreieinhalb  Jahrzehnte  als  WTib,  nahezu  lünf 
Jahrzehnte  als  Mann  lebte,  eine  in  das  Bereich  der 
Zwischenstufen  fallende  Persönlichkeit.  Zu  denen 
ersten  Grades,  den  Hermaphroditen,  gehörte  er  nicht,  das 
beweisen  die  Obduktions-Protokolle,  auch  nicht  zu  denen 
dritten  Grades,  den  Homosexuellen,  da  nach  allem,  was 
wir  erfahren  haben,  sein  Geschlechtstrieb  zwar  nicht  stark, 
aber  doch  auf  das  Weib  gerichtet  war.  Zweifellos  war  er 
aber  eine  Zwischenstufe  zweiten  Grades, 
denn  übereinstimmend  wird  hervorgehoben,  dass  seine  Körper- 
formen deutliche  Annäherungen  an  weibliche  Beschaffenheit 
zeigten,  — auch  auf  dem  von  Angelika.  Kaufmann  gemalten 
Bilde  ist  weibliche  Brustbildung  (Gynäkomastie)  unverkenn- 
bar — sehr  wahrscheinlich  haben  daneben  Uebergangser- 
scheinungen  vierten  Grades,  namentlich  t r a n s - 
vestitische  Neigungen  bestanden,  denn  durch 
die  Bewilligung  der  Pension,  die  ihm  noch  dazu 

fast  nie  bezahlt  wurde,  ist  die  Beibehaltung  der  Frauen- 
tracht nicht  genügend  erklärt,  obschon  sein  sonstiger  Cha- 


451 


rakter  überwiegend  männliche  Züge  aiü'weist;  war  doch  wie 
einer  seiner  Biographen  berichtet,  seine  in  mehr  als  dreissig 
Duellen  erprobte  Klinge,  „nicht  nur  in  Frankreich  und  Eng- 
land, sondern  in  ganz  Europa  die  gefürchtetste  seinerzeit.“ 
Wer  nur  rein  äusserlich  die  Lebensgeschichte  d’Eons  an 
sich  vorüberziehen  lässt,  wird  leicht  die  Behauptung  aui- 
stellen,  er  habe  zunächst  die  Frauenkleider  nur  aus  dem 
Grunde  angelegt,  um  eine  wichtige  politische  Mission  besser 
erledigen  zu  können.  Damit  wäre  aber  der  wirk- 
liche Tatbestand  keinesfalls  erschöpfend  motiviert.  So 
ist  es  auch  in  vielen  anderen  Fällen,  in  denen  jemand 
scheinbar  in  Erfüllung  einer  bestimmten  Aufgabe,  meist 
zum  Zwecke  der  Täuschung,  das  andere  Geschlecht  an- 
nimmt, während  vielfach  die  Absicht  schon,  wenn  auch  meist 
unbewusst,  von  der  seelischen  Eigenart  abhängig  ist,  wo- 
mit aber  nicht  gesagt  sein  soll,  dass  nicht  auch  Geschlechts- 
Verkleidungen  ganz  ohne  transvestitische  Neigungen  Vor- 
kommen. 


Geschlechtsverkleidung  auf  der  Bühne. 

Nicht  selten  hat  man  um  das  Publikum  zu  täuschen, 
im  Zirkus  und  auf  Spezialitätenbühnen  Kunstreiterinnen,  Akrc 
batinnen,'  Athletinnen,  Tierbändigerinnen  auftreten  und  auf 
Programmen  mit  klangvollen  weiblichen  Namen  figu- 
rieren lassen,  die  in  AVirklichkeit  Alänncr  waren,  beispielsweise 
in  der  wohlbekannten  Artistenfanülie  F r a n t z , wo  ein  sich 
als  Frau  produzierender  Mann  einen  Mann  auf  der  Schulter 
und  in  jedem  ausgestreckten  Arm  ein  Mädchen  trägt.  Eine 
der  berühmtesten  Kunstreiterinnen  in  den  sechziger  und  sieb- 
ziger Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  Ella  Zoyara,  war 
ebenfalls  ein  Mann.  Es  heisst  von  ihr:  „Omar  Kingsley 

— so  hiess  sie  eigentlich  — war  1840  zu  St.  Louis  ge- 
boren. Erst  acht  Jahre  alt,  ward  er  von  einer  so  heftigen 
Neigung  für  das  Zirkusleben  erfasst,  dass  er  seinen  Eltern 
davonlief,  um  in  einem  Zirkus  ein  Unterkommen  zu  finden. 
Der  Zirkusdirektor  Spencer  Stokes  in  Philadelphia  liess  ihn 
im  Kunstreiten  unterrichten,  doch  musste  Omar  unter  dem 

29* 


452 


Namen  Ella  Zoyara  als  Mädchen  auftreten.  Sein  hübsches 
Gesicht,  seine  schlanke  Gestalt  nnd  sein  üppiges,  schwarzes 
Haar  begünstigten  diese  Täuschung  des  Publikums.  Kingsley 
ging  später  mit  Stokes  nach  Europa,  wo  er  in  grösseren 
Städten,  insbesondere  auch  in  Berlin,  als  Kunstreiterin  auf- 
trat. Natürlich  gab  die  Anwesenheit  der  tollkühnen  und  an- 
mutigen Reiterin  die  Veranlassung  zu  mancher  romantischen 
Episode.  In  "Moskau  verliebte  sich  ein  russischer  Graf  in 
„sie“  und  bot  dem  Direktor  eine  grosse  Summe,  wenn  er  ihn 
mit  der  „schönen  Kunstreiterin“  bekannt  machen  würde. 
Ihren  grössten  Triumph  feierte  jedoch  Miss  Ella  in  Italien. 
Nachdem  Viktor  Emanuel  sie  im  Zirkus  gesehen,  entbot  er 
sie  zu  sich.  Zoyara  erschien  beim  König,  aber  in  Beglei- 
tung einer  Dienerin,  die  überhaupt  stets  um  ihn  war.  Viktor 
Emanuel  wohnte  den  Vorstellungen  im  Zirkus  öfter  bei  und 
schenkte  der  Miss  Ella,  in  der  niemand  einen  Mann 
zu  ahnen  vermochte,  einen  prachtvollen  schwarzen 
Hengst.  Nach  Amerika  ziirückgekehrt.  wo  ihr  eine  Menge 
Heiratsanträge  gemacht  wimden,  verheiratete  sie 
sich  in  aller  Stille  mit  einer  Kollegin,  der 
Kunstreiterin  Sallie  Stickney.  In  Manila  verliebte  sich  ein 
spanischer  Offizier  in  Zoyara,  wurde  aber  abgewiesen.  Mehrere 
andere  Offiziere  sagten  „ihr“  darauf,  sie  sei  kein  Frauen- 
zimmer, die  Offiziere  begaben  sich  ins  Ankleidezimmer,  als 
Zoyara  von  der  Reitbahn  zurückkam,  und  wollten  ihr  die 
Kleider  vom  Leibe  reissen.  Der  Zirkusdirektor  Wilson, 
zu  dessen  Gesellschaft  sie  damals  gehörte,  kam  aber  noch 
rechtzeitig  hinzu  und  schlug  zwei  Offiziere  zu  Boden. 
Zoyara  und  Wilson  wurden  dann  auf  mehrere  Wochen  in  das 
Gefängnis  geworfen,  wo  man  ermittelte,  dass  Zoyara  ein 
Mann  war.  Erst  als  er  Miteigentümer  des  Wilsonschen 
Zirkus  geworden,  gab  er  seine  Weiberrolle  auf,  um  nur  noch 
bei  Benefizvorstellungen  Frauenkleider  anzulegen.  Dann 
gab  es  immer  volle  Häuser.  Nachdem  IMiss  Ella  die  ganze 
Welt  durchreist  hatte,  fiel  die  schöne  Scheinfrau  1879  in 
Bombay  den  Blattern  zum  Opfer.“ 

Ein  Seitenstück  zu  ihr  war  der  1892  verstorbene  Emil 
Mario  Vacano,  der,  bevor  er  Schriftsteller  wurde,  lange 


453 


Jahre  unter  dem  Namen  Signora  Sangumeta  eine  sehr  gesuchte 
Schulreiterin  war,  dessen  wahres  Geschlecht  nur  wenige 
kannten.  In  England  machte  es  vor  einigen  Jahren  nicht 
geringes  Aufsehen,  als  anlässlich  eines  Ehescheidungsprozesses 
verlautete,  dass  der  Alarquis  von  A n g 1 e s e y es  liebte,  sich 
unerkannt  als  Serpentinentänzerin  auf  dem  Variete  zu 
produzieren.  lieber  seine  Persönlichkeit  berichteten  damals  eng- 
lische Zeitungen:  „Die  Tochter  von  Sir  George  Chetwynd 
und  der  Marquise  von  Hastings,  zählte  erst  achtzehn  Lenze, 
als  sie  vor  zwei  Jahren  dem  damaligen  Earl  of  Urbridge 
die  Hand  zum  Lebensbunde  reichte.  Das  fein  geschnittene, 
von  goldroten  Haarmassen  umrahmte  Gesicht  der  Aristo- 
kratin gilt  mit  seinen  grossen  veilchenblauen  Augen  für 
eines  der  schönsten  in  ganz  England.  Auf  die  von  zahl- 
reichen Bewerbern  umschwärmte  Miss  Chetwynd  machte  das 
sehr  sanft  zu  nennende  Wesen  des  Earl  einen  so  günstigen 
Eindruck,  dass  sie  ihm  vor  allen  anderen  Freiern  den  Vor- 
zug gab.  Sie  ahnte  aber  nicht,  in  welchem  Alaasse  ihr 

Erwählter  einem  verzärtelten,  exzentrischen  Weibe  glich  und 
dass  er  alle  Launen  und  Schwächen  eines  solchen  besass.  In 
der  Tat  hat  der  .jetzt  25jährige  Nobleman,  der  bald  nach 
seiner  Eheschliessung  durch  den  Tod  des  Vaters  fünfter 

Marquis  of  Anglesey  wurde,  das  Aussehen  einer 
schönen  Frau  in  Männerkleidung.  Seidenweiche 
dunkle  Locken  umgeben  ein  rosiges  Gesicht  mit  w'eichen, 
sympathischen  Zügen.  Um  blasser  und  interessanter  zu  er- 
scheinen, verschmäht  er  weder  die  Puderschachtel  noch 

bleichmachende  Toiletten-AVasser.  Er  ist  immer  stark  par- 
fümiert, und  seine  zarten,  schlanken  Finger  sind  mit  Ringen 
überladen.  Alan  sieht  ihn  bei  seinen  Promenaden  durch 

Piccadilly  oder  auf  den  Pariser  Boulevards  meist  mit 
einem  schneeweissen,  schleifengeschmückten  Pudel  unter  dem 
Arm,  der  ebenso  wie  sein  Herr  nach  Patchouli  und  Eau 

d’Espagne  duftet.  Als  Bräutigam  schenkte  er  seiner  Ver- 
lobten Schmucksachen  im  AVerte  von  anderthalb  AliUionen 
Mark;  ihm  selbst  stehen  4 Alillionen  Mark  im  Jahr  zu  Ge- 
bote, seiner  bisherigen  Gemahlin  hat  er  eine  ABertel  Alillion 
Jahreseinkommen  ausgesetzt.  Die  Lieblingsbeschäf- 


454 


tigung  des  jungen  ^larquis  ist  es,  sich  auf 
wirklichen  Spezialitäten  bühnen  als  Ser- 
pentine ntänzerin  zu  zeigen,  eine  Kunst, 
in  der  er  der  graziösen  Loie  Füller  wenig 
n a c h s t e h t.  “ 

Ein  recht  origineller  Fall  von  doppelter  Mystifika- 
tion wurde  im  August  1907  in  Artistenkreisen  viel  be- 

sprochen: „Eine  Berliner  Sängergesellschaft,  welche  in  der  Um- 
gebung Berlins  Vorstellungen  gab,  kündigte  an,  dass  sie 
einen  beliebten  Damenkomiker,  „einen  Künstler  von  Ruf",  en- 
gagiert habe.  Der  neue  Damenkomiker  bewährte  sich  als 
Zugkraft.  Wie  vielfach  üblich,  pflegte  der  Damenkomiker 
nach  seiner  letzten  Nummer  seine  Damenperücke  abzunehmen, 
um  den  Zuschauern  zu  erkennen  zu  geben,  dass  alles  nur 
„Imitation“  gewesen.  Ein  dröhnender  Bass  dient  in  solchen 
Fällen  dazu,  das  ^lannestum  des  Damenkomikers  zu  be- 
kräftigen. Aber  eines  Abends  in  voriger  Woche,  als  das  En- 
semble in  Neuendorf  gastierte,  kam  es  zu  einer  Katastrophe. 
Der  Damenkomiker  hatte  sein  Pensum  absöhdert  und  wmllte 
die  Damenperücke  entfernen,  als  er  mit  dieser  auch  eine 
darunter  befindliche  Männerperücke  vom  Kopfe  riss  und 
als  Dame  entlarvt  war.  Eine  ältere  Chansonette  stand 
vor  dem  johlenden  Publikum.  Sie  war  im  Verein  mit  den 
Kollegen  vom  Ensemble  auf  den  Schwindel  verfallen.  Das 
Ensemble  hat  sich  nach  diesem  Missgeschick  aufgelöst.“  (Z. 
f.  S.  p.  59.) 

Von  den  richtigen  Damenimitatoren  war  oben*)  bereits 
ausführlich  die  Rede;  hier  sei  nur  noch  kurz  ihrer  Pendants,  der 
Männer-Imitat  orinnen  gedacht,  die  verhältnismässig  viel 
seltener  sind.  Am  ehesten  trifft  man  sie  noch  in  Wien 
unter  der  Rubrik  der  weiblichen  Volkssänger;  eine  der 
besten,  die  als  Feuerwehrmann  Furore  machte,  sah  ich  dort 
vor  einigen  Jahren:  Betti  Kühn;  am  populärsten  war  in 
der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  der  V/iener  Volks- 
sänger Josefine  Schmeer;  von  ihr  heisst  es  im  Jhb.  f.  sex. 
Zw.  Bd.  V.  (p.  242): 


')  pag.  181  R. 


455 


„In  einem  Vorstadtspital  in  Wien  lebt  noch  heute  ein 
altes  Mütterchen,  die  einst  bessere  Tage  gesehen  und  auf 
den  Brettern  des  Varietes  reichen  Beifall  geerntet  hat.  Sie 
verdankt  ihre  Erfolge  ihrem  eigenartig  männlichen  Wesen, 
das  sie  befähigte,  als  Volkssänger  aufzutreten.  Hinter  dem 
schnurrbärtigen  Manne  mit  der  sonoren  Tenörstimme  und 
den  vollkommen  natürlichen  energischen  Bewegungen  hatte 
wohl  niemand  das  Weib  vermutet  und  mancher  ihrer  Be- 
wunderer war  lange  Zeit  hindurch  der  Meinung,  dass  „die" 
Pepi  wirklich  „der“  Pepi  wäre.  Das  fortschreitende  Alter 
hinderte  Josephine  Schmeer,  so  ist  Pepis  eigentlicher  Name, 
ihre  natürliche  Veranlagung  im  Dienste  einer  Kunst  zu  ver- 
werten, die  so  recht  bezeichnend  war  für  das  lustige  Treiben 
der  alten  Kaiserstadt.  Im  „Düsseldorfer  Artisten“  schreibt 
einer  ihrer  Verehrer:  „Josephine  oder  Pepi  Schmeer  ist  ins 
Versorgungshaus  gegangen  und  beim  „Blauen  Herrgott“,  dem 
freundlichen  Greisenäsyl  der  l\Iutter  Vindobona,  wird  sie 

ruhig  ihre  Tage  baschliessen.  Sie  hat  schöne  Tage  ge- 
sehen, die  Pepi  Schmeer,  denn  sie  war  eine  ganz  origi- 
nelle Erscheinung  auf  dem  Brettl.  Die  Schmeer  hiess  der 
„weibliche  Fürst“.  Als  sie  vor  40  Jahren  in  kleinen  Rollen 
im  Pratertheater  spielte,  imitierte  sie  den  Direktor  so 

täuschend,  dass  man,  wenn  sie  ungesehen  blieb,  den  Fürst 
zu  hören  glaubte.  Und  sie  blieb  der  „weibliche  Fürst“ 
auf  allen  Plakaten,  in  denen  sie  das  Publikum  zu  ihren 
Soireen  einlud.  Sie  trat  immer  in  Männerklei- 
dern auf.  Man  sagte,  sie  hätte  eine  spezielle  Bewilli- 
gung der  Polizei  hierbei  gehabt.  So  lange  sie  jung,  ge- 
schmeidig und  fesch  war,  bildete  das  Mädchen  in  Männer- 
kleidern eine  Anziehungskraft.  Sie  soll  auch  zu  Hause 
lieber  in  Männerkleidern  gegangen  sein,  als  in  weiblicher 
Toilette.  Mit  einem  Liede  machte  sie  Furore  in  Wien,  und 
die  ganze  Wienerstadt  sang  es  ihr  nach,  bis  heute  ist  es 
ein  geflügeltes  Wort  im  Wiener  Dialekt  geblieben;  „Aussi 
möcht’  i geh’n“.  Das  sang  sie  unnachahmlich.  Das  waren 
ihre  besten  und  schönsten  Tage,  als  alle  dieses  Lied  von 
ihr  hören  wollten.  Vor  etwa  zehn  Jahren  wurde  sie  vom 
Schlage  gerührt  und  die  braven  Kollegen  und  Kolleginnen 


456 


mussten  der  Veterauin  des  Brettls  zu  Hilfe  eilen.  Sie  trat 
dann  einige  Male  wieder  auf,  aber  ihre  Kraft  war  ge- 
brochen und  so  sah  sie  sich  endlich  genötigt,  ins  Ver- 
sorgungshaus zu  gehen.  In  der  Geschichte  des  Wiener 
Volkssängertums  wird  man  Josephine  Schmeer,  den  weib- 
lichen .,Fürst“,  nicht  vergessen  dürfen,  und  diejenigen,  die 
sie  in  ihrer  Blütezeit  gekannt,  werden  nicht  ohne  Teil- 
nahme von  ihrem  Geschicke  erfahren.“ 

Paris  besass  vor  längerer  Zeit  im  Theätre  des  Varietes 
eine  ganz  hervorragende  Künstlerin  dieses  Genres:  die 

V e r n e t ; sie  „warf“  die  Männer  aus  dem  Volke  mit  verblüffen- 
der Naturwahrheit  hin;  ihr  Hausmeister  Pipelet  war  einer  der 
drolligsten  Figuren,  die  je  von  der  Bühne  zum  Publikum 
gesprochen  und  es  begeistert  haben.  Auch  Josephine  Dora 
und  Hansi  Niese,  beide  besonders  als  Schuster  Knieriem  in 
NestroysLumpacivagabundus,  verdienen  hier  genannt  zu  werden. 

Die  vollendetste  Männer-Imitatorin  der  Gegenwart  dürfte 
aber  wohl  Vesta  T i 1 1 e y in  London  sein.  Ihre  Dar- 
.Stellung  der  so  charakteristischen  englischen  Typen,  deren 
Eigenart  sie  in  Mäunertracht  mit  unverstellter  Singstimme 
wiedergibt,  wirkt  geradezu  verblüffend;  und  der  stürmische 
Applaus,  den  die  beliebte  Künstlerin  als  P o 1 i c e m a n, 
Clergyman  (Geistlicher),  eleganter  Sw  eil  (diese  vul- 
gäre Bezeichnung  entspricht  ungefähr  dem.  was  man  früher 
Dandy,  auch  wohl  Toff  nannte),  als  C i t y - C 1 e r k an  der 
Seaside,  als  Tommy  (Rekrut)  und  E t o n b o y (junger 
Schüler)  findet,  ist,  wie  ich  mich  selbst  überzeugte,  ein 
wohlverdienter.  Wie  mir  mitgeteilt  wurde,  soll  Vesta  Tilley 
eine  sehr  glückliche  Gattin  und  )»Iutter  sein.  Es  ist  nicht 
uninteressant,  dass  seit  einigen  Jahren  in  England  ein  junger 
femininer  Künstler  Reginald  de  Vieulla  als  Vesta 
Tilley -Imitator  auftritt  und  ebenfalls  viel  Beifall  erntet. 

Aber  nicht  nur  als  Volkssänger  und  auf  dem 
Specialitätentheater,  sondern  auch  als  veritabie  Opern- 
sänger sind  Frauen  auf  der  Bühne  erschienen.  So 
trat  in  den  neunziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhun- 
derts Frau  Conti-Geissler  im  königlichen  Theater  zu 
Stockholm  als  Tenor  auf  und  hat  wie  ein  Kritiker 


457 


schreibt:  „durch  ihre  grosse  und  vorzüglich  geschulte 

Stimme  ganz  ausserordentlich  gefallen.“  Wenige  Jahr- 
zehnte zuvor  hatte  eine  deutsche  Künstlerin  Felicitas 
V.  Vestvali  dasselbe  Experiment  mit  Erfolg  unternommen. 
Der  wirkliche  Name  dieser  Frau  war  Anna  Marie  Stege- 
niann.  Sie  war  die  jüngste  Tochter  eines  höheren  Beamten 
in  Stettin  und  dort  am  25.  Februar  1829  geboren.  Die 
Eigenartigkeit  ihres  Wesens  trat  schon  früh  hervor.  So 

wünschte  sie  als  Kind  Missionsprediger  zu  werden.  Wenn 
das  Schulzimmer  im  elterlichen  Hause  leer  war,  schlich  sie 
sich  hinein,  stellte  sich  aufs  Katheder  und  predigte  mit  einer 
über  ihr  Alter  hinausgehenden  Begeisterung,  wie  sie  die 
]\Ienschen  bessern  wolle.  Zu  anderen  Zeiten  tollte  sie  wieder 
mit  ihren  Brüdern  um  die  Wette,  wie  der  wildeste  Junge. 
Als  sie  das  Theater  kennen  lernte,  erwachte  in  ihr 
der  glühende  Wunsch,  Schauspielerin  zu  werden,  doch  wie 
so  oft,  wollten  ihre  Eltern  absolut  nichts  davon  wissen; 
kurz  entschlossen  entfloh  sie  daher  eines  Tages  in  Knaben- 
kleidern. Nach  mancherlei  Irrfahrten  finden  wdr  sie  als  Gesang- 
schülerin  bei  Mercadante  in  Neapel.  Unter  seiner  Leitung 
entwickelte  sich  ihre  Stimme  zu  einem  tiefen  Kontra- 
A 1 1 , so  dass  ihre  Impresarien  ihr  rieten,  Tenorpartien  zu 
studieren.  Sie  sang  den  „Romeo“  in  Bellini’s  „Romeo  und 
Julia“,  den  „Tancred“  und  vor  allem  den  „Figaro“  im  „Bar- 
bier. von  Sevilla“  mit  grossem  Erfolg.  Schliesslich  erhielt  sie 
ein  Engagement  an  der  grossen  Oper  in  Paris.  Napoleon  III. 
beschenkte  sie  für  ihren  Romeo  mit  einer  silbernen  Rüstung. 
Nach  Amerika  kam  sie  1864;  man  trieb  dort  mit  ihr  einen 
förmlichen  Kultus,  nannte  sie  „Vestvali,  the  Magnificent!  “ 
und  zahlte  ihr  eine  Monatsgage  von  10000  Frcs.  Als  sie  nach 
Mexiko  kam,  war  dort  gerade  Henriette  Sonntag  als 
Direktorin  des  dortigen  Nationaltheaters  gestorben, 
und  man  wählte  sie  zu  ihrer  Nachfolgerin.  Sie 
willigte  ein.  Durch  einen  Misserfolg,  den  sie  in  Gluck’s 
„Orpheus“  hatte,  entmutigt,  entschloss  sie  sich,  zum  Schau- 
spiel überzugehen,  trat  zunächst  in  Romeo  und  Hamlet  auf 
und  hatte  auch  hier  denselben  grossen  Erfolg. 

Männer,  die  in  weiblichen  Gesangspartieen  auftreten, 


458 


waren  in  früheren  Zeiten,  namentlich  in  Italien,  weit  verbreitet, 
anderswo  findet  man  sie  auf  d e r 0 p e r n b ü h n e kaum, 
so  sehr  manche  Rollen  — man  denke  an  die  ihre  Wirkung 
nie  verfehlende  Zerlinen-Parodie  aus  Fra  Diavolo  — dies 
förmlich  nahelegen  und  so  häufig  man  auf  dem  Varietäten- 
theater Männer  mit  keineswegs  immer  nur  verstellten  Frauen- 
stimmen, sondern  mit  natürlicher  Alt-  und  Mezzosopran- 
stimme findet.  Eine  um  so  grössere  „Rolle“  haben  Frauen 
darstellende  Männer  auf  der  Schaubühne  gespielt. 
Das  Thema;  Der  Mann  als  Schauspielerin,  von 
der  Zeit  des  altgriechischen  Theaters,  in  dem,  wie  noch 
jetzt  u.  a.  in  China,  Anam  sämtliche  Frauen  von 
Männern  gegeben  wuirden,  bis  in  die  moderne  Zeit,  wo  es 
lals  etwas  „Unerhörtes“  galt,  als  ein  Mann,  wie  der  Peters- 
burger Schauspieler  Glagolin  die  Jungfrau  von  Orleans 
verkörperte,  ist  ein  so  umfangreiches,  dass  man,  um  es  zu 
erschöpfen,  ein  eigenes  Buch  schreiben  müsste. 

Vor  der  zweiten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  betrat 
keine  Frau  die  Bühne.  Shakespeare  hat  die  herrlichsten  und 
zartesten  seiner  weiblichen  Gestalten,  wieder  Desdemona  noch 
Julia,  noch  Perdita,  jemals  von  Frauen  dargestellt  gesehen;  von 
den  Heldinnen  bis  zu  den  Kammermädchen  wurden  alle  von 
Männern  gegeben.  Als  im  Jahre  1629  eine  französische  Ge- 
sellschaft zwei  Schauspielerinnen  nach  London  brachte,  erhob  sich 
ein  Sturm  sittlicher  Entrüstung.  Gence* **))  berichtet:  „Als  in 
London  1629  eine  französische  Truppe  erschienen  war 
und  dabei  das  englische  Publikum  zuerst  mit  Schau- 
spielerinnen bekannt  machen  wollte,  wurden  dieselben  mit 
faulen  Eiern  und  Obst  von  der  Bühne  vertrieben.“ 

Erst  ungefähr  im  Jahre  1670  unter  Karl  II  betraten  Damen 
das  englische  Theater.*  ) Ein  Epigramm  aus  jener  Zeit  lautet: 
„Da  jetzt  die  Tugend  farblos  geht. 

Das  weibliche  Geschlecht  selbst  ohne  Scham  dasteht. 

So  hat  es  sich  den  Männern  zugeseilt. 

Und  tritt  nun  im  Theater  auf  für  Geld.“ 

*)  Genee;  Lehr-  und  Wanderjahre  des  deutschen  Schauspiels,  S.  289. 

**)  Ygl.  Isaac  Disraeli:  „The  history  of  the  theatre  during  the  Sup- 

pression“, Essay  in  „Curiosities  of  Lileralure“,  Bd.  II. 


459 


Einer  der  letzten  Schauspieler  „welcher  sich  in  weib- 
lichen Rollen  berühmt  gemacht  hatte,  so  dass  er  der 
Liebling  aller  Damen  war.  lebte  noch  weit  ins  18.  Jahr- 
hundert hinein  und  hiess  William  Kynaston.  Häufig  fuhren 
die  vornehmsten  Ladies,  wenn  er  die  Rolle  der  Julia  oder 
Cordelia  gespielt  hatte,  mit  ihm  im  Hydepark  umher  und 
weideten  sich  an  seiner  Grazie,  Zurückhaltung  und  dem 
schönen  Anstande,  sowie  an  der  Täuschung,  von  welcher  das 
grosse  Publikum  befangen  war,  wenn  es  den  Jüngling  für 
eine  junge,  reizende  Miss  hielt.“  („He  was  so  great  a favo- 
rite  with  the  fair  sex,  that  the  court  ladies  used  to  take 
him  in  their  coaches  for  an  airing  in  Hyde  Park“.)  Fast 
ebenso  beliebt  waren  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  Stephen 
Hammers  ton,  „the  most  noted  and  beautiful  women  actor“ 
und  Alexander  Goffe  „the  woman-actor  at  Blackfriars.“  Es 
ist  nicht  ohne  Interesse  zu  hören,  wie  einige  deutsche  Lite- 
raturhistoriker diese  dem  heutigen  Zeitgeschmack  so  fremde 
Sitte  erklären  und  beurteilen.  Kreysig*)  schreibt:  „Es 

wurde  bekanntlich  zu  Shakespeare’s  Zeit  kein  Frauenzimmer 
auf  der  englischen  Bühne  geduldet.  — — Sämtliche  Frauen- 
rollen wurden  also  durch  Knaben  und  Jünglinge  gespielt, 
die  sich  natürlich  von  früher  Jugend  an  dazu  vorbildeten  und 
so  zu  einer  Sicherheit  und  Vollendung  für  ihre  spätem  Jahre 
den  Grund  legen  mussten,  von  dem  man  sich  jetzt  schwer 
eine  Vorstellung  macht.  Es  sind  dieses  .die  „Fräulein“, 
zu  denen  Hamlet  sagt;  „Ihr  seid  dem  Himmel  um  die  Länge 
eines  Absatzes  näher  gekommen,  seit  ich  Euch  zuletzt  sah. 
Gebe  Gott,  dass  Eure  Stimme  nicht  wie  ein  abgenutztes 
Goldstück  den  hellen  Klang  verloren  habe.“  Es  ist  gar  keine 
Frage,  dass  die  derbe  Sprache  mancher  Shakespeare’ sehen 
Szene  mit  dieser  Besetzung  der  Weiberrollen  zusammenhängt, 
sowie  mit  dem  Umstande,  dass  anständige  Damen  nur  mas- 
kiert das  Theater  besuchten.  Aber  wie  viel  Intriguen,  Zer- 
streuungen, Nebenrücksichten  waren  auch  damit  b e - 
s e i t i g t , und  welche  Kunstschule  musste  dazu  gehören, 

•)  Kroysig;  Vorlesungen  über  Shakespeare.  3.  Aufl.  Berlin  1877. 
Bd.  I.  S.  93. 


460 


um  Knaben  und  Jünglinge  in  die  Feinheiten  Shakespeare’scher 
Frauenrollen  einzuweihen,  so  dass  sie  dem  Meister  genügten!“ 

Und  Gervinus:*)  „Man  bedenke,  wie  viele  Ablenkung 
durch  falschen  Sinnenkitzel  den  Spielern  und  Zuschauern  er- 
spart, wie  sehr  die  Sammlung  auf  das  Wesen  der  Sache  er- 
leichtert war,  nur  durch  den  einen  Umstand,  dass  keine 
Frauen  spielten.  Die  Sitte  der  Zeit  hielt  streng 
auf  diesen  Punkt;  — — . Wie  viele  Ränke  hinter  den 
Kulissen,  wie  vieles,  was  den  sittlichen  Charakter  des  Schau- 
spielers gefährdet,  fiel  mit  dieser  einen  Gewohnheit  hinweg! 
Sie  hatte  aber  auch  noch  eine  tiefgreifendere  Folge,  die 
der  Schauspielkunst  und  ihrer  feinsten  Ausbildung  zu  Gute 
kam.  Es  mussten  die  Frauen  von  Knaben  gespielt 

werden;  dies  machte  die  Knabentheater  zu  einer  Notwendig- 
keit; sie  aber  wurden  eine  Schule  derSchau- 

Spieler,  wie  wir  sie  in  neuerer  Zeit  garnicht  besitzen. 
Und  welcher  Schauspieler!  Aus  diesen  Schulen  gingen  die 
Field  und  Underwood  hervor,  die  schon  als  Knaben  berühmt 
waren;  und  wie  mussten  doch  auch  die  Knaben  schon  ge- 
bildet sein,  die  eine  Cordelia,  eine  Imogen  auch  selbst  nur 
für  rohere  Gemüter  erträglich  spielen  sollten!“**) 

Auch  in  dem  älteren  deutschen  Theater  — so  in  den 
Stücken  von  Thomas  Schmidt  in  Heidelberg  im  16.  Jahr- 
hundert — wurden  alle  weiblichen  Charaktere  von  jungen 
Männern  dargestellt.  Genee  sagt  über  das  deutsche  Schau- 
spiel im  17.  Jahrhundert:  „Von  der  ^Mitwirkung  des 
weiblichen  Geschlechts  war  auch  jetzt  keine  Rede.“ 

Am  längsten  hatte  sich  die  alte  Tradition  in  Italien 
erhalten,  wo  noch  im  19.  Jahrhundert  Frauenrollen  von 
Männern  gegeben  wurden.  Goethe  widmete  bei  seinem 
Aufenthalt  in  Italien  im  Jahre  1790  dieser  seltsamen  Er- 

*)  Gervin.uä;  Shakespeare.  2.  Aufl.  Leipzig  1850.  BJ.  I.  S.  158f. 

**■)  Man  vgl.  noch  zu  diesem  Punkte:  „Die  Schauspiele 

der  englischen  Komödianten  in  Deutschland“,  heraus- 
geg.  von  .Julius  Tittmann.  Leipzig,  1880.  S.  VII.“  — Wülker,  Ge- 
schichte der  englischen  Literatur.  Leipzig  u.  Wien  1896,  S.  289.  — John 
Richard  Green,  a short  Historj'  of  the  English  People.  London  1878, 
S.  419. 


461 


scheinung  eine  längere  Betrachtung.  „Es  ist  kein  Ort  in 
der  Welt,“  so  meint  er.  „wo  die  vergangene  Zeit  so  un- 
mittelbar und  mit  so  mancherlei  Stimmen  zu  dem  Beobachter 
spräche,  als  Rom.  So  hat  sich  auch  dort  unter  mehreren 
Sitten  zufälliger  Weise  eine  erhalten,  die  sich  an  allen 
andern  Orten  nach  und  nach  fast  gänzlich  verloren  hat. 
Die  Alten  Hessen,  wenigstens  in  den  besten  Zeiten,  keine 
Frau  das  Theater  betreten.  Ihre  Stücke  waren  entweder 
so  eingerichtet,  dass  Frauen  mehr  oder  weniger  entbehrlich 
warän,  oder  die  Weiberrollen  wurden  durch  einen  Akteur 
vorgestellt,  welcher  sich  besonders  darauf  geübt  hatte.  Der- 
selbe Fall  ist  noch  in  dem  neueren  Rom  und  dem  übrigen 
Kirchenstaat,  ausser  Bologna,  welches  unter  anderen  Privi- 
legien auch  die  Freiheit  geniesst,  Frauenzimmer  auf  seinen 
Theatern  bewundern  zu  dürfen.“  Goethe  findet  die  Ur- 

sache der  Erscheinung,  dass  sich  in  Rom  die  Sitte  am 
längsten  erhalten  habe,  darin,  dass  „die  neueren  Römer 
überhaupt  eine  besondere  Neigung  haben,  bei  Maskeraden 
die  Kleidung  beider  Geschlechter  zu  ver- 
wechseln“. „Im  Karneval“,  so  erzählt  er,  „ziehen  viele 
junge  Burschen  im  Putz  der  Frauen  aus  der  geringsten  Klasse 
umher,  und  scheinen  sich  gar  sehr  darin  zu  gefallen. 

Kutscher  und  Bediente  sind  als  Frauen  oft  sehr  anständig 
und,  wenn  es  junge,  wohlgebildete  Leute  sind,  zierlich 
und  reizend  gekleidet.  Dagegen  finden  sich  Frauenzimmer 
des  mittleren  Standes  als  Pulcinelle,  die  vornehmeren  in 

Offizierstracht  gar  schön  und  glücklich.  Jedermann  scheint 
sich  dieses  Scherzes,  an  dem  wir  uns  alle  einmal  in  der 

Kindheit  vergnügt  haben,  in  fortgesetzter  jugendlicher 
Torheit  erfreuen  zu  wollen.  Es  ist  sehr  auffallend  wie 

beide  Geschlechter  sich  in  dem  Scheine  dieser  Umschaffung 
vergnügen,  und  das  Privilegium  des  Tiresias  so  viel  als 

möglich  zu  usurpieren  suchen.“  „Ebenso  haben“,  so  sagt 

Goethe  dann  weiter,  „die  jungen  Männer,  die  sich  den 

Weiberrollen  widmen,  eine  besondere  Leidenschaft,  sich  in 
ihrer  Kunst  vollkommen  zu  zeigen.  Sie  beobachten  die 

Mienen,  die  Bewegungen,  das  Betragen  der  Frauenzimmer 
auf  das  Genaueste;  sie  suchen  solche  nachzuahmen,  und 


462 


ihrer  Stimme,  wenn  sie  auch  den  tiefen  Ton  nicht  ver- 
ändern können,  Gescdimeidigkeit  und  Lieblichkeit  zu  geben; 
genug,  sie  suchen  sich  ihres  eigenen  Geschlechts  so  viel 
als  möglich  zu  entäussern.  Sie  sind  auf  neue 
Moden  so  erpicht,  wie  Frauen  selbst;  sie 
lassen  sich  von  geschickten  Putzmacherinnen  heraus- 
staffieren, und  die  erste  Aktrice  eines  Theaters  ist  meist 
glücklich  genug,  ihren  Zweck  zu  erreichen.  Was  die  Neben- 
rollen betrifft,  so  sind  sie  meist  nicht  zum  besten  be- 
setzt; und  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  Colombine  manch- 
mal ihren  blauen  Bart  nicht  völlig  verbergen  kann.  Allein 
es  bleibt  auf  den  meisten  Theatern  mit  den  Nebenrollen 
überhaupt  so  eine  Sache;  und  aus  den  Hauptstädten  an- 
derer Reiche,  wo  man  weit  mehr  Sorgfalt  auf-  das  Schau- 
spiel wendet,  muss  man  oft  bittere  Klagen  über  die  Un- 
geschicklichkeiten der  dritten  und  vierten  Schauspieler 
und  über  die  dadurch  gänzlich  gestörte  Illusion  vernehmen. 
Ich  besuchte  die  römischen  Komödien  nicht  ohne  Vorurteil; 
allein  ich  fand  mich  bald,  ohne  daran  zu  denken,  ver- 
söhnt; ich  fühlte  ein  mir  noch  unbekanntes  Vergnügen,  und 
bemerkte,  dass  es  viele  andere  mit  mir  teilten.  Ich  dachte 
der  Ursache  nach,  und  glaube  sie  darin  gefunden  zu  haben, 
dass  bei  einer  solchen  Vorstellung  der  Begriff  der  Nach- 
ahmung, der  Gedanke  au  Kunst,  immer  lebhaft  blieb,  und 
doch  das  geschickte  Spiel  nur  durch  eine  Art  von  Illu- 
sion hervorgebracht  wurde.  Wir  Deutschen  erinnern  uns, 
durch  einen  fähigen  jungen  iMann  alte  Rollen  bis  zur  grössten 
Täuschung  vorgestellt  gesehen  zu  haben,  und  erinnern 
uns  auch  des  doppelten  Vergnügens,  das  uns  jener  Schau- 
spieler gewährte.  Ebenso  ehtsteht  ein  doppelter  Reiz  da- 
her, dass  diese  Personen  kein  Frauenzimmer  sind,  sondern 
Frauenzimmer  vorstellen.  Der  Jüngling  hat  die 
Eigenheiten  des  weiblichen  Geschlechts 
in  ihrem  Wesen  und  Betragen  studiert; 
er  bringt  sie  als  Künstler  \vieder  hervor;  er  spielt 
nicht  sich  selbst,  sondern  eine  dritte  und  eigentlich 
fremde  Natur.  Wir  lernen  diese  dadurch  nur  desto  besser 
kennen,  weil  sie  jemand  beobachtet,  jemand  überdacht  hat; 


463 


und  uns  nicht  die  Sache,  sondern  das  Resultat  der  Sache 
vorgestellt  wird.“ 

Goethe  schildert  dann,  wie  er  die  Locandiera 
von  Goldoni  von  einem  Jüngling  dargestellt  ge- 
sehen habe,  (die  Rolle  ist  durch  die  Düse  in  Deutsch- 
land bekannt  geworden)  und  meint,  dass  in  dieser 

Rolle,  in  der  die  unmittelbare  Wahrheit  durch  eine 
Darstellerin  vielfach  empören  müsse,  ein  männlicher 
Darsteller  mit  seiner  Nachahmung  mehr  befriedige,  und 
kommt  zu  dem  Schluss,  dass,  „wenn  nicht  jeder  sich  daran 
ergötzen  sollte,  so  findet  der  Denkende  doch  Gelegenheit, 
sich  jene  Zeiten  gewissermassen  zu  vergegenwärtigen,  und  ist 
geneigter,  den  Zeugnissen  der  alten  Schriftsteller  zu  glauben, 
welche  uns  an  mehreren  Stellen  versichern;  es  sei  männ- 
lichen Schauspielern  oft  im  höchsten  Grade  gelungen,  in 
weiblicher  Tracht  eine  geschmackvolle  Nation  zu  entzücken“. 

Reste  der  alten  Gewohnheit,  weibliche  Rollen  durch 
Jünglinge  darstellen  zu  lassen,  sind  auch  heute  noch  vor- 
handen, so  werden  die  klassischen  Dramen  auch  gegen- 
wärtig noch  in  den  höheren  Schulen  Englands  und  zwar 
nicht  nur  in  Oxford  und  Cambridge,  sondern  auch  in  den  Public 
schools,  wde  Eton  und  Westminster,  ohne  Hinzuziehung  w^ eid- 
licher Kräfte,  ausschliesslich  von  Studenten  und  Schülern 
aufgeführt.  Ebenso  ist  es  in  den  Vereinigten  Staaten  und 
neuerdings  auch  wieder  in  Deutschland,  wo  die  Werke  von 
Euripides,  Sophokles  und  Aeschylus,  Menander,  Plautus  und 
Terenz  in  der  von  Hochschülern  veranstalteten  Wiedergabe  — 
namentlich  sind  die  Lauchstädter  Aufführungen  der  Hallen- 
ser zu  nennen  — viel  Interesse  und  Beifall  fanden.*) 

*)  Vgl.  Prime-Stevenson:  „The  Intersexes“,  Abschnitt  „College  The- 
atricals“,  pag.  177—180.  Dieser  Autor  warnt  davor,  Jünglingen,  die  sich 
als  Mädchen  zu  verkleiden  lieben,  dies  zu  gestatten,  eine  Vorsichtsmassregel, 
die  ich  nach  allem,  was  wir  von  dem  transvesti tischen  Trieb  wissen,  für 
recht  gut  gemeint,  aber  nicht  für  sehr  wirksam  erachten  kann.  Selbstver- 
ständlich entrüsteten  sich  auch  die  englischen  Puritaner  häufig  gegen  die 
„Sünde“  der  Darstellung  weiblicher  Rollen  durch  Schüler  und  Studenten.  Wir 
entnehmen  dem  Werke  von  Isaac  Disraeli  : „Curiosities  of  Literature“, 
Rd.  II,  Essay:  „The  History  of  the  Theatre  during  the  Suppression“  folgende 
Stelle:  „The  same  puritanic  spirit  soon  reached  our  universities;  for  when  a 


464 


Aehnliches  — wenn  auch  in  nichts  weniger  als  klassischen 
Stücken  und  mehr  faute  de  niieux  — findet  man  bis  heute  bei 
den  Soldatenaufführungen,  wie  sie  bei  militärischen  Festen 
gebräuchlich  sind;  namentlich  auch  auf  deutschen  Kriegs- 
schiffen, wie  denen  aller  anderen  Nationen,  wo  sich  jlatrosea 
und  Schiffsjungen  in  ihren  weiblichen  Verkleidungen  beispiels- 
weise auf  der  Yacht  „Hohenzollern“  und  der  Yacht  „Victoria 
and  Albert“  schon  oft  vor  Kaisern  und  Königen  produzierten. 

Häufig  sehen  wir,  dass  bei  dem  Theaterspielen  der 
Kinder  manche  Knaben  sich  mit  Vorliebe  zu  weiblichen, 
manche  Mädchen  zu  männlichen  Rollen  drängen.  Auch  hier 
liegt  oft  „ein  tiefer  Sinn  im  kindischen  Spiel“.  In  seiner 
Selbstbiographie  erzählt  Grillparzer  von  seinem  jüngsten 
Bruder  Camillo,  „der  wie  ein  Mädchen  stickte 
und  strickte“;  er  erwähnt  die  Theaterstücke,  welche 
die  Brüder  miteinander  aufführten,  und  bemerkt  dabei; 
„Meinem  jüngsten  Bruder  fielen  die  W e i b e r r o 1 1 e n zu, 
und  er  stickte  sich  Gürtel  und  Armbänder  und  Halese- 
schmeide  aufs  prächtigste  mit  eigener  Hand.“  Es  sei  hier 
beiläufig  erwähnt,  dass  sich  unter  den  Familienmit- 
gliedern, namentlich  den  Schwestern  von  Dichtern 
und  Künstlern  verhältnismässig  oft  sexuell  Abartige, 
besonders  solche  vorfinden,  die  vom  vollmännlichen  oder  voll- 
weiblichen  Typus  abweichen.  Man  erinnere  sich,  was  Goethe 
in  „Wahrheit  und  Dichtung“  von  seiner  Schwester  C o r n e- 
1 i a erzählt  und  Adolf  Wilbrandt  in  „Heinrich 
von  Kleist“  über  Kleists  Schwester  Ulricke  (pag.  41  bis 
42):  „es  steckte  ein  origineller,  unruhiger,  aus  den  Schranken 

Dr.  Gager  had  a play  performed  at  Christchurch  [Oxford],  Dr.  Reynolds, 
of  Quccn’s  College,  terrified  at  the  Satanic  novelty,  published  „The  Overthrow 
of  Stage-plays“ ; a tedious  investive.  Re>-nolds  takes  great  paiiis  to  provc 
that  a stage-play  is  infamous,  that  a theatre  corrupts  morals;  but  the 
most  reasonable  poLnt  of  at.  tack  is  „the  sin  of  boys 
wearing  thedress  and  affecting  the  airs  women.“  Auf 
den  deutschen  Klosterschulen  und  Gymnasien  des  Mittelalters  führte  man 
ausser  antiken  Dramen  und  geistlichen  Stücken  auch  besondere  „Schul- 
k o m ö d i e n“  auf.  verfasst  von  Schuldramendichtem,  unter  denen  Rollen- 
hagen, Bartholomäus  Krüger,  Martin  Rückhard  und  zu  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts Christian  Weise  die  berühmtesten  waren. 


465 


ihres  Geschlechts  herausstrebender  Geist  in  ihr.  Sie  liebte 
nichts  so  sehr,  als  abenteuerliche  Situationen  aufzusuchen 
und  in  männlicher  Verkleidung  zu  er- 
scheinen.“ Wenn  Wilhelm  Steckei  („Dichtung  und 
Neurose"  pag.  34)  schreibt:  „Ulricke,  von  der  erzählt  wird, 

sie  habe  mit  Vorliebe  Männerkleider  getragen  und  sei  nie 
dem  Liebeswahn  unterlegen,  das  heisst,  sie  war  homo- 
sexuell geartet,“  so  geht  aus  den  im  casuistischen  Teil  mit- 
geteilten Fällen  hervor,  dass,  wenn  auch  ülricke  von 
Kleist  zu  den  sexuellen  Zwischenstufen  gehört  hat,  doch 
keineswegs  aus  ihren  transvestitischen  Neigungen  und  dem 
Mangel  heterosexueller  Empfindungen  der  Schluss  „sie  war 
homosexuell  geartet“  mit  Sicherheit  zu  ziehen  ist. 

Recht  bemerkenswert  ist  es,  dass  die  eigentümliche  Sitte 
Frauen  von  der  Schauspielkunst  auszuschliessen  als  ein  früher 
nahezu  allgemeiner  Brauch  sich  bei  Völkern  findet,  deren  Kul- 
tur sich  völlig  unabhängig  von  einander  entwickelt  hat,  in  China 
und  Japan  genau  so,  wie  einst  in  England,  Deutschland  und 
Italien.  Reiseschriftsteller,  die  sich  lange  in  China  aufhielten, 
können  nicht  genug  erzählen,  wie  bewunderungswürdig  die 
vollkommene  Art  sei,  mit  der  sich  in  den  den  Frauen  nicht 
zugänglichen  Theatern  Burschen  weiblich  kleiden  und  die  ganze 
Eigenart  chinesischer  Frauen:  ihre  Stimme,  ihren  durch  die 
verkrüppelten  Füsse  erzeugten  Gang  veranschaulichen. 
Matignon*)  berichtet,  dass  er  den  „zierlichsten  Frauenkopf“, 
den  er  in  China  gesehen  hätte,  bei  einem  Frauen  spielen- 
den Schauspieler  angetroffen  hätte.  Karsch**)  schreibt: 
„Auch  im  Theater  der  Chinesenstadt  in  San  Franzisco  werden 
wie  in  China  die  Frauenrollen  von  Männern  gespielt,  und 
auch  dort  ist  die  weiss-  und  rotgeschminkte  Heldin  des 
Dramas,  dessen  Hauptpersonen  ein  chinesischer  Romeo  und 
seine  Julia  sind,  nicht  von  einer  wirklichen  Frau  zu  unter- 
scheiden, auch  nicht  in  der  Sprache,  die  geziert  und  zögernd 
ist  wie  die  eines  verlegenen,  gefallsüchtigen  Backfischchens.“ 

•)  Matignon.  Superstition,  Crime  et  Misere  en  Chine.  Lyon,  Stork 
u.  Co.  1902.  p.  206. 

**)  loco  cit.  p.  .‘15. 

Hirschfeld,  Die  TraDsvestitcn.  . 30 


466 


Wie  in  China,  so  werden  auch  in  Japan  die  Schauspieler, 
welche  ausschliesslich  Frauen  spielen  sollen,  schon  in  ihrer 
Kindheit  ausgesucht  und  auf  ihren  Beruf  vorbereitet.  Der 
japanische  Gelehrte  Suyewo  Iwaya  sagt  von  ihnen:  „Ich 

weiss  nicht,  ob  die  Schauspieler,  welchen  die  weiblichen 
Rollen  zugeteilt  werden,  alle  homosexuell  sind.  Nur  kann 
ich  sagen,  dass  diejenigen  Schauspieler,  welche,  weil 
sie  Neigung  dazu  haben,  für  weibliche 
Rollen  erzogen  wurden,  sich  nicht  nur  sehr  wei- 
bisch benehmen,  sondern  auch  von  Natur  ziemlich  weiblich 
gebaut  sind.  \Venn  man  es  einmal  anatomisch  durchforschen 
wollte,  so  würde  man  gewiss  viel  Interessantes  finden.“ 
Von  den  gegenwärtig  berühmtesten  Schauspielern,  deren 
Rollenfach  Frauen  sind,  haben,  wie  Iwaya,  der  uns  ihre 
Photographien  übersandte,  mitteilt,  Eizabro  und  Metora  ein 
ganz  frauenhaftes  Aussehen,  während  Fuknoske  und 
Gennoske  „männlicher  aussehen,  aber  auch  viel  von  Natur 
weibliches  an  sich  haben.“  Seit  einigen  Jahrzehnten  haben 
auch  in  Japan  die  Frauen  die  Bühne  erobert,  ja  sie  haben 
sogar  Konkurrenzunternehmungen  gegründet,  Schauspieler- 
truppen, die  lediglich  aus  Frauen  bestehen,  in  denen 
also  auch  die  Männerrollen  von  männlich  verkleideten 
Frauen  gegeben  werden.*) 

Auch  anderswo  haben  die  Frauen,  nachdem  sie  erst 
einmal  den  Zutritt  zur  Bühne  erhalten  hatten,  versucht, 
gelegentlich  männliche  Rollen  zu  verkörpern.  Von  e,iner 
der  berühmtesten  Schauspielerinnen  in  diesem  Fach  war 
bereits  die  Rede:  F.  v.  V e s t v a 1 i.  Als  sie  1868  am 
Kgl.  Lyceumtheater  in  London  den  Hamlet  gab,  ver- 
sicherte Lord  Bulwer,  nie  eine  geistvollere  Wiedergabe  dieser 
Rolle  gesehen  zu  haben.  Die  „Union  of  Art“  in  London 
ernannte  sie  zu  ihrem  Ehrenmitglied,  wie  es  die  „Santa 
Caecilia“  in  Rom  schon  früher  getan  hatte,  und  als  sie  bald 
darauf  auch  im  Berliner  Nationaltheater  gastierte,  widmete 
ihrer  Hamletdarstellung  der  Kritiker  des  Berliner  Tageblatts 
folgende  bemerkenswerte  Ausführungen: 

•)  cfr.  Emile  Guimet.  Promenades  Japonaises.  Paris  1878.  p.  198- 
n.  Karsch.  loc.  cit.  p.  120. 


467 


„Ein  blonder  Nordlandssohn,  mit  hellem  Haar  und 
frischer,  gesunder  Farbe,  behäbig,  schon  ein  wenig  „embon- 
pointiert“  und  darum  von  Haus  aus  hypochondrischer 
Neigung  — so  der  Hamlet  Felicita  von  Vestvalis.  Er  ist 
mit  Recht  eine  der  berühmtesten  und  ohne  Zweifel  eine  der 
originellsten  und  genialsten  Leistungen  der  . gesamten  Schau- 
spielkunst, ja  er  steht  einzig  in  seiner  Art  und  Bedeutung 
da.  Zur  äusseren  Verlebendigung  hat  IMutter  Natur  wohl 
keine  so  glänzend  begabt  und  spezifisch  männlich  be- 
mittelt, wie  eben  Felicita  von  Vestvali.  Schon  der  ganze 
Gliederbau  dieser  Gestalt  gemahnt  an  den  — sogenannten  — 
Herrn  der  Schöpfung.  Dazu  ein  machtvolles  Organ,  das  oft 
tiefer  gestimmt  scheint  als  ein  Tenor.  Was  die  geistige 
Auffassung  der  Rolle  anlangt,  so  deuteten  wir  unsere 
Meinung  schon  an:  von  den  zirka  zwei  Dutzend  Hamleten, 

welche  wir  im  Laufe  der  Jahre  sahen,  ist  der  unserer  Gastin 
jedenfalls  der  originellste  gewesen,  auch  hier  nicht  vom 
Aeusserlichen  gesprochen,  sondern  lediglich  vom  Intellektu- 
ellen, nicht  von  der  Schale,  sondern  vom  Kern  der  Leistung.“ 
Schon  beinahe  ein  Jahrhundert  vor  der  Vestvali  im 
Juli  1779  hat  Madame  Felicitas  Abt  am  Hoftheater  zu 
Gotha  den  Hamlet  gespielt,  „und  Publikum  sowohl  wie 
Kritik  hatten  das  Experiment,  das  damals  ebenfalls  viel 
Sensation  erregte,  mit  Beifall  aufgenommen.  Felicitas  Abt 
stammte  aus  einer  guten  Familie  in  Biber  ach.  Dort  sah 

sie  einmal  den  begabten  Theaterdirektor  Karl  Friedrich  Abt, 
der  das  schwärmerisch  veranlagte  junge  Mädchen  für  die 
Bühne  begeisterte.  Felicitas  stellte  sich  dem  Direktor  vor, 
dieser  gab  ihr  heimlich,  ohne  Wissen  der  Eltern,  Unterricht 
in  der  Schauspielkunst;  bald  wurde  aus  dem  Lehrer  der 
Liebhaber,  aus  der  Schülerin  die  Liebende,  die  sich  von  dem 
Manne  ihrer  Wahl,  da  ihre  Eltern  in  diese  Verbindung  nicht 
willigen  wollten,  gern  entführen  liess.“ 

Im  Anfang  und  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  war  eine 
sehr  beliebte  Darstellerin  männlicher  Rollen  Charlotte  C u s h - 
man;  namentlich  ihr  Romeo  gefiel  sehr.  Die  Schauspielerin 
war  eine  Amerikanerin.  Sie  war  in  Boston  geboren,  wurde 
zuerst  zur  Opernsängerin  ausgebildet,  wandte  sich  dann  aber 

30* 


468 


dem  Schauspiel  zu  und  hatte  ihre  ersten  grossen  drama- 
tischen Erfolge  in  London.  Ihre  CTlanzroilen  waren  Lady 
Macbeth,  Kardinal  Wolsey  und  Romeo.  Ihre  erste  Romeo- 
darstellung fand  im  Haymarket  im  Jahre  1846  statt.  Die 
Schwester  der  Charlotte  Cushman  war  ihre  Partnerin  als 
Julia.  Ueber  die  Aufführung  schrieb  ein  angesehener  eng- 
lischer Kritiker:  „Es  war  ein  ungewöhnlicher  Triumph.  Romeo 
gab  ihrer  Leidenschaftlichkeit  und  der  männlichen  Kraft  ihres 
Stiles  freie  Hand.  Als  Liebhaber  übertraf  sie  in 
der  Glut  der  Liebe  alle  männlichen  Schau- 
spieler, die  ich  in  dieser  Rolle  gesehen  habe.  In 
der  Szene  mit  dem  Monarchen  übertraf  sie  Charles  Kean.  Alles 
Uebertriebene  und  Unvernünftige  in  Romeos  Verhalten  war 
vergessen  in  der  Glut  seiner  Liebe,  und  das  Publikum  wurde 
zu  der  stürmischsten  Erregung  hingerissen."  Es  war  also 
durchaus  kein  Novum,  als  vor  einigen  Jahren  auch  Sarah  Bern- 
hardt, die  übrigens  darin  auch  in  Frankreich  in  Mme.  Judith 
und  Mme.  Derigny  schon  Vorgängerinnen  gehabt  hatte,  als 
Hamlet  debütierte.  Bemerkenswert  war  es  immerhin,  dass 
sie  es  in  so  vorgerücktem  Alter  tat,  sie  hatte  die  60  be- 
reits weit  überschritten  und  dass  sie  neben  Hamlet  auch 
den  Mephisto,  übermütige  Kavaliere,  wie  den  Bonvivant  in 
„Les  Bouffons“  und  den  jungen  Herzog  von  Reichsstadt  in 
„l’Aiglon“  ziemlich  naturwahr  darzustellen  verstand.  Von 
anderen  berühmten  Hamletdarstellerinnen  seien  noch  genannt 
Mrs.  Brown  Potter  in  England,  die  Sada  Yako  in  Japan, 
die  Müdjewka  und  Sandrock,  während  in  der  Verkörperung' 
der  Romeorolle  wohl  die  Schröder -Devri ent  obenan  steht, 
die  „vergessen  machte,  dass  dieser  Charakter  eigentlich  von 
einem  Mannsbild  agiert  werden  soll." 

Eine  Schauspielerin,  die  vor  mehreren  Jahren  in  Paris 
durch  ihr  Auftreten  in  einer  Männerrolle  einen  Theater- 
skandal entfesselte,  war  die  exzentrische  Gräfin  Morny,  eine 
Nichte  Napoleons  III.  Sie  stellte  in  einem  selbstverlassten 
Stück  „Reve  d’Egypte“,  in  dem  sie  den  „Archaeologen  Morny" 
gab,  eine  Liebesszene  mit  ihrer  Freundin,  der  bekannten 
Pariser  Schriftstellerin  Colette  Willy  so  lebendig  dar,  dass 
die  Logenbesucher  beide  mit  Kissen,  Fussbänken,  Streich- 


469 


holzschachteln  und  Orangenschalen  bewarfen.  Trotz  dieser 
„Exekution“,  dieser  „Erleichterung  für  das  Gewissen  an- 
ständiger, Menschen“  — wie  der  Figaro  den  Vorgang  am 
anderen  Tage  nannte  — spielten  die  Schauspielerinnen  vom 
Lärm  umtost  ihre  Rolle  zu  Ende.  Schon  einmal,  ein  halbes 
Jahrhundert  zuvor,  hatte  in  Paris  eine  andere  Gräfin 
Morny  durch  ihre  männlichen  Allüren  Aufsehen  erregt.  Wie 
wir  dem  Büchlein  „Modenarrheiten“  von  Dr.  Rudolf  Schnitze*) 
entnehmen,  hatte  diese  für  eine  neue,  bis  dahin  unerhörte 
Mode  bahnbrechend  gewirkt,  als  sie  auf  dem  ersten  Wett- 
rennen in  Chantilly  sich  kurzer  Hand  den  Paletot  ihres  Ge- 
mahls über  ihr  wohl  etwas  dünnes  Gew'and  zog.  Man 

fand  das  so  „reizend“,  dass  acht  Tage  später  auf  dem 
zweiten  Rennen  bereits  eine  Menge  Damen  im  Herrenüber- 
zieher erschienen,  und  bald  ganz  Paris  die  neue  Mode 

adoptiert  hatte. 

Wie  sehr  sich  übrigens  hinsichtlich  der  Frauen  in 

Männer-  und  der  Männer  in  Frauenrollen**)  der  Geschmack  und 
Gebrauch  der  Zeiten  innerhalb  weniger  Jahrhunderte  ge- 
wandelt hat,  (hat  man  doch  schon  die  Frage  aufgeworfen, 
ob  nicht  überhaupt  „Komödie  spielen“  etwas  „Unmänn- 
liches“ sei,  das  man  am  besten  den  Frauen  ganz  über- 
liesse)***)  geht  auch  daraus  hervor,  dass  während  früher  junge 
Schauspieler  Frauen  allgemein  darzustellen  hatten,  jetzt 
schon  eine  ganze  Anzahl  Stücke  existieren,  in  denen  Jüng- 
linge fast  stets  von  Frauen  gespielt  oder  gesungen  oder 
auch  getanzt  werden,  wie  Spinoza  in  Uriel  Acosta,  der 
junge  Graf  im  Königsleutnant,  Vittorino  in  Renaissance. 
Auf  manchen  grossstädtischen  Bühnen,  namentlich  in  London 

*)  Ein  Spiegelbild  der  Zeiten  una  Sitten  für  das  deutsche  Volk.  Berlin. 
Nicolaische  Verlagsbuchhandlung.  1868. 

**)  Theodor  Fon  taue  spricht  sich  in  „Causerien  über  Theater' 
(pag.  I9j  über  die  weibliche  Besetzung  von  Männerrollen  in  einer  Kritik  wie 
folgt  aus:  ,sie  krankten  an  jenem  eigentümlichen  Etwas,  etwa  „hier  bin  ich“"; 
das  weibliche  Darstellerinnen  derartiger  Rollen  immer  auszuzeichnen  pflegt.“ 

***)  Vgi.  den  Aufsatz  von  Madame  de  Renier:  „Brauchen  wir  Männer 
auf  der  Bühne?“  in:  „Ich  begleite  Dich.“  I.  Jhg.  Nr.  31. 


und  Xew-York,  ist  man  bereits  dahin  gekommen,  dass  man 
in  Ballets  und  in  den  sogenannten  Revuen  fast  alle  Männer- 
partien mit  Damen  besetzt. 

Die  Sitte  der  sogenannten  „Hosenrollen"  wurde 
von  der  Opernbühno  übernommen,  in  deren  Heimatland 
Italien  ursprünglich  auch  alle  weiblichen  Gesangspartien 
von  jungen  Männern  (zum  Teil  sogar  von  Castraten) 
gegeben  wurden.  Die  Komponisten  mussten  deren  Stimmen 
natürlich  auch  für  die  Darstellung  von  Jünglingen  ver- 
wenden. Als  endlich  den  Frauen  dieses  Gesangsfach  frei- 
gegeben wurde,  übernahmen  sie  damit  auch  die  männ- 
lichen Sopran-,  Mezzosopran-  und  Altpartieen  und  so  er- 
klärt es  sich,  dass  noch  bis  heute  fast  alle  Opernkompo- 
nisten solche  Rollen  zu  verzeichnen  haben. 

Wir  nennen  — ohne  auf  Vollständigkeit  Anspruch  zu 
erheben  — von  solchen  männlichen  Frauenpartien:  Beethovens 
Fidelio,  aus  Mozarts  Opern  den  Cherubin  in  Figaros  Hoch- 
zeit. die  drei  Knaben  in  der  Zauberflöte,  Tdamantes  in 
Idomeneus,  von  Richard  Wagner  den  Feenkönig  in  den  Feen, 
Adriano  in  Rienzi,  den  jungen  Hirten  im  Tannhäuscr,  die 
vier  Pagen  in  Lohengrin;  Urbain  in  Meyerbeers  Hugenotten, 
die  Titelrolle  in  Webers  Oberon,  Orpheus  und  Eros  in  Glucks 
Orpheus  und  Eurydike,  Björn  in  Holsteins  Haideschlacht, 
Sandmännchen  und  Taumännchen  in  Humperdincks  „Hänsel  und 
Gretel";  ferner  Siebei  in  Gounods  Margarethe,  Benjamin  in  ^^le- 
huls  Joseph  von  Aegypten,  Ascanio  in  Berlioz’  Benevenuto  Cel- 
lini,  Lazuli  in  Chabriers  gleichnamiger  Oper,  Carlo  Bracchi  m 
des  Teufels  Anteil  von  Auber  und  den  Pagen  in  Joncieres’ Johann 
von  Lothringen;  aus  italienischen  Opern  seien  genannt  Romeo  in 
Bellinis  Montecchi  e Capuletti,  Orsino  in  Lucrezia  Borgia  von 
Donizetti  und  Pierotto  in  seiner  Linda  von  Chamounix,  Rossinis 
Tancred  und  Oscar  im  Maskenball,  Junker  Spärlich  im  Fal- 
staff Verdis;  aus  Operetten  endlich  u.  a.  von  Jacques  Offen- 
bach  der  Xiclas  in  Hoffmanns  Erzählungen,  Orest  und 
Pylades  in  der  schönen  Helena,  Cupido  in  Orpheus  in  der 
Unterwelt,  Fritzchen  aus  Fmdonios  Lied;  von  Strauss  Prinz 
Orlofsky  in  der  Fledermaus,  die  Titelrolle  in  Prinz  Methu- 
salem, Suppes  Bocaccio  im  gleichnamigen  Stück,  Ganymed  in 


der  schönen  Galathe,  die  Titelrolle  in  Lecoqus  der  kleine 
Herzog  und  andere  mehr. 

Eine  Oper,  die  direkt  die  Geschlechtsverkleidung  zum 
Gegenstände  hat,  ist  „Achille  in  Sciro“.*) 

Der  höchst  originelle  Text,  der  sich  an  die  oben  bereits 
erwähnte  Geschichte  des  Achilles  unter  den  Töchtern  des 
Lykomedes  anlehnt,  sei  kurz  skizziert;**)  „Achill  lebt,  als 
Weib  unter  dem  Namen  Artamene  verkleidet,  in  Sciro  am 
Hofe  des  Königs  Licomede.  Niemand  in  Sciro  ahnt  den 
Trug.  Deidamia,  des  Königs  Tochter  verliebt  sich  in  ihre 
Ziehschwester  Artamene- Achille  und  gesteht  Achill  diese 
Liebe.  Achill  verweist  sie  mit  den  Worten  „mä  questo  e 
Bol  frä  cavagliere  e damä“  (dass  Liebe  doch  nur  zwischen 
Mann  und  Weib  üblich  sei),  doch  das  beeinträchtigt  das 
Gefühl  der  Deidamia  nicht  und  Achill  erwidert  schliesslich 
auch  ihre  Liebe.  Ulisses  kommt  mit  seinem  Vertrauten  Ar- 
sindo  an  den  Hof,  er  hat  erfahren,  dass  Achill  sich  dort 
in  W e i b e r k 1 e i d e r n verborgen  aufhält  und  will  ihn 
zum  Waffenhandw'erk  holen.  Arsindo  soll  sich  als  Juwelen- 
Händler  verkleiden,  um  bei  den  Mädchen  des  Hofes  nach 
Achill  Umschau  zu  halten.  Nachdem  er  Artamene- Achill  ge- 
sehen, ohne  ihn  Zu  erkennen,  hat  sein  Herz  sofort  Feuer 
gefangen.  Aber  auch  der  Vertraute  des  Königs  Meraspe 
liebt  Artamene  und  bittet  den  König  um  die  Hand  der 
Pflegetochter.  Der  König  vertröstet  ihn  mit  der  Zusage,  die 
er  ihm  jedoch  nicht  gewähren  kann,  denn  er  liebt  selbst 
Artamene-Achill.  Er  bittet  seine  Tochter  Deidamia,  für 
ihn  bei  Artamene  zu  werben.  Deidamia.  bestürzt,  in  ihrem 
eigenen  Vater  einen  Nebenbuhler  zu  finden,  singt  eine  Arie 
„Infelice,  che  sento“,  die  in  ihrer  herben  und  echten  Schönheit 
uns  das  peinliche  der  Situation  kaum  empfinden  lässt.  Aber 
Licomede  hat  nicht  abgewartet,  bis  seine  Tochter  Deidamia 

•)  „Achille  in  Sciro",  dramma  per  musica  von  Antonio  Draghi. 
Dichtung  von  Cav.  Ximenez.  Aufgeführt  in  Wien  18.  Nov.  1663  zum  Ge- 
burtstage der  Kaiserin-Witwe  Eleonora.  Partitur  No.  17  287  in  der  Wiener 
Hofbibliothek.  Ital.  Te,vtbuch  4®  in  Mailand  (Brera). 

•*)  Nach  einem  bisher  noch  nicht  veröffentlichten  Werke  von  Dr.  M. 
N e u h a u s über  den  Komponisten  Antonio  Draghi. 


472 


für  ihn  um  Artamene  geworbön  hat.  Er  trifft  seine  Pflege- 
tochter und  hält  selbst  um  ihre  Hand  an.  Artamene- 
Achille  gibt  ihm  ohne  Zögern  das  Ja-Wort.  Deidam.ia  hat 
sehr  bald  erfahren,  dass  Artamene  den  König  erhört  hat 
und  macht  dem  verkleideten  Helden  erregt  den  Vorwurf  des 
Treubruchs,  ln  sehr  merkwürdigen  Worten  beruhigt  Arta- 
mene-Achill  die  Eifersüchtige: 

„Credi  bella  ti  prego  Glaube  mir,  Schöne,  ich  bitte  dich, 
,,Che  se  mi  giungo  ä lui  wenn  ich  mich  ihm  verbinde 
„A  te  rai  lego.‘‘  verbind’  ich  mich  dir. 

Meraspe,  verblendet  durch  das  Gefühl,  in  seinem  Herrn 
und  König  einen  Nebenbuhler  zu  haben,  beschwört  diesen, 
von  Artamene  zu  lassen,  denn  sie  sei  im  Bunde  mit  Ulisses, 
um  dem  Leben  des  Königs  nachzustellen.  Der  König  kämpit 
lange  mit  sich  und  beschliesst  endlich  den  Tod  der  beiden. 
Achill  tritt  auf.  Er  hat  von  dem  Ausbruch  des  trojanischen 
Krieges  vernommen  und  klagt  pathetisch  (wie  es  in  der 
venezianischen  Oper  üblich  ist):  „Asien  zittert  unter  der 

Kriegslast  und  vom  Xantosflusse  winkt  Lorbeer.  Ich  bleibe 
unkriegerisch  hier!  Was  soll  ich  anfangen,  wenn  man  zu  den 
Waffen  eilt?  Die  Liebe  raubt  die  Freiheit  und  Mars  bricht  die 
Ketten  der  Liebe.“  Von  diesem  leidenschaftlichen  Gesang  er- 
schöpft, begibt  sich  Achill-Artamene  zum  Hintergründe  der 
Bühne,  um  dort  in  einer  Grotte  sich  zum  Schlafe  nieder zulegen. 
Rullo,  ein  Diener  des  Königs,  tritt  auf.  Er ‘hat  merkwür- 
dige Dinge  von  einer  Verschwörung  des  Ulisses  und  (h'r 
Artamene  gehört,  und  bescnliesst,  sich  als  Weib  zu  ver- 
kleiden, um  so  besser  „weibliche  Schlauheit  ergründen  zu 
können.“  Als  er  abgeht,  wird  er  von  dem  sich  nahenden  Ar- 
sindo  bemerkt,  welcher  eifersüchtig  klagt:  „Weh  mir,  ihr  Götter, 
was  sehe  ich!  Dort  ruht  Artamene!  Alle  Männer  verschmäht 
sie  und  mit  diesem  tölpelhaften  Diener  lässt  sie  sich  ein!“ 
Ihm  naht  Deidamia  und  fragt  ihn,  ob  er  nicht  Artamene  ge- 
sehen habe.  Arsindo:  „Ja,  sie  war  gerade  mit  einem  jungen 
Manne  beisammen.“  Er  weist  zur  Grotte  hin,  wo  Doida- 
mia  nun  Artamene  erblickt.  Deidamia  erweckt  sie  und  über- 
schüttet sie  mit  heftigen  Vorwürfen:  „Treulose,  du  bist  auf 


473 


frischer  Tat  ertappt.  Du  kannst  nicht  leugnen,  in  dieser 
Grotte  mit  einem  jungen  Manne  beisammen  gewesen  zu  sein.“ 
Artamene  erwidert  mit  Bedeutung:  „Mit  dem  bin  ich 
immer  beisammen.“ 

Deidamia;  „So  lass  ihn  seiner  Wege  gehen." 

Artamene:  „Das  erlaubt  das  Schicksal  nicht.“ 

Es  folgt  eine  burleske  Liebesszene  zwischen  dem  Diener 
Rullo  und  der  alten  Dienerin  Pittora.  Beide  haben  ihr  Vor- 
haben sich  zu  verkleiden  ausgetührt,  Rullo  erscheint  als 
Artamene,  die  alte  Pittora  als  Ulisses.  Der  dazutretende 
König  wird  durch  die  Verkleidung  getäuscht  und  lässt  die 
beiden  festnehmen,  um  die  Wahrheit  über  ihre  angebliche  Ver- 
schwörung ermitteln  zu  lassen.  Arsindo  naht  als  Juw'elen- 
Händler  kostümiert,  die  beiden  Gefangenen  kommen  wieder 
zurück,  nachdem  sie  als  Rullo  und  Pittora  erkannt  sind, 
und  der  König  lässt  nach  Deidamia  und  Artamene  schicken. 
Diese  beiden  treten  zusammen  mit  Ulisse  auf,  um  unter  den 
Kostbarkeiten  Arsindos  zu  wählen.  Deidamia  nimmt  ein  Ge- 
schmeide, Artemene  ein  Schwert.  Daran  erkennt 
Ulisse  sie  als  Achill.  Der  König,  der  sphweren 
Herzens  von  der  geliebten  Artamene  lassen  muss,  ruft  aus: 
„Artamene  gradita,  Achille  mio  tesero,  t’amai  donzella.  e 
semideo  t’onoro.“  (Artamene,  meine  Wonne,  Achill,  mein 
Schatz;  dich  liebte  ich  als  Mädchen  und  huldige  dir  dem  Halb- 
gott!) Er  resigniert  und  macht  Achill  zu  seinem  Schwieger- 
sohn, ehe  er  ihn  in  den  Krieg  entlässt.*) 

Der  Umschwung  der  Anschauungen  ist  auf  diesem  Ge- 
biet ein  so  vollkommener,  dass,  während  Frauen  in  Männer- 


•).Eine  andere  Oper,  der  ebenfalls  das  Verkleidungsmotiv  zugninde 
liegt,  ist  Charles  Lamb:  „Comic  Opera“  (ohne  weiteren  Titel);  Love- 
I a c e,  dessen  Werbung  V i o 1 e 1 1 a zurückgewiesen  hat,  lässt  sich  als 
Soldat  anwerben  und  geht  nach  Spanien.  Violetta  als  Offizier  verkleidet, 
folgt  ihm  nach  Gibraltar;  Jesse,  ihre  Jungfer,  begleitet  sie  als  Diener  ver- 
kleidet. .Tm  dritten  Akt  drillt  Violetta  mit  affektierter  Brutalität  die  Re- 
kruten und  versetzt  dabei  Lovelace  einen  Schlag,  worauf  dieser  sie  mit  dem 
Bajonett  erstechen  will.  Bei  der  kriegsgerichtlichen  Verhandlung  wird  Vio- 
letta ohnmächtig  und  von  Lovelace  erkannt. 


474 


partieen  heute  kaum  noch  aesthetische  und  ethische  Be- 
denken erwecken  — früher  erschien  es  als  Gipfel  des  Un- 
schicklichen — die  Darstellung  von  Frauen  durch  Männer 
jetzt  fast  nur  im  komischen  Fach  gestattet  ist.  Verschwin- 
dend seltene  Ausnahmen,  wie  die  Schauspielerin  Edwards, 
deren  männliches  Geschlecht  bezeichnenderweise  erst  nach 
ihrem  Tode  festgestellt  wurde,  und  den  Jeanne  d’  Arc-Darsteller 
Glagolin  berührte  ich  bereits.  Im  allgemeinen  werden  Frauen 
von  Männern  auf  der  eigentlichen  Schaubühne  nur  noch  in 
grotesken  Schwänken  und  burlesken  Possen  gegeben,  wie  in  dem 
vielaufgeführten  englischen  Stück  „Charleys  Tante“,  dessen 
Verfasser  Penley  auch  der  erste  und  beste  Interpret  der  vicl- 
belächten  Titelrolle  war  oder  in  der  deutschen  Posse  „Ame- 
rikanisch“. In  diesen  und  ähnlichen  Rollen  kommt  es  nicht 
darauf  an,  Frauen,  sondern  vielmehr  Männer,  die  als  Frauen 
verkleidet  sind,  zu  verkörpern  oder  auch  Frauen  zu 
parodieren,  wie  es  einige  unserer  berühmtesten  Komiker,  so 
Robert  Johannes  als  Tante  Malchen,  Arnold  als  Thislu*. 
Engels  in  den  lustigen  Weibern,  Kainz,  Pategg  und  Basil 
gemeinsam  in  der  Vorlesung  bei  der  Hausmeisterin,  in  Eng- 
land neben"  Huntley  und  Bobey  vor  allem  der  ausgczeichmde 
jüngst  verstorbene  Komiker  Dan  Leno  taten,  nie  ohne  Sl  üniu' 
von  Heiterkeit  und  Applaus  zu  entfesseln.  Viel  Amiisnm'nt 
erregte  es  auch,  als  in  der  Mitte  des  vorigen  JalirhunderlH 
einmal  ein  Stück  — das  Fest  der  IlandwerkcT  — auf  faul 
allen  deutschen  Bühnen  „m  i t verkehrter  Bese  t z n n g 
aller  Männerrollen  durch  Frauen,  aller  FramMinillm  diinit 
Männer“  auf  geführt  wurde.“ 

Fassen  wir  kurz  die  Gründe  zusammen,  welehi!  Selian 
Spieler  voranlassten,  in  der  Rolle  des  anderen  ( lesclileeldn  die 
Bühne  zu  betreten,  so  müssen  wir  diejenigen,  welche  dit's  mehr 
oder  weniger  ausschliesslich  tun,  von  denen  \intersch('iden, 
welche  es  nur  neb('td)ei  gidegentlieh  versueli('n.  UntiT 
den  b e r u f 5 m ä s s i g e n i'^rauendarstellcrn  und  Mäiuu'r- 
darstellcrinnen  gibt  cs  sicherlich  eiiu!  ganze  Anzahl  von 
Zwischenstufen  sowohl  zweiten  und  dritlon,  als  ganz  beson- 
ders vierten  Grades.  Die  gelegentlichen  dürfte  in  der  Mehrzahl 
die  schwierige  schauspielerische  Aufgabe  reizen,  neben  Lii'b- 


liabern  und  Bösewichten,  neben  Fürsten  und  Helden  auch  ein- 
mal Personen  des  anderen  Geschlechts  darzustellen  oder  auch 
die  Erzielung  des  komischen  Effekts.  Jen  Männer 
und  Frauen,  die  sich  in  geschickter  Weise  als  Angehörige 
des  anderen  Geschlechts  geben,  fast  mit  Bestimmtheit  er- 
reichen. 


Zur  Komik  der  Geschlechts  Verkleidung. 

Gehen  wir  davon  aus,  dass,  wie  allseitig  anerkannt,  das 
Wesen  des  Komischen  im  Kontraste  liegt,  in  dem  zum  Lachen 
reizenden  Verhältnis  zwischen  der  Anforderung,  mit  der  eine 
Person  oder  Sache  uns  entgegentritt  und  ihrer  wirklichen,  dem 
nicht  entsprechenden  Bedeutung,  oder  wie  Kant  es  kurz  defi- 
niert: in  „der  plötzlichen  Auflösung  einer  Erwartung  in  ein 
nichts“,  so  liegt  klar  auf  der  Hand,  dass  diese  Vorbedingungen 
des  komischen  Effekts  bei  der  Geschlechtsverkleidung  als  der 
Zusammenfassung  zweier  Elemente  — 
Geschlecht  und  Tracht  — zu  einer  sich  wider- 
sprechenden Einheit  in  hohem  blasse  gegeben 
sind.  Je  offenkundiger  dieser  Gegensatz,  um  so  d e r b - 
komischer,  burlesker,  je  verborgener,  um  so  fein  komischer,  hu- 
morvoller ist  die  Wirkung.  Daher  wirkt  die  Verkleidung  bei 
jemandem,  der  sich  dem  andern  Geschlecht  zugehörig  fühlt  und 
sich  in  dessen  Kleidung  natürlich  zu  bewegen  und  zu  benehmen 
weiss,  weniger  drastisch  und  grotesk,  als  bei  einem  Menschen, 
der  sein  wahres  Geschlecht  nicht  verbergen  kann,  indem  er  es 
durch  die  seinem  Anzug  nicht  entsprechenden  Gebärden  und 
Bewegungen  verrät. 

Es  gibt  wohl  kaum  einen  Humoristen,  der  sich  dieses 
dankbaren  Stoffs  nicht  gelegentlich  bedient  hat.  Welcher 
Deutsche  erinnert  sich  nicht  aus  seiner  Jugendzeit  an 
Theodor  Körners  „Vetter  aus  Bremen“,  in  dem  sich  nicirt 
nm  der  Vater  und  Liebhaber  Gretchens,  sondern  diese  ebenfalls 
als  Vetter  aus  Bremen  verkleidet,  sodass  dieser  im  XII.  Auf- 
tritt in  drei  Gestalten  zugleich  auf  der  Bühne  ist,,  oder  „der 
Gouvernante“  desselben  Dichters,  wo  Franziska  in  der  Ver- 


476 


kleidüng  eines  jungen  Mannes  von  der  Gouvernante  die  Briefe 
zu  erlangen  sucht,  welche  sie  den  Schülerinnen  vorenthält.  In 
der  Unterlialtung  mit  ihr  sagt  sie  leise  für  sich; 

„Des  Bruders  Kleiderschrank  hat  mich  ganz  gut  versehn. 

Und  sie  erkennt  mich  nicht,  da  ihr  die  Brillen  fehlen.“ 

Schon  einer  der  ältesten  deutschen  Humoristen,  Hans 
Jacob  Christoffels  von  Grimmelshausen,  hat  das 
Verkleidungsmotiv  geschickt  benutzt.  Wie  drollig  wirkt 
immer  wieder  das  24.  Kapitel  im  Simplicissimus, 
dessen  Ueberschrift  lautet:  Simplicius  wird  aus  einem 

Jüngling  in  eine  Jungfrau  verwandelt  und  bekommt  unter- 
schiedliche Buhlschaften.“  Er  selbst  erzählt:  „Als  wir  nun 
in  ein  grosses  Dorf  kamen,  darinnen  etliche  den  Reutern 
zuständige  Bagage  logierte  und  jeder  hin  und  wieiler 
in  die  Häuser  ging,  zu  suchen,  was  etwa  mitzunehmen  wäre, 
stahl  ich  mich  auch  hinweg  und  suchte,  ob  ich  nicht  ein  alte:s 
Bauernkleid  finden  möchte,  gegen  welches  ich  meine  Narren- 
kappe vertauschen  könnte;  aber  ich  fand  nicht,  was  ich  wollte, 
sondern  musste  mit  einemWeiberkleid  vorliebnehmen;  ich  zog 
selbiges  an,  'weil  ich  mich  allein  sah,  und  warf  das  ineinige  in 
ein  Versteck,  mir  nicht  anders  einbildeud,  als  dass  icli  minniHir 
aus  allen  meinen  Nöten  errettet  ’w'ordon.  ln  die.sem  Aufzug 
ging  ich  über  die  Gass  etlichen  Offiziersweiliern  tml  gegen  und 
machte  so  enge  Schrittlein,  als  etwa  Achilles  getan,  da  dm 
seine  Mutter  als  Mädchen  verkleidet  zu  des  LyeomedeH  'I'ocli 
tern  gesellte;  ich  war  aber  kaum  aus  dmu  Ibuise  lieraiiH,  aln 
mich  etliche  Furagierer  sahen  un;l  bessi'r  springim  Irnden, 
denn  als  sie  schrien:  „Halt,  halt!“  lief  ich  nur  desto  stärker 
und  kam  ehender  als  sie  zu  obgeineldten  Offi/ieriunen.  Vor 
denselben  fiel  ich  auf  die  Knie  iiiialer  und  liat  um  alln*  Wt'iber 
Ehr  und  Tugend  willen,  sie  wolUni  niicii  vor  diesen  Huben  be- 
schützen; allwo  meine  Bitte  nicht,  allein  gutni  (''rt  fand,  son 
dem  ich  wurde  aucii  von  einer  Rittmeisterm  .ils  Magd  inge- 
noinmcn,  bei  welcher  ich  mich  beiiolfeu,  bis  MagUeburg,  tim 
Werberschanz,  auch  Havelberg  und  Perieberg  von  tlen  Unsein 
eingenommen  worden.“ 

„Diese  Rittmeisterin  war  kein  Kind  mehr,  wicw'ohl  eie  noch 


477 


jung  war.  und  vernarrete  sich  dermassen  in  mein  glattes  Ge- 
sicht und  geraden  Leib,  dass  sie  mir  endlich  nach  lang  gehabter 
Mühe  und  vergeblicher  umschweil'ender  ''vVeitläufigkoit  nur  allzu 
teutsch  zu  verstehen  gab,  wo  sie  der  Schuh  am  meisten  drücke, 
ich  aber  war  damals  noch  viel  zu  gewissenhait.tat,  als  wenn  ich’s 
nicht  merkte,  und  liess  keine  andere  Anzeigungen  scheinen  als 
solche,  daraus  man  nichts  anders  als  eine  fromme  Jungfrau 
urteilen  mochte.  Der  Rittmeister  und  sein  Knecht  lagen  in 
gleichem  Spital  krank;  deswegen  befahl  er  seinem  Weib,  sic 
sollte  mich  besser  kleiden  lassen,  damit  sie  sich  meines  gar- 
stigen Baurenkittels  nicht  zu  schämen  brauchte.  Sie  tat  mehr 
als  ihr  befohlen  war  und  putzte  mich  heraus  wie  eine  franzö- 
sische Popp,  welches  das  Feuer  bei  allen  dreien  noch  mehr 
schürte;  ja  es  wurde  endlich  bei  ihnen  so  gross,  dass  Herr  und 
Knecht  eifrigst  von  mir  begehrten,  was  ich  ihnen  nicht  leisten 
konnte  und  den  Frauen  selbst  mit  einer  schönen  Manier  ver- 
weigerte. Zuletzt  setzte  sich  der  Rittmeister  vor,  eine  Ge- 
legenheit zu  ergreifen,  bei  der  er  mit  Gewalt  von  mir  haben 
könnte,  was  ihm  doch  zu  bekommen  unmöglich  war;  solches 
merkete  sein  Weib,  und  weil  sie  mich  noch  endlich  zu  über- 
winden verhoffte,  verlegte  sie  ihm  alle  Pass  und  lief  ihm  alle 
Ränke  ab,  also  dass  er  vermeinte,  er  müsse  toll  and  töricht 
darüber  werden.  Einstmals  als  Herr  und  Frau  schlafen  war, 
stund  der  Knecht  vor  dem  Wagen,  in  welchem  ich  alle  Nacht 
schlafen  musste,  klagte  mir  seine  Lieb  mit  heissen  Tränen  und 
bat  ebenso  andächtig  um  Gnad  und  Barmherzigkeit.  Ich  aber 
erzeigte  mich  härter  als  ein  Stein  und  gab  ihm  zu  verstehen, 
dass  ich  meine  Keuschheit  bis  in  den  Ehestand  bewahren 
wollte. ‘‘ 

In  Grimmelshausens:  „Trutz-Simplex  oder  wunderselt- 
same Lebensbeschreibung  der  Erzbetrügerin  und  Landstürzerin 
Courage“  (Fortsetzung  des  „Abenteuerlichen  Simplizissimus“) 
ereignet  sich  das  Umgekehrte.  1620,  nach  der  Einnahme  von 
Prag  durch  die  Bayern,  hat  Courage  sich  als  Knabe  verkleidet 
und  als  solcher  bei  einem  Rittmeister  Dienst  genommen.  Bei 
einer  Rauferei  entdeckt  jemand  ihr  Geschlecht.  Sie  sagt:  „Er 
hat  mir  nach  der  Courage  gegriffen“;  daher  ihr  Name.  Sie 
wird  später  des  Rittmeisters  Geliebte. 


In  Wielands  Aristipp  (Bd.  IL  Brief  23ff.)  erscheint 
Lasthenia,  Dienerin  der  Lais,  als  Jüngling  verkleidet  in  der 
Akademie.  Diese  schreibt  über  die  Verkleidung:  „Glücklicher- 
weise hatte  uns  die  Natur  treulich  vorgearbeitet.  Denn  Last- 
henia besitzt  wirklich  mehr  die  Gesichtsbildung  eines  schönen 
Knaben,  als  eines  Mädchens;  der  Ton  ihrer  Stimme  ist  tief,  wie- 
wohl sanft  und  wohlklingend;  dabei  ist  sie  verhältnismässig  ziem- 
lich stark  von  Muskeln  und  Knochen,  etwas  breit  von  Schultern 
und  schmal  von  Hüften,  und  hat  nicht  "vdel  mehr  Busen,  als 
ein  frischer,  wohlgenährter  Jüngling  ihres  Alters  zu  haben 

pflegt;  so  dass  sie  im  Notfall  (mit  Vorbehalt  einer  ganz  kleinen 
Bedeckung)  auf  der  Palästra  selbst  für  einen  Jüngling  gelten 
könnte.“  Lasthenia  schliesst  in  ihrer  Verkleidung  Freundschaft 
mit  dem  schönen  Cleophron,  der  sie  schwängert. 

In  Wilhelm  Meisters  Lehrjahren  findet  sich  nicht  nur  die 
in  Musik  und  Dichtung  viel  nachgeahmte  Mignon*)  als  Jüng- 

*)  Von  solchen  Verarbeituneen  des  Mignonsujets  seien  u.  a.  genannt; 
Karl  Lebrecht  Immer  mann;  Die  Epigonen.  (Roman.)  Fia- 
metta  folgt  Hermann  in  der  Kleidung  eines  Knaben.  — Joseph  Frhr. 
V.  Eicbendorff;  Ahnung  und  Gegenwart.  Roman.  1815.  Ein 

Mädchen,  das  der  Graf  Friedrich  in  einer  Räuberschenke  getroffen,  folgt 
ihm  unerkannt  als  der  Knabe  Erwin;  erst  nach  ihrem  Tode  wird  sie 
als  Mädchen  erkannt.  — Joseph  Frhr.  v.  Eichendorff;  Dan 
Marmorbild.  Novelle.  Florio  findet  das  von  ihm  geliebte  Mädchen  in 
Knabentracht  -»-ieder  und  geht  mit  ihr  die  Verlobung  ein.  — A u g u s t 
G r f.  V.  P 1 a t e n.  Treue  um  Treue.  Im  fünften  Akt  tritt  NicolcUn 

als  Troubadour  verkleidet  auf,  singt  und  spricht  mit  Aucassin.  obno 

von  ihm  erkannt  zu  werden.  — Ernst  Moritz  Arndt;  Rudolph  von 
Burgund.  Romanze.  Ein  Mädchen,  das  den  Helden  liebt,  dient  ihm  abs  Pago 
verkleidet.  Er  -»ird  schwer  verwundet,  sie  reisst  sich  das  Hemd  ah.  um 
ihn  zu  verbinden.  Nachdem  er  dabei  ihr  Geschlecht  erkannt  hat.  hei- 
ratet er  sie.  — Hermann  Kurz:  Schillers  Heimatjahre.  Roman.  Kap. 
23  u.  f.  Die  junge  Laura,  eine  heimliche  Tochter  des  Herzogs  Carl  Eugen, 
erscheint  als  Zigeunerknabe  auf  der  herzoglichen  Redoute  und  entflieht  un- 
nattelbar  von  dort  mit  einer  Zigeunerbande  in  'ien  Schwarzw.ald.  1-  u d - 
wig  Achim  von  Arnim;  „Die  Gleichen".  Der  Graf  von  Gleichen 
kommt  mit  der  schönen  Amra  aus  der  Gefangenschaft  zuruck.  Seine  oattin, 
als  Mann  verkleidet,  zieht  ihm  bis  Venedig  entgegen;  Amra  verliebt  sich  in 
den  vermeintlichen  Mann.  — E.  T.  A.  H o f f m a n n ; „Per  Artushof’'  (in 
den  „Serapionsbrüdem“).  Traugott  kopiert  im  Artushof  in  Danzig  ein  Bild, 
auf  dem  ein  Jüngling  neben  einer  Alten  dargestellt  ist.  Die  Figur  dce 


479 


ling  verkleidet,  sondern  gleich  im  Beginn  des  ersten  Buches 
auch  Marianne,  die  „als  junger  Offizier  gekleidet“  im  Schau- 
spiel „das  Publikum  entzückt  hatte"  und  nun  „mit  ungewöhn- 
licher Hast  und  Bewegung  in  das  Zimmer  trat,  Federhut  und 
Degen  auf  den  Tisch  warf,  unruhig  auf  und  nieder  ging“,  bis 
endlich  Wilhelm  kommt,  „der  junge,  zärtliche,  unbehinderte 
Kaufmannssohn“.  „Mit  welcher  Lebhaftigkeit“  — erzählt 
Goethe  — „flog  sie  ihm  entgegen!  mit  welchem  Entzücken  um- 
schlang er  die  rote  Uniform!“ 

Ausser  Marianne  und  Mignon  enthält  dieser  Roman  noch 
ein  drittes  Mädchen  in  Männertracht;  Im  VII.  Buch, 
Kap_  6 tritt  ein  „junger  artiger  Jägerbursche“  herein.  Es  ist 
Therese,  die  Wilhelm  zum  Spazierengehen  abholen  will. 
Sie  erzählt  ihm,  dass  sie  auf  einem  Gut,  wo  sie 
früher  gelebt,  sich  der  Forstwirtschaft  angenommen.  „Ich 
hatte  mir,  um  leichter  zu  Pferde  fortzukommen  und  auch  zu 
Fusse  nirgends  gehindert  zu  sein,  Mannskleider  machen 


Jünglings  zieht  ihn  mächtig  an;  plötzlich  stehen  beide  Originale  leibhaftig 
neben  ihm;  er  kommt  in  das  Haus  der  Alten,  wo  er  entdeckt,  dass  der 
Jüngling  ein  Mädchen  ist.  — Kotzebue:  „Der  Rehbock“.  Das  Kammer- 
mädchen der  Baronin  verkleidet  sich  als  Jüngling;  die  Pächtersfrau  verliebt 
sich  in  sie.  — A.  F.  E.  Langbein;  „Thomas  Kellerwurm“  (Roman 
1806).  Ein  feiger  Major  verkriecht  sich  bei  einem  nächtlichen  Angriff  ins 
Heu;  seine  Geliebte,  die  Marketenderin  Gertrud  Schnick,  zieht  seine  Kleider 
au  und  besiegt  statt  seiner  den  Feind.  Als  sic  cs  ein  zweites  Mal  ver- 
sucht, fällt  sie  und  die  Feigheit  des  Majors  wird  entdeckt.  — Graf  von 
Benzei  - Sternau:  „Das  goldene  Kalb“  (Roman  1802):  Die  Eng- 
länderin Bella  William  reist  mit  Klarenfeld  in  männlicher  Tracht  unter  der 
Bedingung,  dass  er  sie  nie  an  ihr  Geschlecht  erinnern  darf.  Als  er  um  ihre 
Liebe  wirbt,  verlässt  sie  ihn.  — C.  F.  Meyer:  „Gustav  Adolfs  Page“. 
Der  Page  Leubelfing  ist  ein  verkleidetes  Nürnberger  Patriziermädchen.  — 
Wiederholt  hat  auch  Wilhelm  Heinse  das  Verkleidungsmotiv  behan- 
delt, so  in  „ Ardinghello“  und  in  den  Begebenheiten  des  Enkolp.  — Endlich 
sei  noch  erwähnt,  dass  auch  in  Schillers  „Turandot“  (4.  Aufz.,  8.  Auftr.) 
die  Frau  des  Barak  als  Mann  verkleidet  zu  Kalal  durch  die  Wache  schleicht. 
— Auch  in  dein  gegenwärtig  erscheinenden  geschichtRchen  Roman  von  Wil- 
helm J e n B e n „Deutsche  Männer“  (ein  Ehrenblatt  znun  100jährigen  Ge- 
dächtnis), begleitet  Ebergard  Falke,  die  Tochter  des  Wirtes  am  Gibichen- 
stein  bei  Halle,  in  männlicher  Verkleidung  unter  dem  Namen  Eberhard  deü 
Herzog  von  Braunschweig-Oels  auf  seinem  Zuge. 


480 


lassen.  ■■  Lothario  erkennt  sie  in  diesem  erst,  nachdem  man 
ihn  durch  Scherze  aufmerksam  gemacht  hat. 

M 0 1 i e r e hat  das  Motiv  u.  a.  benutzt  in  „L’Etourdi  “ 
wo  (Acte  III,  Scene  XI.)  M a s c a r i 1 1 e,  valet  de  Lelie, 
deguise  en  femme  auftritt.  Sein  Herr  sagt  von  ihm;  „Bon 
Dien,  qu’elle  est  jolie,  et  qu’elle  a l’air  mignon!“  Ferner  in 
„Don  Garcie  de  Navarre“,  (Acte  V,  Scene  III,  IV, 
V,  VI.  Done  Ignes,  deguisee  en  homme)  sowie  in  „Mon- 
sieur de  Pourceaugnac“  (Acte  III,  Scene  II — VII. 
..Mr.  de  Pourceaugnac,  en  femme.“)  Da  man  ihm  vorgeredet 
hat,  dass  er  verhaftet  und  gehängt  werden  soll,  will  er  in 
Weiberkleidern  fliehen.  In  Scene  II  übt  er  sich  im  weib- 
lichen Benehmen. 

In  Boccaccios  Decamerone  (zweiter  Tag,  dritte  Er- 
zählung) macht  Alessandro  mit  einem  Abte  Bekanntschaft, 
in  dem  er  hernach  eine  Tochter  des  Königs  von  England  er- 
kennt, welche  sich  mit  ihm  vermählt.  Bocaccio  variiert  auch 
die  alte  Sage  vom  !\Iinnesänger  Reinmann  von 
Brennenberg,  die  auch  in  andere  romantische  Dich- 
tungen übergegangen  ist.  Dieser  Sänger  soll  sich  als  heim- 
licher Geliebter  der  Herzogin  von  Oesterreich  als  Krämerin 
verkleidet  an  den  Hof  zu  Paris  begeben  haben,  „wo  er  bei 
allen  Hoffräulein  schlief.“ 

Keiner  aber  hat  den  Stoff  meisterlicher  gehandhabt,  wie 
Shakespeare.  Wer  hat  nicht  schon  herzlich  lachen  müssen, 
wenn  in  den  lustigen  Weibern  von  Windsor  (Akt  IV,  Szene  2) 
Falstaff  in  Weiberkleidern  erscheint,  Ford  ihn  für  die  dicke 
Frau  aus  Brentford  hält,  die  er  nicht  leiden  kann,  ihn  durch- 
prügelt und  hinauswirft  oder  wenn  im  Sommernachts- 
träum  (I.  Aufz.,  2.  Szene)  die  Rollen  verteilt  werden. 
Flaut  soll  die  Thisbe  spielen:  „Ne,  meiner  Seel’,  sagt  er,  „lasst 
mich  keine  Weiberrolle  machen,  ich  kriege  schon  einen  Bart.“ 
Da  drängt  sich  Zettel,  der  Weber,  zu  der  Weiberrolle; 
„Wenn  ich  das  Gesicht  verstecken  darf,  so  gebt  mir 
Thisbe.  Ich  will  mit  ’ner  terribel  feinen  Stimme  reden; 
„Thisne,  Thisne!  — Ach  Pyrainus,  mein  Liebster  schön! 
Deine  Thisne  schön,  und  Fräulein  schön!“  — 


481 


Ausser  F aistaff  ist  Bartholomew  in  ,,the  Taming  of  the 
Shrew"  die  einzige  Männergestalt  Shakespeares,  die  in  Frauen- 
kleidern erscheint,  dagegen  finden  sich  als  Frauen  verkleidete 
Männer  in  „Henry  VI.“,  in  „the  two  gentlemen  of  Verona“, 
„the  Merchant  of  Venice“,*)  in  „as  you  like  it“  in  „what 
you  will“  und  „Cymbeline“.  Ich  verweise  auf  die  1904 
erschienene  Cissertation  von  Erich  Schulz:  „Das  Verkleidungs- 
motiv  bei  Shakespeare“,  in  welcher  der  Verfasser  die  dem 
grossen  Briten  für  die  Verkleidungsszenen  zur  Verfügung 
stehenden  Quellen  mit  viel  Fleiss  und  Verständnis  unter- 
sucht hat.  Carriere**)  erinnert  in  dieser  Hinsicht  „an 
'das  bei  den  Spaniern  zunächst  bei  Lope  (1562 — 1635) 
so  beliebte  Motiv,  dass  Frauen  in  Männertracht  den 
Männern  nachreisen.  sei  es,  dass  die  Gattin  auch 

in  Not  und  Unglück  den  Gatten  nicht  verlassen,  sei  es, 
dass  die  Geliebte  neue  Herzensabenteuer  ihres  Verlobten  durch- 
kreuzen und  hintertreiben  oder  ihn  durch  hingebende  Treue 
überwinden  will.  Auch  Calderon  (1600 — 1681)  hat 
derartige  Verkleidungen,  am  kecksten  und  belustigendsten 
verwertet  sie  T i r s o de  Molina  (1585 — 1648)  im  „Gil  mit 
den  grünen  Hosen“. 

Von  alten  englischen  Dramen,  die  das  Verkleidungs- 
motiv behandeln,  sei  das  Lustspiel:  „The  Plain  Dealer“ 

(1677)  von  William  Wycherley  genannt;  ein  Schiffskapitän, 
der  ein  Menschenfeind  geworden  ist,  hasst  seine  frühere  Ge- 
liebte, die  ihm  als  Page  verkleidet  in  den  Krieg  folgt.  In 
diesen  Pagen  verliebt  sich  die  gegenwärtige  Geliebte  des 
Kapitäns  und  verabredet  mit  ihm  ein  Stelldichein.  ‘ Der  Page 
verrät  es  dem  Kapitän,  der  dann  seine  Stelle  einnimmt  und 
später  den  als  Mädchen  erkannten  Pagen  heiratet.  V o 1 - 


*1  P o r t i a,  die  im  Kaulmaim  vou  Venedig  als  Doktor  der  Rechte 
verkleidet  den  Prozess  zwischen  Shylok  und  Antonio  entscheidet,  besitzt  ein 
deutsches  Seitenstück  in  der  mittelalterlichen  Ritterdichtung;  „Kaiser 
Lucius  Tochter“  (Hägens  Germania  IX,  187Ff.),  in  der  ebenfalls  die 
Heldin  als  Sachwalter  ihres  Geliebten  verkleidet  auftritt.  Die  gemeinsame 
QueUe  beider  Dichtungen  sind  die  „Gesta  Romanorum“. 

**)  Jahrbuch  der  Shakespeare-Gesellschaft  VI,  3G7  ff. 

Hirachfeld,  Die  Transvestiten. 


31 


482 


t a i r e hat  in  der  Komödie  „La  Prüde den  Plain-Dealer 
Wycherleys  frei  bearbeitet.  Auch  Beaumont  und 
Fletcher;  „Philaster  or  Love  lies  a Bleeding"  (1606)  ver- 
dient genannt  zu  werden,  ein  Drama,  in  dem  Euphrasia  als 
Page  verkleidet  unter  dem  Namen  Bellario  in  die  Dienste  des 
Prinzen  tritt,  den  sie  liebt,  so^\de  Ben  Jonson’s:  „Epi- 
coene  or  the  silent  woman“  ein  Lustspiel,  in  dem  Morose,  der 
keinen  Lärm  vertragen  kann,  ein  stilles  Weib  sucht.  Sein 
Barbier  führt  ihm  ein  solches  zu,  die  er  auch  heiratet. 
Aber  gleich  nach  der  Trauung  beginnt  sie  mit  den  Hoch- 
zeitsgästen einen  fürchterlichen  Spektakel  und  entpuppt  sich 
schliesslich  als  verkleideter  junger  Mann.  In  der  neueren 
englischen  Literatur  hat  sich  namentlich  Lord  Byron 
für  das  Verkleidungssujet  interessiert,  so  wird  in  „Lara“ 
der  Page  Kaled  als  Mädchen  erkannt,  als  er  ohnmächtig 
neben  seinen  im  Kampf  gefallenen  Herrn  niedersinkt  und  von 
Don  Juan,  der  in  Mädchenkleidern  auf  dem  Sklavenmarkt 
gekauft  und  in  das  Harem  gebracht  wird,  wo  er  ihm  sehr 
angenehme  Abenteuer  erlebt,  sagt  Byron  i^Canto  V.  Str.  105.;; 

„His  youth  and  features  favor’d  the  disguise“. 

Um  auch  noch  ein  Werk  eines  zeitgenössischen  Humo- 
risten zu  nennen,  seien  M a r k T w a i n’s  „The  Adventures 
of  Huckleberry  Pinn“  (Bd.  I,  Kap.  X — XI)  erwähnt.  Hier 
beredet  der  Neger  Jim  den  Huckleberry,  eich  als  Mädchen  zu 
kleiden.  Huckleberry  tut  es,  übt  sich  in  mädchenhaftem  Be- 
nehmen und  fährt  abends  im  Cauoe  zu  einer  kleinen  Stadt 
am  Illinois-üfer  des  Mississippi.  Er  sieht  in  einem  Hause 
durch  das  Fenster  eine  Frau  und  tritt  ein.  Das  Weib  er- 
kennt ihn  bald  als  Jungen,  nicht  an  seinem  Gesicht,  aber  an 
seinen  Bew'egungen,  und  erklärt  ihm,  wie  Mann  und  Weib 
sich  in  verschiedenen  Verrichtungen  unterscheiden,  beim  E i n - 
fädeln  eines  Fadens,  beim  Werfen,  und  haupt- 
sächlich: „And  mmd  you,  when  a girl  tries  to  catch  anything 
in  her  lap,  she  throws  her  knees  apart;  ehe 
don’tclapthe  together,  the  way  yon  did  when 
yon  catched  the  lump  of  lead.“  Der  Unterschied  zwischen 
den  männlichen  und  weiblichen  Bewegungen  ist  von  Mark 


483 


Twain  gut  beobachtet  und  in  sehr  drolliger  Weise 
geschildert. 

Die  komische  Wirkung  ist  es  auch,  die  es  heute  noch 
zu  Goethes  Zeiten  im  Mummenschanz  und  Maskenscherz, 
bei  Kostümfesten  und  karnevalistischen  Vergnügungen  so 
verlockend  erscheinen  lässt  „die  Kleidung  beider  Geschlechter 
zu  verwechseln.“  Was  unser  grosser  Gewährsmann  in  seiner 
italienischen  Reise  so  anschaulich  über  den  Karneval  in  Rom 
berichtet,  findet  sich  bei  ähnlichen  Veranlassungen  mehr  oder 
weniger  fast  überall,  nicht  selten  sogar  mit  dem  Charakter 
eines  traditionellen  Gebrauchs.  So  weiss  Freimark*)  zu  er- 
zählen, dass  in  Saarlouis  ein  Volksfest  stattfindet,  bei  dem 
es  Sitte  ist,  dass  ein  als  Weib  verkleideter  Arbeiter  einen 
Tannenbaum  herumträgt.  Als  ich  letzten  Winter  den  Karneval 
in  Nizza  mitmachte,  bei  dem  wohl  das  alte  bunte  muntere 
Faschingstreiben  gegenwärtig  noch  am  lebhaftesten  pulsiert, 
fiel  es  mir,  wie  schon  vor  Jahren,  wieder  auf,  wie  mele 
Männer  und  Jünglinge,  namentlich  auch  aus  den  niederen 
Volksklassen,  sich  darin  gefielen,  als  Frauen  zu  erscheinen; 
nicht  ganz  so  gross,  aber  immerhin  noch  recht  ansehnlich 
war  die  Zahl  weiblicher  Personen,  die  männliche  Typen  dar- 
stellten. In  der  Tat  führt  ja  die  Verkleidung  des  Geschlechts 
oft  auch  zu  den  drolligsten  Verwechslungen;  ich  will  eine 
Geschichte  zitieren,  die  die  „Tribuna“  in  Rom  vor  einigen 
Jahren  brachte.  Die  Episode  ereignete  sich  auf  einem  der 
grossen  Karnevalsbälle  im  Eldorado  zu  Rom:  „Ein  Student, 
der  dort  in  einer  Parodie  auf  Mascagnis  „Iris“  die  Rolle 
einer  japanischen  Tänzerin  verkörpert  hatte,  war  über  seinen 
Erfolg  im  Mädcheugewande  so  erfreut,  dass  er  die  Frauen- 
kleider auch  während  des  Tanzes  anbehielt.  Als  er  während 
einer  Tanzpause  durch  die  besetzten  Säle  schleuderte,  raunte 
ihm  plötzlich  jemand  in’s  Ohr:  „Ein  herrliches  Geschöpf!“  Er 
dreht  sich  um  und  gewahrte  einen  Jüngling,  in  dessen  Antlitz 
sich  eine  so  naive  Bewunderung  ausdrückte,  dass  dem  Stu- 
denten sofort  der  Gedanke  durch  den  Kopf  fuhr:  „Aha, 
ein  verliebter  Herr,  der  mich  für  ein  echtes  Weib  hält!“ 


*)  loc.  cit.  p.  402. 


31 


484 


Der  Student  beschloss,  den  abenteuerlustigen  Jüngling  gründ- 
lich hineinzulegen;  er  ergriff  seinen  Arm,  warf  ihm  einen 
seiner  feurigsten  Blicke  zu  und  flüsterte  mit  verstellter 
Stimme;  „Gefalle  ich  Dir,  Kleiner?“  — „Sehr“,  erwiderte  er- 
rötend der  junge  Mann.  Der  Student  führte  seinen  ent- 
zückten Verehrer  kreuz  und  quer  durch  die  Tanzsäle  und 
Hess  dann  leichthin  die  suggestiven  Worte  fallen:  „Ich  habe 
riesigen  Appetit.“  — „Wirklich?  Dann  wmllen  wir  essen,“ 
antwortete  schlicht  und  einfach  der  Jüngling.  Gesagt  ge- 
tan. Bald  darauf  nahm  ein  verschwiegenes  Kabinett  das 
Liebespärchen  auf.  Man  ass  und  trank  vorzüglich,  als  man 
jedoch  gerade  ein  bischen  zärtlich  werden  wollte,  kam  die 
Rechnung.  Der  junge  Monn  sah  sie  nur  oberflächlich  an  und 
sagte  dann  mit  verbindlichem  Lächeln  zum  Kellner:  „Der 

Herr  zahlt!“  Der  Kellner  verbeugte  sich  diskret.  Der  Stu- 
dent aber  betrachtete  mit  weit  aufgerissenen  Augen  seinen 
..Verehrer“  und  fragte  mit  kaum  hörbarer  Stimme:  „Was  sagtest 
Du  soeben!^  Wer  zahlt?“  — ,-,Lu!“  — „Ich?“  — _Na,  ja, 
der  Herr  zahlt  doch  immer.“  — „Ja,  bist  Du  denn 
nicht  dprHerr?“  — „Ich?  Keine  Ahnung! 
Ich  bin  nur  als  !Mann  verkleidet,  im  ge- 
wöhnlichen Leben  bin  ich  Modistin.“*) 

In  einem  alten  Schauspiel  „Galathea“  hat  John  L y l y 
ein- verwandtes  Motiv  benutzt;  Da  Neptun  jedes  Jahr  die 
schönste  Jungfrau  zum  Opfer  verlangt,  lassen  zwei  Bauern 
in  Lincoln  ihre  Töchter  Galathea  und  Phillida  als  Ktmlum 
anziehn.  Jedes  Mädchen  hält  die  andere  für  einen  Knaben 
und  beide  verlieben  sich  ineinander.  Der  KnoBm  wird  gci- 
löst,  indem  Phillida  durch  eine  Gottheit  in  einem  wirk- 
lichen Knaben  verwandelt  wird. 

Nicht  immer  nehmen  Maskenscherze  dieser  Art  ein  gutes 
Ende.  So  ereignete  sich  ein  recht  tragischer  Vorfall  im  März 
1905  auf  einem  Maskenball  iii  Ofen  bei  Pest.  Dort  bildete 
eine  Dame  von  auffallender  Erscheinung  den  Mittelpunkt  der 

•)  Die  Geschichte  erinnert  auch  ,an  die  Erzählung  von  Julius  von 
V 0 8 e : „Don  Vigo  und  Donna  Cajetania“,  in  der  Braut  und  Bräutigam 
entdecken,  dass  e r ein  Mädchen  und  eie  ein  Jüngling  ist. 


485 


Unterhaltung  und  wurde  viel  umworben.  Als  die  lustige 
Stimmung  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatte,  demaskierte  sich 
die  Dame,  und  ihre  Tänzer  erkannten  in  ihr  den  Tischler- 
gehilfen Johann  Antal,  der  sich  diesen  Faschingsscherz  er- 
laubt hatte.  Alehrere  Tänzer  gerieten  über  diese  Ent- 
täuschung laut  „N.  fr.  Pr.“  derart  in  Wut,  dass  sie  mit 
Messern  auf  Antal  losstachen,  der  bald  darauf  seinen 
Verwundungen  erlag. 

Nicht  ganz  so  schlimm  erging  es  in  Petersburg*)  dem 
Zögling  der  Junkerschule  Potapow,  welcher  strafweise  nach 
Pskow  verschickt  wurde,  weil  er  in  Frauenkleidern  auf  einem 
Maskenball  bei  Hofe  den  Kaiser  Alexander  II.  so  geschickt 
getäuscht  hatte,  dass  dieser  dem  Junker  die  Hand  küsste. 
In  seinem  Verbannungsort  richtete  er  sich  eine  ganz  weib- 
liche Wohnung  ein,  trug  meist  Frauenldeider  oder  doch  über 
seinem  männlichen  Anzug  kostbare  türkische  Shawls.  Als 
besonderes  Kuriosum  hebt  Stern  hervor,  dass  er  sich  sogar 
,, zierlicher  Frauennachttöpfe  mit  seinem  Wappen“  bediente. 

Solchen  Enttäuschungen  bald  lustiger,  nicht  selten  aber 
auch  trauriger  Art,  wie  ich  sie  zuletzt  erwähnte,  waren 
die  Teilnehmer  auf  den  Bällen  nicht  ausgesetzt,  die  bis 
vor  zwei  Jahren  noch  fast  eine  Sehenswürdigkeit  von  Berlin 
bildeten;  an  diesen  nahmen,  von  verschwindenden  Ausnahmen 
abgesehen,  entweder  nur  Männer  oder  nur  Frauen  in  der 
Tracht  beider  Geschlechter  teil.  Aeusserlich  wai’en  diese 
Kostümbälle,  die  für  viele,  denen  das  Leben  trübes  genug 
bietet,  eine  Quelle  harmloser  Freudigkeit  waren,  oft  schwer 
von  gewöhnlichen  Maskeraden,  auf  denen  beide  Geschlechter 
vertreten  sind,  zu  unterscheiden.  Leider  hat  man  neuer- 
dings einer  lebensverbitternden  Richtung  Rechnung  tragend, 
seitens  der  Behörde  der  Abhaltung  dieser  Veranstaltungen 
grosse  Schwierigkeiten  bereitet,  die  für  männliche  Personen 
sogar  gänzlich  inhibiert.  Ob  man  gesetzlich  dazu  berechtigt 
ist,  scheint  mir  fraglich,  da  die  Unternehmer  und  Wirte 
der  Bälle,  welche  durch  das  Verbot  der  oft  von  mehr  als 

*)  B.  Stern:  Geschichte  der  öffentlichen  Sittlichkeit  in  Russland.  Bars- 
dorf 1908.  Bd.  II.  p.  567. 


486 


tausend  Menschen  besuchten  Vergnügungen  schweren  pekuni- 
ären Schaden  erlitten  haben,  selbst  sehr  Acht  gaben,  dass 
dort  nichts  passierte,  was  mit  den  bestehenden  Gesetzen  im 
Widerspruch  stand;  nachw'eislich  ist  das  auch  in  keinem 
Falle  geschehen.  Für  Männer  der  Wissenschaft,  Aerzte, 
Juristen,  mit  denen  ich  diese  Bälle  wiederholt  besuchte, 
namentlich  auch  für  Psychologen  boten  sie  eine  Fülle  des 
Interessanten.  Um  die  Eindrücke  zu  skizzieren,  welche  man 
dort  empfing,  will  ich  einige  Sätze  aus  Schilderungen 
wiedergeben,  die  Berichterstatter  über  diese  Bälle  in  der 
Berliner  Presse  veröffentlichten;  zunächst  einiges  aus  den 
Impressionen,  welche  ein  dem  weiblichen  Geschlecht  unge- 
höriger Korrespondent  über  ein  „Kostümfest  der  Ber- 
liner Künstlerinnen“  publizierte  (Jhb.  II.  472):  „Zu  diesem 

Abend  rüsten  sich  die  Damen  mit  einem  Eifer,  einer 
Leidenschaft,  als  gälte  es  die  Ehre  ihres  ganzen 

Geschlechtes.  Da  wird  gesonnen,  ’ gezeichnet,  geschneidert 

und  das  alles  — zum  Besten  der  Pensions-  und  Unter- 

stützungskasse des  Vereins  Berliner  Künstlerinnen,  für  das 
Kostümfest  der  Berliner  Künstlerinnen.  Da  der  Andrang  zu 
diesen  ebenso  originellen  wie  lustigen  Festen  stets  ein  ganz 
ungeheurer  ist  — man  spricht  diesmal  von  2500  Teil- 
nehmerinnen — so  hat  die  Festleitung  alle  Räume  der 
Philharmonie  gemietet,  selbst  den  Bcethovensaal  und 
den  grossen,  weissen  Oberlichtsaal.  Um  8 Uhr  ])egaun  d:i.s  Fest, 
aber  schon  lange  vorher  stehen  Hunderte  ungeduldiger  Füss- 
chen  frierend  vor  dem  verschlossenen  Portale,  es  ist  i'in 

Lachen,  Kichern,  Zurufen;  man  kann  es  nicht  erwarten,  bis 
„unser“  Fest,  das  Fest  der  Damen,  anfängt.  Sonst  ist  c-s 
den  besorgten  und  neugierigen  Vätern,  Brüdern,  Gatten  usw. 
gestattet  gewesen,  ihre  Angehörigen  bis  in  die  Ganb'robo 
zu  begleiten,  dort  ein  wenig  von  den  lliTrlicld<('iton  und 

Schönheiten  zu  erlügen,  zu  dcTien  sie  als  bereehtigte  Zu- 
schauer nicht  zugelasscn  werden,  indessen  gf'stern  ist.  auch 
dies  unschuldige  „Zaunvergnügen“  den  Herren  verboten 
worden,  und  so  waren  sie  ganz  auf  das  besctiränkt,  was 
sie  auf  der  Strasse  zu  erhaschen  vermögen.  Dort  sieht 

man,  wenn  die  Damen  ihren  Wagen  verlassen,  eine  Menge 


487 


phantastischer  Gestalten.  Männlein  und  Weiblein,  denn  die 
Hälfte,  die  starke  Hälfte  der  Damen  erscheint 
in  Herrentracht.  Es  reizt  sie  gerade,  sich 
als  Mann  zu  zeigen  und  zu  fühlen,  den  Hof  zu 
machen,  den  Schwerenöter  zu  spielen,  und  die  hübschen 
Fräulein  lassen  sich  das  gerade  so  gern  gefallen,  als  wenn 
der  Courmacher  ein  „wirklicher“  Mann  wäre.  Stolz  schreiten 
wir  an  dem  gedrängten,  eifrig  spähenden  Aussenpublikum 
vorbei  — wir  gehören  ja  „dazu“  — und  treten  ein.  Welch’ 
ein  Gesumm,  welch’  ein  Lachen  und  Scherzen!  Ich  behaupte 
keck,  alle  zwei  .Jahre  wird  einmal  die  Lustigkeit  der  Ber- 
linerin lebendig,  dann  aber  auch  gründlich.  Harmlos 
kameradschaftlich  verkehrt  Arm  und  Reich,  die  hohe  Aristo- 
kratin mit  der  einfachen,  beim  Kunsthandw'erk  beschäftigten 
Arbeiterin.  Und  darin,  in  dem  Beweise,  dass  ein  solcher 
vertraulich  lustiger  Verkehr  möglich  ist,  besteht,  neben  dem. 
klingenden  Ertrage,  der  Wert  dieser  Feste.  Es  ist  noch 
sehr  früh,  doch  ist  der  grosse  Saal  der  Philharmonie  schon 
ganz  mit  sich  begrüssenden  Gästen  angefüllt.  „Gestalten 
aus  Bildern!“  lautete  gestern  die  Parole.  Nun,  da  gibt  es 
ein  weites  Feld,  jede  konnte  genau  das  Kostüm  wählen,  das 
ihr  steht  und  zu  dem  sie  sich  hingezogen  fühlt.  Da  viele 
Damen,  wie  erwähnt,  in  Männertracht  erschienen, 
bietet  der  Saal  kaum  ein  anderes  Bild  als 
sonst,  nur  sind  die  Hände  und  Füsse  der  „Herren“  so 
klein  und  zierlich,  die  Schnurrbärte  (wenn  sie  da  sind)  so 
schön  und  regelmässig,  weil  künstlich,  und  die  Stimmen  — 
ja  (pardon  meine  Damen)  man  kann  von  Anfang  an  nicht 
sein  eigenes  Wort  verstehen,  in  Stimmen  also  sind  die  Fest- 
genossinnen sehr  gross.  Um  9 Uhr  ordnet  sich  das  Gewirr, 
der  grosse  historische  Festzug  beginnt.  Voran 
schreiten  Herolde  in  Renaissancetracht,  dann  folgen  Egj'pter, 
Apoll  und  die  Musen  stellen  die  griechische  Kunst  dar, 
Mittelalter  und  Gothik  bilden  die  Vorläufer  der  Florentiner 
und  der  Renaissance.  Die  Zeit  Rembrandts  zieht  vorbei, 
repräsentiert  durch  die  Hauptgestalten  aus  Rembrandts 
Bildern,  man  sieht  Saskia  mit  dem  nickenden  Federhute,  den 
Meister  selbst  und  alle  die  uns  vertrauten  energischen 


488 


Chfirakterköpfe  aus  der  grossen  Kunstepoche  der  Nieder- 
lande, tanzende  Bauern  aus  holländischen  Kirmes- 
bildern sorgen  für  den  Humor  im  Festzuge.  Nun  erscheinen  in 
feierlich  graziösem  Schreiten  Rococofigürchen,  denen  das 
Empire  folgt.  Nicht  zu  vergessen  ist  eine  Gruppe  au'^ 
Deutschlands  klassischer  Zeit  der  Literatur,  Schiller,  Goethe 
mit  Frau  Rat,  Lessing  und  die  anderen  alle.  Sehr  anmutig 
ist  der  Festzug  der  Japaner,  bei  dem  reizende  Geisha-Mäd- 
chen Apfelblütenzweige  schwingen.  Das  neue  Jahrhundert 
schliesst  den  interessanten,  wechselvollen  Zug,  er  bringt 
der  Kunstrichtungen  viele:  Mystizismus,  Symbolismus  und 
noch  mehr  der  „Ismen“.  Als  der  Zug  die  Bühne  passiert  hat, 
folgen  historische  Tänze.  Apoll  lässt  sich  von  seinen  Musen 
umgaukeln,  die  Florentiner  schreiten  einen  Reigen,  die 
holländischen  Bauern  tollen  und  hopsen  ganz  naturalistisch 
umher,  das  Rococo  wiegt  sich  im  Menuett,  Japanerinnen 
neigen  sich  im  Takte,  ihre  Blütenzweige  grüssend  schwingend. 
Alle  diese  Aufführungen  werden  mit  einer  Hingebung  und 
einem  Eifer  aufgeführt,  der  etwas  Elektrisierendes  hat  und 
die  Zuschauerinnen  wieder  und  wieder  zu  lautem  Beifall  hin- 
reisst.  Bald  mischen  sich  die  „historischen“  Herrschaften  von 
der  Bühne  unter  das  Publikum,  allgemeine  V e r b r ü d e - 
rung  tritt  ein,  es  wird  umarmt,  geküsst,  gelacht,  ln  d<Mi 
Nebensälen  steht  das  Souper  bereit,  und  als  wir  uns  zum 
Schreiben  zurückziehen,  sitzt  schon  manches  Pärchou  brim 
perlenden  Sekt.  Im  Beethovensaale  finden  die  Vorstelluni-O'n 
eines  Spezialitäten-Theaters  statt.  Da  wird  ein  Traum,  fivi 
nach  Ibsen,  aufgeführt,  ein  impressionistischer  Clown  produ 
ziert  sich,  und  endlich,  um  1 Uhr,  wird  eim*  Balletszene 
„Schäfer  und  Schäferin“  von  Königlichen  Ballettänzeriimen 
dargestellt.  Ueberall  Lustigkeit,  Grazie,  Sclüüiheit  — wer 
hätte  so  viel  Zauber  unserem  nüchternen  Berlin  zugeiraut?“ 
Ebenfalls  einiges  aus  einem  analogen  Bericht  über 
ein  „mänrJiches“  Kostümfest:  ..Vor  uns  liegt  ein  kleines, 

weisses  ßillet,  das  die  Worte  trägt:  „Einlasskarte  zu  dem 
am  Freitag,  den  13.  Oktober  180!)  stattfindenden  Kostüm- 
fest“. Mit  dieser  Karte  versehen,  betreten  wir  Freitag 
Nacht  um  11  Uhr  den  grossen  Festsaal  des  Hotels  (folgt  der 


489 


Xame)  um  unserer  Pflicht  als  Ball-Berichterstatter  Genüge 
zu  leisten.  Die  Lokalitäten  sind  fast  überfüllt.  Mehrere 
hundert  Herren  im  eleganten  Frackanzug  oder  im  Leibrock 
stehen  oder  sitzen  in  Gruppen  umher,  vertraulich  mitein- 
ander plaudernd.  Die  ^lusik  spielt  einen  lustigen  Walzer. 
Im  Nu  wirbeln  fünfzehn  bis  zwanzig  Paare,  aber  nur  Herren, 
durch  den  Saal.  Die  Herren,  die  die  Damen  mar- 
kieren, sind  meistenteils  junge  Männer  im  Alter  von  20  bis 
25  Jahren.  Sie  wiegen  sich  graziös  in  den  Hüften,  spenden 
nach  rechts  und  links  kokette  Blicke  und  fächern  sich,  vom 
Tanze  ermüdet,  mit  dem  Spitzentaschentuch  Luft  zu.  Eine 
Stunde  später  hat  die  Gesellschaft  eine  andere  Physiognomie 
angenommen,  denn  die  „Damen“  sind  erschienen.  Wenn  wir 
„Damen“  schreiben,  meinen  wir  Herren,  die  im  Damen- 
kostüm, begleitet  von  Freunden,  im  Frack  und  Chapeau- 
Claque,  den  Saal  betreten  haben.  Die  betreffenden 
„Damen“  benehmen  sich  genau  so,  wie 
ihre  Kolleginnen  weiblichen  Geschlechts, 
artig,  dezent  und  gefallsüchtig.  Trippelnd,  die  Augen 
niederschlagend,  ganz  wie  ein  junges  Mädchen,  das 
zum  ersten  Mal  einen  Ball  besucht,  schreitet  eine 

„Schöne“  durch  den  Saal,  umringt  von  einer  Anzahl 
Kavaliere,  die  ihr  ob  ihres  Aussehens  die  schmeichel- 

haftesten Komplimente  sagen.  Viel  selbstbewusster  ist  jene 
elegante,  fast  königliche  Erscheinung,  die  in  schwarzseidenem 
Kleide,  auf  der  blonden  Lockenperücke  den  Rembrandhut 
mit  wallenden  Federn,  im  Saal  erscheint.  „Das  ist  die 
Baronin“,  flüstert  mir  ein  an  demselben  Tisch  sitzender 

Herr  zu.  Unter  diesem  Spitznamen  verbirgt  sich  ein  Schau- 
spieler, der  in  einem  Vorstadttheater  als  jugendlicher  Lieb- 
haber die  Herzen  der  Theaterbesucherinnen  entzückt.  Einfach 
„chic“  gekleidet  sind  zwei  „Damen“,  die  in  Pariser  Ball- 
toilette erscheinen.  Sie  verstehen  es,  sich  ihre  Bewunderer 

eine  Meile  weit  vom  Halse  zu  halten.  Die  Konversation  mit 
ihren  Anbetern  erinnert  lebhaft  an  eine  solche,  wie  man  sie 
auf  dem  Subskriptionsball  oder  ähnlichen  vornehmen  Ver- 
gnügungen zu  führen  pflegt.  Eine  Pariser  Kokotte,  von  der 
Grösse  eines  Garde-Kürassiers,  betritt  den  Saal  unter  all- 


490 


gemeinem  Hailoh  der  Ballbesucher.  Die  „schöne  Emilie''  — 
im  bürgerlichen  Leben  der  Friseur  Emil  F:  — wirft  sich 
lachend  einem  schneidigen,  jungen  Kavalier  in  die  Arme  und 
rast,  während  die  Musik  einen  Galopp  spielt,  mit  ihrem 
Partner  mänadenhaft  durch  den  Saal.  Gegen  ^Mitternacht  hat 
das  „schönere  männliche  Geschlecht"  fast  die  Majorität  er- 
reicht. “ 

Wenn  auch  bei  einer  sehr  grossen  Anzahl  derjenigen, 
die  sich  in  der  Gestalt  des  anderen  Geschlechts  an  der- 
artigen Kostümfesten  und  Maskeraden  beteiligen,  von 

einem  eigentlichen  Verkleidungstrieb  keine  Rede  sein  kann,  so 
benutzen  doch  auch  zweifellos  eine  nicht  geringe 
Menge  psychischerHermaphroditen  mit  ganz 
besonderer  Vorliebe  diese  sich  ihnen  bietenden  Gelegenheiten, 
um  einmal  recht  unauffällig  und  ungehemmt  ihren  Drang 
in  die  Tat  umsetzen  zu  können. 


Transvestiten  auf  Thronen. 

Es  verdienen  in  diesem  Zusammenhänge  auch  noch 
die  eigenartigen  Hofbälle  erwähnt  zu  werden,  die  eine 
Spezialität  der  Kaiserin  Elisabeth  von  Russ- 
land waren.  Diese  Zarin  hatte  befohlen,  dass  auf  den 
Maskeraden,  die  sie  während  der  Ballsaison  zweimal 
wöchentlich  gab,  alle  Damen  in  französischer  Horreut rächt, 
die  Herren  in  Frauenkleidcrn  erscheinen  sollten.*)  Sie  selbst, 
die  in  ihrer  Garderobe  eine  grosse  Menge  Männerkleider  bo- 
sass,  erschien  bald  als  französischer  Musketier,  bald  als 
Kosakenhetman,  bald  als  holländischer  Matrose.  Es  ist 
kaum  ein  Zweifel,  dass  diese  Herrscherin  zu  jenen  transves- 
titischen  Menschen  gehörte,  die  ihre  Ergänzung  in  femininen 
Männern  fand,  die  sie  am  liebsten  ui  weiblicher  Verklei- 
dung sah.  Ihre  Vorliebe  für  den  von  ihr  als  Vorleserin  en- 
gagierten Ritter  d’Eon,  über  die  ich  oben  berichtete,  wird 
uns  weniger  befremden,  wenn  wir  lesen,  dass  sie  sich  den 

*)  cfr.  Mfemoires  de  Catherine.  II.  148. 


491 


hübschen  Kadetten  Sswistunow  kommen  liess,  um  ihn  eigen- 
händig als  Frau  anzuziehen  und  dass  sie  den  Kadetten 
Beketow  von  der  Garderobe,  in  der  sie  ihm  ebenfalls  beim 
Anlegen  einer  Damentoilette  behilflich  war,  persönlich  in 
ihr  Schlafgemach  geleitete.*)  Auch  Napoleon  III.  veranlasste 
seine  Geliebte  Marguerite  Bellanger  sich  in  die  Tracht  des 
anderen  Geschlechts  zu  werfen,  aber  es  spricht  nichts  dafür, 
dass  er  es  aus  psychosexueilen  “Motiven  tat,  es  leuchtet 
vielmehr  durchaus  ein,  dass  er  die  Verkleidung  befahl, 
um  seine  eifersüchtige  Gemahlin  zu  täuschen  oder  sagen  wir 
zu  schonen.  Wieder  ganz  anders  lag  es  bei  Kaiser  Nero, 
von  dem  uns  Suetonius  (Nero  cap.  28)  überliefert  hat,  dass 
er  seinen  Liebling  Sporns  in  der  Tracht  römischer  Kaiserinnen 
gehen  liess,  nachdem  er  ihn  zuvor  hatte  entmannen  lassen 
und  mit  rotem  Schleier  in  sein  Haus  geführt  hatte.  Hier 
scheint  es  sich  um  einen  komplizierten  Fall  bisexueller  Trieb- 
richtung gehandelt  zu  haben. 

Die  Kaiserin  Elisabeth  war  nicht  die  einzige  trans- 
vestitische  Fürstin  ihrer  Zeit.  In  der  „Geschirrkammeret“ 

zu  Kopenhagen  vird  noch  jetzt  der  Herrensattel  aus  grünem 
Samt  mit  schwerer  Silberstickerei  und  Pistolenhalfter  auf 
beiden  Seiten  gezeigt,  auf  dem  die  Königin  Mathilde 
K a r 0 1 i n e , die  Gemahlin  Christian  VII..  Schwester  König 
Georg  III.  von  England,  Freundin  Struensees,  alltäglich  zu 
sehen  war  im  roten  goldgestickten  Frack  und  Weste,  gelben 
Lederhosen  und  hohen  Sporenstiefeln,  den  Herrenhut 
auf  ungepudertem  aufgelöstem  Haar.  In  dieser  Tracht  erschien 
sie  zu  allgemeinem  Entsetzen  mit  Struensee  an  ihrer  Seite 
1770  sogar  an  der  Bahre  der  angeblich  vor  Verdruss  über 
eine  Etikettenverletzung  gestorbenen  alten  Königin  Sophie 
Magdalene,  Gemahlin  Christian  VI.  (Mb.  06.  72.).  Die  be- 
rühmteste skandina^■ische  Fürstin  und  die  bedeutendste  Trans- 
vestitin. die  je  auf  einem  Thron  gesessen,  war  aber  zweifel- 
los die  viel  genannte  Königin  Christin  e**)  von 


•)  Stern:  loc.  cit.  p.  414. 

**)  Vgl.  den  Essay  über  Christine  von  Sophie  Hoechstetter  im  IX.  Jhb. 
I.  sex.  Zw.  p.  170  ff. 


492 


Schweden,  die  man,  bis  sie  der  Regierung  entsagte,  stets 
nach  Märmerart  gekleidet  sah,  dieselbe,  von  der  Leopold  v. 
Ranke  sagt,  dass  „sie  nie  eine  weibliche  Arbeit  begriffen 
hat,  auf  der  Jagd  das  Wild  mit  dem  ersten  Schuss  zu  er- 
legen weiss  und  daheim  Tacitus  und  Plato  liest  und  besser 
fast  als  Philologen  von  Profession.“  Bemerkenswert  ist, 
dass  sie,  als  sie  später  katholisch  wurde,  um  in  Rom  ihr 
Leben  zu  beschliessen,  als  Hauptgrund  angab,  sie  wolle 
den  Trost  haben,  einer  Kirche  anzugehören,  „die  so  viele 
Jungfrauen  hervorgebracht  hat,  welche  die  Schwach- 

heiten ihres  Geschlechts  überwunden  und  sich  Gott  ge- 
opfert haben“,  doppelt  bemerkenswert,  wenn  wir  es  mit 
dem  vergleichen,  was  wir  später  noch  von  der  Jungfrau 
V.  Orleans,  Catalina  de  Erauso  und  anderen  Kriegerinnen 
hören  werden,  die  ihr  Leben  teils  auf  demSchlacht- 
feld,  teils  im  Kloster  verbrachten. 

Ist  an  der  historischen  Existenz  der  genannten  Frauen 
auch  nicht  der  mindeste  Zweifel  vorhanden,  so  bin  ich  mit 
Döllinger,*)  Wensing  und  anderen  der  Meinung,  dass  die 
durch  viele  Jahrhunderte  für  absolut  wahr  gehaltene,  viel- 
fach geschilderte  und  bearbeitete**)  Geschichte  der  Päpstin 
Johanna  in  das  Reich  der  Sage  verwiesen  werden  muss. 
Die  verbreitetste  Version  ging  dahin,  dass  sie  als  Johannes  III. 
Nachfolgerin  des  Papstes  Leo  IV.  gewesen  sein  und  das 
Pontifikat  von  855  an  2)4  Jahre  innegehabt  haben  soll.  Das 
in  Mainz  geborene  Mädchen  — so  wird  berichtet  — wunh; 
wegen  der  grossen  Klugheit,  die  sie  schon  als  Kind 
zeigte,  von  ihren  Eltern  männlichen  Lehrern  zum  Unter- 
richt in  den  Wissenschaften  übergeben.  In  einen  derselben, 

*)  Vgl.  Ignaz  V.  Dolliiigcr;  „l’ap.sttahi'lii  des  MittclaltoiH.*’  Stuttgart, 
Cotta,  18'JO.  p.  1 — 53. 

•*■)  Boccaccio:  Biicli  von  den  t)eriitinitpn  Brauen.  Itütl.  — Spanhi'iniua; 
De  papa  foeinina.  — . Bayle:  Papesoo  Joanne.  Dictionnaire  crit.  et  liiat. 
4.  Aufl.  Bd.  IV.  S.  580—592.  — Kunz:  Kirchengeschiclite.  T.  Aufl. 
Bd.I.  S.  82 — 8.3.  — Dichterisch  wurde  der  Stoff  u.  a.  bearheitet  von: 

1.  Theoderich  Scharnberg;  Spiel  von  Frau  Jütten.  1840.  — 2.  Haus  Sachs. 
— 3.  In  einem  französischen  Drama  von  Flins,  1794.  — 4.  Achim  von 
Arnim.  Schauspiel:  „Die  Päpstin  Johanna“. 


493 


einen  Mönch,  verliebte  sie  sich.  Tn  Männerkleidern  geht  sie 
mit  ihm  zu  Studienzwecken  nach  Athen,  dann  nach  Rom, 
wo  sie  als  Johannes  Anglicus  vom  Papst  Leo,  zum  Kardinal 
erhoben  wurde,  „weil  sie  alle  an  Gelehrsamkeit  überragte“. 
Später  zum  Papbt  gewählt,  wird  sie  von  einem  Vertrauten 
geschwängert  und  gibt  bei  einer  feierlichen  Prozession  einem 
Kinde  das  Leben,  worauf  sie  abgesetzt  wird.  Die  römische 
Lokalsage  führt  es  auf  diesen  Vorgang  zurück,  dass  die 
Päpste  bei  den  Prozessionen  zwischen  Lateran  und  Vatikan 
niemals  eine  auf  dem  Wege  befindliche  kleine  Strasse  be- 
traten, sondern  um  sie  einen  Umweg  machten;  auch  soll  die 
Geschichte  von  der  deutschen  Päpstin  die  Ursache  sein,  dass 
kein  Deutscher  mehr  zum  Papst  gewählt  werde.  Alle  diese 
nicht  etwa  von  Feinden  des  Papsttums,  sondern  von  Geist- 
lichen, Mönchen,  besonders  Dominikanern  und  Minoriten  arg- 
los überlieferten  Behauptungen  sind  leicht  zu  widerlegen. 
Ob  wohl  die  alten  Schriftsteller  nicht  doch  Recht 

haben  sollten,  die  meinen,  die  Legende  sei  auf 

einen  Spitznamen  zurückzuführen,  den  man  Papst 
Johann  VIII.  wegen  seines  weiblichen 
Wesens:  „ob  nimiam  ejus  animi  facilitatem  et  molli- 

tudinem“  beigelegt  habe.  Das  Sprachgefühl,  das  einen 
femininen  Papst  Päpstin  Johanna  nennt,  stimmt  sehr  mit 
dem  noch  heute  in  manchen  Kreisen  sehr  beliebten  Gebrauch 
überein,  die  Namen  weiblich  gearteter  ^Männer  zu  verweib- 
lichen,  aus  einem  Prinzen  Georg  eine  Prinzessin  Georgine, 
aus  einem  König  Ludwig  eine  Königin  Ludowica,  einem  Wirt 
namens  Müller  „die  schöne  Müllerin“  zu  machen. 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  alle  historischen  Persönlich- 
keiten zu  behandeln,  die  mehr  oder  weniger  transvestitische 
Neigungen  zeigten,  von  der  babylonischen  bis  zur  nordischen 
Semiramis,  von  den  oft  in  kostbaren  Frauengewändern  ein- 
herstolzierenden Herrschern  Sardanapal  und  Heliogabal  bis 
zu  Heinrich  IIP,  dem  König  von  FrankreicL  und  Polen,  der  wie 
Chevalier  d’Eon  vielfach  als  ein  Hermaphrodit  angesehen 
wurde  (vgl.  die  auf  ihn  gemünzte  Satyre:  „description  de 
l’isle  des  Hermaphrodites“  vom  Jahre  1605),  offenbar  nur 
weil  man  ihn  vielfach  sah:  „en  habit  de  Damoiselle  avec 


494 


tous  les  affiquets  d’une  coquette“*)  — von  Philipp  von  Orle- 
ans, dem  bekannten  Bruder  Ludwig  XIV.,  den  Michelet  in 
seiner  Histoire  de  France**)  „ein  geschminktes,  kokettes 
Weib“,  nennt  „das  bemalt  und  in  Weiberkleidern  am  Arm 
seines  geliebten  Freundes,  des  Chevalier  de  Lorraine  auf  den 
Ball  ging“  bis  zu  Emil  August  dem  „Glücklichen“,  wie 
er  selbst  genannt  zu  werden  wünschte,  dein  Herzog  von  Sachsen, 
Gotha  und  Altenburg  (1772 — 1822),  einem  der  seltsamsten 
„buntschillerndsten“  Fürsten  aller  Zeiten.  1804  trat  er  die 
Regierung  seines  Landes  an  und  führte  sie  18  Jahre  glück- 
lich in  einer  für  Deutschland  besonders  schweren  Zeit. 
Napoleon  I.  nannte  ihn  einen  der  geistvolleren  deutschen 
Fürsten;  Jean  Paul  den  witzigsten  Fürsten  seiner 

Zeit,  und  der  mit  ihm  gut  befreundete  Komponist 

Karl  Maria  von  Weber  schreibt:  „Seine  Erscheinung 

hat  etwas  ungemein  Edles  und  trotz  seiner  hohen  Statur 
Weiches,  fast  Weibliches,  woher  auch  seine  Liebhaberei  für 
weibliche  Putzstücke  rührte.“  Er  war  zweimal  glücklich 
verheiratet  (trotzdem  er  nach  Reichard  und  Karsch***) 
auch  „Umgang  mit  schönen  Mannspersonen  sehr  liebte“). 
Durch  seine  einzige  Tochter  Luise,  die  den  Herzog  Ernst  von 
Sachsen-Coburg  heiratete,  deren  beider  Sohn  Albert  Prinzgemahl 
der  Königin  Victoria  von  England  wurde,  ist  Emil  August 
Urgrossvater  des  gegenwärtigen  Königs  Eduard  VII. 
Alle  die  ihn  persönlich  kannten,  waren  durch  das  „Damen- 
hafte“ seines  Wesens  frappiert.  „Als  ich  mich  einst  mit 
meiner  Tante  — erzählt  die  Memoirenschreiberin  und  Malerin 
Louise  Seidler  — nach  seinem  Befinden  erkundigte,  nahm  er 
unseren  Besuch  im  Bette  liegend  an.  Während  des  Ge- 
sprächs streifte  er  den  Aermel  seines  weissen  weiten  Nacht- 
gewandes  kokett  bis  an  die  Schulter  zurück  und  zeigte 
uns  den  mit  einer  ganzeri  Reihe  der  prachtvollsten  Arm- 

*)  Mezeray:  Abrege  chronologique  de  l’Histoire  de  France.  Tome  V. 
p.  229. 

**)  Tome  XV.  p.  57  u.  137. 

***)  F.  Karech  hat  ihm  im  V.  Jhb.  f.  sex.  Zw.  p.  615 — 693  eine  sehr 
vortreffliche  Psycho-Biographie  gewidmet,  in  der  sich  auch  die  Literatur  über 
Emil  August  zusammengestellt  angegeben  findet. 


495 


bäncier  geschmückten  Arm.  Den  Kopf  bedeckte  eine  Art 
Haube,  mit  kostbaren  Spitzen  garniert“  und  der  etwas  bos- 
hafte Friedrich  Förster  entwirft  nach  seiner  Begegnung  mit 
ihm  folgende  Schilderung: 

„Eine  komischere  Erscheinung  wie  diese  Durchlaucht  ist 
mir  in  meinem  ganzen  Leben  nie  wieder  zu  Gesicht  ge- 
kommen. Er  war  damals  wohl  schon  ein  Mann  von  reifen 
Jahren,  verwandte  aber  die  Toilettenkünste  des 
Boudoirs  einer  Pariser  Modistin  darauf, 
für  eine  weibliche  Schönheit  zu  gelten.  Es 
war  von  ihm  bekannt,  dass  er  einst,  als  Fanchon  ver- 
kleidet, mit  dem  Leierspiel  der  Savoyardin  die  Leip- 
ziger Messe  besucht  und  auf  Classig’s  Kaffeehause,  in 

Auerbach’s  Keller,  in  der  „blauen  Mütze“  und  anderen 
Kneipen  gute  Geschäfte  gemacht  hatte.“ 

In  der  Gartenlaube  von  1857  (Nr.  VII.  p.  93)  findet 
sich  ein  Bild,  das  den  Herzog  als  Griechin  mit  einem 
Schosshündchen-  auf  einem  Diwan  in  völlig  weiblicher  Pose 
darstellt.  Wie  fein  und  deutlich  er  selbst  das  Weib  in  sich 
spürte,  zeigen  folgende  Worte  in  einem  seiner  Briefe  an  die 
ihm  nahe  befreundete  Sidonie  von  Dieskau  (unter  d.  10.  11. 
1815):  „hell  flackerten  Selbstliebe  und  Selbstachtung  in  mir 
auf  und  mich  stärker  und  besser  fühlend  als  vorhin  fielen 
bald  von  meinem  Ich  die  mühsam  mir  angeklebteu 
erbärmlichen  Schlacken  der  mir  angezwängten 
Männere  y.“  Ergänzend  sei  noch  hinzugefügt,  dass  der 
Herzog  sich  auch  als  Schriftsteller,  Dichter  und . Komponist 
von  Liedern  und  Sonaten  betätigt  hat. 


Eiüige  seltene  Gründe  der  Geschlechts- 
verkieidung. 

Wir  wollen  vor  allem  noch  ein  Motiv  untersuchen,  das  von 
Personen,  die  der  andersgeschlechtlichen  Tracht  den  Vor- 
zug geben,  am  häufigsten  genannt  wird,  es  sei  ihnen  näm- 
lich die  gewählte  Kleidung  aus  rein  praktischen  Grün- 


496 


ilen  genehmer,  sic  erleichtere  ihnen  ihr  Fortkommen,  ihre 
materielle  Existenz.  Bevor  ich  mich  jedoch  diesem  Punkte  zu- 
wende, möchte  ich  der  Vollständigkeit  halber  noch  kurz  einige 
andere  Erklärungen  erwähnen,  die  — wenn  auch  selten  — 
in  Einzeltallen  für  Geschlechtsverkleidungen  angeführt  worden 
sind.  Fr.  S.  K r a u s*)  berichtet,  dass  sich  bei  manchen 
Völkern  der  abergläubische  Brauch  finde,  in  Krankheits- 
fällen die  Kleider  des  anderen  Geschlechts  anzuziehen,  „um 
die  Krankheitsdämonen  zu  täuschen.“  Schindler**) 
erwähnt  in  seiner  Arbeit  „Aberglauben  des  Mittel- 
alters“ den  seltsamen  Gebrauch,  dass  man  in  einigen 
Gegenden  Deutschlands  den  Frauen  während  der  Geburt  Klei- 
dungsstücke des  Mannes,  namentlich  sein  Hemd  und  seine 
Hose  anziehe,  weil  man  glaube,  dass  die  Entbindung  dann 
rascher  fortschreite.  Es  ist  wohl  möglich,  dass  der  diesem 
Aberglauben  zugrunde  liegende  occulte  Gedanke  ursprünglich 
in  Vorstellungen  wurzelt,  die  mit  der  „androgynen  Idee  des 
Lebens“  Zusammenhängen.  Ein  höchst  eigenartiges  Motiv  hat 
Ludwig  Tieck  in  der  Erzählung;  „Die  männliche 
Mutter“  verarbeitet:  eine  Mutter  rettet  die  Ehre  ihrer  ge- 
schwängerten Tochter,  indem  sie  sich  als  Mann  verkleidet 
mit  ihr  trauen  lässt. 

Ein  vollkommen  anders  gearteter  Grund  ist  wiederholt 
von  Personen  geltend  gemacht  worden,  die  in  Geschlochts- 
verkleidung  attrapiert  worden  sind:  sie  hätten  diese  in  Ver- 
folg einer  Wette  angelegt.  Hier  kann  es  sich  entweder 
um  einen  Scherz  — im  Sinne  der  durch  die  Verkleidung  zu  er- 
zielenden komischen  Effekte  — handeln  oder  aber  darum,  dass 
Personen  mit  transvestitischen  Neigungen  den  Beweis  ftir  die 
Durchführbarkeit  ihrer  Wünsche  bringen  möchten.  Wir 
geben  zwei  Beispiele  aus  dem  Loben.  „Tn  der  ostpreussischen 
Stadt  Allenstcin  war  in  einem  Material-  und  Kolonialwaren- 
Versandtgeschäft  eine  Buchhaiterin  beschäftigt,  deren  ausser- 
gewöhnlich  hübsches  Mädchen- Antlitz  Aufsehen  erregte,  deren 

*)  Kraus.  Ürqueil  1897.  p.  132  cfr.  auch  Zeitschrift  d.  Vereins  für 
Völkerkunde  1893.  p.  372  n.  1895  p.  129. 

p.  186  bei  Freimark,  loc.  dt.  p.  413  citiert. 


497 


übriges  Wesen  und  Auftreten  jedoch  wie  ihre  Haarfrisur  einen 
Mann  vermuten  liessen.  Zweifel  an  ihrer  Weiblichkeit  hegte 
auch  ein  xVrzt,  der  bei  Gelegenheit  einer  Erkrankung  der 
Buchhalterin  an  das  Krankenbett  gerufen  wurde  und  sie  in 
dem  mit  Zigarettenrauch  gefüllten  Zimmer  im  Bett  liegend 
rauchend  fand.  Eine  körperliche  Untersuchung  fand  jedoch 
nicht  statt.  Nach  ungefähr  sechswöchentlicher  Tätigkeit  ver- 
liess  das  „Fräulein  Luise  Schwarz“,  unter  welchem  Namen  sie 
in  Alleiistein  geführt  wurde,  die  Stadt,  um  anderweit 
in  Stellung  zu  treten.  Herr  Kaufmann  L.  in  Osterode  en- 
gagierte sie  für  ein  Manufakturgeschäft.  Als  eines  Tages 
das  Fräulein  nicht  zur  rechten  Zeit  im  Geschäft  erschien, 
begab  sich  Herr  L.  nach  deren  Zimmer,  doch  was  er  hier 
sah,  machte  ihn  starr,  denn  vor  ihm  stand  seine  „Buch- 
halterin“ fertig  im  Gehrock  und  Zylinder,  den  Chef  mit  den 
Worten  begrüssend:  „Von  heute  ab  bin  ich  wieder 
j u n g e r H e r r“.  AVie  später  bekannt  wurde,  war  der  junge 
Herr  eine  AA^etto  eingegangen,  nach  welcher  er  durch  eine  be- 
stimmte Zeit  unbehelligt  als  ..Fräulein“  sein  Brot  verdienen 
sollte.  Am  Tage,  wo  Herr  L.  ihn  überraschte,  war  die  Zeit 
um  und  die  AA^ette  gewonnen.“  (.Jhb.  II.  448.) 

Aus  AVien  wurde  berichtet;  „Einem  Sicherheitswachmann 
in  AATen  fiel  am  22.  Sept.  1896  abends  um  9 Uhr  an  der 
Kreuzung  des  Opernringes  und  der  Kärntnerstrasse  eine  hoch- 
gewachsene Dame  auf,  die  in  eleganter,  lichter  Herbst- 
toilette tief  verschleiert,  langsamen  Schrittes  promenierte.  Da 
der  Mangel  an  Grazie  in  ihren  Bewegungen  durchaus  nicht 
den  Eindruck  machte,  als  ob  die  Promenierende  dem 
schönen  Geschlecht  angehöre,  wurde  der  Sicherheitswachmann 
aufmerksam,  näherte  sich  der  Dame,  und  ein  Blick  über- 
zeugte ihn,  dass  er  sich  in  der  Annahme  nicht  getäuscht 
hatte;  denn  trotz  des  dichten  Schleiers  sah  er,  dass  die  Ober- 
lippe der  Dame  ein  stattlicher  blonder  Schnurrbart  beschattete. 
Der  Wachmann  ersuchte  nun  die  Passantin,  ihm  auf  das 
„Polizeikommissariat  innere  Stadt“  zu  folgen,  und  dort  stellte 
man  fest,  dass  die  Unbekannte  mit  dem  21jährigen  Privat- 
beamten Ludwig  K.  identisch  war.  Der  junge  Mann 
hatte  mit  seinem  Chef  gewettet,  dass  er  als 

32 


Hirschfold,  Die  Transvestiten. 


498 


Dame  verkleidet  von  seiner  Wohnung  über  die  Elisabeth- 
brücke, den  Kärntnerring  bis  zur  Schwarzenbergbrücke  einen 
Spaziergang  unternehmen  würde,  ohne  auigehalten  zu 
werden.  Die  Höhe  der  Wette  betrug  10  Gulden.  Nach  Auf- 
nahme des  Sachverhalts  auf  dem  Kommissariat  fuhr  K. 

nach  Hause.  Er  wird  sich  aber  vor  dem  Polizeistrafrichter 
zu  verantworten  haben."  Ebenfalls  einen  recht  eigenartigen 
Grund  gab  eine  andere  in  Wien  sistierte  Person  — dieses 
Mal  ein  als  Mann  verkleidetes  Mädchen  — an.  Der  Vorgang 
(vom  20.  VIII.  99)  wird  wie  folgt  geschildert;  „Vor  dem 
Gebäude  der  Polizeidirektion  in  Wien  promenierte  ein 

junger,  bartloser  Mann,  der  sich  durch  sein  scheues  Be- 

nehmen auffällig  machte.  Er  schien  unschlüssig  zu 
sein,  ob  er  das  Gebäude  betreten  solle  oder  nicht.  Ein 
Polizeiagent,  der  den  Betreffenden  eine  Weile  beobachtet 
hatte,  trat  auf  ihn  zu  und  fragte  ihn,  ob  er  vielleicht 

etwas  suche,  worauf  der  junge  Mann  erwiderte,  er  wünsche 
ein  Arbeitsbuch  von  der  Polizei  zu  erhalten,  man 
habe  ihn  vom  Magistrat  hierher  gewiesen.  Idan  führte 
den  jungen  Mann  zum  Stadtkommissariat,  dort  konnte  aber 
seinem  Wunsche  nicht  entsprochen  werden,  da  er  keinerlei 
Dokumente  vorzulegen  imstande  war.  Bei  dem  Protokoll, 
das  mit  ihm  nun  aufgenommen  wurde,  war  sein  ganzes  Ge- 
haben so  eigentümlich,  dass  der  Polizeibeamte  auf  die  Idee 
kam,  der  junge  Mann  sei  vielleicht  ein  Frauenzimmer.  Als 
der  Beamte  diesem  Verdachte  Ausdruck  gab,  gestand  als- 
bald der  „junge  Mann"  unter  Tränen,  ein  Mädchen  zu  sein. 
Aus  den  weiteren  Geständnissen  ging  hervor,  dass  dieses 
Mädchen  seit  dritthalb  .Tahren  nur  Männer- 
kleider getragen  hatte.  Als  Grund  der  Verklei- 
dung gab  das  Mädchen  an,  dass  es  als  Magd 
bei  den  Bauern,  bei  denen  es  diente,  sehr 
viel  Nachstellungen  ausgesetzt  sei.  Die 
letzte  Zeit  habe  er  als  Feldarbeiter  das  Leben  gefristet: 
auf  dem  Lande  habe  niemand  sein  wahres  Geschlecht  ge- 
ahnt. Da  die  Angaben  des  Mädchens,  das  weder  schreiben 
noch  lesen  konnte,  doch  Argwohn  erweckten,  leitete  die 
Polizei  Erhebungen  ein.  Dieselben  ergaben,  dass  das 


Mädchen,  dessen  geistige  Entwicklung  zurückgeblieben  ist, 
sich  in  allen  Angaben  an  die  Wahrheit  gehalten  und  nichts 
Böses  angeatellt  oder  im  Sinne  hatte.  Als  arbeits-  und  sub- 
sistenzlos wird  nun  das  Mädchen  in  die  Heimatsgemeinde  ge- 
bracht und  ihm  auch  bedeutet  werden,  dass  es  nicht  mehr 
in  Männerkleidern  einhergehen  dürfe.“ 

Um  vor  ihrerFamilie  zu  entfliehen,  mit 
der  sie  in  Zwiespalt  lebte  und  sich  vor  deren  Nachforschungen  zu 
sichern,  hatte  sich  eine  russische  Dame  der  besseren  Ge- 
sellschaft jahrelang  als  Eisenbahnarbeiter  beschäftigt.  Die 
Zeitung  Kiew  Ganin  berichtet  aus  Kischinew  unter  nach- 
drücklicher Betonung  der  Wahrheit  des  Mitgeteilten  darüber 
folgendes:  „Vor  ungefähr  vier  Jahren  trat  in  den  Dienst  der 
Südwestbahnen  als  gewöhnlicher  Arbeiter  ein  junger  Bursche, 
der  sich  Alexander  R — ski  nannte.  Er  arbeitete  upd 
lebte  mit  den  Mitgliedern  der  Artel  in  den  gemeinschaftlichen 
Kasernen  und  teilte  alle  Beschwerden  des  Dienstes  mit  seinen 
Kameraden.  Durch  seinen  Fleiss  und  seine  Anstelligkeit  er- 
warb sich  R — ski  in  kurzer  Zeit  das  Vertrauen  und  die 
Achtung  seiner  Vorgesetzten,  die  ihm  bald  einen  Aufseher- 
posten einräumten.  Auch  in  dieser  Stellung  kam  R — ski  in 
vorbildlicher  Weise  seinen  Verpflichtungen  nach  und  avan- 
cierte nach  einem  Jahre  auf  einen  höheren  Posten,  durch 
den  er  eine  Vertrauensstellung  einnahm.  Zum  Erstaunen 
aller  Bekannten  des  vermeintlichen  jungen  Mannes  stellte  sich 
nun  vor  einigen  Tagen  heraus,  dass  sich  unter  der  ein- 
fachen Kleidung  des  Oberaufsehers  eine  Dame  verbarg  — die 
Tochter  eines  Gouvernements-Sekretärs  namens  Alexandra 
R— skaja;  sie  hatte  den  vollen  Kursus  eines  ^lädchengym- 
nasiums  absolviert  und  dabei  eine  Prüfung  in  der  lateinischen. 
Sprache  bestanden,  durch  die  sie  das  Recht  erhalten  hatte, 
in  das  Medizinische  Institut  für  Frauen  zu  treten.  Nach 
Absolvierung  des  Gymnasiums  bekleidete  Frl.  R.  längere  Zeit 
den  Posten  einer  Lehrerin  an  einer  Landschaftsschule  und 
verschwand  dort  eines  Tages  völlig  spurlos.  Da  alle  Nach- 
forschungen erfolglos  verliefen,  glaubte  man  allgemein,  dass 
sie  verunglückt  sei.  Gegenwärtig  hat  sich  der  Eisenbahn- 
arbeiter wieder  in  eine  Dame  verwandelt  und  wird  sich  wohl 

32* 


500 


für  die  Metamorphosen  vor  Gericht  zu  verantworten 

haben. " 

Aus  dem  Altertum  wird  berichtet,  dass  Euklid  aus 
Megara  in  Frauenkleidern  zu  Socrates  kam,  um  seinem  Lehrer 
zu  lauschen,  da  die  Athener  während  eines  Krieges  jeden 
Megarer,  der  ihre  Stadt  betreten  würde  mit  dem  Tode  be- 
droht hatten.  Wieland  lässt  in  „Krates  und  Hipparchia“ 
H i p p a r c h i a als  Jüngling  verkleidet  die  Vorlesungen  des 
Philosophen  Krates  besuchen;  sie  verliebt  sich  in  ihn  und 
wird  schliesslich  seine  Frau.  Clodius  Pülcher  soll  sich 
als  Frau  verkleidet  bei  einem  Feste  der  Bona  Dea  einge- 
schlichen  haben,  zu  dem  den  Männern  der  Zutritt  nicht 
gestattet  war.  Verwandten  Verkleidungsmotiven  begegnet 
man  im  Leben  und  der  Dichtung  nicht  ganz  selten. 
Tennyson  hat  in  „The  Princess,  a Medley‘‘  ein  um- 
fangreiches satirisches  Gedicht  verfasst,  in  dem  eine  Prin- 
zessin eine  Weiberrepublik  gegründet  hat,  in  die 
bei  Todesstrafe  kein  Mann  ein  drin  gen  darf.  Der  Prinz 
(ihr  offizieller  Verlobter)  und  zwei  Bergleute  schlichen  sich  in 
Weiberkleidung  ein.  Sie  werden  nach  und  nach  erst  von 
anderen,  dann  auch  von  der  Prinzessin  selber  erkannt.  Da 
der  Prinz  ihr  das  Leben  gerettet  hat,  werden  sie  nicht  ge- 
tötet, aber  durch  handfeste  Frauenzimmer  hinausgeworfen. 
Sie  kehren  in  den  Weiberkleidern  zum  König  zurück,  wo 
ihr  Anblick  bei  diesem  und  dem  Hofe  ungeheures  Gelächter  erregt. 

Sehr  häufig  begegnen  wir  den  Verkleidungen  des  Ge- 
schlechts in  altenglisch-schottischen  Volksballaden.  Züge*) 

*)  -Das  Verkleidungsmotiv  in  den  englisch-schottischen  \ olksballaden.'* 
Iiiaugural-Dissertation  Halle-Wittenberg  von  Karl  Züge  aus  Hamburg.  190S. 
Wie  mir  der  hervorragende  Kenner  der  slavischen  Folklore,  Dr.  Fr.  Kraus, 
mitteilt,  berichten  auch  die  bosnischen  Guslarenlieder  von  heterosexuellen 
Frauen,  die  sich  wie  Männer  kleiden.  Ein  solches  Lied  veröffentlichte  Kraus 
im  „Neuen  Kosmos'  (Berlin  1908)  irn  3.  Hefte;  ein  anderes  unter  dem  Titel; 
„Orlovic,  der  Burggraf  von  Raab“  ;Herder,  Freiburg  i.  B.  188S),  ein  drittes 
in  seinen  slavischen  Volksforschungen,  Leipzig,  1908.  Heims  Verlag.  Häufig 
feiern  slaWsche  Volkslieder  Frauen  in  Männerkleidem  als  gefürchtete  Häupt- 
linge von  HaHukenscharen.  In  Serbien  nennt  man,  wie  mir  ebenfalls  Kraus 
schreibt,  einen  als  Weib  gekleideten  Mann  zenkara  fplural  ^enkare),  während 
zenkar  einen  Schürzenjäger  bedeutet. 


501 


hat  in  einer  Dissertation  den  Inhalt  von  5 Balladen  ange- 
geben, in  denen  sich  Männer  in  Frauenkleidung  und  10,  in 
denen  sich  Frauen  als  Männer  verkleidet  finden.  Das  Motiv 
der  Verkleidung  ist  in  fast  allen  Fällen  die  Liebe,  der 
Wunsch  dem  Geliebten  in  Krieg  und  Ge- 
fahren zur  Seite  zu  sein,  unerkannt  zu  ihm  ge- 
langen, mit  ihm  sprechen,  ihn  prüfen  zu  können.  In  der 
schönen  Ballade;  „Lord  Livingston“  sagt  das  liebende  Weib : 

„ril  dress  myself  in  men ’s  array 
Gae  to  the  fields  for  thee“ 

und  in  „Fair  Rosamond“  sagt  die  schöne  Rosamunde  zu 
ihrem  König  Heinrich  II.: 

„Nay  rather,  let  me,  like  a page 
Vöur  sword  and  target  beare.“ 

Umgekehrt  folgt  in  „the  Holy  Nunnery“  Willie  seiner 
geliebten  Annie,  die  ins  Kloster  gegangen  war,  nachdem 
ihre  Eltern  für  immer  ihren  Segen  versagt.  Nachdem  er  sieben 
Jahre  vor  Sehnsucht  dahingesiecht,  verkleidet  er  sich  als 
Frau: 

and  nane  coud  ken  by  bis  pale  face 
But  he  was  a lady  fine. 

Er  findet  Einlass  in  das  Nonnenkloster,  wo  Annie  ihn  mit 
dem  Blick  der  Liebe  erkennt: 

„Fair  Annie  kent  her  true  love’s  face 
Says,  come  up,  my  sister  dear.“ 

In  Holland  hörte  ich  ein  transvestitisches  Volkslied, 
das  dort  seit  alter  Zeit  jedermann  in  seiner  Kindheit  lernt; 
auch  Erwachsene  singen  seine  melodiöse  W'eise  oft  und  gern. 
Die  Niederschrift  und  Uebersetzung  verdanke  ich  Herrn 
Collegen  B.  v.  T r i c h t in  Amsterdam.  Es  lautet: 


Daar  was  eens  een  meisje  loos, 

Die  wou  gaan  varen  (bis) 

Daar  was  eens  een  meisje  loos, 

Die  wou  gaan  varen  als  zeematroos. 


Es  war  einmal  ein  verschmitztes 

Mädchen, 

Das  wollte  zur  See  fahren  gehen  (bis) 

Es  war  einmal  ein  verschmitztes 

Mädchen, 

Das  wollte  See  fahren  gehen  als  Matrose. 


502 


Zij  moest  klimmen  in  den  mast. 
Maken  de  zeilen  (bis) 

Zij  moest  klimmen  in  den  mast, 
Maken  de  zeilen  met  touwijes-  vast. 

-Maar  door  storm  en  tcgemveer. 
Sloegen  de  zeilen  (bis) 

Maar  dor  storm  en  tegenweer, 
Sloegen  de  zeilen  van  boven  neer. 

„Ocli,  kapteintje,  sla  me  iiiet! 

„Ik  ben  uw  lief  je!  (bis) 

„Och,  kapteintje,  sla  me  niet! 

„Ikbenuw  lief  je,  gelyk  gy  ziet!' 


I Sie  musste  klettern,  auf  den  Mast, 
Machen  die  Segel  (bis) 

I Sie  musste  klettern  auf  den  ,Mast, 
j Machen  die  Segel  mit  Tauen  fest. 

Jedoch  in  Sturm  und  Üngewitter 
Schlugen  die  Segel  (bis). 

Jedoch  in  Sturm  und  Ungewitter 
Schlugen  die  Segel  von  oben  herab. 

Ach,  Kapitänchen,  schlag'  mich 

nicht ! 

Ich  bin  ja  Dein  Liebchen!  (bis) 

„Ach.  Kapitänchen,  schlag’  mich 

nicht! 

Ich  bin  Dein  Liebchen  wie  Du 

siehst ! 


Dass  verwandte  Motive  auch  heute  noch  bei  der  Ver- 
kleidung eine  Rolle  spielen,  möge  folgende  Erzählung  aus 
dem  Leben  zeigen,  die  mir  ein  bekannter  Schriftsteller  aus 
seinen  Erinnerungen  mitteilt, 

„Im  Sommer  1871  lebte  ich,  damals  achtzehn- 
jährig in  Guben.  Ich  schrieb  dort  einen  kleinen  Roman, 
den  ich  später  verbrannt  habe,  unter  dem  Titel:  „Plato- 
nische Liebe“.  Handlung:  Ein  junger  Mann  verliebt 

sich  in  ein  als  Knabe  verkleidetes  Mädchen 
Sie  heiraten  sich,  aber  nur  platonisch,  d.  h.  ohne  geschlecht- 
lich zu  verkehren,  um  die  Schopenhauersche  Philosophie  in 
die  Praxis  zu  übertragen. 

Ein  Jugendbekannter,  wie  ich  aus  Potsdam  gebürtig, 
namens  R.  H.,  war  im  G\Tunasium  in  Hamm  i.  Westfalen 
gewesen  und  von  dort  nach  Küstrin  gegangen.  Meine  „Pla- 
tonische Liebe“,  die  ihn  sehr  begeisterte,  hatte  er  im  Manu- 
skript gelesen,  und  so  machte  er  mir  im  Beginn  der  Sommer- 
ferien in  Guben  einen  Besuch. 

Hier  erzählte  er  mir.  er  habe  in  Hamm  ein  Mädchen  zu 
rückgelassen,  das  er  heiraten  wolle.  Sie  sei  die  Tochter 
eines  reichen  Fabrikbesitzers.  Aber  der  Vater  wolle  die  Fa- 
brik und  das  ganze  Vermögen  seinem  Sohne  geben  und  die 
Tochter  zur  Diakonissin  machen.  Er  müsse  sie  not- 


503 


wendig  noch  einmal  sprechen.  Aber  wie,  da 
sie  .vom  Vater  eifersüchtig  bewacht  sei? 

Ich  schlug  vor:  Verkleide  die  hals  Mädchen! 
Er  war  dazu  bereit.  Wir  fuhren  nach  Berlin  zu  seiner  ver- 
heirateten Schwester.  Diese  steckte  ihn  in  ihre  Kleider  und 
schminkte  ihm  sein  gelbes  Gesicht  mit  Fettschminke.  Er  trug 
ohnehin  langes,  hängendes  Haar:  daran  brauchte  nichts  ge- 
ändert zu  werden.  Nur  musste  er  noch  eine  grosse  dunkel- 
blaue Brille  aufsetzen  und  sich  dicht  verschleiern.  In  Hamm 
kaufte  ich  ihm  auch  noch  einen  Sonnenschirm.  Er  sah 
wie  eine  hässliche  alte  Gouvernante  aus.  Er  fuhr  als  meine 
Tante  Adelaide  Sturm,  ich  als  ihr  Neffe  Walter  Sturm. 
Wir  fuhren  in  einer  Droschke  zum  Bahnhof  und  dann  in 
einer  Tour  II.  Klasse  von  Berlin  nach  Hamm  in  Westfalen. 
Im  Coupe  war  es  sehr  heiss,  und  die  Sonne  schmolz  die 
Fettschminke  auf  seinem  Gesicht,  so  dass  es  wie  eine 
Schmalzstulle  glänzte.  In  Hamm  kehrten  wir  in  einem  Gast- 
hof ein,  nahmen  zwei  getrennte  Zimmer  und  assen  in  diesen. 
Niemand  schöpfte  Verdacht.  Als  ich  mit  ihm 
durch  die  Strassen  ging,  wurden  wir  sogar  von  Offizieren 
ehrerbietig  gegrüsst:  ich  sah  nämlich  damals  sehr  theolo- 
gisch aus,  und  man  hielt  mich  wohl  für  einen  jungen 
Kaplan.  Die  Villa,  in  der  die  Liebste  von  E,.  H.  wohnte, 
lag  ausserhalb  der  Stadt  an  einem  Heckenweg.  Als  wir 
vorübergingen,  sass  das  Mädchen  oben  an  einem  offenen 
Fenster.  Er  pfiff  die  Melodie: 

0 Richard,  o mon  roi, 

L’univers  t’abandonne. 

Daran  erkannte  sie  ihn.  Sie  gab  ein  Zeichen,  dass  sie 
kommen  würde,  und  bald  folgte  sie  uns." 

Während  ich  Wache  stand,  sassen  die  beiden  Weiber 
stundenlang  auf  einer  Bank  in  den  Anlagen.  Dort  ver- 
lobten sie  sich  definitiv. 

Wir  übernachteten  in  Hamm  und  fuhren  am  nächsten 
Tage  wieder  zurück,  diesmal  aber  nur  bis  P.  Hier  brachte 
ich  ihn  in  einer  Droschke  zu  seiner  Mutter,  dann  ging  ich 
zu  der*  meinigen.  Der  Streich  war  vollkommen  gelungen. 


504 


nicht  die  geringste  Belästigung  widerfuhr  uns  und  Richard  H. 
hat  das  Mädchen  auch  wirklich  geheiratet.“ 

In  einem  alten  Lustspiel  von  Elias  Schlegel; 
„Der  Triumph  der  guten  Frau“  verkleidet  sich  Hilaria,  die 
Gattin  eines  Don  .Juan,  als  I^Iann,  spielt  noch  ärger  als  er 
den  Liebhaber,  um  ihn  so  bei  allen  Damen  auszustechen. 


Geschlechtsverkleidung  und  Beruf. 

Wir  kommen  nun  zu  dem  so  vielfach  angeführten  Motiv 
der  grösseren  Bequemlichkeit  und  leichteren  Berufswahl.  Es 
ist  für  seine  Bewertung  nicht  ohne  Bedeutung,  dass  sowohl 
von  Frauen  für  die  Männerkleidung,  als  von  Männern 
für  die  Frauentracht  derselbe  Grund  geltend  gemacht 
wurde.  So  gab  die  in  Mitteldeutschland  so  häufig 
aufgegriffene  Person,  die  sich  gewöhnlich  W'’itw^e  Hed- 
wig Fischer  geb.  Adler  aus  Königsbrück  nannte,  in  Wirk- 
lichkeit aber  Julius  Fischer  hiess,  ein  Weber,  geboren  1845 
in  Grossenhain,  an,  dass  er  sich  in  das  weibliche  Geschlecht 
„begeben“  hätte  einmal,  um  seiner  Frau  zu  entfliehen,  mit 
der  er  in  Ehezwistigkeiten  lebe,  vor  allem  aber,  um  leichter 
eine  Stelle  als  Kinderfrau  zu  finden,  als  welche  er  in  Posen 
und  anderen  Städten  auch  lange  tätig  gewesen  ist.  Ein 
Seitenstück  zu  diesem  IMann  ist  ein  Original,  das  im  Schwarz- 
wald lebt;  der  Wasser-  oder  Marketenderseppli. 
„In  der  Gegend  seiner  Heimat  Triberg  im  Tal  der  Elz  und 
im  Glottertal  ist  er  auf  allen  Höfen  gut  bekannt  und  gern 
gelitten.  Josef  Weber  — so  ist  sein  wirklicher  Name  — 
trägt  sich  bei  der  Arbeit  vollständig  als  Frau;  wer  ihn 
nicht  kennt,  w'ürde  glauben,  eine  Bauernmagd  aus  der 
Gegend  seiner  Heimat  vor  sich  zu  haben.  Sein  sonnver- 
branntes runzliges  Antlitz  sucht  er  durch  ein  Paar  grosse 
Ohrringe  zu  verschönen.“  Ein  Landsm.ann  erzählt  von  ihm; 
„Die  Leute  bewirten  ihn  zum  Zeichen  ihrer  Zufriedenheit, 
allerdings  oft  auch  aus  Mitleid,  mit  seinem  liebsten  Genuss- 
mittel auf  dieser  Erden,  dem  Kaffee;  Wein  und  Bier 
verschmäht  der  Seppli.  Und  trotzdem  er  schon  so  \dele 


505 


Jahre  wandert,  hat  man  noch  nicht  gehört,  dass  er  Kaffee, 
noch  sonst  etwas  gebettelt  hätte;  er  nimmt  mit  Freuden 
was  man  ihm  gibt,  aber  zum  „Heischen“  gibt  er  sich  nicht 
herab,  wie  man  ihm  auch  nicht  nachsagen  kann,  dass  er 
seiner  Heimatsgemeinde  auch  nur  einen  Pfennig  Kosten  ge- 
macht hätte.  Stadtleute  liebt  er  nicht,  ist  höchst  miss- 
trauisch gegen  sie  und  nur  mit  Unbehagen  spricht  er  mit 
ihnen,  während  alle  Kinder  seine  Freunde  und  Vertrauten 
sind.  Auf  seinen  Zügen  durch  die  Dörfer  begleiten  ihn  die 
letzteren  scharenweise,  und  da  hat  er  Arbeit  genug,  jedem 
Rede  und  Antwort  zu  geben.“ 

Ein  französischer  Bauer  aus  der  Umgegend  von  Paris 
hat  die  nachgesuchte  polizeiliche  Erlaubnis  erhalten,  Weiber- 
kleider  tragen  zu  dürfen  und  zwar  „mit  Rücksicht  auf  sein 
Geschäft“  eine  Art  Marktgärtnerei,  für  die,  wie  er  angibt, 
ein  Weiberrock  als  Bestandteil  seiner  Ausrüstung  not- 
wendig sei.  Dasselbe  wurde  einem  Pariser  Kartoffel- 
händler gestattet.  In  Spanien  erregte  im  April  1907  fol- 
gender Fall  Aufsehen;  „In  Granada  wohnte  seit  einigen 
Jahren  eine  englische  Dame,  die  sich  durch  Sprachunter- 
richt ernährte  und  sich  in  den  Familien  ihrer  Schüler  und 
Schülerinnen  des  besten  Ansehens  erfreute.  Vor  einigen 
Tagen  fand  sie  sich  in  der  dortigen  Nebenstelle  der  Bank 
von  Spanien  ein,  um  einen  Scheck  einzulösen.  Der  Kassierer 
weigerte  sich,  die  Summe  auszuzahlen,  da  das  Papier  auf 
einen  männlichen  Vornamen  ausgestellt  war.  Kurze  Zeit 
darauf  kehrte  ein  Herr  in  eleganter  Kleidung  mit  demselben 
Scheck  zur  Kasse  zurück.  Der  Beamte  erkannte  in  dem 
Herrn  die  Züge  und  Erscheinung  der  Dame  von  vorher 
wieder;  er  schöpfte  Verdacht,  dass  es  sich  um  einen  Be- 
trug handele,  und  Hess  die  rätselhafte  Persönlichkeit  ver- 
haften. Diese  erklärte  bei  ihrer  Vernehmung  auf  der  Polizei, 
sie  sei  tatsächlich  ein  Mann.  Aus  Not  und  ohne  Stellung 
habe  er  vor  Jahren  den  Entschluss  gefasst,  als  Frau  weiter 
durchs  Leben  zu  gehen,  da  er  auf  diese  Weise 
leichter  einen  Erwerb  finden  zu  können 
hofft  e.  In  dieser  Ansicht  sei  er  nicht  getäuscht  worden.“ 
Ein  Berliner  Wochenblatt,  welches  über  dieses  Vorkommnis  be- 


506 


richtete,  fügte  nicht  übel  hinzu:  „Wahrscheinlich  gehört 

dieser  Fall  auch  in  das  Kapitel  von  den  sexuellen  Zwischen- 
stufen. Der  Mann  hat  die  Xatur  eines  Weibes,  und  es  ist 
selbstverständlich,  dass  ihn  die  Maske  seiner  äusserlichen  Ge- 
schlechtsmerkmale ungewandt  und  ungeschickt  machte.  Er  de- 
maskierte sich  nur,  wenn  er  sich  wie  ein  Mann  kleidete.“ 

Wir  wenden  uns  zu  den  Frauen,  die  aus  Ge- 
schäftsgründen, um  eine  leichtere  und  bessere  Exi- 
stenz zu  finden,  die  Kleidung  des  anderen  Geschlechts 
acceptierten.  Am  12.  Februar  1901  wurde  auf  dem  Ber- 
liner Bahnhof  in  Hamburg  ein  junger  Bursche  verhaftet, 
der  sich  dort  zum  Gepäckträger  erboten  hatte,  und  dessen 
Gebühren  einem  Reisenden,  der  die  Dienstleistimgen  des 
jungen  Menschen  in  Anspruch  genommen  hatte,  verdächtig 
vorkam.  Als  nämlich  der  Reisende  merkte,  dass  der  Bursche 
die  bezeichnete  Strasse  nicht  zu  wissen  schien,  und  nach  einer 
falschen  Richtung  ging,  veranlasste  er  einen  Schutzmann, 
ihn  zu  verhaften.  Auf  der  Wache  nach  Namen  und  Her- 
kunft gefräst,  erklärte  er,  Karl  L u r e k zu  heissen  und 
Legitimarionspapiere  nicht  zu  besitzen.  Der  diensttuende 
Wachtmeister  wollte  nun  zur  Leibesvisitation  schreiten,  als 
der  Bursche  plötzlich  angstvoll  die  Worte  ausstiess;  „Nein, 
Sie  dürfen  mich  nicht  untersuchen,  ich  bin  ja  ein  Mädchen!“ 
Ein  Tränenstrom  folgte  diesem  Ausrufe.  Sie  gestand  dann 
folgendes:  „Durch  den  Tod  ihres  Onkels,  unter  dessen  Ob- 
hut sie  aufgewachsen,  sei  sie  zu  einer  Erwerbstätig- 
k e i t genötigt  gewesen.  Auf  die  Annonce  eines  Berliner 
Geschäftsmannes  hin  habe  sie  den  Entschluss  gefasst,  in 
Berlin  ihr  Glück  zu  versuchen,  um  so  mehr,  da  es  einer 
Freundin  und  entfernten  Verwandten  daselbst  gut  ginge. 
Als  sie  sich  dann  in  Berlin  dem  betreffenden  Geschäftsmanne 
vorgestellt  habe,  seien  ihr  15  Mark  monatliches  Gehalt  ge- 
boten worden.  So  sei  sie  denn  gezwungen  gewesen,  „weil  sie 
anständig  bleiben  wollte“,  sich  nach  anderem  ehrlichen  Er- 
werb umzusehen.  Auf  dem  Bahnhöfe  seien  ihr  die  jungen  Ge- 
päckträger aufgefallen,  die  sich  täglich  3 bis  4 Mark  ver- 
dienen sollen.  Kurz  entschlossen  habe  sie  sich  das  Haar 
schneiden  lassen  und  sei  in  Männerkleidung,  die  ihr  eine 


507 


Freundin  verschafft  habe,  nach  Hamburg  gereist.  Am  Ber- 
liner Bahnhof  habe  sie  sich  dann  als  Gepäckträger  angeboten 
und  für  die  erste  Besorgung  80  Pfennige  erhalten.  Bei  dem 
zweiten  Auftrag  habe  sie  ihr  Schicksal  schon  erreicht.“  So- 
fort angestellte  telegraphische  Anfragen  in  Königsberg  und 
Berlin  bestätigten  ihre  Angaben,  weshalb  sie  nach  einer  in 
Schutzhaft  verbrachten  Nacht  in  Freiheit  gesetzt  werden  konnte. 

Im  Mai  1905  erhielt,  wie  aus  Boston  mitgeteilt  wird, 
Gouverneur  Herrick  einen  Brief  von  einer  im  südlichen  Teile 
des  Staates  Massachussets  lebenden  Dame,  die  um  die  Er- 
laubnis ansuchte,  Hosen  zu  tragen.  „Als  Grund  ihres  An- 
suchens gab  sie  an,  ihre  Hauptbeschäftigung  als  Leiterin 
einer  Farm  sei  ausser  Hause,  und  es  wäre  daher  für  sie 
praktischer,  Männerkleider  zu  tragen,  als  Böcke.  Der  Brief 
wurde  an  den  General-Attorney  weiterbefördert  mit  dem  Be- 
merken, dass  eine  Gesetzesänderung  für  derartige  Fälle  viel- 
leicht vorzuschlagen  wäre.“ 

Ein  ähnlicher  Fall  wurde  aus  London  (20.  III.  06) 
gemeldet:  „Bei  einem  Prozess,  der  gestern  in  einem  kleinen 
Ort  in  der  Grafschaft  Kent  begann,  erschien  eine  junge 
Dame  in  einem  männlichen  Anzug.  Der  Richter,  der  offen- 
bar sehr  verwundert  war  und  um  eine  Erklärung  ersuchte, 
bekam  zur  Antwort,  dass  die  junge  Dame  schon  seit 
mehreren  Jahren  auf  einer  dortigen  Farm  arbeite  und  immer 
diese  Kleidung  trage,  „weil  sie  diese  für  bequemer  und  ge- 
sunder halte.“  Sie  trug  einen  Ueberzieher,  lange  Hosen, 
Gamaschen  und  einen  harten  Hut.  Sie  ist  in  dem  ganzen 
Distrikt  wohlbekannt,  die  Leute  haben  sich  an  ihren  Anzug 
gewöhnt,  so  dass  eigentlich  niemand  mehr  Notiz  davon  nimmt. 
Die  Leute  auf  der  Farm,  welche  sie  bewirtschaftet,  nennen 
sie  kurzweg  „Jack“.“ 

Auch  RüsaBonheur  gab  in  ihrer  Eingabe  an  die  Re- 
gierung an,  man  möge  ihr  die  männliche  Kleidung  gestatten, 
weil  ihr  die  Röcke  „beim  Umherstreifen  nach  neuen  künst- 
lerischen Motiven  in  der  Natur“  lästig  seien.  ln  dem 
Kohlengrubendistrikte  Merthyr  Tydvil  in  Wales  in  England 
entlief  vor  einigen  Jahren  ein  vierzehnjähriges  Mädchen  seinen 
Eltern  und  legte,  in  der  Erwartung,  „so  besser  und 


508 


schneller  Arbeit  zu  finden",  Männerkleidung  an. 
Sie  hatte  sich  darin  auch  nicht  getäuscht,  denn  bald  fand 
sie  Beschäftigung  als  Kohlenbursche  in  einer  der  Gruben  und 
bezog  das  für  ein  vierzehnjähriges  Mädchen  hohe  Gehalt  von 
15  Shilling  pro  Woche.  Sie  erkrankte  jedoch  nach  einiger 
Zeit  und  musste  in  ein  Hospital  gebracht  werden,  wc  sie 
ihr  Geheimnis  preisgeben  musste. 

„Vor  20  Jahren  kamen  aus  Irland  zwei  Mädchen,  Katie 
und  Marga  Mint  nach  Amerika.  Da  die  beiden  Mädchen 
keine  Beschäftigung  finden  konnten,  entschloss  sich 
Marga,  als  sie  in  der  Zeitung  eine  Annonce 
lasen,  nach  welcher  auf  einer  Farm  ein  Ehepaar  verlangt 
wurde,  als  Mann  zu  fungieren,  während  die-  schwächere  und 
zierlichere  Katie  die  Ehefrau  vorstellen  musste.  Das  Paar 
erhielt  die  Stellung.  Marga  arbeitete  auf  dem  Felde,  Katie 
in  der  Küche.  Später  Hessen  sie  sich  naturalisieren  und 
Marga  übte  als  Mann  ihr  Wahlrecht  aus.  („Record  Her ald‘‘, 
Chicago,  25.  April  1906.) 

Wie  der  „Wide  World  M.“  erzählt,  leben  in  den  Bergen- 
von  Mendocino  County  in  Kalifornien  zwei  deutsche  Mäd- 
chen im  Alter  von  18  und  19  Jahren.  Sie  führen  die  Aufsicht 
über  Riesenherden,  in  Männertracht  und  nach  Männerart 
auf  schnellen  Pferden,  den  Revolver  im  Gürtel,  reitend.  „Vor 
zwanzig  Jahren  ging  ihr  Vater,  der  Landwirt  Jakob  Lahm, 
nach  Santa  Rosa,  verheiratete  sich  dort  und  zog  dann  nach 
Mendocino  County,  wo  er  10  000  Acker  LLwald  für  seine 
Herden  erwarb.  Aber  auf  diesem  dichtbewaldeten  Lande  gab 
es.  ausser  gigantischem  Sandelholz,  Fichten  und  Tannen,  auch 
Panther,  Bären,  Prairiewölfe  und  zahlreiche  andere  wilde 
Tiere,  die  erst  ausgerottet  werden  mussten.  Rasch  wurde 
Jakob  Lahm  als  Jäger  und  Trapper  im  ganzen  Lande  be- 
rühmt. Die  „Ranch“  hatte  bald  mit  dem  Viehbestand  einen 
Wert  von  $ 50  000.  Der  Vater  ist  gestorben;  seine  frischen 
tatkräftigen  Töchter  Gusxel  und  Luise  haben  seine  Arbeiten 
übernommen.  Vom  Leben  der  Hauptstadt  wissen  sie  nichts, 
ihre  Bildung  haben  sie  in  dem  weit  entfernten  Schulhause 
erhalten.  Da  sie  ausser  5000  Schafen  auch  noch  Pferde  und 
Rinder  zu  beaufsichtigen  haben,  blieb  ihnen  nur  wenig 


509 


Müsse,  Frauenkleidung  anzulegen.  Sie  zogen  Hosen  an 
und  ritten  über  die  Berge,  um  die  Schafe  vor  Nacht  in  die 
Hürden  zu  bringen.  Jeder  Fussbreit  auf  dem  20  englische 
Meilen  grossen  Areal  ist  den  Mädchen  bekannt.  Sie  schiessen, 
stellen  Fallen,  gebrauchen  den  Lasso,  scheren  die  Schafe, 
spüren  das  Wild,  pflügen,  eggen,  säen  und  ernten,  zeichnen 
die  Tiere,  verkaufen  die  Wolle  und  kochen  für  die  Männer, 
die  sie  während  der  Schafschur  anstellen.  Ihr  Besitz  ist 
stellenweise  gefährlich.  Zwischen  den  Bergketten  sind  Hohl- 
wege, auf  denen  das  Vieh  grast;  da  kommt  es  oft  vor,  dass 
sich  Tiere  versteigen.  Dann  suchen  die  Mädchen  bei  Tag 
und  Nacht,  bei  Wind  und  Regen  und  bringen  den  verirrten 
Vierfüssler  wieder  zurück.  Bei  diesen  Streifzügen  trennen 
sich  die  beiden  Schwestern  und  suchen  systematisch  ver- 

schiedene Gebiete  ab.  Schäferhunde  begleiten  die  jungen 
Herrinnen.  Es  kommt  auch  vor,  dass  Raubtiere  ein  Lamm 

stehlen.  Spüren  sie  einen  Bären,  so  jagen  sie  Tag  und 

Nacht,  bis  sie  ihn  erlegt  haben,  ln  ihrem  Heim  findet  man 
Jagdtrophäen,  die  sie  von  ihrer  ersten  Kindheit  an  er- 
beutet haben;  Felle  vom  schwarzen  Bar,  vom  Panther  und 
Luchs.  Kürzlich  brachte  Gustcl  einen  Panther  von  232 

Pfund.  Das  erlegte  Wild  laden  die  Mädchen  auf  den  Rücken 
ihrer  Pferde.  Am  meisten  fürchten  sie  den  Prairiewolf,  dem 
sie  Fallen  legen.  — Ihre  Kraft  wird  auf  eine  harte  Probe  ge- 
stellt, wenn  gefährliche  Waldbrände  ihr  Gebiet  bedrohen. 
Dann  greifen  sie  zu  verzweifelten  Mitteln,  Tag  und  Nacht 
arbeitend,  bis  die  Gefahr  abgewendet  ist.  Gustel  und 
Luise  sind  prächtige  Erscheinungen  und  erfreuen  sich  über- 
all wegen  ihrer  Rechtschaffenheit  und  ihres  Fleisses  einer 
hohen  Achtung.“ 

Es  dürfte  wohl  nicht  unbekannt  sein,  dass  es  in  Europa 
noch  eine  ganze  Anzahl  Gegenden  gibt,  in  denen  seit  langen 
Zeiten  aus  Zweckmässigkeitsgründen  Frauen  bei  der 
Arbeit  männliche  Kleidung,  vor  allem  also  Hosen  tragen. 
Es  sind  hier  zu  nennen;  die  holländischen  Austeru- 
fische  rinnen  in  Seeland,  deren  Beinkleider  bis  an 
den  Leib  reichende  wasserdichte  Stiefel  decken;  die  bei  der 
Kaviarbereitung  beschäftigten  Russinnen  an  den  Ufern  der 


510 


Wolga;  die  Fischerinnen  an  den  Küsten  des  Atlantischen 
Ozeans,  deren  Kleidung  sich  in  nichts  von  der  ihrer  männ- 
lichen Beruisgenossen  unterscheidet;  die  Sennerinnen  und 
Schnitterinnen  auf  den  Ahnen  in  Tirol,  der  Schweiz  und 
Steiermark;  die  in  den  Minen  arbeitenden  F rauen  des  ß o r i - 
nage  in  Belgien.  Von  allen  diesen  Frauen  tragen  aber  nur 
die  Bäuerinnen  von  Champery  die  Hosentracht  auch  ausser- 
halb ihrer  Arbeit,  alle  übrigen  legen  in  der  Stube,  in  ihrer 
Häuslichkeit,  vor  allem  an  Sonn-  und  Feiertagen  ihre  Röcke 
wieder  an.  Es  unterscheidet  sie  dieser  Umstand  wesentlich 
von  den  vorher  genannten  Frauen,  die  erklärten,  aus  Berufs- 
gründen männliche  Tracht  anlegen  zu  wollen,  die  sich  zum 
Teil  sogar  in  ihren  Eingaben  an  die  französische  Regierung 
auf  einige  der  hier  angegebenen  männlichen  Berufstrachten 
weiblicher  Personen  beriefen.  Alle  diese  Frauen  bedienen  sich  der 
männlichen  Kleider  auch  ausser  ihrer  Beschäftigung 
in  ihrer  Häuslichkeit,  auf  Spaziergängen,  in  Gesellschaften; 
viele  besitzen  überhaupt  garnicht  mehr  die  ihrem  eigentlichen 
Geschlecht  zukommenden  Kleider.  Vor  mehreren  Jahren  be- 
richtete ein  Pariser  Korrespondent:  „Die  bekannte  Unter- 
nehmerin der  Ausgrabungen  in  Susa,  Frau  Dieulafoy 
empfing  den  Präsidenten  und  die  Präsidentin  der  Republik, 
welche  zur  Besichtigung  der  ausgegrabenen  Schätze  in  den  Louvre 
kamen,  in  einem  eleganten  Gehrock,  in  dessen  Knopfloch  das 
Schleifchen  der  Ehrenlegion  glänzte.  Sie  reichte  Frau  Carnot 
den  Arm  und  führte  sie  als  Kavalier  herum.  Bei  einem 
akademischen  Diner,  welches  das  Dieulafoy' sehe  Ehepaar 
gab,  setzte  die  Dame,  die  ihr  Geschlecht  vollkommen  ge- 
wechselt zu  haben  scheint,  sich  zur  Linken  und  zur  Rechten 
je  eine  Dame,  während  ihr  Gatte  ihr  gegenüber  desgleichen 
tat.“  Selbst  Madame  Dieulafoy  hat  bereits  eine  Vorgängerin 
gehabt  in  der  „honourable  Esther  Stanhope,  der  ge- 
schiedenen Gattin  des  englischen  Earle  Ellesinere.  Ihr 
Forschungsgebiet  war  Assyrien.  Dorthin  verlegte  sie 
schliesslich  auch  ihren  Wohnsitz,  nachdem  sie  einen  ara- 
bischen Scheikh  geheiratet  hatte.  Sie  ging  stets  in 
orientalischer  Männertracht. 

Die  angebliche  „Bequemlichkeit  des  Herrenanzuges“ 


511 


gab  auch  in  New-York  Veranlassung  zur  Gründung  eines  Klubs, 
dessen  Mitglieder  sich  durchweg  aus  Berufskünstlerinnen  re- 
krutieren. Es  wird  berichtet:  „In  den  luxuriös  ausgestatteten 
Räumen  des  Klubs,  der  seinen  Sitz  in  einer  der  vornehmsten 
Avenuen  aufgeschlagen  hat,  finden  Männer  unter  keiner  Be- 
dingung Zutritt,  und  die  Mitgliedsdamen  dürfen  nur  in  Männer- 
kleidern erscheinen,  die  allerdings  vom  rein  ästhetischen 
Standpunkte  nach  dem  Geschmacke  der  Trägerin  modifiziert 
werden  können.  So  gefällt  sich  Miss  Jessie  Bartlett-Davies 
im  blauen  Frack  mit  vergoldeten  Knöpfen  und  gleichfarbigen 
Kniehosen,  während  Miss  Edno  Wallace  Hopper,  ein  glänzen- 
der Star  der  Posse,  für  gewöhnlich  einen  Golfanzug  bevor- 
zugt. Miss  Ethel  Barrymore  trägt  lose  sitzende  Beinkleider 
und  eine  lichtfarbene  Bluse;  den  doppelreihig  geknöpften 
Gehrock  haben  die  Mitglieder  der  Komischen  Oper  Miss 
Josephine  Holl  und  Miss  Lilian  Rüssel  angenommen.  Die  dem 
Klub  ungehörigen  Bildhauerinnen  und  Malerinnen  bedienen  sich 
fast  ausschliesslich  des  konventionellen,  m.ännlichen  Künstler- 
kostüms aus  Samt' oder  Plüsch;  die  Malerin  Miss  Edith  Sarah 
Crowndale  trägt  mit  Vorliebe  ein  Kostüm  ä la  Canon  mit 
hohen  Schaftstiefeln  sowohl  im  Klub  als  auch  ausserhalb 
dieses."  (Mb.  06.  p.  43.) 

Klubs  und  Vereinigungen,  in  denen  sich  Personen,  die 
die  andersgeschlechtliche  Tracht  vorziehen,  zusammentun, 
sind  keineswegs  vereinzelt.  Auch  in  St.  Louis  gab  es  eine 
Frauen  Vereinigung,  in  deren  Satzungen  es  heisst:  „Jedes 

Weib,  welches  der  Vereinigung  beitritt,  muss  sich  ver- 
pflichten, Männerkleidung  zu  tragen,  zu  rauchen,  zu  trinken, 
und  wöchentlich  zweimal  des  Abends  im  Klubhause  zu  er- 
scheinen. Weibliche  Handarbeiten  sind  aus  dem  Kreise 
der  Frauen  verbannt,  während  Reiten,  Fechten  und  Turnen  die 
erste  Stelle  in  dem  Vereinsprogramm  einnehmen.  Jedes  Mit- 
glied, welches  in  die  Ehe  tritt,  verlässt  den  Klub.  Mit  einem 
religiösen  Nimbus  sucht  sich  dieser  Verein  dadurch  zu  um- 
geben. dass  er  sich  eine  Patriarchin  als  Oberhaupt  gewählt 
hat,  welche  jeden  Monat  einmal  nach  einem  Religionskodex, 
der  sich  aus  christlichen  und  muhamedanischen  Glaubens- 
sätzen aufbaut,  predigt.“  (Jb.  III.  p.  529.) 


512 


Auch  hier  wieder  begegnen  wir  dem  männlichen  Analogon. 
Die  Gesetzmässigkeit,  mit  der  sich  dieses  in  allen 
beigebrachten  Beispielen  nachweisen  lässt,  spricht  sehr  dafür, 
dass  die  Gründe  zur  Annahme  der  Kleidung  des  anderen  Ge- 
schlechte  doch  wesentlich  tiefer  liegen,  wie  die  Betreffenden 
selbst  meinen.  So  wird  in  den  „Originalzügen  aus  dem  Cha- 
rakter englischer  Sonderlinge“*)  mitgeteilt,  dass  1794  auf 
eine  anonyme  Denunziation  in  London  die  Polizeiwache  des 
Richters  Bond  in  ein  Klublokal  eindrang,  in  welchem  sie  18 
nach  der  neuesten  Frauenmode  gekleidete  Männer  verhaftete, 
die  sich  untereinander  mit  weiblichen  Namen,  wie  Lady  Gol- 
ding.  Miss  Fanny  usw.  anredeten.  Ein  ganz  ähnliches  Vor- 
kommnis spielte  sich  vor  einigen  Jahren  in  Budapest  ab.  „Dort 
hob  der  Chef  des  Detektivkorps  Dr.  Krecsäni  auf  eine  ihm 
zugegangene  Anzeige  eine  Gesellschaft  aus,  die  sich  in 
dem  Hofzimmer  eines  Kaffeehauses  zu  versammeln 
pflegte.  Die  polizeiliche  Beobachtung  eruierte  die  eigentliche 
Natur  der  „geschlossenen  Gesellschaft“.  Die  Männer  nennen 
sich  alle  mit  Mädchennamen.  Der  Kellner  hiess  „Niobe“, 
während  der  Cafetier  den  klangvollen  Namen  „Koronäs 
Aranka"  trug.  Die  Fiebrigen  hiessen;  Trilby,  Ibolyka, 
Melanie.  Biri,  Beatrix,  Premes,  Zsuzsi,  Ida,  Czigäny  Aranka, 
'Margit  usw.  Es  wurden  häufig  Teeabende  veranstaltet.  Wenn 
ein  Fremder  das  Zimmer  l)etretcn  wollte,  so  verstellte  ihm 
der  Cai’etier  mit  den  äVorten  den  Weg:  „Pardon,  drinnen 
hält  eine  geschlossene  Gesellschaft  ihre  Sitzung!“  Die 
jungen  Leute  zogen  Frauenkleider  an, 
schminkien  und  parfümierten  sich,  und  es  wurde  bis  in 
den  späten  Morgen  getanzt.  Einem  Detektiv  ge- 
lang es,  sich  in  die  Gesellschaft  einzu- 
schleichen, wo  er  den  Namen  „Ella“  er- 
hielt. Samstags  Nachts  versammelte  sich  die  Gesellschaft 
wieder  zu  einer  Soiree.  Das  Hofzimmer  wurde  mit  Blumen- 
guirlancen  geschmückt  und  die  jungen  Leute  legten  ihre 
schönsten  Damenkleider  an.  Als  die  Gesellschaft  beisammen 
war,  drangen  die  Detektivs  durch  die  Hoftür  in  den  Baum, 


) Leipzig  li96.  p.  158  ff. 


513 


wo  gerade  ein  Coupletvortrag  der  Niobe  auf  dem  Programm 
stand.  Es  wurden  13  Personen  verhaftet,  die  aber  sämtlich 
freigesprochen  wurden,  da  ihnen  nichts  Strafbares  nachge- 
wiesen werden  konnte”  (nach  Zeitungsberichten). 


Namens-Transvestiten. 

Ueberblicken  wir  die  lange  Reihe  der  von  uns  ange- 
führten Beispiele,  so  sehen  wir,  dass  in  einer  recht  grossen 
Anzahl  der  Fälle,  die  Neigung  in  den  Kleidern  des  anderen 
Geschlechts  zu  leben,  aufs  engste  verknüpft  ist  mit  zwei 
anderen  Wünschen,  denen  nach  einem  der  Tracht  entsprechen- 
den Namen  und  Beruf.  Diese  drei  bilden  eine  zusammen- 
gehörige Trias,  trotzdem  sie  in  Sehnsucht  und  Wahrheit 
keineswegs  in  jedem  Fall  verbunden  sind.  Man 
findet  und  fand  namentlich  früher,  als  ihrer  noch  nicht  so 
viele  waren,  viele  schriftstellernde  Frauen,  die  sich  hinter  einem 
männlichen  Pseudonym  verbargen  — gewiss  auch 
eine  Art  von  Geschlechtsverkleidung,  die  aber  durchaus  nicht 
immer  nur  von  transvestitischen  Frauen  angelegt  wurde, 
ebenso  wie  es  zweifellos  auf  der  anderen  Seite  sehr  männlich 
geartete  Frauen  sogar  mit  mehr  oder  minder  starkem  Verklei- 
dungstrieb gibt,  die  unter  weiblichen  Namen  schreiben.  Das 
grosse  Vorbild  für  die  unter  Märnernamen  literarisch  tätigen 
Frauen  war  neben  Daniel  Stern  (Gräfin  d’Algout),  der 
Freundin  Liszts,  George  Sand,  diese  markante  Persönlich- 
keit, die  dem  Lyriker  Müsset  und  dem  Komponisten  Chopin 
nahe  stand.  Sie  trug,  auch  als  sie  schon  längst 
Mme.  Dudevant  hiess  und  Mutter  zweier  Kinder  war,  fast 
stets  Männerkleidung  und  wurde  selten  als  Frau  erkannt. 
Es  heisst  übrigens,  dass  auch  ihre  Mutter  schon  auf  Wunsch 
ihres  Gatten  Dupin  in  Paris  in  männlicher  Kleidung  ging 
und  zwar  angeblich  aus  — Sparsamkeitsrücksichten.  Der 
Antifeminist  Weininger  übertreibt  in  seinem  steten  Bemühen 
geistreich  sein  zu  wollen  auch  hier  wieder,  wenn  er  verall- 
gemeinernd schreibt:*) 

*)  loc.  cit.  p.  84. 

H i r s c h f 0 1 d , Die  Transvesüton. 


33 


514 


„Es  hat  oinen  tieferen  Grund,  als  man  glaubt,  warum  die 
schriftstell ernden  Frauen  so  oft  einen  Männernamen  annehmen; 
sie  fühlen  sich  eben  beinah  als  Mann,  und  bei  Per- 
sonen, wie  George  Sand  entspricht  dies  völlig  ihrer  Neigung 
zu  männlicher  Kleidung  und  männlicher  Beschäftigung.  Das 
Motiv  zur  Wahl  eines  männlichen  Pseudonjuns  muss  in  dem 
Gefühl  liegen,  dass  nur  ein  solches  der  eignen  Natur  korre- 
spondiert ; es  kann  nicht  in  dem  Wunsche  nach  grösserer  Be- 
achtung und  Anerkennung  von  Seiten  der  Oeffentlichkeit 
wurzeln.  Denn,  was  Frauen  produzieren,  hat  seit  jeher, 
infolge  der  damit  verbundenen  geschlechtlichen  Pikanterie, 
mehr  Aufmerksamkeit  erregt  als,  caeteris  paribus,  die 
Schöpfungen  von  Männern,  und  ist,  wegen  der  von  Anfang 
an  immer  tiefer  gestimmten  Ansprüche,  stets  nachsichtiger 
behandelt,  wenn  es  gut  war,  stets  unvergleichlich  höher  ge- 
priesen worden;  als  was  Männer  gleich  Gutes  geleistet  hatten. 
So  ist  das  besonders  heutzutage,  und  es  gelangen  noch  fort- 
während Frauen  durch  Produkte  zu  grossem  Ansehen,  von 
denen  man  kaum  Notiz  nehmen  würde,  wenn  sie  männlichen 
Ursprungs  wären.“ 

Selbst  hinsichtlich  der  Schriftsteller-Pseudonyme  fehlt  es 
nicht  an  dem  Pendant,  an  Männern  die  unter  weiblichen  Namen 
schrieben;  sie  sind  allerdings  viel  seltener.  Als  Beispiel 
wären  zu  nennen  der  im  Dez.  1905  verstorbene  englische 
Schriftsteller  William  Sharp,  der  unter  dem  Pseudonym 
Fiona  Macleod  gedankenvolle  Schöpfungen  veröffentlicht 
hat.  Erst  nach  seinem  Tode  wurde  seine  Identität  mit  der  be- 
kannten „keltischen  Natursängerin“  bekannt,  bei  Lebzeiten 
hütete  er  sein  Geheimnis  sorgsamst  und  betonte  in  Ge- 
sprächen häufig,  dass  die  Werke  der  in  ihrer  Persönlichkeit 
unbekannten  Fiona  Macleod  sicherlich  nur  von 
einer  Frau  geschrieben  sein  könnten. 

Im  Beginn  des  XIX.  Jahrhimderts  (letzte  Ausgabe 
Paris  1834)  erschienen  in  zehn  Bänden  die  Erinnerungen 
der  Marquise  von  Crequy,  die  eine  Fülle  von 
rührenden,  galanten  und  pikanten  Anekdoten  aus  der 
Zeit  des  alten  Regime  enthielten,  so  dass  sie  besonders 
von  älteren  Leuten  in  wehmütiger  Erinnerung  an  ihre 


515 


Jugend  mit  grösstem  Enthusiasmus  verschlungen  wurden. 
Die  Marquise  von  Crequy,  welche  sich  in  diesen 
Erinnerungen  in  die  Rolle  einer  Schlossherrin  versetzte,  der 
alles,  was  nach  1789  geschah,  tiefste  Antipathie  einflösste, 
M'ar  niemand  anders,  als  ein  Herr  von  C o u r c h a m p s. 
Er  hatte  sich  in  Wirklichkeit  vollkommen  mit  der  Person 
der  Marquise  identifiziert.  Als  ihn  einst  sein  Verleger  be- 
suchte, fand  er  ihn  im  Bett  liegend,  den  Kopf  von  einem 
feinen  Spitzentueh  umhüllt.  „Entschuldigen  Sie  mich“,  sagte 
Herr  von  Courchamps  mit  leidender  Stimme,  „ich  habe  heute 
meine  Vapeurs!“  (=  Periode) — Er  schrieb  seine  Memoiren  in 
einer  Art  Boudoir  mitten  unter  Spiegeln,  Fächern,  Schminkbüch- 
sen, Nippes  und  angefangenen  Stickereien.  Nur  eine  kleine  Probe 
seiner  Schreibweise  sei  angeführt.  Die  Marquise  erzählt  , — 
(es  handelt  sich  in  allen  ihren  Mitteilungen  um  Phantasie- 
gebilde) — wie  sie  vom  Hochzeitsfeste  des  Dauphin,  das 
einen  so  tragischen  Abschluss  fand,  heimkehrte;  wie  durch 
ein  Wunder  gerettet,  war  sie  gezwungen,  allein  nach  Hause 
zu  gehen.  „Es  war  das  erste  Mal,  dass  ich  meine  Hand  auf 
den  Klopfer  meiner  Hintertür  legte,  und  ich  wusste  garnicht, 
wie  ich  das  anfangen  sollte.  Ach,  mein  Gott,  was  sind 
wir  Damen,  wenn  wir  ohne  Lakaien  gehn!“ 

Auch  der  oben  erwähnte  Herzog  Emil  August  von 
Gotha  hat  einen  Roman  veröffentlicht,  der  aus  Briefen 
zweier  Freundinnen  von  hohem  Rang  bestand.  Die  eine  war 
die  geistreiche  Baronin  von  Werthern,  die  andere  der  Herzog 
selbst  unter  dem  Namen  einerGrossherzogin 
Anna  in  der  Rolle  einer  jungen  Witwe. 

Es  scheint  mir  überflüssig,  zu  untersuchen,  was  in  den 
Fällen,  in  denen  der  Trieb  nach  Kleidung,  Name  und 
Beruf  des  anderen  Geschlechts  vergesellschaftet  auftritt,  das 
primäre,  was  das  sekundäre,  was  der  ursprüngliche  Ausgangs- 
punkt, was  Folgeerscheinung  ist.  Denn  alle  diese  Dinge, 
ob  sie  vereinzelt  oder  gemeinsam  erscheinen,  entspringen  — 
soweit  sie  überhaupt  triebhaft  innerlich  bedingt  und  nicht  äusser- 
liche  Zufälligkeiten  sind  — ein  - und  derselben  Quelle 
der  weiblichen  oder  männlichen  Seele;  sie  stehen  also  nicht 
im  Abhängigkeits-  sondern  im  Coordinationsverhältnis  zu- 

33* 


516 


einander.  Gesellt  sich  als  \’iertes  eine  mehr  der  seelischen 
als  der  körperlichen  Eigenart  entsprechende  Richtung  des  Ge- 
schlechtstriebes hinzu,  so  wird  auch  diese,  welche  wie  wir 
sahen,  dann  keineswegs  immer  homosexuell  zu  sein  braucht, 
als  weitere  beizuordnende  Eigenschaft,  her  vor  gegangen  aus 
derselben  Mischung  männlicher  und  weiblicher 
Grundsubstanz  angesehen  werden  müssen. 


Frauen  als  vSoldaten. 

Unter  den  dem  einen  oder  anderen  Geschlecht  zuerteilten 
Berufen  hat  wohl  keiner  seit  jeher  so  sehr  als  ein  männ- 
liches Privilegium  gegolten  als  der  des  Soldaten  und 
Kriegers.  Selbst  in  den  Ländern,  wo  weibliche  Richter, 
Prediger,  Aerzte,  Architekten  etwas  alltägliches  sind,  ist 
der  militärische  Stand  den  Frauen  verschlossen  und  auch 
die  weitgehendsten  Yorkämpferinnen  für  gleiche  Rechte  und 
Pflichten  der  Geschlechter  haben  den  Eintritt  weiblicher  Per- 
sonen in  die  Armee  bisher  nicht  gefordert.  Gleichwohl  finden 
sich  aber  auch  in  diesem  excessiv  männlichen  Beruf,  wenn 
wir  die  Vergangenheit  durchmustern,  Frauen  in  beträchtlicher 
Anzahl  und  eine  völlig  erschöpfende  Behandlung  des 
Themas;  „Die  Frau  als  Soldat“,  von  den  sagenhaften  Zeiten 
der  Amazonen  und  Walküren  bis  in  unsere  Tage,  würde  schon 
einen  stattlichen  Band  für  sich  füllen.  Es  ist  in  hohem 
Masse  erstaunlich,  wie  diese  Frauen  oft,  um  ihrer  Kriegs- 
lust und  Vaterlandsliebe  willen  die  grössten  Widerstände  und 
Hindernisse  überwanden,  vor  allem  auch,  mit  welcher  Ge- 
schicklichkeit sie  sich  in  den  meisten  Fällen  sehr  lange  der  Ent- 
deckung ihres  Geschlechts  zu  entziehen  wussten,  sodass  man 
wohl  annehmen  kann,  dass  eine  ganze  Anzahl  überhaupt  un- 
entdeckt  geblieben  sind. 

Was  allerdings  die  vielgenannten  Amazonen  betrifft, 
so  scheint  mir  ihr  Vorkommen  historisch  nicht  erwiesen, 
trotzdem  viele  der  alten  und  auch  der  neueren  Autoren 
ihre  Existenz  nicht  in  Zweifel  ziehen.  Was  H e r o d o t , 
Diodor,  Plutarch,  Justin,  Quintus  C u r t i u s „ 


517 


Homer  und  S t r a b o , was  verschiedene  arabische  Schrift- 
steller und  später  Abbe  G u y o n in  dem  Werk  „Histoire  des 
Amazones  anciennes  et  modernes,“  (enrichie  de  Medailles, 
Bruxelles  1741),  Yierthaler  in  der  „philosophischen 
Geschichte  der  Menschen  und  Völker“,  Spalart  in  dem 
oben  bereits  erwähnten  Werk  über  sie  berichten,  ist  so 
widerspruchsvoll  und  zum  grossen  Teil  so  phantastisch  und 
abenteuerlich,  dass  die  Angaben  dieser  Gewährsmänner  kaum 
als  zuverlässig  angesehen  werden  können.*)  Dass  sich  die 
Bilder  der  Amazonen  auf  zahlreichen  aptiken  Aschenkrügen 
und  Münzen  finden,  beweist  ihre  körperliche  Wirklichkeit 
ebenso  wenig,  wie  man  solche  aus  den  bildlichen  Dar- 
stellungen einer  Germania  oder  Viktoria  auf  jetzigen  Denk- 
mälern folgern  kann.  Nicht  einmal  über  ihren  Wohnsitz 
stimmen  die  Nachrichten  überein.  Einige  geben  an,  sie 
sollen  an  der  nördlichen  Seite  von  Kleinasien  gewohnt 
haben.  Von  dort  aus  hätten  sie  sich  an  die  gegenüber- 
liegende Seite  des  schwarzen  Meeres  bis  in  die  Gegend  des 
Kaukasus  gezogen.  Die  Sarmaten  sollen  von  ihnen  ab- 
stammen. Sie  sollen  auch  den  Trojanern  zu  Hilfe  gekommen 
sein  und  hätten  Eroberungen  bis  an  den  Don  sowie  in 
Syrien  gemacht.  Auch  Theseus  und  Herkules  sollen  mit  den 

*)  Wiederholt  sind  natürlich  auch  die  Amazonen  in  Heldendichtungen 
besungen  worden,  so  von  Edmund  Spenser  in  „The  Faerie  Queen" 
(Epos  1590):  Der  Ritter  Artegail  gerät  in  die  Gefangenschaft  der  Ama- 
zonenkönigin Rudigunde.  Diese  wird  von  der  Heldenjungfrau  Britomarti.s 
getötet  und  das  Weiberreich  zerstört.  — In„Arcadia“  von  Sir  Philip 
S i d n e y (1581)  verkleidet  sich  Pyrokles  als  Amazone.  Der  König  Ba- 
silius, der  ihn  für  ein  Mädchen  hält,  und  die  Königin,  die  sein  Geschlecht 
erraten  hat,  verlieben  sich  beide  in  ihn.  — In  dem  Heldengedicht  von  Helm- 
hart von  Hohenberg  (1664)  „Der  Habsburgische  Ottobert“,  verliebt  eich 
Euphrasia  in  die  schöne  Amazone  Ruremunde.  Diese  schiebt  ihren  früheren 
Liebhaber  Ariston  heimlich  an  ihre  Stelle.  Bei  dem  Hochzeitsturnier  besiegt 
Ruremunde  alle  Gegner.  — In  der  Heldengeschichte  von  Daniel  Caspar 
von  Lohenstein  „Der  grossmütige  Feldherr  Arminius  nebst  seiner 
durchlauchtigsten  Thusnelda“  (1689),  wird  Zeno  als  Mädchen  erzogen,  weil 
sein  Vater  ihn  verstossen  hat.  Als  er  einen  Mann  heiraten  soll,  ergreift  er 
die  Flucht.  Er  kommt  in  Weiberldeidem  zu  den  Amazonen.  Die  Königin 
Penthesilea  und  ihre  Schwester  sind  in  den  Prinzen  Orogestes  verliebt.  Dieser 
aber  liebt  Zeno,  den  er  für  ein  Mädchen  hält.  — Das  Amazonenmotiv  wird 
auch  in  Kleist  s „Penthesilea“  behandelt. 


518 


Amazonen  Krieg  geführt  haben,  die  bei  dieser  Gelegen- 
heit bis  in  die  Gegend  von  Athen  gelangt  wären.  Grab- 
mäler  und  andere  Denkmäler  von  ihnen  wurden  in  Athen 
noch  in  klassischer  Zeit  gezeigt.  Manche  Autoren  versetzen 
sie  nebst  einer  anderen  Weibernation,  den  Gorgoniden,  nach 
Afrika,  besonders  in  seinen  westlichen  Teil.  Auch  an  den 
Ufern  des  baltischen  Meeres  sollen  nach  Adam  von  Bremen 
noch  um  1050  n.  Chr.  Amazonen  gewohnt  haben,  die  sich 
mit  fremden  Kaufleuten,  die  ihnen  in  die  Hände  fielen,  ge- 
schlechtlich vereinigten.  Ich  will  einige  kurze  Mitteilungen 
alter  und  neuerer  Autoren  geben.  Diodoros  erzählt  von  der 
Königin  der  afrikanischen  Amazonen:  ,,Von  Tag  zu  Tag 

wuchs  ihre  Tapferkeit  so  wie  ihr  Ruhm,  und  so  wie  sie  eines 
der  Nachbarvölker  überwunden  hatte,  überzog  sie  stets 
das  nächst  angrenzende  mit  Krieg.  Da  das  Glück  sie  be- 
günstigte, so  wuchs  ihr  Stolz;  sie  nannte  sich  eine  Tochter 
des  Mars  und  wies  den  Männern  die  Wollarbeit  und  die 
häuslichen  weiblichen  Verrichtungen  an.  Sie  gab  Gesetze, 
durch  welche  sie  die  Weiber  zur  Verrichtung  der  Kriegs- 
arbeiten erhob,  den  Männern  dagegen  Erniedrigung  und 
Knechtschaft  auferlegte.  Den  neugeborenen  Knaben  wurden 
Arme  und  Beine  gelähmt,  um  sie  zu  kriegerischen  Ver- 
richtungen untüchtig  zu  machen;  den  5Iädchen  aber  wurde 
die  rechte  Brust  verbrannt,  damit  sie,  sich  hebend,  in  den 
Schlachten  nicht  hinderlich  wäre.  Hiervon  soll  die  Nation 
selbst  den  Namen  Amazonen  (a — mazon  = ohne  Brust)  er- 
halten haben.“  Mit  dieser  Namenserklärung  verträgt  es  sich 
allerdings  schlecht,  dass  auf  allen  Abbildungen  der  Alten 
die  Amazonen  stets  mit  zwei  gut  erhaltenen  Brüsten  er- 
scheinen. Der  jüdische  Schriftsteller  Ibrahim  ibä  Jabüb  er- 
zählt: .,1m  Westen  von  der  Rüs  liegt  die  Stadt  der  Frauen. 
Sie  besitzen  Aecker  und  Sklaven  und  werden  von  ihren 
Dienern  sch'wanger,  und  wenn  das  Weib  einen  Knaben  ge- 
biert, tötet  sie  ihn.  Sie  betreiben  die  Reitkunst  und  nehmen 
den  Krieg  selbst  in  die  Hand.  Sie  besitzen  Mut  und 
Tapferkeit.“  Spalart  schreibt;  „Die  Amazonen  waren  im 
Altertum  eine  kriegerische  Nation  von  Frauenzimmern, 
welche  in  ihren  Ländern  die  Regierungs-  und  Kriegsge- 


519 


schäfte  besorgten  und  dagegen  die  weiblichen  Verrichtungen 
ihren  Männern  überliessen  oder  auch  wohl  gar  keine 

Männer  unter  sich  duldeten,  sondern  sich  nur  zuweilen 
Männer  aus  den  benachbarten  Staaten  zulegten,  damit  ihre 
Nation  nicht  ausstürbe.  Üebrigens  bemerkt  man  an  allen 
auf  Denkmälern  abgebildeten  Amazonen  eine  ernsthafte  und 
mit  Betrübnis  oder  Schmerz  vermischte  Miene,  scharfe  Augen- 
brauen und  grosseBrüste.  Die  Knaben  schickten  sie  ent- 
weder zu  ihren  auswärtigen  Vätern  zurück  oder  machten 
sie  gleich  von  ihrer  Geburt  an  zu  Krüppeln,  um  sie  zu 
allen  Kriegsübungen  untauglich  zu  machen.  Ihr  Haupt  be- 
deckte ein  Helm,  der  den  römischen  Helmen  sehr  ähnlich 
war,  mit  aufgestecktem  Federbusch.  An  den  Füssen  trugen 
sie  Halbstiefel,  die  bis  an  die  Waden  reichten.  Ausser  einem 
Schild,  Pelta  genannt,  besassen  sie  Streitaxt,  Köcher  und 
Bogen.  Ihre  Lanzen,  welche  man  auf  einigen  thyreischen 
Münzen  abgebildet  findet,  glichen  ganz  jenen  der  Griechen. 
C r e u z e r*)  und  nach  ihm  von  Römer  meinen  dagegen, 
dass  die  Amazonen  als  männlich  geartete  Mondpriesterinnen 
aufzufassen  seien.  Creuzer  sagt;  „Die  Amazone  war  eine 
V i r a g 0 in  einem  kriegerischen  Gestirndienste  — so  wie  der 
Eunuch  (will  sagen  der  verweiblichte  Mann)  in  demselben 
siderischen  Orgiasmus  das  Weibliche«  im  Manne  darstellen 
sollte.“  — 


Lassen  wir  die  Frage  offen,  ob  die  A m a z o n e n wirk- 
lich existierten  oder  wie  die  Walküren  nur  mythologische 
Figuren  waren,  so  beweist  doch  der  feste  Glaube  an  sie, 
dass  man  aus  den  Erfahrungen  des  Lebens  diese  kriege- 
rischen, männlichen  Frauen  für  möglich,  ja  wahrscheinlich 
hielt,  wie  es  wohl  auch  denkbar  ist,  dass  tatsächlich  in 
vorhistorischer  Zeit  irgendwo  und  irgendwann  eine  Vereini- 
gung derartiger  Kriegerinnen  existiert  hat,  von  der  die 

*)  Creuzer,  Friedr. : Symbolik  u.  Mythologie  der  alten  Völker,  beson- 
ders der  Griechen.  111.  Ausgabe,  Leipzig  u.  Darmstadt,  Carl  Wilh.  Leske, 
1836—42.  I.  Abt. 


520 


weit  verbreitete  Tradition  ihren  Ursprung  ge- 
nommen. Diese  Vermutung  gewinnt  an  Wahrscheinlichkeit, 
wenn  wir  berücksichtigen,  was  wir  aus  historischen 
Zeiten  über  Frauen  als  Soldaten  wissen.  Wir  müssen  uns 
darauf  beschränken,  eine  grossere  Reihe  von  Proben  zu 
geben,  die  dazu  dienen,  Art  und  Wesen  dieser  Erscheinung 
zu  veranschaulichen,  und  zwar  wählen  wir  auch  hier  wiederum 
Beispiele  aus  den  verschiedensten  Völkern,  um  zu  zeigen, 
wie  keine  in  das  Gebiet  der  Zwischenstufen  fallende  Form 
an  Ort  und  Zeit  gebunden  erscheint. 

Aus  der  deutschen  Geschichte  seien  zunächst  genannt; 
Eleonore  Prochaska,  geboren  am  11.  j\Iärz  1785 
in  P 0 t s d a m , die  unter  dem  Namen  August  Renz  als 
freiwilliger  Jäger  bei  der  Infanterie  des  Lützow’sclien  Frei- 
korps an  den  Freiheitskriegen  teilnahm  und  am  16.  Sept.  1813 
in  dem  Gefecht  bei  Göhrde  schwer  verwundet  wmrde.  Das 
tapfere  Mädchen  erlag  ihren  Verletzungen  am  5.  Oktober 
1813.  Tn  einer  damaligen  Zeitung  findet  sich  folgende  Notiz; 
„Dannenberg,  den  16.  September  1813.  Vorgestern  bei  dem 
Treffen  von  Göhrde  ist  unter  den  Jägern  des  Lützow’schen 
Freikorps  plötzlich  ein  Mädchen  zum  Vorschein  gekommen, 
die  bis  dahin  unerkannt  alle  Gefahren  und  Mühsal  des  Feld- 
zuges mitgemacht  hatte.  Ihr  Geschlecht  w'äre  auch  dies- 
mal nicht  verraten  worden,  wenn  nicht  eine  traurige  Not- 
wendigkeit sie  selbst  gezw'ungen  hätte,  das  Geheimnis  zu 
offenbaren.  Sie  war  mit  ihren  Kameraden  mutig  in  den 
Wald  gegen  die  feindlichen  Plänkler  vorgedrungen,  und  bei 
dieser  Gelegenheit  durch  einen  Schuss  verwundet  worden, 
ohne  jedoch  darum  sich  dem  Gefechte  zu  entziehen.  Bei  dem 
bald  darauf  erfolgenden  Vorrücken  gegen  die  feindliche  Stellung 
war  sie  unter  den  Vordersten,  die  entschlossen  auf  die  Fran- 
zosen eindrangen,  als  sie  einen  Schuss  in  den  Schenkel  be- 
kam und  dadurch  ausser  Stand  gesetzt  wuirde.  länger  an 
dem  Gefecht  teilzunehmen.  Wegen  dieser  Wunde  befand  sie 
sich  in  grosser  Verlegenheit,  und  entschloss  sich  endlich, 
einem  Offizier  ihr  Geschlecht  zu  entdecken,  um  durch  dessen 
Vermittlung  allem  Aufsehen  zuvorzukommen  und  bei  dem 
Verbände  alle  den  Umständen  angemessene  Schonung  zu  er- 


halten.  Dieses  heldenmütige  ^lädchen  hiess  Prochaska  und 
ist  die  Tochter  eines  Gastwirts  aus  Potsdam,  wo  sie  still 
und  sittsam  gelebt,  bis  der  Ruf  des  bedrohten  Vaterlandes 
sie  mächtig  ergriff  und  zu  der  Verkleidung  brachte.  Sie  hat 
einstimmig  das  Zeugnis  eines  untadeligen  Wandels  bei  allen 
Kameraden,  deren  keiner  ihr  Geheimnis,  das  höchstens  durch 
ihre  feinere  Stimme  bemerkbar  werden  konnte,  erriet.“ 

Nicht  minder  kühn  war  Friederike  Krüger  aus 
Friedland  in  Mecklenburg,  sie  wurde  im  Be- 
freiungskriege Unteroffizier;  in  der  Schlacht  bei  Denne- 
w i t z wurde  sie  als  Mädchen  erkannt.  R ü c k e r t sagt 
von  ihr: 

Dieser  Unteroffizier 

Focht  mit  rechter  Mannsbegier, 

Hat  erfochten  W^unden  viel 
Und  ein  eisern  Kreuz  am  Ziel. 

Einen  höchst  merkwürdigen  Vorfall  berichtete  die  Ber- 
linische Zeitung  von  „Staats-  und  gelehrten  Sachen“  aus  dem 
Jahre  1746:  „Ein  Pfeifer  von  dem  hier  in  Garnison  liegen- 
den Gräflich  Haakschen  Regimente,  der  beide  schlesische 
Feldzüge  mitgemacht,  ward  unerwartet  von  einem  Sohn 
entbunden.  Natürlich  war  der  Pfeifer  ein  Weibsbild,  und 
der  Vater  des  Kindes  war  ein  Tambour  von  selbiger  Kom- 
pagnie, wobei  jener  diente.  Der  Vater  ward  Regiments- 
tambour, und  bei  der  Taufe  seines  Sohnes  befanden  sich  die 
vornehmsten  Personen  des  Hofes  und  andere  angesehene  und 
bemittelte  Leute,  welche  die  Sechswöchnerin  so  reichlich  be- 
schenkten, dass  sie  in  den  Besitz  von  mehreren  Hundert  Talern 
kam.“  Der  geschichtliche  Schriftsteller  König  bestätigt  u.  a. 
„das  wundersame  Faktum“  und  fügt  hinzu,  „dass  der  Pfeifer 
nicht  bloss  von  einem  Sohne,  sondern  auch  vom  Dienst 
entbunden  wurde,  sowie  dass  Trommler  und  Pfeifer  nachher 
eine  gute  Ehe  geführet.“ 

Wie  die  Krüger  im  Freiheitskriege,  so  brachte  es 
1870,71  Musketier  Bertha  Weise  zum  Unteroffizier. 
„Avantageur"  Bertha  Weise,  „klein  und  nicht  schön  von 
Gestalt“,  diente  zurzeit  des  deutsch-französischen  Krieges 


beim  29.  Regiment  in  Koblenz.  Obgleich  sie  sehr  wünschte, 
mit  gegen  den  Feind  auszurücken,  wurde  es  ihr  von  ihrem 
Hauptmann  nicht  gestattet,  da  sie  im  Dienste  eine  wenig 
stramme  Haltung  zeigte.  Mehr  der  Drang  einer  Abenteuerin 
als  die  Begeisterung  kriegerischer  Heldinnen  hatte  Bertha 
Weiss  veranlasst,  Soldat  zu  werden.  Wie  es  möglich  war, 
dass  sie  als  Weib  in  Uniform  gesteckt  und  als  aktiver  Sol- 
dat eingereiht  werden  konnte,  lässt  sich  nur  durch  eine 
weniger  peinliche  Kontrolle  infolge  der  Kriegswirren  und 
Truppenverschiebungen  erklären.  Es  ist  auch  nicht  ausge- 
schlossen, dass  Bertha  Weiss  unter  Mitwissenschaft  eines 
anderen  falsche  oder  gefälschte  Papiere  benutzte.  Als  ge- 
fangene Franzosen  in  Koblenz  festgehalten  w'urden,  avan- 
cierte der  sprachenkundige  Musketier  bald  zum  Unteroffizier, 
bis  ihr  Geschlecht  eines  Tages  entdeckt  wurde.  Sie  kam  in 
Haft,  stattete  nach  ihrer  Entlassung  in  der  ihr  verbotenen 
Uniform  eines  Feldwebels,  als  angeblicher  Inhaber  des  eisernen 
Kreuzes  den  östlichen  Provinzen  Deutschlands  einen  Be- 
.'luch  ab,  vertauschte  aber  in  Schlesien  schliesslich  die 
Uniform  mit  der  Mönchskutte  und  ging  (allerdings  auf 
nicht  lange  Zeit)  als  Laienbruder  in  das  Kloster  der  barm- 
herzigen Brüder  in  Breslau.  Ende  1871  finden  wir  sie  in 
der  Schweiz,  wo  sie  unter  dem  Namen  „Lebeuf“  in  einem 
Verlagshause  in  Einsiedeln  Stellung  nimmt.  Dann  ver- 
schaffte sie  sich  wieder  als  Bruder  Eingang  in  ein  Kloster. 
Eine  Erkrankung  führte  dort  zu  ihrer  Entdeckung.  Sie 
tauchte  dann  noch  in  verschiedenen  Orten  der  Schweiz  als 
Mann  auf,  bis  nach  wiederholter  gerichtlicher  Bestrafung 
Ende  1878  die  Zeitungen  von  ihrem  Tode  Notiz  nahmen. 
Wir  fügen  noch  einige  ihre  Persönlichkeit  gut  charakte- 
risierenden Mitteilungen  aus  einem  Verhandlungsbericlit  vom 
Jahre  1874  bei:  „Im  Oktober  stand  vor  dem  Breslauer  Kri- 
minalgericht die  durch  ihren  romantischen  Lebenswandel  schon 
oft  genannte  und  mit  der  Justiz  in  Berührung  gekommeiu' 
Bertha  W.  Sie  machte  durchweg  den  Eindruck  eines  als 
Frauenzimmer  verkleideten  Mannes.  Kräftige,  männliche 
Statur,  breite  Taille,  ernste,  männliche  Gesichtszüge  und 
schlichtes,  schwarzes  Haar.  Sie  antwortete  auf  die  ihr 


523 


vorgelegten  Fragen  mit  gewählten  AVorten  und  tiefer,  so- 
norer Stimme.  Die  Angeklagte  ist  27  Jahre  alt,  in  Schöne- 
berg bei  Goldap  geboren,  sehr  früh  verwaist  und  die  Pflege- 
tochter eines  Rechtsanwalts,  der  ihr  jedenfalls  eine  gute 
Bildung  geben  liess,  da  sie  sich  ebensogut  französisch  wie 
deutsch  auszudrücken  versteht.  Sie  gab  an,  dass  sie  früher 
durch  xMalerei  und  andere  Arbeiten  ihren  Unterhalt  gefunden 
habe.  Sie  war  früher  bereits  in  den  verschiedensten  männ- 
lichen Verkleidungen  aufgetreten  und  hatte  mit  Hilfe  ge- 
fälschter Legitimationspapiere  ihre  Täuschungen  ausgeführt. 
Als  Soldat  hatte  sie  in  einem  süddeutschen  Regimente  mili- 
tärische Ausbildung  erhalten,  will  während  des  Feldzuges 
als  Fähnrich  unter  dem  Namen  Bernhard  v.  W.  in  ein 
preussisches  Regiment  eingetreten,  jedoch,  weil  sie  mit 
dem  preussischen  Zündnadelgewehr  nicht  umzugehen  verstand, 
aus  dem  Felde  zum  Ersatz  zurückgeschickt  worden  sein. 
Unter  demselben  Namen  verlangte  sie  Anfang  September  im 
Kloster  der  barmherzigen  Brüder  zu  Breslau  Einlass,  indem 
sie  vorgab,  im  Felde  verwundet  worden  und  noch  leidend  zu 
sein.  Sie  wollte  sich  nunmehr  ganz  dem  klösterlichen 

Leben  widmen  und  wurde  vorläufig  als  Novize  angenommen, 
jedoch  mit  der  Bedingung,  dass  sie  ihre  Führungsatteste 
beibringe.  Als  man  diese  Zeugnisse  dringender  verlangte, 
verschwand  Bernhard  v.  W.  eines  Tages,  und  es  fand  sich, 

dass  mit  ihm  aus  dem  Novizenschranke  eine  x\nzahl  Klei- 

dungsstücke im  Gesamtwerte  von  etwa  25  Talern,  sowie  aus 
dem  gewaltsam  eröffneten  Reisekoffer  des  Bruders  Amantius 
ein  Portemonnaie  mit  etwa  3 Talern  verschwunden  war. 

Ueberdies  hatte  sie  eine  silberne  und  eine  goldene  Uhr, 
sowie  einen  Taler  zehn  Silbergroschen  von  drei  verschiedenen 
Pfleglingen  zur  Aufbewahrung  erhalten  und  mitgenommen. 
Sie  hatte  während  ihres  sechswöchentlichen  Aufenthaltes  im 
Kloster  mit  den  Brüdern  Amantius  und  Fortunatus  in  einer 
Zelle  zusammen  gewohnt  und  geschlafen,  ohne  dass  sie  ihr 
Geschlecht  verraten  hätte.  Ueber  die  Brust  pflegte  sie  eine 
breite  Binde  zu  tragen,  indem  sie  vorgab,  dass  sie  damit 
ihre  Verwundung  schützen  müsse.  Tn  schlauer  Weise  hatte 
sie  sich  einer  Untersuchung  entzogen,  indem  sie  in  leichter 


524 


Weise  dem  Anstaltsarzt  versicherte,  dass  sie  kerngesund  und 
bereits  untersucht  sei.  Auch  nach  ihrer  Entfernung  war 
lange  Zeit  nicht  entdeckt  worden,  dass  die  Klosterbrüder 
ein  Frauenzimmer  in  ihrer  Mitte  gehabt  hatten." 

Dass  es  heute  noch  in  Deutschland  Frauen  gibt,  denen 
im  Ernstfälle  kriegerische  Entschlossenheit  zuzutrauen  ist, 
zeigen  die  Worte,  mit  denen  bei  der  letzten  Volkszählung 
(1.  XII.  1905)  in  einer  kleinen  Stadt  Mitteldeutschlands  eine 
Frau  ihre  Zählkarte  ausfüllte;  sie  schrieb  in  der  Rubrik 
„Geschlecht“:  leider  weiblich,  doch  wenn  nach  Aeonen  die 
Atome  meines  Körpers  sich  wieder  zu  einem  denkenden 
Wesen  vereinigt  haben,  hoffe  ich  soviel  Plus  zu  besitzen, 
um  berechtigt  zu  sein,  dann  die  erste  Rubrik  — männlich 
— auszufüllen;  in  der  Kolumne  „Militärische  Ausbildung“ 
schrieb  sie:  „nicht  militärisch  ausgebildet,  doch  nötigenfalls 
schneidig.  Stellt  sich  freiwillig  zum  Landsturm,  sobald  der 
Krieg  der  Heuchelei  und  Dummheit  erklärt  wird.“  Im 
Oktober  05  wurde  in  Thorn  die  Arbeiterin  F ranziska  Kamps 
aus  Stewken,  die  bei  den  dortigen  Artilleristen  seit  langem 
den  Beinamen:  „der  Herr  Major“  führt  in  das  Polizeigewahrsam 
gebracht  und  von  dem  Schöffengericht  wegen  groben  Unfugs  zu 
einer  Woche  Haft  verurteilt,  weil  sie  in  Männerkleidung  eine 
Artilleriemütze  auf  dem  Haupte,  in  der  Nähe  der  Forts  jen- 
seits der  Weser  spazieren  gegangen  war. 

Unter  den  soldatischen  Frauen  Oesterreichs  war  die  mar- 
kanteste Erscheinung  Franziska  Scanagatta.  .,Selbst  Sol- 
dat, heiratete  diese  Dame  nach  absolvierter  Militärdienst- 
zeit einen  Soldaten,  verkehrte  ihr  ganzes  Leben  meistens 
in  Soldatenkreisen  und  hatte  noch  die  Freude,  einen  ihrer 
Enkel  als  Militärzögling  der  Militärakademie  in  Wiener- 
Neustadt  zu  sehen;  jener  Akademie,  aus  der  sie  selbst  her- 
vorgegangen, und  deren  Kommandant  zum  hundertjährigen 
Jubelfest  der  Gründung  dieser  Akademie  es  sich  nicht  nehmen 
liess,  den  „weiblichen  Kameraden“  einzuladen. 

Franziska  Scanagatta  war  am  1.  August  1776  zu 
Mailand  als  die  Tochter  angesehener  und  wohlhabender  Ehe- 
leute geboren  und  erhielt  im  elterlichen  Hause  die  sorg- 
fältigste Erziehung.  Im  Jahre  1794  sollte  ihr  Bruder  Gia- 


525 


como  die  Militärakademie  zu  Wiener-Neustadt  beziehen,  Fran- 
ziska selbst  aber  auch  behufs  weiterer  Ausbildung  in  das 
Kloster  der  Salesianer  innen  nach  Wien  gebracht  werden.  Die 
Gefahren  der  weiten  Reise  (möglicherweise  auch  wohl  der 
Wunsch  des  Mädchens)  bestimmten  ihren  Vater,  seine  Tochter 
die  Reise  nach  Wien  in  der  Verkleidung  eines  Knaben  machen 
zu  lassen.  Unterwegs  gestand  Giacomo  der  Schwester  seine 
Abneigung  gegen  den  ^lilitärstand,  erkrankte  in  Venedig 
und  so  wurde  der  die  Kinder  begleitende  Vater  an  der 
Weiterreise  verhindert.  Franziska,  in  Knabenkleidung,  wurde 
einer  befreundeten,  zufällig  nach  Wien  reisenden  Familie 
Giuliani  anvertraut,  die  sie  dem  damaligen  Oberarzt  der 
Neustädter  Akademie  Dr.  Haller,  wo  der  Zögling  Giacomo 
Kost  und  Quartier  finden  sollte,  bis  zum  Eintreffen  dessen 
Vaters  in  Obhut  zu  übergeben  hatte.  Franziskas  Bestreben 
ging  nun  dahin,  den  Giulianis,  denen  sie  mit  Geschick  ihr 
Geschlecht  zu  verheimlichen  wusste,  plausibel  zu  machen, 
dass  sie  der  für  den  "Militärstand  auserkorene  Giacomo  sei, 
was  ihr  auch  gelang.  In  WTener-Neustadt  wurde  Franziska 
dem  Dr.  Haller  übergeben,  und  dieser,  nicht  ahnend,  dass  er 
mit  einem  Mädchen  zu  tun  habe,  erwirkte  bald  darauf  ihre 
Aufnahme  in  die  Militärakademie,  die  sie  am  16.  Februar 
1794  bezog.  Grosse  Freude  erfüllte  Franziskas  Herz  bei  der 
Aussicht,  die  sich  ihr  jetzt  durch  den  glücklich  gelungenen 
Eintritt  in  die  Akademie  eröffnete.  Sie  musste  jedoch  ihrem 
in  Venedig  weilenden  Vater  von  dem  Vorgefallenen  Mitteiluug 
machen,  und  dieser,  um  seine  Tochter  besorgt,  eilte  nun 
nach  Wiener-Neustadt.  Er  suchte  sie  zu  überreden,  sich 
nicht  länger  unabsehbaren  Gefahren  auszusetzen  und  dem  Be- 
rufe des  Weibes  zuwiderzuhandeln.  Sie  solle  sofort  die 
IMännerkleider  ablegen,  nach  Wien  ins  Kloster  oder  in  die 
Heimat  abreisen,  und  so  den  begangenen  Fehler,  der  seine 
schärfste  Missbilligung  herausfordere,  gutmachen.  Doch  Fran- 
ziska legte  sich  anfs  Bitten,  sie  bat  so  langes  bis  der 
seine  Tochter  zärtlich  liebende  Vater  endlich  nachgab.  Nun 
steuerte  Franzi.ska.  alle  Hindernisse  überwältigend,  dem  vor- 
gesteckten Ziele  rastlos  zu,  oblag  in  der  Anstalt  mit  vielem 
Eifer  und  bestem  Erfolg  dem  Studium,  zeichnete  sich  beson- 


526 


ders  durch  kühnes  Reiten,  Turnen,.  Fechten  und  Schwimmen 
aus,  und  wurde  nach  zweijährigem  Aufenthalte  daselbst  am 
16.  Januar  1796  als  Fähnrich  zum  Warasdiner  St.  Georger 
Grenzregiment  Nr.  4 ausgemustert.  Als  ihr  Bataillon  in 
eine  andere  Garnison  verlegt  wurde,  drohte  Franziska  das 
erste  Mal  Gefahr,  demaskiert  zu  werden.  Einige  Damen  der 
Garnison  — es  w’ar  in  Sandomir  — die  die  Kasinosoireen  be- 
suchten, bei  denen  die  Offiziere  des  Bataillons  erschienen, 
schöpften  bezüglich  Scanagattas  Geschlecht  Verdacht  und 
teilten  dies  ihren  Männern  mit.  Gelegentlich  einer  Soiree 
trat  ein  Herr,  dessen  Gemahlin  die  gefeiertste  Schönheit  der 
Saison  war,  an  Fähnrich  Scanagatta  heran  und  eröffnete  ihm, 
dass  es  sich  die  Damen  nicht  nehmen  lassen,  ihn  für  ein 
verkleidetes  Mädchen  zu  halten.  ,.Wenn  dem  so  ist,"  er- 
widerte Scanagatta  lachend,  „dann  müssen  wir  natürlich  die 
Entscheidung  dieser  strittigen  Frage  den  Damen  — als  von 
ihnen  aufgeworfen  — überlassen,  und  ich  erlaube  mir,  Ihre 
Frau  Gemahlin  zur  Schiedsrichterin  zu  erbitten,  der  ich 
mich  herzlich  gern  zur  Verfügung  stelle.“  Die  auf  solche 
Weise  eingeschüchterten  Damen  hüteten  sich,  diesen  Klatsch 
weiter  zu  spinnen.  Auf  einem  Marsche  erkältete  sich  Scana- 
gatta einmal,  erkrankte  nicht  unbedenklich  und  musste  in 
die  Stabsstation  Lublin  gebracht  werden.  Hier  war  sic 
acht  Wochen  lang  ans  Bett  gefesselt,  von  grossen  körper- 
lichen Schmerzen  gefoltert,  zu  denen  sich  noch  die  Angst 
gesellte,  von  den  behandelnden  Aerzten  erkannt  zu  werden; 
doch  auch  diesmal  verliess  das  Glück  sie  nicht;  sie  genas, 
ohne  entdeckt  worden  zu  sein.  Anfangs  April  1799  finden 
wir  sie,  mit  dem  Grenzregimente  Nr.  12  im  Felde  stehend, 
in  Italien.  Ihr  Bataillon  gehörte  zu  den  Blockadetruppen 
Genuas,  und  sie  machte  den  Angriff  von  Barbagelata  mit, 
während  welchem  sie  mit  ihrer  unterstehenden  Abteilung  als 
erste  in  die  Verschanzungen  eindrang.  Durch  einen  von  den 
Franzosen  energisch  geführten  Gegenstoss  kam  ihr  Bataillon 
dann  derart  ins  Ge<Iränge,  dass  dessen  grösster  Teil  in  Ge- 
fangenschaft geriet.  Nur  einer  Abteilung,  zu  der  gehörte 
auch  Scanagatta,  gelang  es,  der  Katastrophe  zu  entgehen. 
Die  Abteilung  schloss  sich  den  Truppen  des  Generals 


527 


Grafen  Klenau  an,  und  hier  erhielt  Scanagatta  den  Auf- 
trag, mit  einem  Detachement  die  Stellung  von  ßarbagelata 
wieder  zu  besetzen  und  den  Rückzug  der  österreichischen 
Nachhut  zu  decken,  welche  Aufgabe  sie  — wie  der  Regi- 
mentschronist berichtet  — „mit  vieler  Umsicht  und  Ge- 
schicklichkeit zur  vollsten  Zufriedenheit  Klenaus  löste."  Auf 
einer  Durchreise  in  Cremona,  wohin  inzwischen  ihre  Eltern 
übersiedelten,  weilte  sie  einige  Tage  bei  diesen.  Vater  und 
Mutter  wendeten  die  erdenklichsten  Mittel  an,  um  die 

Tochter  zur  Rückkehr  ins  Elternhaus  zu  bewegen.  Vergebene 
Mühe.  Stolz  auf  ihre  Würde  und  erfüllt  von  dem  Gedanken, 
sich  zum  Feldherrn  erheben  zu  können,  erklärte  sie  bei  aller 
Liebe  und  Ehrfurcht  für  ihre  Eltern,  in  den  Reihen  der 
kaiserlichen  Armee  verbleiben  zu  müssen  und  reiste  ab. 

Nach  sechs  Jahren  wurde  es  dem  Vater  aber  doch  zu 
arg,  und  durch  Vermittlung  des  damaligen  Generalkom- 
missärs der  Lombardei,  Grafen  Castelli,  den  er  in  sein  Ver- 
trauen zog,  erwirkte  er  beim  Höchstkommandierenden  der 
österreichischen  Armee  in  Italien,  General  der  Kavallerie 
Freiherrn  von  Melas,  den  Abschied  für  seine  mittlerweile  zum 
Leutnant  avancierte  Tochter.  Am  4.  Juni  ISOO, 
am  Tage,  an  dem  Genua  fiel,  nahm  Leutnant  Scanagatta, 
das  Unvermeidliche  mit  Resignation  über  sich  ergehen  lassend, 
den  Abschied  an.  Korpskommandant  FML.  Freiherr  v. 
Gottesheim  veranstaltete  zu  Ehren  Scanagattas  eine  Ab- 
schiedssoiree, bei  der  sie  das  letztemal  als  Offizier  auf- 
trat. Scanagatta  erhielt  zufolge  Berichtes  an  Kaiser  Franz  I. 
eine  standesmässige  Pension.  Sie  heiratete  dann  im  Jahre 
1804  den  Gardeleutnant  Spini,  welcher  überaus  glücklichen 
Ehe  zwei  Söhne  und  zwei  Töchter  entstammten,  die  die 
Mutter  mit  der  grössten  Sorgfalt  erzog.  Nach  achtund- 
zwanzigjähriger  Ehe  wurde  Franziska  im  Jahre  1832  Witwe, 
und  Kaiser  Franz  fügte  ihrer  Leutnantspension  noch  jene 
einer  Majorswitwe  hinzu,  „damit  Oesterreichs  Amazone  die 
letzten  Tage  ihres  ereignisreichen  Lebens  in  sorgenloser  Ruhe 
beschliessen  könne“.  Bis  in  ihr  spätes  Alter  verkehrte  die 
in  den  besten  Verhältnissen  zu  Mailand  lebende,  immer 
geistesfrische  Greisin  mit  österreichischen  Offizieren,  gedachte 

V 


528 


oft  in  dankbarer  Erinnerung  ihrer  ehemaKgen  Komman- 
danten und  Kameraden,  sprach  oft  ihre  Sympathien  für 
die  Franzosen  des  Ostens  — wie  sie  die  Polen  nannte  — 
aus,  und  Hess  sich  gern  herbei,  interessante  Episoden  aus 
ihrer  „Amazonenzeit“  zu  erzählen,  die  sie  als  die  glück- 
lichste ihres  Lebens  bezeichnete.  Franziska  Scanagatta  starb 
im  Jahre  1865  zu  Mailand  und  wnirde  mit  grossem  Gepränge 
zu  Grabe  getragen.“  (Nach  einem  Bericht  in  der  Zeit,  v. 
20.  Okt.  1907.) 

In  den  Tyr ol er  Freiheitskriegen  von  1809  zeichnete  sich 
Anna  Jäger  so  hervorragend  aus,  dass  ihr  der  Schützenmajor 
Aschbacher  das  Zeugnis  gab  „sie  habe  jederzeit  mit  unglaub- 
licher Tapferkeit  gekämpft.“  „Besonders  wertvoll  erwies  sich 
das  weibliche  Geschlecht  im  Jahre  1809  da,  wo  es  galt, 
den  Feind  durch  List  zu  täuschen.  Mit  Vorliebe  liess  man 
die  Frauen  gefährliche  Spionendienste  verrichten,  das  An- 
zünden von  Signalfeuern  besorgen  oder  die  Gegner  durch 
das  T^nterhalten  scheinbarer  Wachtfeuer  au!  den  Berghöhen 
über  Zahl  und  Stellung  der  eigenen  Streitkräfte  täuschen. 
Und  wie  sie  im  Kampfe  die  Feuerstärke  der  Schützen  ver- 
mehrten, indem  sie  das  umständliche  Laden  der  Stutzen  be- 
sorgten, so  nahmen  sie  ihnen  auch  die  schwierigsten,  er- 
müdenden und  zeitraubenden  Erdarbeiten  ab.  Die  Anlage 
vernichtender  Steinlawinen,  die  in  den  Engpässen  auf  den 
durchmaschierenden  Feind  losgelassen  wurden,  war  ebenso- 
wohl das  Werk  von  Frauen  wie  der  ausgedehnte  Schanzen- 
kranz, mit  dem  Andreas  Hofer  nach  seinem  Rückzug  aus 
Innsbruck  den  Iselberg  befestigen  Hess.“ 

Wie  die  letzgenannten  Frauen,  so  unterschied  sich  auch 
die  Jungfrau  vonOrleans  von  den  meisten  uns  be- 
kannt gewordenen  Kriegsheldinnen  dadurch,  dass  sie  aus  ihrer 
Geschlechtszugehörigkeit  kein  Hehl  machte.  Schiller  lässt  sie 
sagen: 

„Nicht  mein  Geschlecht  beschwöre!  Nenne  mich  nicht  Weib! 

Gleichwie  die  körperlosen  Geister,  die  nicht  frein 

Aul  ird’sche  Weise,  schliess  ich  mich  an  kein 

[Geschlecht 

Der  Menschen  an,  und  dieser  Panzer  deckt  mein  Herz.“ 


529 


Historiöch  scheint  über  die  von  Dichtung  und  Sage 
vielbehandelte  und  vielerwähnte  Persönlichkeit  der  „ J e a n u e 
d’A  r c"  festzusteheii,  dass  sie  um  das  Jahr  1410  an  der 
Grenze  von  Lothringen  und  der  Champagne  auf  dem  Lande 
in  einer  Familie  von  Ackerbauern  geboren  ist.  Von  Kind- 
heit an  begleitete  sie  die  Herden  auf  die  Weide,  lernte  weder 
lesen  noch  schreiben,  um  so  eifriger  aber  die  ihr  von  ihrer 
frommen  iMutter  überlieferten  Glaubenslehren.  Sie  wuchs  in 
den  Erschütterungen  und  Wirren  des  Krieges  auf,  den  , Eng- 
land und  Burgund  gegen  Frankreich  führten  und  will  zu 
ihrer  Beteiligung  an  dem  Kriege  durch  eine  Prophezeiung 
inspiriert  sein,  die  verkündete,  dass  das  durch  eine  scham- 
lose Frau  ins  Unglück  gestürzte  französische  Reich  durch 
eine  einfache  lothringische  Jungfrau  gerettet  werden  würde. 
Gross  und  kräftig  von  Gestalt,  hatte  sie  schon  im  13.  Jahr 
ihre  Jungfrauschaft  Gott  geweiht.  Sie  kleidete  sich  nach 
Männerart  — was  später  vor  dem  kirchlichen  Tribunal 
einen  wichtigen  Anklagepunkt  gegen  sie  bildete  — verschaffte 
sich  schliesslich  Rüstung  und  Pferd  und  zog  gegen  den  Feind. 
Voltaire  lässt  in  „la  Pucelle“  Jeann  d’Arc  einem  schlafenden 
englischen  General  die  Hosen  stehlen,  nachdem  sie  sich  schon 
vorher  eine  Rüstung  aus  der  Kirche  verschafft  hatte.  Sie 
bewies  bei  den  Angriffen  auf  die  feindlichen  Stellungen  so 
viel  Tapferkeit  und  Klugheit,  dass  sich  die  alten  Offiziere 
verwunderten  und  die  Gegner  erschraken.  Aber  schon  am 
24.  Mai  1830  wurde  sie  vor  Compieghe  verwundet  und  ge- 
fangen genommen.  Die  Engländer  klagten  sie  der  Ketzerei 
und  des  Vergehens  gegen  die  Sitten  an;  auch  ihr  Geschlecht 
wurde  angezweifelt.  Hyrtl  hat  darüber  (in  seinem  Hand- 
buch der  topographischen  Anatomie)  ohne  Angaben  der 
Quellen  mitgeteilt,  dass  die  Aerzte  Guill.  Decanda  u.  Guill. 
Dejardini  auf  Befehl  des  englischen  Kardinals  sie  unter- 
sucht und  gefunden  hätten,  dass  sie  ein  Weib  war,  ihre 
Scheide  aber  so  eng  gebaut  sei,  dass  ein  Geschlechtsver- 
kehr niemals  hätte  stattfinden  können.  Johanna  wurde  von 
dem  kirchlichen  Tribunal  wegen  Ketzerei  zum  Tode  verur- 
teilt. 1431  Ijess  sie  dieselbe  katholische  Kirche  auf  dem 
Scheiterhaufen  verbrennen,  die  sie  1909  beatifizierte. 


H i r s c h f e 1 d , Die  Tranavesoten. 


34 


530 


Die  Reiterstandbilder  der  Jungfrau  von  F r e m i e t 
aui  der  Place  de  Rivoli  und  von  Dubois  vor  der  Augustiner- 
kirche in  Paris  stellen  Johanna  in  vollkommen  männ- 
licher Rüstung,  mit  Beinschienen  iisw.,  dar,  auch  in 
männlichem  Reitsitz,  ebenso  wie  Tuaillon  seine 
schöne  nackte  Amazone  im  Berliner  Tiergarten  zu  Pferde 
dargestellt  hat.  Der  Köpf  beider  ist  weiblich. 

Jeanne  d’Arc  w'ar  nicht  die  einzige  Frau,  die  sich 
in  Frankreich  mit  kriegerischem  Ruhm  bedeckt  hat. 
Da  gab  es,  um  nur  von  vielen  einige  zu  nennen,  schon 
lange  vor  ihr  die  Marschallin  (la  marechale)  Renee  de  Ba- 
1 a g n y , die  „gestiefelt  und  gespornt“  im  Jahre  1595  die  Ver- 
teidigung von  Cambrai  leitete  und  Mine,  de  B a 1 m o n t , deren 
Leben  de  Vernon  unter  dem  Titel:  „TAmazone  chretienne“ 
(Paris  1679)  beschrieben  hat;  da  war  Christine  de  M e y r a c 
„l’heroine  mousauetaire“,  die  sich  unter  dem  Namen  Saint- 
Aubin  in  die  Rekrutenlisten  eintragen  liess,  allmählich  bis 
zum  Hauptmann  aufrückte,  bei  der  Belagerung  von  Valen- 
ciennes  (1677)  Adjutant  wurde  und  sich  bei  der  Einnahme 
von  Luxemburg  durch  den  Marschal  Crequy  (1684)  auszeichnete. 
Da  ist  Mlle  de  la  Charce  zu  nennen,  eine  berühmte  Schönheit 
ihrer  Zeit*)  die  von  der  Liebe  enttäuscht  und  von  Rache 
getrieben  in  den  Krieg  zog  gegen  die  Truppen,  w'elche  unter 
dem  Oberkommando  des  Mannes,  der  ihr  die  Treue  gebrochen, 
ihr  Heimatland,  die  Dauphine  überschwemmten.  Da  ist  die 
Dichterin  Louise  L a b b e , die  unter  dem  Namen  eines  Capi- 
tains  Loys  bei  der  Belagerung  von  Perignan  (1542)  eine 
Rolle  spielte  und  die  Wirtshausmagd  Madeleine  C a u 1 i e r , 
die  sich  zurzeit  der  Belagerung  von  Lille  (1708 — 1712)  als 
Dragoner  einstellen  liess  und  der  seltsame  „Chevalier 
R a 1 1 a z a r“,**)  ein  Mädchen,  das  eine  unbezähmbare  Sehn- 

•)  Vgl.  Histoire  de  Mademoiselle  de  la  Charce.  Paris  1731.  Ein 
Porträt  von  ihr  findet  sich  mit  der  Bezeichnung:  „l’H^roine  du  Dauphine“  im 
Museum  von  Versailles;  Napoleon  III.  hat  es  malen  las.sen.  Ein  Monument 
wurde  ihr  18.57  in  Nyons  gesetzt  „pour  avoir  defendu  son  pays  contre  les 
armoes-  autrichiennes“. 

*•■*')  Vgl.  .Histoire  de  la  Dragone,  contenant  les  actions  militaires  et  les 
aventures  de  Genevieve  Premony  sgus  le  nom.du  Chevalier  Baltazar.  Bruxelles 

1721. 


- 531 


sucht  nach  dem  Leben  eines  Mannes  hatte  und  wegen  ihrer 
Verkleidungssucht  und  burschikosen  Manieren  von  Kindheit 
an  viel  zu  leiden  hatte.  Während  der  Belagerung  von 
Namur  entflammte  sie  das  Herz  einer  nichtsahnenden  vor- 
nehmen Dame,  die  durchaus  mit  dem  schönen  jungen 

Mann  tanzen  wollte  und  „es  ihr  nie  verzieh,  dass 
sie  sie  nicht  zum  Besten  haben  wollte.  “ Laitu- 
i 1 1 e r berichtet  in  seinem  Buche  „les  femmes  cele- 
bres  de  1783 — 1795“  von  zwei  elsässischen 
Schwestern,  die  in  der  Armee  des  Generals  Dumou- 
riez  dienten  und  von  diesem  wegen  ihrer  Tapferkeit  zu 
seinen  Adjutanten  ernannt  wurden.  Besonders  in  der 
Schlacht  bei  Jemappes  sollen  sie  sich  hervorgetan  haben. 
Die  Soldaten  folgten  den  Mädchen  mit  feurigster  Begeiste- 
rung; die  ganze  Armee  war  von  Ekstase  erfüllt,  wenn  der 
General  sie  vor  die  Front  führte  und  als  Muster  soldatischer 
Tugenden  pries. 

Bekannt  ist  die  Rolle,  welche  Frauen  in  und  ohne 
Uniform  in  den  Kämpfen  der  französischen  Revolution  und 
der  Kommune  spielten,  beispielsweise  Alexandrine  Bar  re  au, 
die  als  Grenadier  gekleidet,  ihrem  Gatten  und  Bruder  zur 
Armee  der  Westpyrenäen  folgte*),  und  Marie  L o 1 1 i e r e , die 
1793  zum  Tode  verurteilt  wurde,  weil  sie  bei  dei  Ver- 
teidigung von  Lyon  in  den  Reihen  der  Gegenrevolutionäre 
zu  den  Waffen  gegriffen  hatte;  ihre  Hinrichtung  war  eine 
um  so  grössere  Barbarei,  als  sie  schwanger  war.  Bei  der- 
selben Gelegenheit  wurde  auch  die  Schneiderin  Marie  Adrian, 
die  in  Uniform  eine  Kanone  gegen  die  Republikaner  bediente, 
füsiliert.**)  Bis  an  ihr  Lebensende  (1852)  trug  Angelique 
Duchemin  Uniform;  sie  hatte  mit  21  Jahren  das  Gewehr  ge- 
nommen, um  ihren  Mann  zu  rächen,  der  auf  dem  Schlacht- 
feld gefallen  war.  Weniger  durch  ihre  kriegerischen  Leistungen, 
als  durch  ihre  Aehnlichkeit  mit  dem  jungen  General  Bona- 
parte war  eine  in  der  Revolutionsarmee  dienende  junge 

*)  Ein  schönes  Bild  von  ihr  findet  sich  in  „Les  fastes  de  la  Nation 
frani;aise“. 

**)  cfr.  Catalogues  des  Lyonnais  digncs  de  memoire. 


34' 


532 


Italienerin  bekannt:  Alessandria  M a r i.  Auf  einem  Bilde, 
das  sie  als  „Adjutant  en  Chef  de  la  division  du  Valdarno 
et  de  r avant  garde  aretine  (vers  1797)“  im  kühn  geschnittenen 
Profil  zeigt,  ist  diese  Aehnlichkeit  mit  den  berühmten 
Jugendbiidnissen  Napoleons  allerdings  unverkennbar.*) 

Wenn  wir  gelegentlichen  Schilderungen  begegnen,  dass  sich 
die  an  der  Revolution  beteiligten  Frauen  wie  „entmenschte,  blut- 
dürstige Hyänen“  benommen  hätten,  so  steht  der  Beweis  noch 
aus,  ob  dieser  angebliche  Furor  nicht  weit  mehr  der  Natur  des 
Krieges  als  der  Natur  des  Weibes  zuzuschreiben  ist.  Wo 
die  Möglichkeit  bestand,  diesen  Behauptungen  nachzugehen, 
stellte  es  sich  heraus,  dass  die  weiblichen  Soldaten  nicht  „ent- 
menschter" waren,  als  ihre  männlichen  Kameraden.  Das 
gilt  beispielsweise  von  der  berühmtesten  Barrikadenkämpferin 
der  französischen  Kommune,  der  „vierge  rouge“  und  „Petro- 
leuse“  Louise  Michel.  Für  ihre  transvestitischen  Empfin- 
dungen ist  es  bezeichnend,  dass  sie  sich  zur  Zeit  der 
Kommune  zwei  vollständiger  Uniformspiele  bediente,  während 
sie  sich  in  ihrer  weiblichen  Toilette  stets  sehr  vernachlässigte 
und  wenn  sie  zwei  Kleiderröcke  besass,  den  besseren  von 
beiden,  in  Konsequenz  ihrer  Anschauungen  bald  fortzu- 
schenken pflegte.  Allerdings  trug  sie  bei  politischen  Ver- 
sammlungen und  Vorträgen  auch  meist  Männerkleidung.  Karl 
V.  Levetzow  hat  in  der  biographischen  Studie,  die  er  ihr 
nach  ihrem  Tode  in  den  Jahrbüchern  für  sexuelle  Zwischen- 
stufen gewidmet  hat,  ein  anschauliches  Bild  entworfen,  wie 
sie  sich  im  feindlichen  Feuer  benahm.  Er  schreibt:  „Louise 
Michel  auf  der  Barrikade  hat  nichts  mehr  von  einem  Weibe 
an  sich.  Und  sie  ist  nicht  etwa  nur  da,  um  anzufeuern 
und  die  Männer  zum  Mute  anzuspornen;  nein,  sie  kämpft 
und  schiesst  mit,  ganz  wie  ein  andrer,  und  tut  die 
schwierigsten  Patrouillen  und  Ordonnanzdienste.  Hier  fühlt 
sie  sich  in  ihrem  Element.  Sie  liebt  Pulvergeruch  und 
Kanonendonner  und  die  Todesverachtung  fliesst  dergestalt 


•)  Vgl.  das  schöne  Buch:  „Les  femmes  militaires  de  la  France“  von 
Tranchant  u.  Ladimir  sowie  auch  „La  femme  en  culottc"  von  John  Grand 
Carteret.  (Paris  bei  Flammarion.) 


aus  ihrer  innersten  Natur  hervur,  dass  sie  wirklich  und 
aufrichtig  die  Gefahr  vollständig  vergisst.  Die  weiblichen 
„Schrecknerven"  fehlen  ihr  einfach.  Das  Gesamtschauspiel 
fesselt  sie  derart,  dass  sie  an  die  Kleinigkeit,  dass  die 
Bomben,  die  da  durch  die  Luft  fliegen  und  krachend  rund 
um  sie  zerplatzen,  auch  ihr  gelten  könnten,  nicht  mehr 
denkt.  Ganz  suggestiv  wirkt  z.  B.  eine  Szene,  wo  sie  mit 
einem  russischen  Studenten,  der  sich  der  Bewegung  ange- 
schlossen, an  einer  dem  feindlichen  Feuer  ausgesetzten  Stelle 
der  Strassenbarrikade  ruhig  und  seelenvergnügt  den  Nach- 
mittagskaffee schlürft  und  dabei  über  Baudelaire  diskutiert, 
dessen  Gedichte  der  Student  in  der  Tasche  herumträgt;  in 
der  Hitze  der  Diskussion  garnicht  bemerkend,  dass  rechts 
und  links  die  Sprenggeschosse  einfallen.  Die  Kameraden,  die 
sich  längst  in  gedeckte  Positionen  begeben  haben,  können 
das  endlich  garnicht  mehr  mit  ansehn  und  werden  grob  mit 
den  beiden.  Da  ziehen  sie  sich  endlich  auch  zurück,  und 

kaum  haben  sie  es  getan,  fällt  eine  Bombe  mitten  in  die 

stehengebliebenen  Kaffeetassen.“  — 

Ein  sehr  ähnlicher  intellektueller  Kämpfertypus  wie  Louise 
Michel  war  Helena  Petrowna  B 1 a v a t z k y ,*)  die 
sich  freilich  auf  einem  anderen  Geistesgebiet  als  der 

Politik,  nämlich  auf  dem  der  Theosophie,  einen  Namen 

gemacht  hat.  Auch  dieser  „weibliche  Ahasver“  konnte 
der  Versuchung  nicht  widerstehen,  sich  im  Kriegs- 

getümmel die  Sporen  zu  verdienen.  1863  schliesst  sie  sich 
von  revolutionären  Gedanken  erfüllt,  in  Italien  Garibaldis  Frei- 
scharen an  und  kämpft  in  der  Schlacht  von  Mentana,  in 

der  sie  schwer  verwundet  wird.  Noch  nach  Jahren  zeigte 
sie  ihrem  Freunde  Olcott  die  Wundmale  aus  jener  Zeit. 
Die  Blavatzky  war  als  die  Tochter  des  russischen  Generals  Peter 
von  Hahn  und  seiner  Gemahlin  Helena  Fadeef  1831  zu  Jekateri- 
noslaw  geboren.  Bald  nachdem  sie  sich  mit  17  Jahren  mit  dem 
Staatsrat  Blavatzky  verheiratet  hatte,  „der  ihr  Vater  hätte 
sein  können“,  entfloh  sie  diesem  und  gelangte  in  Ma  t rosen - 

*)  Vgl.  das  von  Hans  Freimark  im  VIII.  Jahrb.  f.  sexuelle  Zwischenst. 
von  ihr  entworfene  Lebensbild. 


534 


kleidern  nach  Konstautiuopel.  Es  ist  sehr  bezeichnend,  nicht 
nur  für  ihre  Art,  sondern  'sie  verschieden  sich 
diese  Art  nach  den  geistigen  Interessen  der  Menschen 

äussert,  dass  sie,  als  sie  nach  einem  sehr  bewegten  und 

tätigen  Leben  in  den  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts starb,  keinen  innigeren  Wunsch  hatte,  als  den 
nach  einer  ,,m  ä n n 1 i c h e n E.  e i n k a r n a t i o n“ ; „ihre 
Erwartung,  dass  diese  Hoffnung  sich  verwirklichen  würde, 
war  sehr  zuversichtlich“,  berichtet  ihr  Biograph  Sinett  in  den 
„Incidents  in  the  life  of  ^lad.  Blavatzky“.  Ob  sie  wohl 

wusste,  dass  es  in  China  — wie  der  Missionar  Huc*)  be- 
richtet — eine  Weibersekte  gibt,  die  glauben,  dass  sie  „das 
Glück  haben,  einmal  als  Männer  wiedergeboren  zu  werden 
und  sich  dann  an  ihren  Ehemännern  rächen  dürfen,  die  in 
Gestalt  von  Frauen  auf  die  Erde  zurückkehren.“ 

In  demselben  Jahre  1863,  in  dem  die  Blavatzky  im  Süden 
unter  Garibaldis  Führung  für  die  Freiheit  Italiens  kämpfte, 
finden  wir  eine  der  edelsten  soldatischen  Frauengestalten 

Angela  P ostowoitoff  im  Norden  um  die  Unabhängigkeit 
Polens  ringen.  Ein  Biograph  schreibt  von  ihr;  „Von  bester 
Familie,  stark,  kühn  und  vaterlandsliebend,  von  tiefem,  reli- 
giösem Gefühl  beseelt,  nahm  Angela  Postowoitoff  teil  an 
der  Erhebung  ihres  Vaterlandes;  im  Kriegsrat  wde  auf  dem 
Schlachtfelde,  erst  als  Gemeiner,  dann  als  Offizier,  voll 
glühender  Begeisterung,  eine  neuzeitliche  Jeanne  d’Arc.  Von 
grosser  persönlicher  Schönheit,  die  noch  durch  die  schmucke 
Uniform  gehoben  wurde,  war  sie  eine  der  anziehendsten 
und  romantischsten  Erscheinungen  im  polnischen  Heere.  Ob 
sie  rein  weiblichen  Geschlechts  war,  ist  nicht  klargestellt; 
sie  erscheint  eher  als  ein  geschlechtsloses  Wesen,  das  ganz 
in  dem  Wirken  für  ihr  unglückliches  Vaterland  aufging.  Sie 
wurde  von  ihrem  Waffengefährten,  General  Langiewicz,  dessen 
Adjutant  sie  wurde,  angebetet,  doch  sie  konnte  ihm  nicht 
mehr  als  innige,  dauernde  Freundschaft  geben.  In  den 
Schlachten  bei  Chrobrze  und  Busk  wurde  sie  verschiedent- 
lich verwundet,  während  sie  an  der  Spitze  einer  Schar  von 

•)  In  „ l’empire  chinois.  “ Paris  1854.  II.  246/7. 


535 


jungen  polnischen  Patrioten  kämpfte.  Bald  darauf  musste 
sie  sich  mit  vielen  anderen  Flüchtlingen  ins  Exil  begeben. 
Sie  starb  einige  .Jahre  später  in  der  Schweiz  in  den  Armen 
des  Generals  Langiewicz.“ 

Die  letztgenannten  Frauen  gehörten  Volksstämmen  an, 
in  denen  seit  uralten  Zeiten  — vielleicht  schon  seit  denen 
der  Amazonen,  deren  Heimat  ja  von  vielen  in  das  südliche 
Russland  verlegt  wird  — kriegerische  Frauen  sehr  häufig 
waren.  In  den  altrussischen  Heldensagen  — wie  der  von 
Fürst  Wladimirs  Tafelrunde  — spielt  die  Poloniza,  die 
Heldin,  eine  grosse  Rolle.  Eine  besonders  berühmte  Po- 
loniza war  Nastasia,  „die  immer  zu  Pferde  sass“.  Eines 
Tages,  sprach  sie  — so  berichtet  ein  altes  Volkslied  — 
„Junger  Held  Dobrynja  Xikititsch,  du  gefällst  mir,  ich 
will  dich  heiraten.  Wenn  du  aber  nicht  willst,  dann 

töte  ich  dich;  da  dachte  sich  Held  Dobrynja: 

Wenn  sie  mich  töten  will,  kann  ich  mich  nicht 

wehren,  denn  sie  ist  viel  stärker  als  ich.  Doch  sie  ist  ein 
stattliches,  schönes  Weib,  ich  will  sie  also  heiraten.  Ich 
will  Dich  heiraten,  starke  Heldin  Nastasia  Mikulischna, 

sagte  Dobrynja.  Sie  küssten  sich,  ritten  zusammen  nach 
Kiew  und  hielten  dort  Hochzeit.“ 

Als  die  Griechen  im  Jahre  626  Konstantinopel  eroberten, 
fanden  sich  unter  den  getöteten  slavischen  Kriegern  viele 
w'  e i b 1 i c h e Leichname.  In  dem  russischen  Departement  Wlatka 

in  der  Stadt  Jelabuga  ward  jüngst  ein  Denkmal  enthüllt, 
das  dem  Andenken  der  heldenhaften  Nadjeschda  Andrej ewna 
D u r 0 w a errichtet  wurde;  sie  war  1866  gestorben,  nach- 
dem sie  mit  grosser  Auszeichnung  in  den  Feldzügen  gegen 
Napoleon  I.,  besonders  1812.  unter  dem  Namen  Alexandroff, 
gedient  hatte.  In  einem  Litthauischen  Regiment  zum  Haupt- 
mannsrang  emporgestiegen,  wurde  sie  von  ihrem  Vorge- 
setzten verschiedentlich  wegen  ihrer  kühnen  und  umsich- 
tigen Führung  ausgezeichnet  und  mit  vielen  Orden  dekoriert. 
Als  man  ihrer  Dienste  nicht  mehr  bedurfte,  wandte  sie 
sich  literarischer  Tätigkeit  zu;  ihre  Skizzen,  historischen 
Studien,  Beobachtungen  und  persönlichen  Erinnerungen  an 


ihre  Dienstzeit  wurden  weithin  populär.  Sie  erreichte  ein 
Alter  von  83  Jahren.  Die  Enthüllung  des  Denkmals  für  den 
.,H  a n p t m a n n D u r o w a”  fand  unter  Entfaltung  grossen 
militärischen  Prunkes  statt,  wobei  das  russische  Heer  durch 
zahlreiche  hohe  Offiziere  vertreten  war. 

Von  Beispielen  aus  den  letzten  russischen  Kriegen  seien 
folgende  erwähnt:  „Aus  Odessa  wurde  mitgeteilt,  dass  dort  die 
Haidukin  Zorka  Iliewa,  welche  im  letzten  macedo- 
nischen  Aufstande  eine  Insurgentenbande  kommandierte,  ein- 
getroffen ist  und  in  einer  Audienz  beim  dortigen  General- 
gouverneur General  Kaulbars  um  die  Erlaubnis  gebeten  hat, 
als  Freiwillige  in  die  russische  Armee  einzutreten.  Die 
Haidukin  ist  ein  stark  gebautes  muskulöses  Frauenzimmer 
von  23  Jahren  und  trägt  Männerkleidung.“ 

„Xenia  Kristaya  hatte  von  glühender  Vaterlandsliebe 
beseelt,  ihr  kleines  heimatliches  Dorf  in  Männerkleidung  ver- 
lassen, um  im  fernen  Osten  gegen  die  Japaner  zu  kämpfen. 
Xach  vielerlei  Beschwerden  und  Mühsalen  gelang  es  ihr,  der 
regulären  Reiterei  zugeteilt  zu  werden.  Niemand  ahnte  ihr 
Geschlecht  und  2]4  Monate  lang  verrichtete  sie  im  Dienste 
wähle  Heldentaten.  So  trug  sie  in  einem  hitzigen  Gefecht 
einige  Verwundete  aus  der  Fenerlinie,  verband  sie  und  ver- 
teidigte sie  auch  noch  gegen  die  angreifenden  Japaner,  bis 
sie  selbst  ernsthaft  verwundet  wurde.  Der  Kommandierende 
der  1.  Armee  verlieh  ihr  in  Anerkennung  ihrer  Tapferkeit 
die  militärische  Verdienstmedaille  4.  Klasse.  Als  dann  ihr 
wahres  Geschlecht  bekannt  wurde  und  ihre  romantische  Ge- 
schichte zu  Ohren  des  Zaren  kam,  sah  sich  dieser  veran- 
lasst, dem  Heldenmädchen  in  Anerkennung  ihres  ausser- 
ordentlich patriotischen  und  mutigen  Benehmens  die  Er- 
laubnis zum  ferneren  Tragen  der  Medaille  auf  dem  Gnaden- 
wege zu  erteilen,  denn  nach  dem  Gesetz  dürfen  in  Russland 
militärische  Ehrenzeichen  an  Frauen  nicht  vergeben  werden." 
(Mb.  07.  p.  153.) 

Reuters  Spezialkorrespoudent  meldet  unter  dem  23.  Febr.04 
aus  Tokio:  „Ein  japanischer  Gensdarm  entdeckte  unter  den 
nach  Nishima  transportierten  russischen  Gefangenen  eine 


537 


Frau  von  etvv'ä  20  Jahren,  die  als  Mann  gekleidet  war  Sie 
wurde  in  einem  besonderen  Quartier  untergebracht.“ 

Weit  und  breit  bekannt  auf  dem  Kriegsschauplatz  der 
Mandschurei  war  der  schmucke  rotbackige  Kosak  Jelena 
Michaiiowna  Smolka.  „Während  der  letzten  chinesischen 
Wirren  beschloss  die  damals  siebzehnjährige  Jelena,  Tochter 
eines  jüdischen  ausgedienten  Soldaten  in  Wladiwostok,  in  der 
Grenzwache  Dienste  zu  nehmen.  Da  sie  seit  ihrer  frühesten 
Kindheit  mit  Chinesen  und  Koreanern  in  Berührung  ge- 
kommen war,  beherrschte  sie  vollkommen  die  koreanische 
und  chinesische  Sprache.  Das  unternehmende  junge  Mädchen 
vertauschte  ihren  Namen  gegen  den  männlichen  Namen 
Michail,  besorgte  sich  eine  Männerkleidung  und  bestand  in 
Wladiwostok  das  Examen  eines  Militärdolmetschers.  Ende 
1900  diente  die  Smolka  als  Dolmetscher  und  Mitglied  der 
Grenzwache  auf  der  Station  Ninguta,  wobei  sie  zu  Pferde 
alle  Streif  Züge  und  Scharmützel  der  Grenzwache  mitmachte. 
Im  Jahre  1901  wuirde  die  Smolka  mit  einer  Ssotnja  der  Feld- 
wmche  zur  Vornahme  einer  Rekognoszierung  nach  Kaiga  ab- 
kommandiert. Nach  einem  beschwerlichen  Tagesmarsch  schlug 
die  Ssotnja  ihr  Nachtlager  in  einer  Fansa  auf.  Als  sich  die 
Soldaten  zur  Ruhe  gelegt  hatten,  w'urde  plötzlich  die  Fansa 
unter  dem  Schutz  der  Dunkelheit  von  Chunchusen  ange- 
griffen. Die  Smolka,  welche  in  dieser  Nacht  die  Wache 
hatte,  bemerkte  jedoch  rechtzeitig  die  drohende  Gefahr, 
setzte  ihre  Kompagnie  davon  in  Kenntnis  und  als  die  Chun- 
chusen nahten,  worden  sie  von  einem  mörderischen  Feuer 
empfangen  und  zur  Flucht  gezwongen.  Bei  diesem  Schar- 
mützel erhielt  Jelena  Smolka  ihre  erste  Verwundung  an  der 
linken  Schulter.  Für  diese  und  andere  hervorragende  Taten 
erhielt  die  Smolka  eine  Geldbelohnung,  einen  Säbel  mit  einem 
silbernen  Griff  und  der  Inschrift  „Für  Tapferkeit“  und  eine 
silberne  Medaille.  Als  Japan  im  Januar  die  Feindseligkeiten 
gegen  Russland  eröffnete,  richtete  Jelena  an  den  Komman- 
dierenden der  Armee  das  Gesuch,  sie  in  die  Reihen  der 
Freiwilligen  aufzunehmen.  Ohne  die  Antwort  abzuwarten, 
eilte  sie  nach  Charbih  und  trug  ihre  Bitte  dem  General 
Wolkow  vor,  der  sie  jedoch  abschlägig  beschied.  Die  Smolka 


538 


schaffte  sich  nun  wieder  Männerkleider  an,  steckte  ihre 
Tapferkeitsmedaille  an  die  Brust  und  suchte  nach  einer  Ge- 
legenheit, sich  der  aktiven  Armee  auf  eigenes  Risiko  anzu- 
schliessen.  Um  diese  Zeit  wurden  bereits  in  Charbin  keine 
Eisenbahnbillette  nach  dem  Süden  an  Privatpersonen  ver- 
kauft. Doch  die  findige  Smolka  wusste  sich  zu  helfen;  sie 
versteckte  sich  in  einem  Güterwagen  und  gelangte  glücklich 
auf  diese  Weise  als  „blinder“  Passagier  nach  Liaujang,  wo 
sich  damals  das  Hauptquartier  befand.  Dort  begegnete 
Jelena  zahlreichen  ehemaligen  Kameraden  von  der  Grenz- 
wache und  durch  die  Verwendung  des  Jessauls  Wischnjakow 
vom  2.  Nertschinsker  Kosakenregiment  gelang  es  ihr,  die 
Aufnahme  in  die  aktive  Armee  durchzusetzen.  Bald  darauf 
erhielt  ihre  Ssotnja  den  Befehl,  eine  Rekognoszierung  der 
Umgebung  der  Stadt  Huanschensien  vorzunehmen.  Wie  schon 
früher  einmal  bei  einer  ähnlichen  Gelegenheit  konnte  die 
Smolka  dank  ihrer  Sprachkenntnisse  ihrer  Ssotnja  einen 
grossen  Dienst  erweisen,  indem  sie  auf  das  Nahen  eines 
grösseren  feindlichen  Detachements  aufmerksam  machte,  so 
dass  sich  die  Ssotnja  ohne  Verluste  rechtzeitig  zurückziehen 
konnte.  In  der  Folge  wurde  Jelena  von  General  Rennen- 
kampff  unter  dem  Namen  Michail  Smolka  als  Freiwilliger 
und  Dolmetscher  dem  2.  Nertschinsker  Kosakenregiment  zu- 
kommandiert. Mit  diesem  Regiment  hatte  die  Smolka  zahl- 
reiche Rekognoszierungen  mitgemacht,  wobei  sie  einmal  leicht 
am  Fuss  von  einer  feindlichen  Kugel  verwundet  wurde. 
Während  ihres  Soldatenlebens  hatte  die  Smolka  alle 

Strapazen  und  Entbehrungen  ihres  Regimentes  mitgemacht 
und  ohne  Murren  ertragen:  sie  schlief  unausgekleidet  in  der 
gemeinschaftlichen  Fansa,  war  gleichzeitig  mit  den  Kameraden 
im  Sattel,  sang,  scherzte  und  speiste  mit  ihnen  und  ver- 
langte bloss  das  eine,  sie  als  Mann  zu  behandeln.  Doch 
Jelena  war  ein  Weib,  und  dazu  ein  junges  und  hübsches, 
und  so  konnte  es  trotz  aller  Reserve  ihrerseits  nicht  aus- 
bleiben,  dass  sich  in  dem  „weiberlosen  schrecklichen 
Kriege“  nicht  nur  zahlreiche  ihrer  Kameraden,  sondern  auch 
mehrere  Vorgesetzte  Offiziere  in  sie  verliebten.  Im  übrigen 
legten  die  Offiziere  und  Soldaten  in  ihrem  Benehmen  Jelena 


gegenüber  die  grösste  Zurückhaltung  an  den  Tag,  und  sie 
hatte  sich  nie  über  eine  ihrem  Geschlecht  nicht  angemessene 
Behandlung  zu  beklagen.  “ 

Wie  in  Russland,  so  ist  auch  in  Amerika  die  Reihe 
weiblicher  Soldaten  eine  recht  ansehnliche.  Ob  wohl  dort  die 
Tradition  der  Amazonen,  hier  die  indianischer  Heldenfrauen 
unbewusst  fortwirkt?  oder  sollten  — sich  hier  wie  dort  und  über- 
all Geschlechtstypen  finden,  die  seelisch  zwischen  den  Ge- 
schlechtern stehen?  Als  vor  kurzem  gemeldet  wurde,  dass  in 
dem  Kampfe  der  Filipinos  gegen  die  Amerikaner  eine  kühne 
Tochter  der  Insel  Luzon  an  der  Spitze  einer  bewaffneten 
Schar  ins  Feld  gezogen  sei  und  den  Amerikanern  mehrere 
Gefechte  geliefert  habe,  wurde  in  Amerika  die  Erinnerung 
wachgerufen  an  Heldinnen,  deren  Namen  und  Taten  sich  in 
den  Annalen  der  Geschichte  der  Vereinigten  Staaten  finden; 

„Eine  Frau,  die  ihr  Geschlecht  Jahre  hindurch  verheim- 
lichte und  in  der  Unionsarmee  viele  Kämpfe  und  Feldzüge 
mitmachte,  war  als  Frank  Thompson  vom  zweiten 
Michigan-Infanterieregiment  bekannt.  Durch  den  dichtesten 
Kugelregen  brachte  sie  als  Ordonnanz  Botschaften  für 
General  Poe  nach  Fredericksburg.  Sie  heiratete  später  einen 
Mr.  Seelye  und  war  für  das  Wohl  kranker  und  verwundeter 
Soldaten  eifrig  tätig.  Eine  romantische  Gestalt  in  den 
Bürgerkriegen  ist  ein  kubanisches  Mädchen  Loreta  Ve- 
1 a s q u e z gewesen,  die  ihr  Heimatland  verliess  und  sich 
den  Streitkräften  der  Südstaaten  anschloss.  Als  Leutnant 
Harry  Buford  kämpfte  sie  mit  Mut  und  Kühnheit.  Es 
entspann  sich  dann  zwischen  dem  weiblichen  Leutnant  und 
einem  Offizier  der  Nordstaaten  ein  Liebesabenteuer,  bei  dem 
sie  den  Geliebten  zum  Uebertritt  zu  den  Südstaaten  über- 
redete und  dann  heiratete.  Ein  Mädchen  aus  Brooklyn, 
dessen  wirklicher  Name  niemals  bekannt  geworden  ist,  ver- 
kleidete sich  als  Knabe  und  trat  in  das  Trommlerkorps  eines 
amerikanischen  Infanterieregiments  ein.  Schliesslich  Wurde 
sie  bei  Chickamanga  diuch  eine  Kanonenkugel  zerrissen.  Grosse 
militärische  Tüchtigkeit  erwies  auch  Charlotte  C u 's  h m a n , 
eine  Schauspielerin,  die  in  dem  Bürgerkriege  Spionendienste 
leistete  und  nach  gefahrvoller  Gefangenschaft  vom  General 


Garfield  zum  a ,i  o r ernannt  wurde.  Es  ist  tlieselbt'.  derer 
wir  oben  beieits  unter  den  Darstellerinnen  mäimlicher 
Rollen  auf  der  Bühne  rühmend  gedaehten.  Keine  Frau  aber 
hat  sich  in  den  amerikanische)!  Bürgerkriegen  in  so  viel 
facher  Art  betätigt,  als  3 r i d g e t i;  i v e r s , gewuhn’i, 
„die  irische  Bidd“  genannt.  Ai<  .laikotendtri,!;.  Kranken 
pflegerin.  Hospitalköchin,  später  als  Soldat  und  als  Aizt, 
tat  sie  ausgezeichnete  Dienste.  Sie  war  eirm  vorzügliche 
Reiterin  und  im  Kami'A  wurden  drei  Pferde  unter  ih^  gp- 
tötet.  Eine  andere  Heidin  war  1 r a ■ T n r c h i n 
Gattin  des  Generals  Turchin.  Tm  Jahre  1882,  als  ihr  uatr 
schwer  krank  darniederlag.  leitete  sie  ie  Bew’egungen  der' 
Truppen,  und  gab  die  nöTigeu  Befehle,  während  sie  zti- 
gleich  ihren  Mann  pflegte.“ 

Den  letzten  Krieg  der  Amerikaner  gegen  Spanien  machte 
in  einem  Chikagoer  Reiterregiment  Nicolai  de  R a > 1 a n mit, 
dessen  Geschlecht  sich,  als  er  im  Dezember  1906  an  Tuber- 
kulose starb,  zum  Erstaunen  nicht  am  werdgsten  seiner  Ehe- 
irau  ais  w e i b 1 i c h erwies.  Er  war  die  letzten  13  Jahre  seinef. 
Lebens  als  Sekretär  am  russischen  Konsulat  in  CMkagc 
gestellt  und  hatte  mindestens  18  Jahre  al?  Mann  gelebt, 
benahm  sich  wie  ein  vollendeter  Kavalier  und  da  er  ".  id-m 
sehr  hübsch  w'ar,  hatte  er  vuel  Glück  bei  Frauen.  E;  war 
nicht  weniger  als  dreimal  verheil  atet,  hatte  aber  voihtr 
ausbedungen,  ..dass  mit  Rücksicht  auf  sein  I'uugenleiden  d_ie 
Ehekontrahenten  nach  der  Hochzeit  nur  dem.  Namen  nach 
wie  Mann  und  Frau  zusaiTimenleb''n  soilt"u  ‘ Das  war  v-mhl. 
der  Grund,  dass  zwei  Frauen  -ich  bald  wieder  von  ihm 
scheiden  Hessen,  während  die  dritte,  die  ihn  uberleblc  rmd 
vergöttert  hatte,  erst  nach  seinem  ^ erscheidon  erfuhr, 
dass  er  wie  sie  selbst  eine  Frau  war.  Nicolo.i  de  Itaylan 

hinterlicss  ein  nicht  unbeträebtliches  ä ermögeii,  das  er 
seiner  IVitwe  bestimmt  hatte.  Da  aber  noch  die  Muvter  des 
oder  richtiger  der  Verstorbenen  in  der  russischen  Stadt  Kiew 
lobte,  wurde  entschieden,  da.^-s  nur  diese  als  Erbe  des  äer- 
mögens  der  Toenter  gelten  Könne  und  die  bedauernswerte 

Gattin  hatte  für  ihre  Treue,  ihre  Unschuld  und  die  Sorg- 
samkeit, mit  der  sic  Nicolai  gepflegt  hatte,  das  Nach- 


541 


-iehen.  Noch  vor  kurzcni.  (März  07)  wurde  auf  dem  amen 
karüsi‘,hen  Kriegsschiff  Vermont  ein  M a h r o s e als  verkleidete 
Frau  entlarvt.  Sie  war  als  der  Matrose  John  Wilkinson 
eingetragen,  um)  da  sie  als  eiu  ordentlicher,  sauberer  Bi-rsche 
galt,  warne  sie  zum  Dienste  bei  der  Offiziersmesse  abkom- 
inandie; ' . Kiniaal  wai  die  „Verment“  in  den  fiafen  von 
Bcstoi)  Ci.ugelaufen.  John  Vdilkinson,  der  sonst  unerl  annt 
mit  bsiuen  Kameraden  gehaust  hatte,  nahm  ein  Bad,  und 
hierbei  wurde  cntdeHit,  o.iss  die  schmucke-  Offiziersordonnanz 
0!'i  Madch.^ii  war.  Ijov  lalschc  John.  Wilkiobon,  dei  keinen 
(}’-and  für  seinen  me.rkvrürdigen  Schriet  auzugeben  wusste, 
wuide  vorläufig  den  Üafenbehörclei'  .lucrgeben. 

Unter  den  Wonian-solcdeis  der  englischen  Armee  \erd'ieut 
an  erster  Steile  Christi  na  Davis  genannt  zu  werden,  die  im 
•lahre  1739  starb,  nachdem  sie  viele  Jahre  im  2.  Dragouer- 
regimeni,  das  später  wegen  seiner  Grauschimmel  den  Namen 
dci  „Schottischen  Grauer“  erhielt,  gedient  hatte.  Sie  wmr 
1G6~  gebo‘‘en  und  hatte  in  sehr  imigem  Alter  einen  Mann, 
nam.ens  Welsch  gehUi  ai:ec.  Emeb  Tages  wurde  irr  Gatte 
zvrangs'veise  zani  Heere  eingezegen  und  nach  'Hollami  ge 
sandt.  Chüstina  veiklc.-dete  sich  daraufhin  selbst  als  Manu 
und  lifess  sich  bei  einem  Infantcric-Regirar-iit  einscliieiben, 
um  ihrem  Manne  nachzafelgea.  Nach  vielen  Abeuceuera. 
unter  die  amT;  ihre  Teilnahme  au  der  Schlacht  \oii  Landen 
fiel,  wurde  sie  verwundet,  gefangen  ganomrurv;  und  dann 
wieder  ausgevechselt.  Sie  geriet  weiterhiii  ln  einen  Liebes- 
]'.aridei  und  h.ati.j  deev/egeu  ein  Duel'  auozutechteii  l.ioes 
sich  später  bei  der  Kavallerie  anweihen  und  machte  die  Be- 
lagen.iiig  vor  Namur  mit.  Nach  dem  Frieden  von  Bijswick 
kehrte  sie  nach  Irland  zurück,  ohne  iliren  Gatten  ge 
funden  zu  haben.  Sie  hatie  sich  aber  au  das  Soldjicidebeu 
(ie.  .rt  „gewöhnt“  dass  sie  hei  de-  uaehstcu  Kriegßerklärung 
wieder  in  das  Heer  einiraf.  Nach  de-'  Schlacht  von  Bleu- 
ucim  fand  sii , als  Wache  bei  den  Gefangener-  befohlen, 
endlich  ihren  Gatten  w.ic.'cr.  de’-  sie.  rei-,  l uige-j.  für  tot 
gehalten  hatm.  Sie  beschlösse)!  nun,  s-ich  als  Brüdei  aus- 
zügeberi  lo.j  weiter  hüm  Heere  zu  bieilieu  Bei  Ramilliee 
'.  'iirdc  ri,  ,Jn*  (-J-  vo.fWMindet  nnc,  dabei  wurde  ibi  Ge- 


542 


schlecht  entdeckt.  Ihr  Gatte  fiel  bei  Malplaquet,  aber  sie 
heiratete  später  noch  zweimal.  Nach  ihrem  Tode  wurde  sie 
mit  militärischen  Ehren  begraben.  (Jhb.  V.  1212.) 

Im  britischen  Museum  zu  London  befindet  sich  ein 
Bildnis  von  H a n n a h S n e 1 1,  welche  ebenfalls  ihrem  Geliebten 
Billy  Tailor  in  Männerkleidung  gefolgt  war.  Er  war  für 
die  Marine  angeworben  und  sie  kämpfte  an  seiner  Seite; 
ihr  Geschlecht  blieb  unentdeckt,  bis  sie  eine  Kugel  in 
die  Brust  traf,  bei  deren  Entfernung  ihr  Geheimnis  ent- 
hüllt wurde. 

Dass  Frauen  wiederholt  sich  durch  Tapferkeit  in  Kriegen 
hervorgetan  haben,  ist  bekannt.  Weniger  bekannt  dürfte 
sein,  dass  verkleidete  Frauen  auch  als  Militärärzte 
fungiert  haben.  So  war  zum  Beispiel  der  Militärarzt  M a c - 
1 0 d , der  in  den  zwanziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhun- 
derts in  der  indischen  Armee  diente,  ein  sehr  geschickter  und 
erfahrener  Praktiker.  Seine  Kollegen  spotteten  zuweilen  über 
seine  grosse  Mässigkeit.  wofür  er  gewöhnlich  nur  ein  Achsel- 
zucken hatte;  als  aber  einmal  ein  junger  Leutnant  die 
spöttische  Bemerkung  fallen  Hess,  Maclod  führe  die 
Lebensweise  einer  alten  Jungfer,  riss  ihm  die  Ge- 
duld; er,  versetzte  dem  Beleidiger  eine  derbe  Ohrfeige  und 
die  Folge  war  ein  Duell,  in  dem  der  Leutnant  fiel.  Maclod 
erhielt  infolgedessen  den  Abschied;  er  kehrte  nach  England 
zurück  und  liess  sich  in  der  Nähe  Londons  nieder.  Erst 
nach  seinem  Tode  stellte  es  sich  heraus, 
dass  der  tüchtige  Chirurg  eine  Frau  ge- 
wesen war,  die  aus  einer  der  ältesten  Familien  Englands 
stammte. 

Eine  der  merkwürdigsten  Erscheinungen  im  englischen 
Heere  war  Dr.  James  Barry,  „die“  als  General-Inspektor  der 
englischen  Militär-Lazarette  im  Jahre  1865,  75  Jahre  alt, 
starb.  „Fräulein  Anne  Barry  war  eine  Verwandte  Lord  Fitzoy 
Sommersets,  und  dessen  Einflüsse  hatte  sie  es  zu  verdanken, 
dass  sie  nicht  wegen  ihrer  wiederholten  Verstösse  gegen  die 
Disziplin  aus  der  Armee  entlassen  wurde.  Um  die  \ or- 
schriiien  kümmerte  sie  sich  wenig,  und  ihre  scharfe  Zunge 
brachte  sie  häufig  in  Konflikt  mit  den  Behörden  und  ein- 


543 


zelnen  Offizieren.  Einmal  geriet  sie  mit  einem  Adjutanten 
in  Wortwechsel,  und  da  damals  noch  Duelle  an  der  Tages- 
ordnung waren,  zögerte  „Dr.  Barry“  keinen  Augenblick,  sich 
ihrem  Gegner  mit  der  Pistole  in  der  Hand  zu  stellen.  Das 
Duell  verlief  zwar  unblutig,  verschaffte  Dr.  Barry  aber  Ruhe 
vor  den  Hänseleien  der  jungen  Offiziere.  Sie  tat  Dienst  in 
England,  Indien,  Kanada  usw.  und  starb  in  London  eines 
plötzlichen  Todes.  Einmal  sagte  ein  Offizier,  der  mit  ihr 
ritt,  plötzlich  zu  ihr:  „Sie  sehen  wahrhaftig  mehr  wie  eine 
Frau,  als  wie  ein  Mann  aus!“  Dafür  bekam  er  einen 
Peitschenhieb  über  das  Gesicht,  und  auf  seine  Beschwerden 
beim  Gouverneur  wurde  er  nach  Tristan  d’Acunha  versetzt. 
Dass  sie  eine  Frau  gewesen,  war  nur  wenigen  bekannt,  und 
auch  ihr  Grabstein  verrät  es  nicht.*) 

*)  Eingehend  gedenkt  ihrer  Major  Arthur  G r i f f i t h s in  seinem 
kür7.1ich  erschienenen  Buche  „Fifty  years  of  public  Service.“  Oliver  Gold- 
smith hat  in  dem  zehnten  seiner  Essays:  „Female  Warriors"  den  Vor- 
schlag gemacht,  englische  Amazoneu-Regimcnter  einzurichten.  Er  erinnert 
an  die  Amazonen  des  Altertums,  und  zwar  an  die,  welche  in  Kappa- 
dozien  hausten,  an  Penthesilea,  Königin  der  Amazonen,  die  nach  Homer 
im  trojanischen  Kriege  mit  Priamus  im  Bündnisse  war,  an  Thalestris, 
die  Alexander  dem  Grossen  hundert  bewaffnete  Amazonen  zum  Geschenk  machte, 
an  D i 0 d 0 r u s S i c u 1 u s,  der  von  einer  Nation  weiblicher  Krieger  in 
Afrika  berichtet,  die  gegen  den  lybischen  Herkules  fochten,  ferner  daran,  dass 
in  den  Reisen  des  Kolumbus  zu  lesen  sei,  dass  eine  der  Caraiben-Inseln  von 
einem  Stamme  weiblicher  Krieger  gehalten  wurde,  die  alle  Nachbarinseln  in 
Furcht  erhielten;  er  erwähnt  die  zwei  bekannten  Seeräuberinnen  Mary 
Read  und  Anne  Bonny  und  sagt,  er  habe  selbst  die  Ehre  gehabt, 
mit  Anne  Cassin  und  anderen  Kriegerinnen  zu  trinken,  die  sich  in  amerikani- 
schen Kämpfen  ausgezeichnet  hätten,  auch  habe  er  mit  Moll  Davis  ge- 
sprochen, die  in  allen  Kriegen  der  Königin  Anna  als  Dragoner  gedient  hatte 
und  in  Chelsoa  Invalidenpension  bezog.  „Der  letzte  Krieg  mit  Spanien  (ge- 
schrieben 1762)  und  selbst  der  jetzige  haben  Beispiele  von  Frauenzimmern 
hervorgebracht,  die  sowohl  für  den  Land-  wie  für  den  Seedienst  angeworben 
mit  bemerkenswerter  Tapferkeit  fochten,  in  der  Kleidung  des  an- 
dern Geschlechtes.  „And  who  has  not  heard  of  the  celebratej 
Jenny  Cameron,  and  some  other  enterprising  ladies  of  North  Britain, 
who  attended  a certain  ailventurer  in  all  his  expedition,  and  headed  their 
respective  clans  in  a military  character?“  Es  ist  nicht  recht  ersichtlich,  ob 
Oliver  Goldsmiih  seinen  Vorschlag  nur  satyrisch  gemeint  hat.  ln  der  Tat 
würde  es  in  den  meisten  Ländern  ohne  grosse  Schwierigkeiten  möglich,  sein, 
ein  aus  weiblichen  Soldaten  bestehendes  Regiment  zusamnienzubringen. 


544 


Auch  aus  niederländischer  Vergangenheit  seien  zwei  Bei- 
spiele angeführt;  „Im  Jahre  1633  wurde  Barbara  Adriaens 
auf  24  Jahre  aus  der  Stadt  Amsterdam  und  24  Meilen  im 
Umkreis  verbannt,  weil  sie  sich  in  Männerkleidern  als  Sol- 
dat „Willem  Adriens"  hatte  einschreiben  und  sich  später  in 
der  Kirche  mit  einer  Frau  hatte  öffentlich  trauen  lassen. 
Diese  hatte  ihren  „Ehemann“  nach  der  Entdeckung  wegen 
Betrugs  angezeigt.“ 

FrancinaGunningh  war  mit  der  Witwe  eines  franzö- 
sischen Kapitäns  als  weiblicher  Dienstbote  nach  Paris  ge- 
reist und  benutzte  auf  deren  Rat  zur  Rückreise  ^länner- 
kleidung,  in  der  sie  gefahrloser  würde  heimkehren  können. 
Da  sie  jedoch  völlig  ohne  Papiere  war,  wurde  sie  als  mut- 
masslicher Deserteur  nach  Cherbourg  gebracht  und  in  die 
Armee  eingestellt.  Es  gelang  ihr,  nach  einiger  Zeit  nach 
Deutschland  zu  entfliehen,  sie  blieb  aber  Soldat  und  diente 
unter  Blücher.  Im  Kriege  verwundet,  entdeckte  man  im 
Spital,  dass  sie  ein  Mädchen  war.  Sie  wurde  entlassen, 
reiste  als  Mann  weiter  und  wurde,  weil  sie  jemanden  um 
Geld  und  Kleider  betrogen  hatte,  in  Zwolle  1813  zu  drei 
Monaten  Gefängnis  verurteilt.  Nach  Verbüssung  ihrer  Strafe 
verschaffte  sie  sich  wieder  Militärkleider  und  beteiligte  sich 
als  tapferer  Soldat  an  der  Vertreibung  der  Franzosen  aus 
den  Niederlanden  und  diente  bei  der  Belagerung  von 
Kämpen,  Coevorden  und  Deventer  unter  dem  Landsturm.  Um 
sich  ein  gutes  Kosthaus  während  dieser  Zeit  zu  sichern,  ver- 
sprach sie  dem  Dienstmädchen  eines  Landbauers,  Alida 
Landeei,  die  Heirat.  Nach  dem  Kriege  konnte  sie  die  Alida 
nicht  los  werden,  sie  reisten  nach  Apeldoorn  zusammen, 
wo  der  Vater  der  Alida  Kupferschmied  war.  Dort  blieben 
sie  einige  Zeit  und  sie  Hess  sich  zur  Heirat  einschreiben. 
Sie  nannte  sich  „Franz  Gunningh  Sloet  junior,  Herr  von 
Amerongen,  26  Jahre  alt,  geboren  zu  Alkmaar,  wohnhaft  zu 
Deventer,  Sohn  von  Hans  Sloet  und  von  seiner  Gattin  (im 
holl,  steht:  „vrouwe“)  Amalie  Gunningh“.  Am  15.  und 

22.  Mai  1814  wurden  sie  aufgeboten,  aber  als  sie  die 
Papiere  nicht  zeigen  konnte,  wurde  sie  wegen  Heirats- 
prellerei verhaftet.  In  der  Nacht  vom  17.  zum  18.  August 


545 


entfloh  sie  mit  zwei  mäm  .ichen  Gefangenen;  ihr  Sig-- 
naiement  (immer  als  Mann)  wurde  bekannt  gemacht;  sie 
wurde  auf  gefunden  und  weil  der  Staatsanwalt  Verdacht 

schöpfte,  am  7.  September  1814  von  Aerztcn  untersucht  und 
als  Weib  befunden.  Am  28.  Dezember  wurde  sie  zu  Zulfen 
wegen  Betrugs  zu  drei  Jahren  Gefängnisstrafe  und  Fl.  25 
Geldstrafe  verurteilt.  (Z.  f.  S.  p.  255.) 

Ein  sehr  abenteuerliches  Leben,  das  in  verschiedener  Hin- 
sicht an  das  Vagantenleben  unserer  Bertha  Weiss  erinnert, 
führte  eine  spanische  Kriegerin. 

Catalina  deErauso,  genannt  la  Monja  (=  die  Nonne) 
Alferez,  wurde  im  Jahre  1585  in  San  Sebastian  geboren. 
Als  Kind  gab  man  sie  einer  Verwandten,  dij  Aebtissin 
eines  Klosters  war,  zur  Erziehung  und  bis  zu  ihrem  15. 
Jahre  trug  sie  Nonnenkleidung.  „Man  erwartete,  dass  sie 
den  Schleier  nehmen  würde,  doch  Catalina  war  eine  wider- 
spenstige Novize;  sie  schlug  und  prügelte  sich  mit  den 
Schwestern  herum  und  beschloss  schliesslich,  aus  dem 
Kloster  zu  fliehen,  um  ein  weltliches  Leben  zu  führen.  Sie 
verbarg  sich  nach  ihrer  Flucht  einige  Tage  in  einem  Ge- 
hölz, nachdem  sie  sich  die  Kleidung  eines  jungen  Burschen 
verschafft  hatte.  Als  sie  wieder  auf  tauchte,  war  Catalina 
de  Erauso  verschwunden  und  an  ihre  Stelle  ein  junger  Mann, 
der  sich  Francisco  Loyola  nannte,  getreten.  Sie  war  toll- 
kühn genug,  sofort  wieder  nach  San  Sebastian  ‘zurückzu- 
kehren  und  eine  Stellung  als  Diener  in  der  Familie  eines 
angesehenen  Bürgers  anzunehmen.  Unerkannt  in  Identität 
und  Geschlecht  blieb  Catalina  auf  diesem  Posten,  bis  eines 
Tages  ihr  Vater  bei  ihrer  Herrschaft  zum  Besuch  erschien, 
wobei  das  vielbesprochene  Verschwinden  seiner  Tochter  den 
Hauptgesprächsstoff  bildete.  Ihr  Vater  erkannte  sie  nicht, 
als  er  mit  ihr  auf  dem  Flur  zusammentraf,  doch  sie  fühlte 

sich  von  da  ab  nicht  mehr  sicher  bei  ihrem  Brotherrn 

und  hielt  es  für  klüger,  aus  dem  Hause  und  San  Sebastian 

zu  verschwinden;  vorher  nahm  sie  noch  eine  ansehnliche 

Summe  Geldes  (das  ihr  nicht  gehörte)  mit,  um  für  die 
Reise  versehen  zu  sein.  Sie  wurde  dann  Schiffsjunge  auf 
einer  grossen  Gallione,  die  ihrem  Onkel,  Kapitän  Esteban 

Hirachleld,  Die  Tranavesüten.  35 


546 


Eguino,  gehörte,  der  sie  kaum  ]e  gesehen  und  sie  weder 
als  Verwandte  noch  als  junges  Mädchen  erkannte.  Er  ge- 
wann Catalina  — oder  vielmehr  Francisco  — ausserordent- 
lich lieb  und  machte  sie  zu  seinem  persönlichen  Diener.  Als 
sie  aber  eines  Tages  in  einer  Hafenstadt  Anker  warfen, 
rückte  sie  ohne  Kündigung  aus,  wiederum  nicht  ohne  eine 
beträchtliche  Zwangsanleihe.  Sie  schiffte  sich  nach  Süd- 
amerika ein  und  kam  nach  Panama.  Ihr  weiteres  Leben  ver- 
brachte sie  zunächst  auf  der  westlichen  Halbkugel.  Catalina 
war  in  dieser  Zeit  zu  einer  schönen  männlichen  Er- 

scheinung herangewachsen.  Sie  ging  als  Diener  und  Ver- 
walter bei  verschiedenen  Herren  in  Stellung.  Ueberall  hatte 
man  sie  sehr  gern,  obwohl  sie  sich  beständig  mit  ihren 
Mitangestellten  herumprügelte.  Man  machte  ihr  verschiedent- 
lich Heiratsanträge,  die  sie  jedoch  ablehnte.  Später  kam 
sie  nach  Lima  in  Peru=  In  der  Stadt  Concepcion  traf  sie 
ihren  Bruder,  der  als  Sekretär  beim  Gouv^erneur  angestellt 
war.  Hier  beginnt  eine  der  absonderlichsten  romantischen 
Episoden  in  Catalinas  Lebenslauf.  Ihr  Bruder  kannte  sie 
nicht.  Es  bemächtigte  sich  seiner  eine  Leidenschaft  für 
den  gut  aussehenden  Burschen,  den  er  bei  einem  Ver- 
gnügen kennen  gelernt  hatte.  Beide  wurden  treue  Ge- 

fährten. Da  brach  ein  Krieg  mit  einem  der  Eingeborenen- 
stämme aus  und  Catalina  liess  sich  anwerben.  Sie  kämpfte 
mit  Auszeichnung  und  als  sie  eine  schon  verloren  ge- 
gangene Standarte  wieder  eroberte,  avancierte  sie  zum 
Fähnrich.  Ihr  Bruder  stand  bei  demselben  Truppenteil. 
Fünf  Jahre  lang  blieb  Catalina  im  aktiven  Dienst.  Sie  er- 
wies sich  auf  dem  Schlachtfelde  und  im  Kreise  der  Kame- 
raden als  „Mann  von  scharfem  und  kühnem  Geiste“.  Sie 
hatte  bereits  verschiedene  Duelle  gehabt,  als  sie  eines  aus- 
focht, bei  dem  es  besonders  heftig  zuging;  es  fand  bol 
völliger  Dunkelheit  statt.  Catalina  liess  ihren  Gegner  tot 
auf  dem  Platze.  Als  ihr  in  der  Nähe  weilender  Bruder 
kam,  um  ihr  beim  Verbinden  ihrer  schweren  Verv/undungen 
behilflich  zu  sein,  enthüllte  sie  ihm  das  Geheimnis  ihres 
Geschlechts  und  dass  sie  seine  Schwester  Catalina  de  Erauso 
sei.  Nicht  lange  darauf  desertierte  Catalina.  Sie  ging  nach 


547 


Tucuman  in  Argentinien,  hatte  viel  Ungemach  durchzii- 
machen,  bis  es  endlich  anfing,  ihr  besser  zu  gehen.  Ein- 
mal verliebte  sich  die  Tochter  eines  reichen  einheimischen 
Gutsbesitzers  in  sie;  just  zu  derselben  Zeit  hatte  sie  aber 
ein  hochgestellter  Geistlicher  des  Landes  als  Ehemann  für 
seine  Nichte  erwählt.  Catalina  verlobte  sich  mit  den  beiden 
jungen  Damen,  wurde  mit  Geschenken  überhäuft,  doch  als 
der  zur  Vermählung  bestimmte  Tag  herannahte,  entfloh  sie 
wieder.  Nach  vielen  weiteren  Abenteuern,  neuen  Kriegs- 
fabrten,  Verbindungen  mit  Räubern  und  Banditen  (zweimal 
wurde  sie  zum  Tode  verurteilt,  einmal  erst  unter  dem 
Galgen  begnadigt)  geriet  sie  in  eine  wüste  nächtliche 
Schlägerei  in  einer  Spielhölle  in  Guamanga.  Sie  sollte  fest- 
genommen werden,  doch  sie  wehrte  sich  sehr  energisch 
und  nahm  das  Asylrecht  des  dortigen  Bischofs  in  An- 
spruch, der  sie  unter  seinen  Schutz  stellte.  Diesem  Bischof 
beichtete  sie  ihre  ganze  Lebensgeschichte.  Zuerst  bekannte 
sie,  sie  sei  ein  Weib  und  erzählte  ihre  Herkunft  und  ihre 
Abenteuer.  Aber  der  Bischof  wollte  ihres  Geschlechtes  sicher 
sein,  und  zwei  Hebammen  untersuchten  sie  und  schwuren, 
sie  hätten  sie  als  Jungfrau  befunden,  wie  am  Tage  ihrer 
Geburt.  Der  fromme  Mann  wurde  von  tiefer  Erschütterung 
und  Bewunderung  ergriffen.  Er  drang  in  Catalina,  wieder 
das  Leben  eines  Weibes  aufzunehmen.  Sie  gab  schliesslich 
ihre  Einwilligung  und  trat  in  ein  Kloster  in  Lima  ein. 
Nach  zwei  Jahren  stiller  Zurückgezogenheit  beschloss  sie, 
nach  Spanien  zurückzukehren.  Unterwegs  schrieb  sie  ihre 
Biographie.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  deren  Einzelheiten 
für  übertrieben  zu  halten;  viele  der  seltsamsten  Tatsachen 
haben  sich  bei  Nachprüfung  als  wahr  herausgestellt.  In 
Spanien  wurde  sie  als  eine  Art  Weltwunder  angestaunt 
und  in  ganz  Europa  wurden  ihre  Erlebnisse  besprochen.  Sie 
wandte  sich  nach  Rom  und  wurde  vom  Papst  Urban  VIII. 
empfangen,  unterhielt  ihn  mit  ihrer  Autobiographie,  emp- 
fing Vergebung  ihrer  Sünden  und  eine  päpstliche  Lizenz, 
männliche  Kleidung  zu  tragen.  Von  Rom  ging  sie  nach 
Neapel,  wurde  dort  in  einen  Strassenskandal  verwickelt, 
wobei  sie,  wie  gewöhnlich,  blank  zog.  Von  der  Zeit  ab 

35* 


548 


sind  ihre  Schicksale  unbekannt.  Es  ist  nicht  aufgeklärt,  ob 
sie  nach  Südamerika  zurückkehrte,  noch  wo  sie  schliesslich  ihren 
Tod  fand.  Ihre  Erscheinung  gelegentlich  ihres  Besuches  in 
Rom  findet  sich  in  einem  Briefe  des  bekannten  italienischen 
Reisenden  Pietro  delle  Yalle  beschrieben.  Er  spricht  von 
ihr  als  einem  schlanken,  kräftigen,  dunkelhaarigen  Menschen 
von  etwa  45  bis  50  Jahren,  der  in  keiner  Weise  den  Ein- 
druck eines  Weibes  machte. 

Auch  in  dem  letzten  Kriege  der  Spanier  gegen  die  Ver- 
einigten Staaten  tat  sich  ein  Weib  Kapitän  Rosa 
C a s t e 1 1 a n 0 s in  Cuba  rühmlich  hervor. 

Dass  es  auch  unter  den  Völkern  der  Bal- 
kanhalbinsel von  der  Zeit  Rhodugenes,  — die 

auf  die  Nachricht  vom  feindlichen  Einfall  mit  unge- 

kämmtem Haar  zu  Pferde  stieg  und  sie  nicht  eher 
wieder  ordnete,  als  bis  der  Feind  geschlagen  war  — 
bis  in  die  Gegenwart  nicht  an  verwandten  Frauentypen  fehlte, 
bedarf  nach  allem  Vorhergehenden  wohl  kaum  noch  der  Er- 
wähnung. Aus  den  letzten  Kriegen  sei  eine  Schilderung 
wiedergegeben,  die  ein  Berichterstatter  der  Frankfurter 
Zeitung  aus  Tirnowa  sandte.  (Jhb.  V.  1197.)  „Auf 
meiner  Rückreise  von  der  Schipka-Feier  musste  ich  mich 
ungezwungenerweise  zwei  Tage  in  Grabovo  aufhalten,  weil 

es  dort  weder  Wagen  noch  Pferde  infolge  des  grossen 
Bedarfs  für  das  Fest  augenblicklich  gab,  die  mich  die 
45  Kilometer  lange,  noch  eisenbahnlose  Strecke  nach  Tirnowa 
hätten  befördern  können.  Als  ich  endlich  einen  Wagen  er- 
halten hatte  und  eben  die  letzten  Abmachungen  mit  dem 

Besitzer  traf,  betrat  ein  Mann  das  Zimmer,  der  die  Klei- 
dung eines  bulgarischen  Bauern  trug,  und  an  dem  mir 
ausser  seinem  bartlosen  Gesichte  die  für  einen  Bauern 
aussergewöhnlich  kleinen  Füsse  auffielen.  Unter  der  natio- 
nalen Pelzmütze  schaute  kurz  geschnittenes  schwarzes  Haupt- 
haar hervor,  und  die  Brust  schmückte  eine  Reihe  von  Me- 
daillen, die  für  die  Teilnahme  an  dem  russisch-türkischen 
und  dem  bulgarisch-serbischen  Kriege  verliehen  worden  waren. 
Ein  Wagenbesitzer,  der  den  Ankömmling  als  alten  Bekannten 
begrüsste,  raunte  mir  zu:  „Das  ist  kein  Mann,  sondern  eine 


549 


Frau.‘‘  Nun  \\Tirde  meine  Neugierde  rege,  und  ich  knüpfte 
ein  Gespräch  mit  der  interessanten  Person  an.  Sie  hiess 
Ivanka  Marcova  und  war  aus  Hula  bei  Widdin  gebürtig. 
1877  war  sie,  als  Mann  verkleidet,  in  die  bulgarische  Legion 
eingetreten  und  hatte  mit  dieser  den  Schipkapass  ver- 
teidigen helfen,  weshalb  sie  jetzt  auch  der  Schipka-Feier  als 
Veteran  mit  beigewohnt  hatte.  Nach  dem  Feldzuge  ver- 
heiratete sie  sich  mit  einem  Bauern  ihres  Heimatsortes. 
Als  aber  der  Krieg  mit  Serbien  .xUsbrach,  litt  es  sie 
nicht  länger  daheim.  Sie  lief  ihrem  !Manne  davon  und  trat 
wieder  in  die  bulgarische  Armee  ein,  mit  der  sie  die 
Schlacht  bei  Slivnitza  mitmachte.  Ihr  Mann  Hess  sich  in- 
folge dieser  E.vtravaganz  von  ihr  scheiden,  und  seitdem 
trägt  sie  nur  Männerkleidung.  Ihr  Gesicht  zeigt  ange- 

nehme Formen,  doch  sind  die  Züge  hart,  und  die  Haut  ist 
von  vielen  Falten  durchfurcht.“ 

Es  ist  durchaus  nicht  erwiesen,  dass  in  allen  diesen 
Frauen,  die  in  Reih  und  Glied  im  Felde  standen  oder  als 
Offiziere  das  Kommando  führten,  die  ebenso  tapfer  gegen 
die  Türken  in  Ungarn  vde  gegen  die  Mauren  in  Spanien 
Gräben  und  Bastionen  verteidigten,  die  in  hunderten  von 
Aufständen  und  Grenzgefechten  anstatt  ihr  Kind  die  Muskete 
im  Arm  hielten,  statt  der  Küche  die  Kanonen  bedienten,  ich 
sage,  es  steht  keineswegs  fest,  dass  in  allen  diesen  weib- 
lichen Soldaten,  deren  eigentliches  Geschlecht  oft  erst  ent- 
deckt wurde,  als  sie  schwer  verwundet  im  Spital  oder  tot 
auf  dem  Schlachtfelde  lagen,  der  männliche  Seelen-Einschlag 
ein  sehr  erheblicher  gewesen  ist;  in  den  meisten 
Fällen  war  er  es  sicherlich  in  hohem 
Masse,  selbst  bei  den  Frauen,  die  aus  Liebe  zu  ihren 
Männern  das  Kriegshandwerk  ergriffen,  denn  wir  wissen,  das,s 
bei  der  Neigung  zu  bestimmten  Männertypen  die  virile  Bei- 
mischung durchaus  nicht  ausgeschlossen  ist.  Es  sei  endlich 
noch  bemerkt,  dass  Neugebauer  9 Fälle  von  weiblichem 
Scheinzwittertum,  also  von  Frauen,  die  wegen  sexueller 
Abweichungen  ersten  Grades  irrtümlicherweise  für 
Männer  gehalten  wurden,  zusammengestellt  hat. 
die  als  Soldaten  ihrer  Militärpflicht  genügten. 


550 


Als  Seitenstück  zu  den  Frauen,  die  als  Soldaten,  gibt 
es  auch  Soldaten,  die  als  Frauen  aufgetreten  sind.  Er- 
innern wir  uns  unseres  Falles  IX,  erinnern  wir  uns  der 
Soldaten,  die  in  Frauenkleidern  desertierten,  des  tapferen 
Ritters  d’Eon  und  fügen  wir  noch  einen  Bericht  hinzu,  der 
nach  einer  Zeitungsnotiz  vom  17.  Dez.  1893  im  Jhb.  II. 
p.  330  abgedruckt  ist:  „M  r.  James  Robbins,  Kommandeur 
der  ^Militärstation  in  Coopers  Mills,  Missouri,  trägt  in  seiner 
eigenen  Behausung  nur  weibliche  Bekleidung  und  setzt 
seinen  ganzen  Stolz  darin,  dass  seine  Kleider  bis  in  das 
geringste  Detail  genau  der  letzten  Mode  entsprechend  und 
makellos  sind.  Rock  und  Taille  müssen  auf  das  Perfekteste 
sitzen,  ja  der  würdige  Kommandeur  trägt  sogar  einen 

Damenhut.  Keine  der  Frauen  in  ganz  Coopers  Mills,  sogar 
die  der  andern  Offiziere,  haben  eine  solche  Auswahl  an  Klei- 
dern, wie  er  sie  besitzt;  alle  seine  Kleider  sind  vom  feinsten 
Material.  Er  kauft  nur  das  beste.  Seine  weisse  Wäsche 
Ist  vom  feinsten  Leinen,  mit  Plissees.  Einsätzen  und  feinen 
Spitzen  besetzt.“ 


Schlussbetrachtungen. 

Man  begegnet  gelegentlich  der  Auffassung,  dass  das 
Bunte  und  Schimmernde,  Geputzte  und  Gezierte  soldatischer 
Uniformen  mehr  einer  eitlen  Frau  als  eines  ernsten  Mannes 
würdig  sei.  Diese  Meinung  setzt  einen  weitverbreiteten  Irrtum 
voraus,  nämlich  den,  dass  in  der  Natur  des  Mannes  an  und 
für  sich  ein  geringeres  Bedürfnis  nach  Körperschmuck  liege. 
Für  die  Gegenwart,  in  der  jedoch  niemand,  der  objek- 
tiv die  Geschichte  und  den  Wechsel  der  aloden  betrachtet, 
etwas  Abgeschlossenes  erblicken  kann,  mag  dies  zutreffen, 
im  allgemeinen  trifft  es  nicht  zu.  Wie  sich  unter  den 
Tieren  gewöhnlich  das  männliche  vor  dem  weiblichen  dureli 
einen  grösseren  Prunk  von  Hörnern  und  Mähnen, 
Federbüschen  und  Sporen,  durch  mehr  Glanz  und  Färbung 


551 


des  Pelzes  und  Gefieders  auszeichnet,*)  so  finden  wir,  dass 
auch  unter  den  Naturvölkern  und  darüber  hinaus  der  Mann, 
insonderheit  der  Krieger,  das  Weih  an  Bemalung  und  Täto- 
wierung, an  Federschmuck  und  sonstiger  Verzierung  „über- 
strahlt“. Halten  wir  uns  aber  ausschliesslich  an  die 

Zeiten  und  Völker  der  Kultur,  so  sehen  wir,  dass  in  der 
Schlichtheit  der  Kleidung  die  Geschlechter  selten  gleichen 
Schritt  hielten;  meist  war  es  sogar  so,  dass,  wenn  das 
eine  Geschlecht  sich  einfach  trug,  das  andere  zu  Auswüchsen 
in  Form  und  Farbe  neigte.  Nie  war  die  Kleidung  des 
Mannes  überladener,  seine  Haartracht  grotesker,  sein  Hals 
übertriebener  eingewickelt  als  zu  der  Zeit,  wo  die  Frauen  zur 
griechischen  Natürlichkeit  zurückgriffen  und  „der  ganze 
Damenanzug  einer  Berlinerin  sechszehn  Loth  wog.“  Das 
war  am  Ende  des  XVIII.  Jahrhunderts;  am  Ende  des  XIX. 


*)  Es  kommt  aber  auch  bei  den  Tieren  durchaus  nicht  vereinzelt  vor, 
dass  männliche  Tiere  im  weiblichen,  weibliche  im  männlichen  Haar  - oder 
F ederkleid  erscheinen.  In  Edmond  Rostands  menschlichem  Tier- 
drama „Chantecler“  ist  die  Trägerin  Jer  weiblichen  Hauptrolle,  in 
welche  sich  Chantecler  verliebt,  eine  Fasanenhenne  im  männlichen 
Prachtgefiedor.  Die  in  Betracht  kommende  Stelle  (Act  I,  Scene  VIl 
lautet: 

P a t 0 u (der  Hund) 

Qui  vous? 


La  F a i s a n e 
M o i , 1 e F a i s a n 
P a t 0 u , rectitiant  doucement 
La  F a i s a n p : 

La  Faisane 

Ma  race, 

Car  je  la  reprfeente,  avant  pris  la  cuirasse 
De  pourpre.  -Oui  ce  destin  que  longtcmps  je  subis 
D’etre  une  fcuille  morte  ä cöte  d’un  rubis 
M’ayant  un  jour  sernble  döcidem.erlt  trop  pälc, 

.J’ai  vole  son  plumage  eblouissant  au  male. 
Etj’ai  bien  fait.car  jeleportemieuxque  lui! 
La  palatine  d'orsur  moi  se  gonfle  etluit; 
•l’ai  donne  plusdegräceä  laverteepaulette, 
Et  d’un  simple  uniforme  ai  fait  unetoilette! 


(Zu  deutsch:  „Ich  habe  das  schillernde  Gefieder  dem  Männchen  ent 
wendet  und  ich  habe  recht  daran  getan,  denn  ich  trage  es  besser  wie  er; 


war  es  umgekehrt;  wer  wollte  v'oraussageu,  wie  es  :..w  Eo.i- 
des  XX.  sein  wird. 

Als  hauptsächlichstes  IJntersch.eiduugsiDerkuiai 
männlichei  und  weiblicher  Tracht  hat  sich  in  fast  allen 
Kol  turiäudern  nun  schon  s e \ r vielt  o.  J a h r h a - 
eierten  die  Bekleidung  des  Untt  ikor^ers  hcrausge- 
bildet:  das  männliche  Beinkleid  — die  Rose  — im 

Gegensatz  zu  dem  weiblichen  über  beide  Beine  g e - 
meinsam  fallenden  Kleid"' u’oek  Das  .V'rkai’te  dir- 
Unterschiedes  kommt  auch  chi  rin  zum  •Uu'ic  - .i.-k,  dao.s  eine 
Frau,  ohne  als  verkleideter  Mann  zu  gelten,  die  mär.;) a, che 
Oberkörperkleidung-  Hut,  Kragen.  Weste,  Jacke  fas<  un- 
verändert übernehmen  kann,  die  Hosen  nicht;  di"^  folhlo- 

ristische  Bildersprache  kägt  n Rcchtnmg,  indem  sic  von 
einem  recht  energisch  auftretenden  Weibe  die  symbolistische 
Redensart  gebraucht:  „Die  Frau  hat  die  Hosen  an,‘'  ven 
einem  sich  gegensätzlich  verhaltenden  Mann:  „Der  Mann  ■ 

mein  Goldschweif  dehnt  sich  und  glänzt;  Ich  habe  ücn  grünen  .S-  . i v. 

mehr  Grazie  verliehen  m d'-r  hr:'.  T r fc.-  v.  "irce  T.-.dC;; 

G h a n t e c 1 e r. 

Mais  c.’est  qu’  elie  cst  fetourdissante : (sie  ’st  sinr.herauscbend 
P a t o n , ä part 

Saprbail 

n ne  va  pourtant  pas  aimer  u n t r a e s t i ! 

Solche  Abweidiungeu  von  G°schb''.chtstyj)en  wi  .?'?  lui  r P’V  ' -Dd 
Fasania  beilegt,  sind  nicht  nur  bei  den  YögJn.  sOL.df,.;i  at!  h von  iu-  ■ 
und  den  meisten  anderen  Tierspezies  beschrieben;  natürlich  gthor.en  eie,  -.vi-ie. 
sie  auch  rein  äusserlich  transvestitische  Frscbeinungeu  darstellc.i.  doch  mc.  r 
in  die  Geschlechtsübcrgänge  zw'-iten  Grades,  die  nicht  d.s?  Seelenieben, 
sondern  den  r 1 l g o m e i n e K ö r n e r b a u bo'ref'-:n.  Leber  .Urr-e  v-:  '’  Oee 
Gruppe  der  Zwischcastulen,  für  die  ;u?n  meines  1 '.rächten^  ‘ Uein  den  Au-: 
„Androgynie“  reservieren  sollte,  fehlt  bisher  noch  ein  grösseres  zn- 
sammenfassendes  'A’'erk.  das  e-iue  weseniriche  Ij  ü c k e m der  Lreenttur 
auaiüllen  wurde,  nachdem  w .her  d.ie  Z'vn.schenstufen  ersten  ijrrades  in 
Neugebauers  mehri.acb  erwähnieiu  >.'.'imr'e'  ■’  nr!.  über  >ii’;  Zwischersturen 
dritten  Grades  m den  zahlreichen  Monographien  über  den  T -anismos. 
über  die  vierten  Grades  n a.  in  dem  n orliegcnden  Puche  ein-'c  i re  Spe- 
zialarbeiten  besitzen. 


liöi  L In  den  Unterrock.“  Da  wir  wieder  einmal  clabei  halten, 
wie  sich  Gedanken  in  Wcrtpetrei’acten  wiedersp’.egeln,  sei  noch 
darauf  hingewiesen,  dass  es  für  der  Sprachpsychologen  auch 
lohnend  ist,  darüber  naebruderken,  weshalb  derselbe 
Name  ,,R,ock“  beim  Manne  die  Bekleidung  des  0 b e r k'irpcT-s, 
bin  der  Drau  die  des  Unterkörpers  bezeiclmet. 

Lassen  wir  die  so  mannigfach  wechselnden  Bilder  der 
Kustümgeschiebte  vor  unseren  Augen  vorüberziehen,  so  wird 
jeder  leicht  erkennen,  wie  es  Länder  und  Perioden  V’bt,  in 
(ici-.  ; sich  die  fuodon  de.  Geseb  .ochP  r sehr  einander  ijühern 
man  denke  der  griechischen  Zeit  — und  dann  wieder 
audere  Epochen,  wo  sie  sich,  wie  in  der  jetzigen,  weit 
Y 0 e 1 TI  a n d e ) eiitferriL  haben  Ueber  die  Moden  der  Minne-’ 
zoli;  schreibt  E.  Cüntiier:*)  „D  i e m ä n n 1 i c h c T r a c h i 
s i B t e i n e I f e m i n i n e n C li  a r a k t e r auf,  der 
Schmuck  des  Bartes  ist  veipönt.  Dagegen  sollen  die 
Locken,  v/elche  in  blonder  Farbe  am  schönsten  er- 
achtet werden,  mit  sonst  nur  bei  den  Frauen  dern 
gesehener  I'ülic  auf  die  Schultern  hcrabfalien  Oie  Klei- 
duug  PTScheiul  prächtig  und  wi'-kt  lebhaft  auf  das  Auge 
ein,  selbst  die  Büstung,  welche  nur  im  Kample  getragen 
wird,  entbehrt  gar  oft  nicht  des  phantastischen  Beiwerkes 
INjorgeiiländische  Kosmotika  und  v ohlriechende  warme  Bäder 
spielei  bei  der  Toilette  eine  .Fauntrolle;  Korsetts  und  Ent- 
haarangsirdttei  sebcineii  ebenfalls  nichf  allzu  selten  gebrauebt 
v'or  <1  sein.'  Yd.  Fied^'*)  sagt:  ,,lm  15  Jahrhundert, 

eu-  . durhunöcrt  vö’ijgster  Moderarrhei;  'lekoHetieT'OT'. 
i ä u n e r ihre  Solmitern,  Nacken  und  Arme,  w i e 
■■  ’ i b 1 e j n , und  die  Tracht  soll  inithelfen  die  Kö^-per 

der  beiden  Geschlechtei’  einander  ähnlich  zu  geetalten  Je. 
es  gibt  • lalsche  Brüste  für  die  Männer.“  Tn  einer 

Modezcituue,  aus  dem  Jahre  IbSü,  dem  „deutsch-trar  zö- 
mschen  Iilodegeist“  findet  sieb  folgende  Stelle:  „Und  mein, 

was  haben  docti  die  Männer  vor  Rlcidong.  welche  die 
VYeiber  idcht  alh  n a c h a t f o ii  , dje  Uöcke,  TVämm.se:’ 


’■< -dltiirg:-.  ;ui' 

|v  T' 


iie:  Licbo- 
d.'i  ivV'df 


.Berlin  .1900. 
d ‘i  ■ 


p.  ■164. 


ncraiKf  ■ 


0.  J.  V.;!, 


■ ’.Ui 


554 


Mützen,  Hosen,  Muff,  Handschuhe,  Leihröcke,  Schlafpelze 
u.  dgl. ; sobald  des  Mannes  Volk  runde  Aufschläge  hat,  so- 
bald muss  sie  das  Frauenzimmer  auch  tragen.“  — 

In  allen  Schilderungen,  welche  von  einer  Annäherung 
der  männlichen  an  die  weibliche  Mode  und  umgekehrt 
handeln,  mischt  sich  immer  unverkennbar  der  Unterton,  dass 
diese  Nachahmung  doch  eigentlich  etwas  recht  Ver- 
werfliches wäre.  So  heisst  es  in  Sebastian 
B r a n t s berühmtem  Narrenschiff:*)  „Es  ziehen  die  weiber 
jetzund  daher  gleich  wie  die  mannen,  vnd  henken  das 
Haar  dahinden  hinab  biss  auff  die  Hüfft,  mit  auffge- 
setzten  baretlin  und  hütlin  gleich  wie  die  männer.  P f u 
der  schand  vnd  vnzucht.  0 mensch  was 
spieglest  du  dein  lang  Haar  herfür,  das  voller  leuss  vnd 
niss  ist?  Ist  diss  dein  Schatz,  dein  Gott,  welchen  du  vor 
andern  ehrest  vnd  liebest?  Gedenk,  dass  Holofernes  durch 
den  geschmuck  der  Judith  ^'Tnbkommen  ist,  vnd  dass  Absalon 
mit  dem  Haar  ist  an  der  Eychen  blieben  hangen  vnd  vnib- 
kommen.“  In  ähnlicher  Weise  ereifert  sich  lange  Zeit 
später  Retif  de  la  Bretonne.  Er  schreibt : **) 

„Sollte  ich  wirklich  hier  stille  schweigen,  wenn  ich  sehe, 
wie  verblendet  jetzt  die  Frauen,  ihrem  eigensten 
Interesse  zuwider,  Kleider  nach  männlichem  Zu- 
schnitt tragen,  wie  sie  auf  niedrigen  Hacken  einher- 
stampfen, während  die  Modeherrchen  auf  hohen  stelzen,  wie 
sie  ihre  Haare  verschneiden,  wie  sie  auf  die  ge- 
schnürte Taille  verzichten?  . . . . Nein!  Nein! 
ich  sage  den  Frauen:  Den  Männern  zu  gleichen  in  Schuh- 
werk, in  Kleidung,  in  Nachlässigkeit,  das  heisst  euren 
Schmuck  herabwürdigen,  das  heisst  ihm  seinen  Geschlechts- 
charakter nehmen.“  Noch  mehr  forderte  es  stets  zu  verächt- 
lichen Bemerkungen  heraus,  wenn  die  Männer  tracht  der  Zeii 
ein  weibliches  Gepräge  trug;  schon  Vergil  in  seiner 
Äneide  hält  sich  über  die  weibliche  Tracht  und  Lebensweise 
der  Phrygier  mit  folgenden  Worten  auf:  „Euch  machen  saf- 


•)  Ausgabe  von  Zarncke.  Leipzig  1854.  306tf. 

**)  Vgl.  Retifs  Schuhgeschichten,  übersetzt  von  Elsa  Lafiere. 


— 555  — 

rangestickte,  in  Purpur  erschimmernde  Kleider  Freude,  Ihr 
schlendert  tänzelnd  einher.  Eure  Kriegsröcke  haben  Aermek 
Eure  Hüte  niedliche  Schnürchen,  P h r y g i e r i n n e n seid 
Ihr,  nicht  P h r y g i e r , lasst  doch  die  Waffen  den 
Männern,  begebt  Euch  des  Eisens.“ 

Literaturbelege,  welche  ähnliche  Auffassungen  wieder- 
geben, liessen  sich  von  den  antiken  bis  zu  den  modernen 
Schriftstellern  und  Sittenschilderern  in  grosser  Anzahl  bringen. 
Die  beissendsten  Satyren  und  Karrikaturen  haben  aber  nie- 
mals vermocht,  einer  Männer-  oder  Frauenmode  — mochte  sie 
auch  noch  so  ausschweifend  sein  — den  Garaus  zu  machen. 
Der  von  einer  Mode  ausgehende  Zwang  — mag  er  mehr  sug- 
gestiv oder  bewusst  wirken  — ist  eben  ein  ganz  ungemein 
starker;  in  höherem  Masse  vermag  sich  nach  verhältnismässig 
kurzer  Zeit  ihrer  „Herrschaft“  ihr  fast  niemand  zu  entziehen. 
Wollte  jemand  in  seiner  Tracht  sich  nur  von  hygienischen 
Rücksichten  leiten  lassen  — dann  und  wann  wurde  das  von 
einzelnen  versucht  — oder  würde  heute  ein  Mann  oder  eine 
Frau  in  der  Tracht  auf  der  Strasse  erscheinen,  die  vor  100 
Jahren  oder  nur  vor  einem  halben  Jahrhundert  allgemein 
Mode  war,  sie  würden  bald  in  den  Verdacht  einer  Psychose  ge- 
raten, zum  mindesten  für  recht  arge  Sonderlinge  gehalten 
werden,  und  nicht  nur  Kinder,  sondern  auch  "Tlrwachsene  würden 
den  „sonderbaren  Heiligen“  in  Scharen  folgen.  Dieser  unifor- 
mierende Zwang  gilt  nicht  nur  von  der  Tracht  als  Ganzem, 
sondern  wenn  gleich  bei  weitem  nicht  in  so  hohem  Grade 
auch  von  den  einzelnen  Kleidungs-„Stücken“.  Während  ich 
dies  schreibe,  lese  ich  gerade  in  einer  verbreiteten  Berliner 
Tageszeitung*)  einen  nach  dieser  Richtung  bemerkenswerten 
Artikel  von  Dr.  M.  Pollaszek  über  die  „Krawatte“;  trotz 
mancher  spöttisch  gefärbten  Uebertreibungen  trägt  der  Auf- 
satz einen  ernsteren  Charakter,  gibt  zum  mindesten  d i e 
Anschauung  sehr  weiter  Kreise  wieder.  Der 
Verfasser  knüpft  an  das  bekannte  Buch  Balzacs, 
den  wir  bereits  oben  als  einen  feinen  Kleidungspsy- 
chologen  zitierten,**)  „über  die  Kunst,  die  Krawatte  auf 


) Morgenpoät  v.  28.  11.  09. 


••)  pag.  260. 


556 


28  Arten  zu  binden"  an  und  entwirft  eine  anecliau- 
liche  Geschichte  dieses  Kleidungsstücks  von  der  Zeit, 
als  es  die  K r o w a t e n in  Europa  einführten , bis  zu  den 
sechziger  und  siebziger  Jahren  des  vergangenen  Jahrhunderts, 
in  denen  die  nicht  lange  zuvor  noch  in  Byron-Manier  so 
stolz  geschlungene  Krawatte  zum  Shlips  „dieser  Spottgeburt 
aus  Zeugstoffrestchen  und  Pappe“  herabsank,  um  sich  dann 
wieder  in  unseren  Tagen  in  das  gebundene  Halstuch  zu  ver- 
wandeln. Der  Autor  sagt  im  Beginn  seiner  Abhandlung: 
,,Man  stelle  zwei  Figuren  nebeneinander,  die  eines  „Tramp“ 
in  schäbig-zerschlissenem  Kostüm,  aber  mit  tadellos  ge- 
bundener Krawatte,  und  die  eines  Mannes  im  eleganten 
Anzug,  mit  schlecht  gebundener  oder  gar  — Gott  behüte  — 
genähter  Krawatte,  und  die  Wahl  wird  garnicht  zweifel- 
haft sein,  der  Tramp  ist  der  Gentleman,  und  der  andere  ist 
ein  Kuli“,  und  kommt  am  Ende  zu  dem  Schluss:  „Freilich, 
nicht  ohne  Wehmut  muss  man  feststellen,  dass  die  gebundene 
Krawatte  noch  nicht  allein  regiert,  dass  es  noch  Menschen 
gibt,  die  sich  nicht  entblöden,  konfektionierte  Shlipse 
zu  tragen.  Aber  habeant  sibi,  gerade  dadurch  wird  eine  Scheide- 
wand gezogen  zwischen  den  „Eugeneis“  den  — Wohlgeborenen, 
und  der  — misera  plebs.“ 

Einige  Stände  und  Gesellschaftsschichten  gab  es  aller- 
dings stets,  denen  selbst  die  enragiertesten  und  strengsten 
Anhänger  der  jew’ eiligen  Tracht  etwas  toleranter  gegenüber- 
standen; das  waren  diejenigen  Männer  und  Frauen,  die 
durch  besondere  Leistungen  auf  geistigem  Gebiet  in  Kunst, 
Ethik  und  Wissenschaft,  als  Vertreter  gleichsam  der  alten 
Trias  des  Schönen,  Guten  und  Wahren,  aus  der  ^lenge  her- 
vorragten, über  ihr  standen.  Auch  in  Zeiten,  wo  alle  Männer 
die  Haare  kurz  geschnitten,  die  Kleider  eng  anschliessend 
trugen,  durften  sich  Künstler  und  Gelehrte  längere  Haare  und 
wallende  5Iäntcl  erlauben  und  auch  heute  noch  billigt  man  den 
Künstlerinnen  und  studierten  Frauen  noch  am  ehesten  kurzen 
männlichen  Haarschnitt  und  stärkere  individuelle  Abweichungen 
von  der  regierenden  Mode  zu.  Aehnlich  verstattete  man  auch 
stets  den  Magiern,  Zauberern,  Priestern,  Richtern  und  an- 
deren „mittierischen“  Ständen  bei  fast  allen  Völkern  mehr  ge- 


OD  i 


schlechtslose  Berufsgewänder,  Talare  und  Roben.  Darüber 
hinaus  aber  verdient  die  Mode,  welche  jeweils  „das  Scepter 
führte“  in  hohem  Grade  das  ihr  so  oft  erteilte  Beiwort; 
tyrannisch. 

Diejenigen,  welche  sich  .gegen  bestimmte  Moden 
wandten,  besonders  auch  gegen  das  zeitweise  Auftreten  eines 
stark  weiblichen  Gepräges  der  Herrenmode  oder  eines  männ- 
lichen Charakters  in  der  Frauenmode,  bedienten  sich,  wie  wir 
an  verschiedenen  Beispielen  sahen,  zumeist  der  Geissei  des 
Spottes,  des  scharfen  Witzes,  aber  auch  ernste  eindringliche 
Stimmen  gewichtiger  Persönlichkeiten  fehlten  nicht,  von  denen 
ich  hier  vor  allem  noch  eine  anführen  möchte.  Der  be- 
rühmte Jurist  Jhering  schreibt  in  seinem  geistvollen  tief- 
schürfenden Werk:  „Der  Zweck  im  Recht“*)  folgendes; 

„Bei  allen  Kulturvölkern  wird  der  Unterschied  des  Ge- 
schlechts äusserlich  durch  eine  Verschiedenheit  der  Kleidung 
kundgegeben,  und  dies  ist  nicht  etwa  blosser  Brauch,  Ge- 
wohnheit, sondern  Sitte,  d.  h.  eine  Einrichtung  zwingen- 
der Art.  Ein  Mann  darf  öffentlich  nicht  in  Weibertracht, 
ein  Weib  nicht  in  Männertracht  erscheinen.  Warum?  Der 
ästhetischen  Rücksicht  wegen?  Es  ist  richtig,  dass  die  Ver- 
schiedenheit der  anatomischen  Struktur  beider  Geschlechter 
eine  Verschiedenheit  der  Gewandung  bedingt,  und  der  ästhe- 
tische Gesichtspunkt  mag  ausreichen,  um  die  Tatsäch- 
lichkeit dieser  Verschiedenheit  zu  erklären,  aber  das 

*)  Bd.  II.  1886.  pag.  311  ff.  Auch  der  folgende  Passus  aus  dem 
bekannten  Werk:  „die  Familie“  von  W.  H.  E i e h 1 (^Stuttgart  1861,  pag.  18) 
verdiente  noch  erwähnt  zu  werden;  „Die  große  Hauptscheidung  der  Tracht 
in  männliche  und  weibliche  findet  sich  bei  allen  Völkern  und  in  allen 
Perioden  der  Geschichte.  Hier  ist  ein  wahrer  Consensus  gentium.  Die 
Zivilisation  hat  diesen  Unterschied  nicht  entfernt  auszugleichen  vermocht. 
Die  besondere  Frauentracht  ist  der  handgreifliche  Protest 
aller  Nationen  gegen  die  Berufung  von  Frauen  und  Männern 
zu  gleichem  Wirken.  Die  Frauen  halten  nicht  mit  Unrecht  so  viel  auf 
ihr  Kostüm  : es  ist  das  Wahrzeichen  ihrer  Eigenai'tigkeit;  und  ein  echter 
Sozialist  muß  beim  Anblick  jedes  Weiberrockes  in  die  Zähne  knirschen, 
denn  solange  es  noch  besondere  Weiberröcke  gibt,  ist  es  auch  noch  nichts 
mit  seinem  folgerechten  Sozialismus.“  Riehl  verrällt  hier  in  dieselben  durch 
irrtümliche  Voraussetzungen  begründeten  Trugschlüsse  wie  Ihering. 


zwingende  Gebot  der  Sitte  erklärt  er  uns  nicht.  Das  Motiv 
der  Sitte  ist  nicht  ästhetischer,  sondern  praktischer 
oder  ethischer  Art.  — — — Man  male  sich  einmal 
einen  Zustand  der  Gesellschaft  aus,  in  dem  die  Geschlechter 
an  der  Tracht  nicht  zu  unterscheiden  wären,  und  man 
wird  über  den  Sinn  einer  Einrichtung  nicht  im  Zweifel  sein, 
welche  den  Gegensatz  des  Geschlechts  sofort  äusserlich  er- 
kennbar macht.  Die  \ erschiedenheit  der  männlichen  und  weib- 
lichen Tracht  gehört  zu  den  fundamentalsten  und  unerläss- 
lichsten Einrichtungen  der  sittlichen  Ordnung  der  Gesell- 
schaft, denn  sie  erinnert  nicht  bloss  das  einzelne  Individuum 
unausgesetzt  an  die  Rücksichten,  die  es  im  Verkehr  mit  dem 
anderen  Geschlechts  zu  beobachten  hat,  an  die  Schranken, 
die  ihm  gesetzt  sind  in  Wort  und  Rede  und  Benehmen,  son- 
dern sie  gewährt  zugleich  der  Gesellschaft  das  sicherste  und 
leichteste  Mittel  der  öffentlichen  Ueberwachung  des  Verkehrs 
der  beiden  Geschlechter.  Wir  haben  darin  also  abermals  ein 
Stück  Sicherheitspolizei  des  Sittlichen  vor  uns,  die  Sitte  in 
ihrer  sittlich  - prophylaktischen  Funktion. 
Hätte  nicht  die  Sitte  selber  in  richtiger  Erkenntnis  von 
deren  Unerlässlichkeit  diese  zuchtpolizeiliche  Sicherungs- 
massregel  getroffen,  die  staatliche  Polizei 
müsste  es  tun,  und  verlöre  jemals  die  Sitte 
die  Macht,  sie  aufrecht  zu  erhalten,  letztere  müsste 
an  ihrer  Statt  die  Sache  in  die  Hand  nehmen.*) 


*)  Hier  findet  sich  bei  Ihering  eine  Anmerkung,  die  lautet:  -Wie  dies  von 
Seiten  der  mosaischen  Gesetzgebung  ausdrücklich  geschehen  ist,  5.  ilos.  22,  ö; 
„Ein  Weib  soll  nicht  Mannes  Gerät  tragen,  und  ein  Mann  soll  nicht  Wciber- 
kleider  antun,  denn  wer  solches  tut,  ist  dem  Herrn,  deinem  Gott,  ein  Greuel.“ 
Mich  aelis,  Mosaisches  Recht  IV,  § 22  verweist  bei  Besprechung  dieser 
Bestimmung  auf  einen  Fall  in  London,  „wo  eine  Mannsperson  sich  als  Dienst- 
mädchen in  eine  Boardingschool,  darin  junge  Frauenzimmer  erzogen  wurden, 
vermietet  hat,  wovon  die  Folgen  nach  einigen  Monaten  sichtbar  wurden.“ 
Dieselbe  Bestimmung  ist  in  den  letzten  Dezennien  in  Japan  getroffen.“ 
Dieser  Anmerkung  Jherings  sei  hinzugefügt,  dass  erst  kürzlich  aus  bhaug- 
h a i berichtet  wurde,  dass  eine  Chinesin  wegen  Tragens  von  Männer- 
kleidung zum  Tode  verurteilt  wurde:  in  Yuenwo  war  ein  „Mann“  festge- 
nommen worden,  der  sich  wegen  Kindesraubes  zu  verantworten  hatte.  Als 
an  ihm  die  zudiktierte  Prügelstrafe  mit  Bambusstöcken  vorgenonunen  werden 


559 


Bei  Kindern  in  dem  ersten  Lebensjahre  pflegt  das  Ge- 
schlecht durch  die  Tracht  noch  nicht  unterschieden  zu 
werden,  aber  kaum  haben  sie  die  Kinderschuhe  ausgetreten, 
so  beginnt  bereits  der  Gegensatz  der  Tracht.  Warum?  Von 
einer  sexuellen  Gefahr  kann  hier  noch  keine  Kede  sein. 
Aber  die  Weisheit  der  Sitte  hat  auch  hier  abermals,  das' 
Richtige  getroffen.  Die  Einrichtung  hat  einen  ernsten  päda- 
gogischen Zweck.  Die  Knaben-  und  Mädchentracht  ist  der 
erste  Anfang  der  sexuellen  Zucht.“ 

dem  Bisherigen  ergibt  sich,  in  welchem  Sinne  wir 
vom  sittlichen  Standpunkt  aus  die  Bestrebungen  zu  beurteilen 
haben,  den  Gegensatz  der  männlichen  und  weiblichen  Tracht 
zu  einer  Art  von  Hermaphroditentum  in  der 
Tracht  abzuschwächen.  Von  Seiten  des  männlichen  Ge- 
schlechts sind  sie  nicht  zu  befürchten,  die  Annäherungsver- 
suche gehen  stets  nur  vom  weiblichen  aus,  und  in  der  heutigen 
Zeit  haben  sie  einen  Grad  erreicht,  dass  man  beim  Anblick 

sollte,  stellte  es  sich  heraus,  dass  der  Delinquent  ein  Weib  war.  Obwohl  sie 
erklärte,  Manneskleider  angelegt  zu  haben,  weil  sie  sich  nach  dem  Tode  ihres 
Gatten  nicht  habe  ernähren  können,  wurde  sie  „wegen  Schändung  der  öffent- 
lichen Moral“  zum  Strang  verurteilt.  Diese  Härte  der  beiden  grossen  mongo- 
lischen Nationen  dem  Geschlechtsverklcidungstrieb  gegenüber  ist  um  so  ver- 
wunderlicher, als  sich  diese  bekanntlich  seit  altersher  den  auf  die  R i c h t u n g 
des  Geschlechtstriebes  sich  beziehenden  Anomalien  gegenüber  grosser  Toleranz 
befleissigen.  Zu  dem,  was  ich  in  dem  Kapitel  über  „Geschlechtsverkleidung 
und  Strafgesetz“  (pag.  343ff.)  anführte,  sei  hier  noch  erwähnt,  dass  sich 
auch  Prof.  Dr.  Näcke  gegen  ein  Verbot  •andersgeschlechtlicher  Verkleidung 
gewandt  hat.  Er  tut  dies  in  einem  Nachwort  zu  einer  in  dem  Archiv  für 
Kriminal-Anthropologie  und  Kriminalistik  (Bd.  XIV.  pag.  57)  von  Amtsge- 
richtsrat Dr.  Wilhelm  erschienenen  Arbeit,  in  welcher  dieser  bekannte 
Jurist  in  sehr  beachtenswerter  Weise  über  die  Prozessgeschichte  eines  im 
Jahre  1902  in  Strassburg  i.  E.  verhafteten  Mannes  schreibt,  der  daselbst 
längere  Zeit  als  weibliche  Prostituierte  sein  Unwesen  getrieben  hat,  nachdem 
er  sich  angeblich  vorher  9 Jahre  und  4 Monate  in  der  Schweiz  als  Kellnerin 
aufgchalten  hat.  In  dem  soeben  erschienenen  grossen  Werke  „Der  Sexual- 
verbrecher“ fpag.  572)  äussert  sich  Staatsanwalt  Dr.  Wulffen  da- 
hin, dass  „das  Anlegen  von  Kleidern  die  dem  eigenen  Geschlecht  wider- 
sprechen, als  Verübung  groben  Unfugs  angesehen  werden  kann,  wenn  es 
öffentlich  geschieht  und  eine  Belästigung  oder  Beunruhigung  des 
Publikums  hervorruft.“ 


560 


mancher  weiblichen  VVcBeu  glauben  möchte,  sie  hä-ten  eins 
Herreiigarderobe  geplündert  Nur  e t n W e i b , da;,  d a ^ 

Weib  in  sich  vergisst  oder  v e ^ g e £ o e r 

machen  möchte  und  die  fei’e  T)i-ne  odci 
das  e m a n z i p ■ . t t e f*"  r a u e n ? i m m c r k a a i e n l 
den  Gedanken  geraten,  die  8 t h r a n k c , 

welche  d i e S i 1 1 e mit  weisem  o i b c d c.  h ■. 

zwischen  Mann  und  Weih  e i r i o h t,  e t Lat, 

11  i e d e r z u r e i 6 s e n , und  nur  di'*  Dun)  rr. ' e i i 
und  Urteilslosigkeit  kann  sich  e r 1 e i t e n 
lassen,  ein  solches  Beispiel  n a c h z u ä t i , o . 
ln  Sodom  und  Gomorrha  mag  auch  das  Mole  gewcseu  £eu!;  i" 
einem  Gemeinwes«?u,  wo  noch  7ucht  und  Sitte  herrscht, 
sollte  man  jedes  solcher  Begiuncn  m 1 < \ e r a c L t ■ n g 
strafen.“ 

Dieser  Aufwand  von  Faihoi  und  Entrüstung  is  nrht 
angebracht,  bipr  •>!Tüluritc  Een  : r-  isn u rh-du  Gesetze  zeigt 

' ,1::  zL, orten  Worte,  dm^s  ihm  t - "s.  L: 

die  Kleidung  als  Ausdrucksform  seelischer  /liudae-..: 
gebend  sind,  nicht  geläufig  w a r o n.  Soir  Ih  usi  uu:; 
Eifer  ist  ebenso  sehr  ein  Aus.finss  unbevussrer  HubiCi<tivität, 
wie  der  Spott  Sebastian  Brants  im  „Narrenschiff“  und  das 
„Du  sollst“  des  Deuteronomiums.  Der  Gharpktei  eines  Wcjtv''- 
als  einer  „feilen  Dirne“  oder  eines  ,,ema'izirier*en  Frauoii- 
zimmers“,  um  mich  der  Ausdrücke  Jheriugs  zu  bedienen,  ui 
nicht  durch  ihre  Kieidung  bedingt;  das  Snrü'h-n, orl  „Ivloidec 
machen  Leute“,  w'elchco  docl:  um  besagen  will,  dass  ir.r.ii 
durch  das  Kleid  der  Eindruck  erv'eckt  werde''  köu'ute,  als  ob 
in  dem  reich  geschmückten-  Gewmnd  auch  eiu  reicher  M;  im, 
in  der  vornehmen  Toilette  eine  vornahine  Dame  stecke,  ist 
doch  nur  ein  Sprach  l-'U'  an  de*  0.;'-:.-rf lache  haftO'.dc  üe- 
müter,  ebenso  naiv,  als  wollte  imin  eine  Walle  veraiil>.n-b 
lieh  machen  für  den,  der  sit.  fiihrttc  ,.Das  IlerTnaphroditentuc 
in  der  Tracht“,  die  stärkere  Annäherung  also  der  weibiiehen  an 
die  männliche  Kleidung  bei  einzelnen  Itcrscnen  hui.  rnit  Zuchi 
und  Moral  eines  Gemeinwesens  nichts  zu  tun.  „Dieses  llei- 
m a p h r 0 d i t e n t u m in  der  Tracht“  — die  Be- 
zeichnung ist  von  Jhering  trelfe'ud  gewählt  — deutet  nur  au, 


561 


dass  i be-stjirimten  Menschen  die  männliche  und  weibliciie 
Fsycim  Korüpiiyderter  j^emischd  auft.ritt,  als  ln  anderen, 

Sprache  imd  Schrift,  die  Bewegung  und  die 
K.  1 c 1 d • n g des  Menschen  haben  das  gemeinsam  dass  sie 
rwar  a,  sich  etwas  Erlerntes  sind,  das  der  eine  von 
(1:..':  andein  übernimmt,  jeder  aber  nach  seiner  ludi- 
%'  1 d u a 1 i t ä t II  ü a ü z i e r t.  Wohl  sieht  eine  Person 
dei  andern  die  Vokale  und  Konsonanten,  die  Auf-  und  Ab- 
atri^’be  uej-  Puciisiaben,  die  Beugung  und  Streckung  der 
r'iicder,  dis  Formen  der  Mode  ab;  und  doch  gibt  sin  jeder 
diesen  Dingen  ein  persönliches  chaiakte- 
r i s t i R c h e s Gepräge,  bered'.'  für  den,  der  es  zu  lesen 
versteht.  Die  Kleiinng  und  Verklädang  sind  in  dic^eni  Snme 
auf  der  einen  Seite  Gel  weniger  ä u s s e r 1 i c h als  sie 
sche.b^'^n,  da  sie  ein  gutes  leil  des  inneren  Menschen 
w I d 0 r 8 p i e g e 1 n ; sie  sind  andererseits  aber  auch 

v,drd 'i  ir  n ä u s s e r 1 i c h e r , als  wir  giauber,  da  sie  doch 

eben  nur  Abbi!d;r,  Symbole,  äussere  Projektion ' . b 1;!?^: 
denen  als  stationäres,  ausschlaggebendes  Gebiidc  dc'  Mensch 
in  ?.ein‘.T  i ii  n e e n Eigen arc  steht.  Dieses  Wesen 
d . r P G r B ö n ' ‘ h k c i t zu  e r g r ü n u e n i s t ei  r j 

0 e r wie  h t i g - 1 e n A u f g a b s n , u in  e i ii  a u d s ^ 

V ! ■ e li  t n n d g e r e ■ ; h t beurteilen  z v.  k 5 i'i  n e n . 
.'dierzu  möchte  dieses  Buch  em  Beitrag  sein. 

hVir  können  uns  alle  n^ciit  davon  freisprecheu,  die 
?t'erisihoj.  viel  zu  sehr  generalisiert,  viel  zu  lauge  nach  der 
•h  c h a b ] o n e , :.asi  j.uöciiti  ich  sagen,  als  Duizei)u\\me  ue- 
i.'.undelt  za  haben;  wir  haben  dadmeh  vielen  Unrecht  get<ari, 
viel  Scüones  lai  Keime  vernichtet,  vdei  Guter-  a n u ro  g e - 
s e t ; t everkümraern  lassen  und  so  den  Fortschritt  des  Gan/cu 
f’L'be-r!;ui.,  W i i h b e r n ; c h i d a s P.  e c h t . M ■;  n - 
s e n ? ü V -M-  d a ni  Ul  c u , ci  i e w i r n i c n t h 1 1 c u . 
denen  wir  nicht  einmal  helfen  können.  W’ir 
haben  'nicht  da.ö  Recht,  jeniandoii  ?.a  rmbten,  weil  uns  seine 
Eigenart  fiemd,  unverstäuddich.  viGkidii  sogar  unangenehm 
ist.  Eiueu  Krieger  de’’  eio:;r)  Kameradon  um  seiuer  Ver- 
wi..idung  'wühm  sohat-zt.  w^orde  luan  g;aosa:n  nennen; 

Gst  et;em.u  g'ausar'  ist  et  scebsch  Y^undr,  (ich  sage  nicht 


; V b.  0 D i 1 -1 , 


33 


'i  M r r-u  .vr,otiti.  .. 


562 


Kranke),  die  nur  zu  oft  Opfer  der  Vererbung  sind,  „mit 
Verachtung  zu  strafen,“  "wie  es  Jhering  fordert. 

Zwei  Erscheinungen  gibt  es,  in  der  Natur,  wunderbarer 
und  wundervoller  als  alle  biblischen  Wunder  zusammen:  die 
Vererbung  und  die  Mannigfaltigkeit,  das  Ge- 
meinsame und  das  Besondere,  das  Bleibende 
und  das  Wechselnde.  Die  Wunder  der  Vererbung,  ge- 
bunden an  zwei  Keimzellen,  von  denen  die  w e i b 1 i c h e die 
Grösse  einer  Stecknadelspitze  hat,  die  männliche  1700 
Mal  kleiner  ist,  sind  in  den  letzten  Generationen  viel,  wenn 
auch  bei  weitem  noch  nicht  ausreichend 
studiert  worden*).  Noch  viel  weniger  aber  wissen  wir  bisher 
von  den  Gesetzen  der  Mannigfaltigkeit,  vom  Wesen  der  Per- 
sönlichkeit. 

Die  hier  gegebenen  Beispiele  aus  der  Transvestiten- 
gruppe  sind  augenfällige,  markante,  wenn  auch  ver- 
hältnismässig seltene  Fälle;  ihre  Bedeutung  liegt  aber  nicht 
so  sehr  in  ihnen  selbst  als  darin,  dass  uns  die  stär- 
keren Grade  die  leichteren  verständlich  machen.  Nach  der 
einen  Richtung  sahen  wir  den  Geschlechtsverkleidungstrieb 
sich  noch  bis  zum  Geschlechtsverwandlungswahn  steigern, 
auf  der  andern  Seite  stehen  aber  die  ungleich  zahlreicheren 
Personen,  in  denen  derselbe  andersgeschlechtliche  Einschlag 
geringfügiger,  aber  doch  erkenntlich  und  sicher- 
lich der  Beachtung  wert  in  die  Erscheinung  tritt. 

Je  mehr  wir  uns  in  das  Wesen  der  Persönlichkeit  ver- 
tiefen, in  um  so  höherem  Masse  werden  wir  erkennen,  dass 
in  dieser  an  Naturschönheiten  und  Sehenswürdigkeiten  gewiss 
reichen  Welt  nichts  anziehender  ist  und  wür- 
diger, erkannt  und  erlebt  zu  werden,  als 
der  Mensch. 

*)  Neben  Darwin  verdient  hier  vor  ailem  der  Brunner  Prälat  Gregor 
Mendel  (1822—1844)  genannt  zu  werden,  dessen  Versuche  und  Anschau- 
ungen über  die  gesetzmässige  Bedeutung  individueller 
Eigenschaften  für  die  Vererbung  in  Deutschland  bisher 
wenig  Beachtung  gefunden  haben,  während  sie  in  England  unter  dem  Namen 
„M  endelismus“  bereits  seit  längerer  Zeit  im  Vordergründe  des  biolo- 
gischen Interesses  stehen.  (Vgl.  u.  a.  R.  C.  Punnett:  jMendelism.* 
n.  edition,  Cambridge,  Bowes  and  Bowes  1909.) 


Im  gleichen  Verlag  sind  erschienen: 


(Die  Transvestiten) 

Von  Dr.  Magnus  Hirschfeld  und  Max  Tilke 


Illustrierter  Teil 
2.  Auflage 

Ein  Band  mit  54  Tafeln  auf  Kunstdruckpapior 
mit  ca.  125  hochinteressanten  Abbildungen 

Preis  gebunden  10  M. 

I.  Ethnographisch-historischer  Teil 

II.  Allgemeiner  Teil. 


ii€  Mali3r^€§di€  Her 

Eine  "-emeinverständliche  Untersuchung  über  den 
Liebes-Eindruck,  Liebes-Drang  und  Liebes-Ausdruck 

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Dr.  Magnus  Hirschfeld 

Mit  2 erläuternden  Abbildungen 

Preis  broschiert  4 M.,  elegant  gebunden  6 M. 

2.  Auflage 

In  dieser  hochinteressanten  Publikation  untersucht  der  bekannte 
Sexualforscher  die  Gesetze,  nach  denen  in  uns  Liebe  und  Haß,  Zu- 
neigung und  Abneigung  ihre  folgenreiche  Wirksamkeit  entfalten. 

In  fließender  und  lercht  verständlicher  Sprache  reißt  der  beliebte 
Verfasser  durch  seine  packenden  Ausführungen  den  Leser  mit  sich 
fort,  mit  steigender  Spannung  liest  man  dieses  eigenartige  und  bedeut- 
same Buch  schnell  bis  zu  Ende,  um  alsdann  ruhiger  zu  Lieblings- 
abschnitten zurückzukehren. 


Der  bekannte  Publizist  Dr.  Plenske  berichtet  über  das  Buch: 
„Das  hochinteressante  Werk  des  bekannten  Sexualforschers:  , Natur- 
gesetze der  Liebe*  darf  nicht  nur  dem  berühmten  Buche  Mantegazzas: 
Physiologie  der  Liebe'  ebenbürtig  an  die  Seite  gestellt  werden.  — es 
überragt  sogar  — was  die  lebenswahre  und  klare  Darstellung  der  bis 
zur  Gegenwart  mit  bewundernswürdiger  Feinheit  auegeführten  Essays  an- 
bütrifft,  alles  bisher  aufdem  Geschlechtsgebiete  Erschienene. 

Rs  ist  ein  Werk  von  ungewöhnlichem  Interesse,  von  höchst  wissen- 
schaftlichera  Werte  und  doch  so  populär  geschrieben,  daß  es  voll  und 
ganz  dazu  geeignet  ist,  Gemeingut  der  gebildeten  Menschheit 
zu  werden.“ 


Ira  gleichen  Verlage  ist  erschienen: 

Qeschieditsüöergänge 

jVIiseliungen 

männlicher  und  weiblicher  Geschleclitscharaktere 
Sexuelle  Zwischenstufen 

Erweiterte  Ausgabe  eines  auf  der  76.  Naturforscher- 
Versammlung  zu  Breslau  gehaltenen  Vortrages 
von 

Dr.  Magnus  Hirschfeld 

Mit  ausführlicher  Beschreibung  und  Würdigung  zweier  neuer  Fälle 
von  Hermaphroditiamus  sowie  83  Abbildungen,  zwei  Texttiguren 
und  einer  farbigen  Tafel  (größtenteils  Originale) 

Preis  elegant  broschiert  6 M. 

In  dieser  Arbeit  gibt  Dr.  Hirschfeld  eine  zusammenhängende 
textliche  und  bildliche  Darstellung  der  zwischen  Männern  und  Frauen 
vorkommendon  Zwischenformen.  Im  ersten  Teil  begründet  der  Ver- 
fasser die  Gesetze,  welche  für  das  Wesen  und  die  Entstehung  der 
Gcschlechtsunterschiede  in  Betracht  kommen.  Als  besonders  wichtig 
stellt  er  zwei  Gesetze  auf:  einmal,  daß  in  jedem  Lebewesen,  das 
aus  der  Vereinigung  zweier  Ge.schlechtsweaen  hervorgegangen  ist, 
neben  den  Zeichen  des  einen  Ge.schlechts  die  des  anderen  in  sehr 
verschiedenen  Gradstufen  Vorkommen,  und  dann,  daß  die  Mannig- 
faltigkeit der  Individuen  in  somatischer  und  psychischer  Hinsicht  in 
erster  Linie  von  dem  sehr  variablen  Mischungsverhältnis  männlicher 
und  weiblicher  Attribute  abhängt.  Nachdem  er  dann  im  zweiten 
Teil  zwei  Fälle  besonders  starker  Mischung  der  Geschlechtscharaktere 
eingehend  beschrieben  hat,  stellt  er  auf  32  Tafeln  mit  Erklärungen 
die  Haupttypen  des  Hermaphroditismus  dar.  Beginnend  mit  makro- 
skopischen und  mikroskopi.schen  Photographien  echter  menschlicher 
Zwitterdrüsen,  schildert  er  die  verschiedenen  Arten  des  Scheinzwittcr- 
tums,  gibt  Beispiele  von  Umkehrungen  auf  dem  Gebiete  der  sekun- 
dären Geschlcchtscharaktere , wie  Männer  mit  weiblichen  Brüsten, 
Frauen  mit  männlichem  Gesichtsausdruck,  Frauen  mit  stattlichen 
Vollbärten.  Männer,  bei  denen  — mit  Ausnahme  der  Sexualorgane  — 
anatomisch  alles  weiblich  ist.  Hirschfeld  beendet  den  Zyklus  durch 
.Abbildungen  einiger  berühmter  urnischcr  Freunde.spaare. 

Das  Buch  Hirschfelds  ist  von  größter  Bedeutung  für  die  Erkenntnis 
und  Würdigung  des  menseldicheu  Seelen-  und  Trieblebens,  zugleich 
aber  auch  ein  Bilderatlas,  wie  er  bisher  nicht  geboten  wurde. 


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Slr  Woldon  Dalrymple-Champneys 


n\ll,;  September  1972